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Drittes Kapitel
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Hochsommer, beinahe schon Sommerausklang und ein Datum für den alten Herrn, eines seiner Berufsjubiläen. Die häufen sich in seinen Jahren. Architekt Schelsky hat ihn abgeholt zu einer Fahrt nach Mahlsdorf. Dort erwarten ihn der Enkel und dessen neue Freundin. Elfie, die mit sollte, hat abgelehnt. Einen Anzug mit Weste trägt der alte Herr und eine bunte Schleife, aber keine Kopfbedeckung. Viel Post ist nicht gekommen, Glückwunschschreiben und Telegramme; sogar ein Architektenbund erinnerte sich seiner, das meiste kam aus dem Ausland.
Der alte Herr Pilgramer sitzt neben dem Architekten Schelsky, sieht durch die Frontscheibe, beobachtet den flutenden Verkehr in der Karl-Marx-Allee, fingert hin und wieder nach dem Zigarrenetui, sich vergewissernd, daß es noch da ist.
Er vergißt jetzt so leicht, vergißt solche Kleinigkeiten, dafür stehen ihm überdeutlich die Bilder seiner Vergangenheit vor Augen. Mitunter übertreibt er seine Vergeßlichkeit. Jetzt zum Beispiel versucht er zu berechnen, wie oft er diese Straße hinauf- und hinuntergefahren ist; wie oft bot die große Allee ein anderes Bild.
Schelskys Wagen rollt über die Kreuzung Frankfurter Tor; auf der linken Seite, alleenah, standen die Häuser, die Pilgramer vor grauen Zeiten erbaute. Damals war er als Bauunternehmer pleite, als Bauleiter bekam er Gehalt. Er wohnte, bevor die Häuser fertiggestellt waren, mit Luise in Alt-Stralau, einer fast ländlichen Gegend zu jener Zeit, und die Zentrale lag noch in der Oranienburger, was heißt Zentrale, man wickelte alles Geschäftliche so nebenher ab. Und stolz war er auf seine Organisationsgabe, das Telefon auf der Baustelle, eine Neuerung, die Bürohilfe auf der Baustelle, auch eine Neuerung. Er glaubte an den technischen Fortschritt, glaubte überhaupt noch an Wunder.
«Hat sich viel verändert», sagt Schelsky, die Kreuzung Möllendorfstraße passierend.
«Wissen Sie, Schelsky», der alte Herr deutet mit der knochigen Hand aus dem Fenster, «ich denke oft, wir sind alle einem ungeheuren Irrtum aufgesessen. Fortschritt in Technik, in Wissenschaft, in Medizin, in Politik, schön, aber wir verknüpfen mit jeder Erfindung oder Entdeckung sofort die Vorstellung von einer besseren Welt gegenüber der Vergangenheit. Ich sage Ihnen, das ist der reinste Unsinn. Diesem Fortschritt steht ein rapider moralischer Abbau gegenüber. Sittlich ist die Menschheit keinen Schritt vorangekommen. Und die bekannte Formel, die Lenin aufgestellt hat, wonach technische Entwicklung und Sozialismus zusammen die neue schöne Welt ergeben sollen, wird euch noch manche Nuß zu knacken geben. Wir haben ja gesehen, wohin technischer Fortschritt führen kann. Sagen Sie jetzt nicht; da hat auch der Sozialismus gefehlt.» Nach einer Pause: «Wir hoch entwickelten Säuger arbeiten weiter rasend an unserem Untergang, glauben Sie mir.»
Schelsky schweigt.
Der will jetzt nicht zugeben, sagt sich der alte Herr, daß er auch seinem Traum von ganz neuen, ungeahnten Möglichkeiten nachhängt, vielleicht der schwebenden Stadt. - Während der Bauzeit, entsinnt sich der alte Herr, kam Straßburger heraus und entwarf die technische Zukunft, binnen eines Jahrzehnts fahre man mit der Elektrischen kreuz und quer durch Berlin. Das Auto entwickele sich schnell, brauche große breite Bahnen. - Immer ging etwas Schläfriges von Straßburger aus, aber er, Pilgramer, kannte ihn ganz gut. Hinter der Schläfrigkeit steckte eine kaltblütige Logik, steckte der unerbittliche Rechner.
Pilgramer umschrieb damals seine Angst und seinen Vorwurf mit einer Floskel, wenn irgendwas passiere, dann sei er geliefert. Er sagte nicht, was er dachte, nie sagte er, was er dachte. Damals dachte er, der hat mich bis aufs Hemd ausgeplündert. Straßburger meinte wohl, er solle sich keine Gedanken machen, vor vierzig Jahren habe Berlin eine halbe Million Einwohner gehabt, jetzt zwei Millionen, die müßten wohnen. Der junge Baumeister Pilgramer werde ihm, Straßburger, noch einmal danken.
Danken wofür? Der Bauleiter stand früh um vier auf, um sechs war er auf der Baustelle, um siebzehn, manchmal um achtzehn Uhr verließ er sie wieder, er kontrollierte, unterschrieb Rechnungen, machte Stichproben, alle Augenblicke geschah etwas Neues.
In Alt-Stralau besaßen sie ein kleines Haus, nicht sehr gut, nicht schön, nicht wohnlich, und der kleine Fred war gerade geboren. Sie lebten ganz für sich, ohne Hilfe durch Freunde, kämpften verzweifelt ums Überleben. Rasch war die Mitgift verbraucht.
Hier wohne er also, hatte Straßburger gesagt und verlangt, mit der jungen Frau Pilgramer, Luise, bekannt gemacht zu werden.
Pilgramer, jetzt neben Schelsky, denkt, Luise war nichts zum Vorzeigen, ein schüchternes Provinzding, das etwas kochen konnte, etwas nähen, etwas Klavier spielen, das ein paar Bücher gelesen hatte und gelernt, sich unterzuordnen. Ohne Mitgift wäre Luise einfach sitzen geblieben.
«Ihre Baustellen sahen jedenfalls anders aus», bemerkt Schelsky.
«Es wimmelte von Menschen», bestätigt der alte Herr. «Heute genügen drei, vier Mann.» Er beugt sich hinüber zu Schelsky: «Aber sehen Sie, Sie bauen teurer, und Sie bauen nicht schneller: Nicht einmal schöner bauen Sie, wenn man das Zeitgefühl mit in Betracht zieht. Unsere Zeitgenossen staunten damals so, wie Ihre Zeitgenossen heute staunen.» Pilgramer fühlt sich nicht verpflichtet, alle seine Gedanken preiszugeben, Wohnmaschine bleibt Wohnmaschine. «Hätten Sie noch eine industrielle Reserve, brauchten Sie keine so hohen Investitionen. Ich weiß, industrielle Reserve bedeutet Elend, auch nur ein relativer Begriff. Um zu leben, brauchen wir nicht viel.»
Pilgramer könnte noch hinzufügen, er habe schließlich um das nackte Leben gekämpft, aber was wissen die heute davon? Straßburger riet, halten Sie durch, junger Baumeister, halten Sie auf eine anständige Art und Weise durch. Straßburger hatte es geschafft, der saß in seiner Villa in Friedrichshagen, ungefähr dort, wo die alte Spree in den Müggelsee mündet. Dort wohnte Straßburger jetzt, mit Frau und Sohn, einer Rachel oder Rahel, Sohn, Privatdozent für alte Sprachen, aufgeschossen, mit krummem Studierrücken. Und doch, fällt dem alten Herrn ein, war es ein Anfang. Straßburger spielte ihm Aufträge zu, Fassaden. Kolossale Jungfern trugen funktionslose Steinlasten auf den Schultern. Athleten schleppten Bierfässer und Füllhörner. Pilgramer entwarf Gipsrosetten und Girlanden, Erker und Türmchen, gemalten Marmor und Durchgänge, gedrechselte Geländer, buntes Glas, Pilgramer plünderte die Stilepochen für seine Entwürfe, Sakrales profanierte er, Profanes fälschte er um, und es geschah wirklich etwas Unerwartetes. Straßburger lachte zwar geringschätzig, aber er vertiefte sich in diese Zeichnungen, und er entdeckte eher als er, Pilgramer, daß man diesen Unsinn jetzt wollte, diesen billigen Krimskrams, diesen Aufwand an Stuck. Der Schein setzte sich gegen das Urbild durch. Früher war Architektur selbst eine Kunst. Man wußte, daß keine Farbe, keine Dekoration eine mißlungene Linie ändern konnte. Jetzt war das Gefühl für die Schwingung verloren gegangen. Was er, Pilgramer, als ein Witz, als Spott und Ironie gedacht, darauf begründete sich etwas Neues, nichts Gutes. Und noch etwas geschah, das Straßburger verblüffte, der Kaiser äußerte in einer Randglosse sein Wohlgefallen an dieserart Häuserfassaden. Damit waren die Pläne beschlossen und besiegelt. Pilgramer besitzt diese kaiserliche handschriftliche Notiz noch; sie kam ins Familienarchiv.
Dann wurde die evangelische junge Frau Pilgramer von dem Wunsch heimgesucht, ihren Sohn taufen zu lassen, nach römisch-katholischem Ritus. So vereinigten sich die Konfessionen am christlichen Taufwasser.
Man müsse ein bißchen Geduld aufbringen, dann gehe es auch voran. Straßburgers Rezept. Es ging wahrhaftig voran, denkt Pilgramer, neben Schelsky sitzend, der jetzt nach Mahlsdorf abbiegt. Es kamen plötzlich viele Aufträge, der Erfolg winkte, dank der kaiserlichen Randglosse.
«Ich hatte früher einen Maybach», sagt der alte Herr, «ich hatte immer schwere Wagen.»
«Maybach?»
«Das kennen Sie nicht mehr.»
Pilgramer weist Schelsky jetzt ein, das Auto hält vor der Villa. Der alte Herr steigt aus und bittet Schelsky herein.
Der alte Herr Pilgramer benutzt den Stock, trotzdem ist sein Gang nicht schwerfällig, es sieht eher aus, als brauche er den Stock gar nicht, als könne er ohne Hilfe gehen. Schelsky neben ihm; Pilgramer mag den Mann eigentlich nicht, er mag überhaupt keine dicken Männer, an deren angebliche Gemütlichkeit er nie recht glauben konnte.
«Das Haus hat Hubalek gebaut», sagt er, «erinnern Sie sich noch an ihn?» Er weiß gut, daß sich Schelsky natürlich an Hubalek erinnert. «Und wissen Sie, daß er sich in Schottland zur Ruhe gesetzt hat, oder eigentlich nicht zur Ruhe, er baut Häuser mit Solarbatterien.»
Er lacht, und Schelsky lacht mit, aus Respekt vor dem Alten, der ja doch einmal groß gewesen ist.
«Da sehen Sie», fährt der alte Herr fort, «es gibt noch mehr Träumer.»
Die beiden Männer gehen ins Haus, drinnen kommt ihnen der Enkel entgegen. Lisa, die sich nie darüber klar werden kann, ob sie den Alten komisch finden soll oder ob sie Angst vor ihm hat, streicht sich verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Pilgramer sieht es, und mehr als alles andere versöhnt ihn diese frauliche Geste. Die Weiber sind so eitel, daß sie sogar sein biblisches Alter übersehen. Er lächelt sie an, um herauszufinden, wie weit man den Irrtum treiben kann. Sein Bart, weiß wie frisch gewaschen, zuckt etwas, die weißen, dichten Brauen rücken für einen Augenblick zusammen. Er schauspielert, ein schlechter Mime, ein Gaukler, wie sie alle, diese bedeutenden Architekten, die Künstler.
Lisa reicht ihm die Hand, aber sie bleibt sitzen. Er weiß nicht, ob aus guter Erziehung oder zufällig. Diese jungen Menschen haben ja keinen Schliff mehr. Er nimmt die Hand, hat den Einfall, sie zu küssen. Im letzten Augenblick bemerkt er, daß er im Begriff ist, sich lächerlich zu machen.
Lisa ist entzückt von diesem Haus, sie sieht es zum ersten Mal, sie beschreibt ihren Eindruck: «Eine Halle, weiß, dunkelgrün, und sehen Sie, diese Nixen oder was es darstellen soll, etwas Friedhof, ein bißchen Eleganz, Strich; alles ohne richtige ...? Was war damals geschehen?»
«Junge Frau», sagt Pilgramer, «als ich diesen Affenkasten das erste Mal auf dem Papier sah, dachte ich, das hat ein Verrückter ausgedacht. Offen gestanden, ich wußte nicht einmal, ob ich das Geld für den Bau hergeben sollte, aber ich war Hubalek doch verpflichtet, was, Lab?»
Der zuckt die Schultern: «Was heißt schon verpflichtet?
Immerhin, damals war das Bauwerk ein Rückgriff, heute ist es ein Museum.»
«Der Jugendstil», Schelsky setzt zu einem langen Sermon an, aber der Alte winkt energisch ab.
«Hören Sie um Gottes willen auf, Schelsky. Ich kenne das ganze Geschwafel, und ich habe Theoretiker nie ausstehen können, die Ausleger, Erklärer und Durchseher.»
Lab stellt ein Tablett mit Gläsern auf den Tisch und entkorkt eine Sektflasche.
«Sehr aufmerksam», murmelt der Greis, er tastet nach den Zigarren, nimmt das Etui heraus, fragt, ob er dürfe, und alle beobachten das Ritual, wie einer eine Zigarre in Brand setzt. Auch das sieht der alte Herr, diese jungen Leute haben nicht mal Zeit für sich selbst, die rauchen diese Fünfminutenbrenner, werfen die angerauchte Zigarette fort, nehmen eine neue. So sind sie, ihr Leben brennen sie an allen Ecken und Enden an, aber es bekommt ihnen weiß Gott nicht. Überhaupt bekommt ihnen das geplante Leben nicht.
«Ich will Ihnen etwas zeigen», sagt Pilgramer zu Lisa. Er nestelt an einem Schlüsselbund, öffnet einen Schrank und entnimmt ihm einige Gläser, Vasen, stellt alles auf den Tisch. Schweigend beobachtet er die Wirkung. «Es sind gute, zumindest echte Stücke», versichert er, denn Lisa ist hilflos. Der könnte man eine Industrieflasche für echt andrehen, und das tun die Experten ja auch, treiben die Preise für ihre Ladenhüter hoch. Diese Jungen können ja nichts mehr unterscheiden. Daran ist ein hundertjähriges Kunstgewerbe schuld, mit der Vermarktung von Kunst, der Sucht nach Effekt. Hier lag der Irrtum; Echtes, Gutes läßt sich nicht industriell, nicht als Massenprodukt herstellen, ohne Wert einzubüßen.
Schelsky versucht sich in einer Bestimmung: «Weimarer Zeit?»
«So ungefähr, Herr Kollege», sagt der alte Herr, «das wenige Gute, das die Zeit damals hervorgebracht hat, beschränkt sich auf die Periode des Einfalls, der Idee.»
Pilgramer setzt sich, sieht zu, wie Lisa die Stücke vorsichtig in den Händen dreht, respektvoll. Er amüsiert sich köstlich, solch Zeug gab es damals in jedem Laden, dieses muschelförmig gefächerte Milchglas, Pagoden als Briefbeschwerer, Samuraischwerter, um Post zu öffnen; Druckschrift, die kaum noch zu entziffern. Überall Schein, Versteckspiel, Wahrheitsentzug in Kunst, Politik, Architektur, es war, als ahnte diese Generation das Kommende, nahm ihren Untergang vorweg in den Kitschwerten. Hier ging eine Ära in einem Stilchaos unter.
«Aber warum ist das Zeug heute so gefragt?» Schelsky. Vor zwanzig Jahren noch Trödel. Und warum bei uns, wo ja kein kapitalistischer Kunsthandel den Markt beherrscht?»
«Sieht ganz ulkig aus», antwortet Lisa, «auf einer Schrankwand erwartet man eben kein solches Glas.»
«Mittlerweile erwartet es ja doch jeden», sagt Schelsky.
Da sie keine befriedigende Antwort finden, sehen sie den alten Herrn an. Der nennt ein Syndrom: «Allgemeine Erschöpfung. Seit fast zwei Jahrhunderten nur noch Rückgriffe, nichts Neues wurde mehr gefunden. Es scheint, die menschliche Schöpferkraft ist mit der Ausgestaltung unserer Zivilisation beschäftigt, mit Seife und Häusern, mit Autos, kurz gesagt, das Maschinenzeitalter erdrückt die kulturelle Sehnsucht. Das Loch muß mit dem gestopft werden, was noch da ist. Ganz ohne Kultur können wir offenbar auch nicht leben.»
Unzufrieden schweigen sie, wer will schon wahrhaben, daß mit ihm nicht viel los ist?
«Mußt du allem eine negative Wendung geben», fragt der junge Pilgramer. «Kunstgewerbe, es hieß doch, entweder alle minderbemittelten Schichten von der Kunst auszuschließen oder ihnen über halbindustrielle Kunstprodukte Maßstäbe zu geben, und natürlich auch das Stück, um es in die Wohnung zu stellen.»
«Ins Berliner Zimmer den Hirsch», sagt der alte Herr, «dem kommunistischen Agitator seinen Bronze-Schäferhund. Mit solcherart Ästhetik gingen wir ins neue Jahrhundert.»
Schelsky lacht, und der junge Pilgramer gießt den Sekt in die Gläser. Sie werden aneinandergestoßen, die schönen alten Gläser aus der Auflösungsperiode.
«Weißt du, wer neulich bei mir gewesen ist», Lab wendet sich an Schelsky, «Koblenz.»
Mit einem Schlage sind sie wieder in die Wirklichkeit zurückversetzt, sieht der alte Herr. Blind sind sie, wollen etwas erreichen wollen was sein, glauben, sie sind schon was. Diejenigen, die sich am meisten über einen weit entfernten Mord aufregen, schlafen ruhig neben der Wohnung, in der irgendein Schwein zehn Jahre lang seine Frau verprügelt, drangsaliert, ihre Würde mit Füßen tritt.
«Die haben da allerhand Schwierigkeiten mit dem Anfang», sagt Schelsky, von dem Sekt trinkend, «man muß wahrhaftig ein Koblenz sein, um sich auf solch eine Geschichte einzulassen.»
«Ich habe mich darauf eingelassen. Sobald ich hier weg kann, gehe ich nach Theerberg.»
Nun schaltet sich der alte Herr wieder ein. Er habe sich, sagt er, damals mit Industriebau einen Namen gemacht. Straßburger, der hatte alle Verbindungen, und er, Pilgramer, stieg da ein. Ob sie sich der alten Bahnhöfe erinnern? In Stahlbau habe damals niemand solide Kenntnisse besessen. Beiläufig, er, Pilgramer, auch nicht, aber Hubalek sei ein exzellenter Statiker gewesen. Den hätte er damals gebraucht. Leider wäre er erst nach dem Krieg zu ihm gestoßen. Sie hätten ein ausgezeichnetes Gespann abgegeben, selbst in den schlimmen Zeiten hätten sie noch Auslandsaufträge bekommen.
Was er redet, wird noch angehört, aber es erreicht die Jungen nicht mehr, sie sind mit der Gegenwart beschäftigt.
«Aber doch nicht für immer», sagt Lisa, «du gehst doch nicht für immer weg?»
Dann fällt das Stichwort Semperoper, das ist auch ein Hin und Her, zwar soll die Oper wiederaufgebaut werden, aber niemand weiß, wann und wie, ein Jahr, zwei Jahre. Lab kann nicht in den Wartestand versetzt werden, Lab will etwas.
Immer das alte Lied, sagt sich der alte Herr grimmig, immer will man was, nie weiß man, wohin mit der Kraft, und stets sind die anderen die Trottel, die Stümper, das wird wohl auf der Welt so bleiben. Die Welt, er lächelt verächtlich.
«Du hast doch nicht die mindeste Ahnung von Industriebau», sagt Schelsky, «ich gehe bestimmt im nächsten Jahr in das Institut, überleg doch mal, was du dir auflädst. Mit Koblenz zu arbeiten ist kein Spaß.»
Sie reden eine ganze Weile, bis sie merken, daß der alte Herr, um dessentwillen sie eigentlich hier sind, dem Gespräch nicht folgt.
«Entschuldige», sagt Lab, «heute bist du die Hauptperson.»
Mit einem Blick zur Decke bemerkt Schelsky, das Haus vertrage eine Reparatur. Es sei hohe Zeit.
«Finden Sie, daß es so wichtig ist, diese Villa der Nachwelt zu erhalten?» Pilgramer legt die Zigarre aus der Hand, er muß vorsichtig sein mit dem Rauchen, sein Herz, sein Kreislauf vertragen das Rauchen nicht mehr. Freilich, er war nie ein Kettenraucher, aber das Alter verlangt eben noch mehr Einschränkung. «Ich werde ja nicht ewig leben», sagt er, zu Schelsky gewandt, «nach meinem Tode kann Lab machen, was er will. Jetzt bleibt alles beim Alten.» Er wirft einen raschen Blick auf Lab, der kennt diese Tirade vom Sterben, und ernsthaft hat der Greis auch nie daran gedacht zu sterben. Er fühlt sich noch ganz wohl, kein Wunder, seit vierzig Jahren arbeitet er nicht mehr, hat sich nur um sich gekümmert. Das konserviert.
Aber der Enkel ist gut erzogen, er sagt gar nichts, zeigt auch im Mienenspiel nicht, was er denkt. Nur Lisa wehrt erschrocken oder scheinbar erschrocken ab. Pilgramer lacht, er hat erreicht, was er wollte, er ist wieder der Mittelpunkt der Runde geworden. Kindisch ist das, natürlich, aber ein wärmendes Gefühl ist es auch.
Sie sitzen eine Weile, das Schweigen ist aber nicht peinlich, im Gegenteil, es ist angenehm. Dann sagt Schelsky, er als der älteste noch tätige Architekt unter ihnen wünsche jetzt einen Toast auf den alten Herrn Pilgramer auszubringen. Man habe es hier vielleicht mit einem der seltenen Schicksale zu tun, wo ein Baumeister unerhört erfolgreich gewesen ist. Würden seine Bauwerke noch stehen, müßten sie einen Stadtteil ausmachen, und es sei wohl auch nicht übertrieben, wenn man konstatiere, daß Herr Pilgramer dem Baugeschehen mächtige Impulse gegeben habe, in technologischer Hinsicht, in organisatorischer Hinsicht.
Der alte Herr schließt die Augen. Schelsky soll sich ruhig ausquatschen, es war so, wie es heute ist, und ebenso wie heute entstanden auch damals Legenden. Alles wird vom Zufall dirigiert.
«Und», fährt Schelsky fort, «seltener Fall deswegen, weil der Baumeister sein Werk nicht nur überlebte, sondern umgekehrt, das Werk sank in Trümmer, der Schöpfer lebt, einsam steht er da.»
«Ein Denkmal», sagt der Greis sarkastisch, «bin Ihnen sehr verbunden.» Aber er sagt sich, das Merkwürdige ist, daß man längst vergessen wäre, hätten sich nicht der Enkel und ein paar Bekannte aufgemacht, ihn als einen Helden zu feiern, den berühmten Mann aus alten Tagen. Gelobt wird viel, gelobt werden alle Versuche, idiotische Lösungen zu finden, Hausmaschinen, die Albträume sind, modern aufzuputzen, was noch an Stuck vorhanden, wie alte Weiber, die noch auf den Strich müssen. Er hat sich wohl gehütet, in der Nazizeit zu bauen, es wäre schon möglich gewesen; er, der erklärte Bauhausgegner, der Gegner jeden Bruchs mit Traditionen, hätte sich leicht zu neuen Ehren aufschwingen können, aber wozu?
Lab sagt einfach: «Ich habe dich immer bewundert und nie ganz verstanden, aber du warst für mich doch der große alte Mann. Ich habe auch in deinen Akten geblättert, in den Bildern und Erinnerungen, klüger bin ich nicht geworden. Ein Architekt? Was ist ein Architekt?»
Der Greis trinkt gelassen das Glas leer, ehe er antwortet.
«Jedenfalls etwas anderes als einer, der Häuser baut. Und mir scheint der Irrtum, man müsse Spektakel machen, um etwas zu sein, unausrottbar. Es geht uns wie allen anderen auch, was wir wollen, erreichen wir nie.»
Lisa steht auf, will etwas sagen, der alte Herr legt mit einer komischen Gebärde die Hände an beide Ohren, er will nichts mehr hören, heißt das. Sie zuckt die Schultern, beugt sich hinunter und küßt ihn auf die Stirn.
Mit diesem Flittchen hat sich der Junge ganz gut versorgt, denkt der alte Herr. Dann bittet er, nach Hause gebracht zu werden, er sei müde. Und Schelsky erbietet sich, ihn wieder mitzunehmen. Keine Spur ist der Greis müde, aber er hat den Höhepunkt hinter sich. Jetzt käme nur noch Geschwätz.
2
Während der Rückfahrt sagt Pilgramer: «Ach, Schelsky, rasen Sie doch nicht so.»
«Ich muß leider mitrollen», antwortet Schelsky, «tut mir leid.»
Sie fahren stadteinwärts, dicht ist der Verkehr nicht zu dieser Tagesstunde. Hier stand einmal das Haus Pilgramers, hier wohnte er mit seiner Familie, mit Frau, Sohn und Schwester, im ersten Stock, acht Zimmer, Kammer, zwei Küchen, Abstellräume, Dielen und Korridore. Hinter dem Vorderhaus zogen sich sechs Höfe hin, im letzten Hof befand sich eine Galvanisierungsanstalt, deren mächtiger Exhaustor einen ziemlichen Lärm machte, der freilich vorn nicht mehr gehört wurde. Die Wohnungen in den Gartenhäusern und Seitenflügeln waren klein, Ein- und Zweizimmerwohnungen mit Küchen und Gemeinschaftsabort.
Pilgramer rechnet nach, vierhundert oder etwas mehr Menschen lebten in seinen Häusern zur Miete, zusammengepfercht auf engem Raum, ein ganzes Dorf, sozusagen übereinandergestellt. Der Architekt bestimmte die neuen Lebensweisen dieser Leute, bestimmte deren Ökonomie ähnlich dem ehemaligen Grundherrn. Eine auf den ersten Blick verwickelte Sache, in Wirklichkeit höchst einfach, aus Landarbeitern waren städtische Proletarier geworden. Die neuen Verhältnisse schufen den bürgerlichen Architekten.
Zurück in diese alte Zeit: Pilgramer betritt das Treppenhaus, gelbe Messingstangen halten rote Kokosläufer, in der Mitte ein Aufzugsschacht. Pilgramer holt sich den Fahrstuhl heran, steigt ein, fährt nach oben, wieder herunter, steigt aus und betritt seine Wohnung, noch leer, geht durch die Stuben. Hier sind die Tapezierer eben raus, das Parkett muß noch abgezogen und versiegelt werden. Die Decken stuckverziert, helle Papiertapeten an den Wänden. In wenigen Tagen sollen die Möbel angeliefert werden. Er geht hinüber in seine Arbeitswohnung, die schon fertig eingerichtet ist. Ein großes Zimmer, zwei Zeichentische, in den nächsten Tagen wird er hier seine Papiere, Pläne, Bauunterlagen einordnen. Ein anderes Zimmer soll ihm als Büro dienen, ein mächtiger Schreibtisch mit geschnitzten Seitenteilen, ein dazugehöriger Schrank, ein kleiner, in die Wand eingelassener Safe, bis zur Decke Regale aus wertvollen Hölzern für Bücher und Kunstsammlungen, schöne, kostbare Teppiche, Portieren aus dunkelgrünem Samt, eine große Ledergarnitur. So ungefähr muß die Einrichtung ausgesehen haben.
Jetzt im Wagen neben Schelsky überfällt den Greis die Erinnerung an dieses Zimmer, an behagliche Lesestunden, an die Abende mit Gästen, Herrengesellschaften, eine wunderbare Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg, sorgenlos, reich, ein Günstling des Glückes, aus eigener Kraft was geworden. Hausbesitzer, Aktionär der neuen städtischen Bahnen. Vorzugsaktien, die ihm Straßburger verschafft hatte, gesuchter Architekt, dem die Aufträge nachliefen. Ein Büro erledigte diese Geschäfte. Und das alles konnte einer von sich sagen, der noch nicht einmal die Lebensmitte überschritten hatte.
«Reden Sie Ihrem Enkel, doch zu, in unser Institut zu kommen», sagt Schelsky.
«Das ist ganz gleichgültig», antwortet der Greis bitter, «er ist Angestellter und bleibt es überall. Ich werde mich in diese Dinge nicht einmischen»
Dann beruhigt er sich wieder, es ist sinnlos, sich jetzt noch aufzuregen, mit diesen neuen Herren spinnt niemand mehr Seide.
Der Greis, einmal in Erinnerung schwelgend, dreht die Uhr noch einmal zurück. Eines Sonntags bei Straßburger, draußen an der Spree. Zuweilen stand er mit ihm auf gespanntem Fuß, sonst hielt er Freundschaft mit dem Regierungsbaurat, sie brauchten einander. Er, Pilgramer, war damals schon was, verstand sich auf die neuen Werkstoffe, auf Glas, Beton, Stahl.
Trotz der Aufträge empfand Pilgramer Mißbehagen, sehnte sich nach Parks, gezirkelten Wegen, Hecken, Springbrunnen, Putten, überraschend auftauchenden Pavillons. Im Umgang mit seinen Auftraggebern, den Neureichs, den Zugreifenden, den Eroberern und Spekulanten, noch dazu Berliner Prägung, einer besonders pikanten Mischung aus Grobschlächtigkeit, Frechheit, Besitzstolz und Selbstbewußtsein hütet er sich, seine Gefühle kundzutun. Ganz von selbst war er bei dem gelandet, was Straßburger ihm als konservativ ankreidete.
Das Baugeschäft in Mahlsdorf behielt er nicht nur, sondern erweiterte es sogar, die Niederlassung erwies sich als günstig. Er wußte auch, daß ihn Straßburger bewunderte mit unverhohlenem Neid, so wie ein Lehrmeister einen Schüler bewundert, der das Gelernte allzugut anwendet, den Lehrer beiseiteschiebt. Es war wirklich etwas aus dem jungen Mann geworden, mit schwarzem, scharf ausrasiertem Bart, mit lebhaften Augen, dichten, auf den Kragen stoßenden Haaren, den eingefallenen Wangen, den großen kraftvollen Händen des Maurers.
Eines Sonntags bei Straßburgers zu Mittag, Rachel oder Rahel Straßburger im schwarzen Kleid, mit einem weißen Spitzentuch in den fleischigen, gepolsterten weißen Händen; schmucküberladen ziehen diese Hände die Blicke förmlich an. Markus Straßburger, krummrückig, blaß, unberührt von fremdem Tagesruhm, ohne Gefühl für den Glanz eines aufgehenden Sternes, plinkert gutmütig den schönen Mann an, den Protegé des alten Straßburger. Ruth Straßburger, die Frau, untersetzt, etwas zu Fettleibigkeit neigend, Jüdin aus orthodoxem Haus, hochgebildet, belesen, musikalisch, ihr Sohn Elias, und Fred Pilgramer, nervös, aufbrausend, unkonzentriert, ungezogen. Seine, Pilgramers, Frau schließlich, Luise geborene Emmerich aus Logau, Kaufmannstochter, eine Gans, wenig anziehend.
Später im Billardzimmer, Straßburger am Queue: Sie, junger Baumeister, sind mir eigentlich was schuldig. Ein Angsthase waren Sie doch, als Sie herkamen. Aber so ist das mit euch jungen Leuten, hat man euch mit Fleisch gefüttert, wollt ihr Blut. Wir sitzen hier auf einem Druckkessel, Pilgramer,auf einem Pulverfaß, wie man so sagt. Was soll das mit diesem Kaiser, der immerfort mit dem Säbel rasselt. Merken Sie nichts? Krieg, mein Lieber, und Krieg bedeutet für diesmal nicht die Kabinettkriege der alten Zeit, dieses Mal bedeutet er den Untergang einer Epoche.
Pilgramer denkt, was faselt der Alte wieder? Ihre sozialistischen Ambitionen, Herr Rat, sind auch nur ein holder Traum.
Sie unterschätzen die Gefahr, alle tun es. Sie bezichtigen mich ganz unnötig sozialistischer Gesinnung. Sie haben sich auch sehr verändert, junger Baumeister. Na, regen wir uns nicht auf, es kommt ja doch, wie es kommt. Soviel Jakobinertum muß wohl noch in einem Bürger stecken, zumal in einem preußischen Juden.
«In einer Nacht», sagt der Greis im Auto zu Schelsky, «in einer Nacht war hier alles zu Ende.»
Schelsky nickt, und der Alte merkt, daß Schelsky ihn jetzt rasch loswerden will. Kunststück, den ganzen Nachmittag haben sie verredet, und der Mann Schelsky muß auch dem Erfolg nachjagen, ohne das Ziel, ohne das Ende zu kennen.
Damals in seiner Wohnung war er diesem Schelsky noch ähnlich. Mit dem Fahrstuhl fuhr er nach unten, ein älterer Mann mit verschossener blauer Jacke trat ihm entgegen, zwei gefüllte Kohleneimer in den Händen, der Portier, eine eigene Geschichte und eine unangenehme Geschichte. Jahnings war mal Polier gewesen, auf seiner, Pilgramers, Baustelle, stürzte vom Baugerüst, wurde Invalide. Den Schadenersatzprozeß verlor Jahnings, aber Pilgramer bot ihm die Portierstelle an.
Tach, Jahnings, sagt Pilgramer, nie hätte er geglaubt, er bekäme das so raus, wie ein echter Berliner, aber es hört sich ganz gut an.
Tach, Herr Piljramer, ick hab mir schon jewundert, wer hier ruff- und runterfährt, et konnten ja wohl bloß Sie sind.
Ja, und hören Sie, morgen heizen Sie meine Wohnung. Sie wissen schon, ich will arbeiten. Es wird kühl, glaube ich.
Is jut.
Aber nicht mit den Kohleneimern in den Fahrstuhl, Jahnings.
Werd ick doch nich, sagt der Portier, aber seine grauen Augen sehen den Hausbesitzer Pilgramer fest an, lange hält die Festigkeit dieses Blickes nicht vor. Nicht, daß Pilgramer den Mann, dem er Arbeit und Brot gibt, schärfer fixiert hätte. Er denkt an etwas anderes, sieht an Jahnings vorbei, gleichgültig.
Soll ick hinter Ihn abschließen, oder komm se noch mal retour?
Schließen Sie ab, gute Nacht.
Schelsky hält. Der Greis steigt aus, bedankt sich noch einmal, Schelsky nickt nur. Dann fährt das Auto mit dem Architekten ab. Pilgramer geht zum Fahrstuhl, drückt die Knöpfe und lauscht auf das Surren des Aufzuges.
Er schließt die Wohnungstür auf und betritt die Diele, legt Hut, Mantel und Stock ab, ehe er sich in das große Zimmer begibt. Er hat jetzt wenig Lust, mit seiner Schwester zu reden, erst jetzt spürt er die Erschöpfung, die ihm dieser Tag beschert hat.
Elfie, auf der Couch, blickt nur hoch, als ihr Bruder durch das Zimmer geht, er brummt einen Gruß und verläßt den Raum wieder. Dann legt er sich zur Ruhe, ohne sich auszuziehen. Es hat keinen Sinn, diese alten Geschichten wieder heraufzubeschwören.
3
Gegen elf kam Lisa in die Redaktion, sie setzte sich ins Sekretariat. Dort traf sie ein paar freie Mitarbeiter, die auf Audienz beim Alten warteten, und Zebosinski.
«Die ganze Mafia», murmelte Lisa.
«Bloß du hast noch gefehlt», sagte die Sekretärin, «willste einen Kaffee? Wasser ist gerade heiß.»
Lisa schnoddrig: «Ich will immer einen, wenn gerade Wasser heiß ist.»
«Dann mußt du dir einen machen»
Lisa fühlte sich nicht wohl, irgendwie befiel sie immer ein Druck, wenn sie dieses Haus betrat. Einen Grund dafür hätte sie nicht angeben können, aber sie war davon überzeugt, daß sie die Belastungen ihrer Arbeit nervlich nicht vertrug. Gehorsam schluckte sie alle Tabletten, die ihr vom Arzt verordnet wurden, ging zu jeder Untersuchung, aber viel kam nicht heraus bei all diesen Versuchen, sie von ihrer Nervosität zu befreien. Andererseits genoß sie das mit dieser Arbeit verbundene öffentliche Ansehen.
«Hat sich einer nach mir zerrissen?»
Sie trank Kaffee, rauchte hastig, fühlte, wie ihr der Schweiß ausbrach, und meldete sich ab.
«Ich habe was zu erledigen. Wenn was ist, ab Nachmittag bin ich sicher wieder zu Hause.»
Auf dem Flur, als sie schon die Treppe erreicht hatte, wurde sie von Zebosinski eingeholt. Er verstellte ihr den Weg. Sie blieb stehen. Als er ihr zu lange schwieg, fauchte sie: «Hör mal, bist du so schwer von Begriff, oder muß ich es dir deutlich sagen? Ich habe jetzt nur noch wenig Zeit, ruf bei Gelegenheit mal an, und überhaupt, ich will keinen Klatsch. Kurz und gut, laß mich in Ruhe.» Wider Erwarten gab er den Weg frei.
Sie drehte sich auf der Treppe um. «Wirklich, ich kann es nicht ändern. Da ist auch noch was anderes passiert, mach dir deinen Vers drauf»
Unten stöhnte sie vor überstandener Anstrengung. Was tun mit dem angebrochenen Tag? Zuerst fuhr sie zur Bank. Der Stand ihres Kontos bestürzte sie. Sofort entschied sie, in Zukunft weniger auszugeben, anschließend ging sie in eine Boutique und kaufte etwas Traumhaft-Schönes auf Scheck, erschrak über die unnötige Geldausgabe und beruhigte sich bei einem Eisbecher damit, daß sie schließlich eine Frau sei, daß sie was vom Leben haben wolle, daß sie ja auch arbeite und keinem Rechenschaft schulde.
Nach dem Eis entsann sie sich ihres Jungen, erstand ein Dreirad, und da es spät war, ließ sie sich mit der Taxe zu ihrer Mutter bringen. Bis zum Abend blieb sie dort, spielte mit dem Kind, wusch, fütterte es und brachte es zu Bett. Danach sah sie ihrer Mutter beim Stricken zu und dachte über eine Ausrede nach, wie sie sich vor diesem Abend drücken könne.
«Du siehst müde aus», sagte die Mutter, «leg dich doch hin.»
«Ich habe kaum vier Stunden Schlaf gehabt, lange halte ich das sowieso nicht mehr durch. Heute muß ich noch was tippen.»
Respektvoll nickte die Mutter, man verstand sich gut aufgrund eines Mißverständnisses.
Als Lisa glaubte, ihren Pflichten Genüge getan zu haben, verschwand sie und fuhr nach Hause. Sie legte sich wirklich hin und wartete auf Lab. Gegen zehn stand sie wieder auf und beauftragte sich zu arbeiten. Sie ging systematisch vor, brühte zuerst Kaffee und legte Zigaretten bereit, ohne das hätte sie keine Silbe schreiben können. Sie dachte an ihn und wurde wütend, weil er sich nicht meldete. Zumindest hätte er anrufen können. Dann erschrak sie tief, vielleicht war etwas passiert.
Sie nahm ein paar Tabletten und stellte sich auf den Balkon. So würde sie seinen Wagen sehen können. Es war ja wirklich lächerlich, daß sie sich derart aufregte. Endlich schnarrte das Telefon, sie ließ es erst einige Male klingeln, ehe sie den Hörer abnahm. Sie wollte harmlos fragen, bist du schon zurück?
Es war nicht Lab, sondern Zebosinski.
«Was willst du?», fragte sie eisig. Nicht, daß sie Zebosinski gern verletzte, aber sie war so sicher gewesen, daß Lab endlich anrief, und der Benjamin mußte die Reaktion auf ihre Enttäuschung hinnehmen. Er sagte ihr durch, sie sollten früh bei Holz sein.
«Hör mal», sagte sie, «du spinnst wohl, mich wegen dieser Bagatelle anzurufen, als ob ich nicht sowieso morgen in der Redaktion gewesen wäre. Ich habe auch Nerven, nicht bloß du.»
«Wie», fragte der Benjamin, «ich verstehe dich akustisch nicht.»
«Gott, bist du ein Kamel», sagte sie versöhnt. Dann war sie restlos alle.
Ich bin krank, sagte sie sich; sicher, das ist ja nicht normal, aber wer ist heutzutage schon normal? Sie rauchte und trank den Rest Kaffee, dann suchte sie sich bei den sicheren Bildern der vergangenen Tage zu beruhigen. Der alte Herr neulich in Mahlsdorf, eigentlich könnte Lab dieses Haus ausbauen, sie beide könnten dort einziehen. Großer Mist, Lab kam, schlief mit ihr, ging wieder seiner Wege. Es hätte ja auch ein anderer sein können. Wer nimmt schon eine mit Kind? Der Herr Stadtarchitekt doch wohl nicht.
In Selbstmitleid kamen ihr die Tränen, ein Glück, daß sie allein war, dieses Flennen tat ihr wohl. Völlig zerschlagen war sie jetzt. Im Bad stellte sie sich unter die heiße Dusche, beschäftigte sich mit ihrem Körper; aus der Arbeit, die sie vorgehabt hatte, wurde nichts mehr. Das Vernünftigste wäre gewesen, jetzt zu Bett zu gehen, aber körperlich war sie eben nicht müde, nur erschöpft, schwer auszudrücken.
Auf dem Balkon ließ sie sich von der milden Nachtluft erfrischen. Fast hinter allen Fenstern waren die Lichter schon aus, Ruhe in der Stadt, und da kam auch ein Auto gefahren. Sie brauchte sich gar nicht anzustrengen, auch so wußte sie, daß Lab jetzt kam. Sie beobachtete, wie er das Auto abstellte, die Tür verschloß, einen Moment lang vor der Haustür stand; sie sagte sich, daß alle Aufregung wieder mal für die Katz gewesen ist.
Später sagte Lab, er sei den Tag über im Kraftwerk gewesen, also auf der Baustelle bei Koblenz. Zurück habe ihn eine Umleitung aufgehalten. Mit Architektur habe das da draußen allerdings nicht das Mindeste zu tun. Ein Bauingenieur, Betonfachmann wäre da am rechten Platz. Eher würde sich noch jemand zurechtfinden, der was von Ökonomie verstünde und von Statik.
«Willst du alles wieder rückgängig machen?» Lisa ärgerte sich, daß er sie nicht fragte, daß er sie in seine Entscheidungen nicht einbezog.
«Ich mach es doch.» Lab lächelte. «Was kann mir schon passieren?»
Er kramte in ihrem Plattenstapel, legte etwas auf, und sie sah ihm zu. Er benahm sich, als wäre er hier zu Hause, plötzlich war er ihr fremd.
«Du machst mich fertig», sagte sie.
«Ach, hör schon auf», er setzte sich zu ihr, legte den Arm um ihre Schultern, und sie lehnte sich an ihn. Wie sollte das nun werden, wenn er wirklich auf diesen Bau ging? Würde er dann alle paar Wochen mal herkommen?
«Das ist dort ein verrückter Laden», fuhr Lab fort, «ein Heerlager. Was soll ich dir sagen?»
Es interessierte sie wenig, was da draußen geschah, oder, zu anderer Zeit hätte es sie schon interessiert, aber nicht nach diesem Tag des Nichtstuns, der Fehlspannungen. Ihr Instinkt suchte herauszufühlen, was Lab empfand, was er dachte. Ein Architekt arbeitete doch sonst in einem ruhigen Zimmer, schuf Zeichnungen und Entwürfe, bastelte Modelle zusammen, so was sah man dann auf den Ausstellungen, aber Lab wartete wohl immer noch auf das Wunder. Vielleicht dachte er, man würde ihm eine große Aufgabe übertragen, seinem Ehrgeiz angemessen, aber warum Ehrgeiz?' Wozu? Ging es um Geld, Ansehen, Aufträge, ein Egoist also?
«Hast du dich nun endgültig entschieden?» Sie wartete mit Spannung auf die Antwort, sie würde heute entschlossen weiterfragen. Warum hatte sie nicht den Mut zu fragen, wie soll das mit uns weitergehen? Keine Antwort, sie hatte den Mut eben nicht.
«Nein», Lab zündete zwei Zigaretten an und gab ihr eine, «Schelsky hat ganz recht, erstens habe ich keine Erfahrung im Kraftwerkbau, zweitens bin ich kein Bauingenieur, drittens ist Koblenz wie ein Zeitzünder. Er hat einen jungen Mann draußen, den soll ich ersetzen. Ohne Probezeit läßt sich gar nichts sagen.» Eine Weile schwieg er, dann sagte er: «Im Grunde bin ich ein unbeschriebenes Blatt, Lisa. Deshalb bin ich auch für alle annehmbar, verstehst du? Pilgramer? Was hat der denn schon gebaut? Ich warte auf die große Sache, und sie kommt, sie muß kommen.»
Plötzlich entdeckte Lisa an Lab eine starke, abstoßende Ähnlichkeit mit dem Greis.
«Gerade habe ich entdeckt», sagte Lab, «daß ich bisher aber auch rein gar nichts gemacht habe.» Er lachte. «Ich bin sozusagen noch ungeformt.»
«Du bist», sagte sie trocken, «nichts weiter als verwöhnt. Immer ist dir alles leicht gemacht worden, die kleinlichen Sorgen der übrigen Leute hast du nie kennengelernt.»
«Kann schon sein», räumte er ein, «ich habe erst jetzt festgestellt, wie viel Vergangenheit man mit sich herumschleppt. Ich muß das wirklich mal loswerden, aber wie? Ganz recht, ich könnte weiter so leben, es fehlt mir an nichts. Ich könnte mal hier, mal da was bauen. Ich fühle mich wohl. Wie der Esel, der aufs Eis geht. Andererseits, ich stehe doch ewig im Schatten anderer. So muß ich allmählich vertrotteln, ein Greis von vierzig Jahren, also lieber aufs Eis»
Lisa dachte, diese neue Ungewißheit hätte er uns ersparen können. Sie wollte Lab hinauswerfen, sich ein für alle Mal von ihm trennen, aber sofort überflutete sie Panik. Bloß keinen Bruch. Lab würde wahrscheinlich mit ein paar freundlich bedauernden Worten gehen, ein Selbstverwirklicher.
«Reden wir lieber von was anderem», sagte sie.
4
Für Lisa verband sich mit Theerberg die Vorstellung des Zusammenbruchs ihrer Beziehung zu Georg Pilgramer, einer Beziehung, die im Grunde genommen auf schwachen Füßen stand. In der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft hatte es zwar nicht an Beteuerungen gefehlt, einander zu lieben und zu helfen, aber vorerst war es bei der Liebe geblieben, die einem Strohfeuer glich.
Lisa besaß eine kleine Wohnung in einem Altneubaugebiet. Mit Hilfe ihrer Eltern hatte sie die eineinhalb Zimmer nach ihrem Geschmack möbliert. Was man nach heutigen Vorstellungen unbedingt an elektrischen Haushaltsgeräten braucht, das besaß sie. Trotzdem lebte sie nach dem Tode ihres Vaters mehr bei ihrer Mutter, die ja auch den Jungen versorgte, als bei sich zu Hause. Allein hielt sie es nicht aus. In der Redaktion galt Lisa als emanzipiert; die tüchtige Lisa, die alles zuwege brachte, überallhin geschickt werden konnte, sich überall behauptete, wie ein Mann. Lisa selbst glaubte, sie müsse diesen Ruf durch Erfolg rechtfertigen, aber es kostete sie mehr Kraft, als sie besaß, um sich auf der Höhe ihres Rufes zu halten. Sie war eben nicht Hans Dampf in allen Gassen, sondern eher furchtsam, und sie besaß eben kein Durchsetzungsvermögen, sonst würde sie sich gegen Aufgaben gewehrt haben, die eher einem Mann als der Alleinstehenden, abgeschwächtes Synonym für sitzen gelassen, zugemutet werden konnten. Eine andere hätte sich einen ruhigeren Arbeitsplatz gesucht oder wäre bereit gewesen, ihr Unvermögen einzugestehen.
Mancher durchschaute natürlich, daß Lisa nicht die Karrierefrau war, aber solange sie selbst nichts tat, sah eben auch keiner einen Grund, einzugreifen. So war es am bequemsten. Außerdem kannten die meisten die Affäre mit dem Vater ihres Kindes, einem freien Mitarbeiter, der sich rechtzeitig empfohlen hatte; alles das war im ersten Jahr nach Abschluß ihres Studiums geschehen. Lisa empfand dieses persönliche Scheitern als doppeltes Versagen. Mit dem Kleinkind hätte sie, ohne Hilfe ihrer Mutter, kaum journalistisch arbeiten können. Sie kannte ja ähnliche Fälle, wo eine Kollegin zurückstehen mußte, weil ihr Kind krank wurde oder Fürsorge brauchte. Da sprang Lisa ein. Ich mach es. Wäre Holz auf den Einfall gekommen, ihre Arbeitsbereitschaft öffentlich abzulehnen, sie würde bis zur Weißglut erhitzt, auf ihr vermeintliches Recht gepocht haben; ein Mißverständnis auf beiden Seiten, denn Gleichberechtigung wird zur Phrase oder zum Folterinstrument, wenn die Frauen in Leistungskonkurrenz zu den Männern gesetzt werden. Im Stillen sagte sich Lisa, was sie öffentlich nie zugegeben hätte, daß sie dauernd hereingelegt wurde.
Bei ihrer Mutter schimpfte sie: «Eine Frau muß immer doppelt so gut sein wie ein Mann, glaub mir, Mutter. Was Holz mir kalt lächelnd zurückgibt, das nimmt er einem Mann bloß mit schiefem Maul ab. Und sie gab bei solchen Gelegenheiten offen zu: «Wenn du dich nicht um den Jungen kümmern würdest, könnte ich mich glatt aufhängen.»
Die Mutter wehrte erschrocken ab: «Um Himmels willen, es müssen ja so viele Frauen allein mit Kind und Beruf fertig werden, und es geht.»
«Ich bin nicht so sicher, ob es wirklich geht.»
Lisa fuchtelte wütend mit der langen Nagelfeile herum, pustete den Nagellack trocken, indessen sie vorsichtig, um den Lack nicht zu beschädigen, die Zigarette zum Mund führte.
Vor der Mutter behauptete sie großspurig: «Ein Mann hätte mir gerade noch gefehlt, ich müßte ja verrückt sein, mich mit einem Kerl zu behängen.»
Nicht zu Unrecht fragte die Mutter sie: «Und warum pinselst du soviel an dir herum? Für die Damen bei euch doch wohl nicht.»
«Bei uns gibt es keine Damen», sagte die Redakteurin wegwerfend, «nur Männer, und die sind auch danach, Glatzen, Bäuche, Herzinfarkte», drohend schloß sie: «Aber ich kann mithalten mit diesen Idioten.»
Seit sie Georg Pilgramer kannte, blieb Lisa jetzt viel in ihrer eigenen Wohnung. Er kam zu ihr, blieb auch häufig über Nacht, oder sie blieb bei ihm; alles in allem hätte es eine schöne Zeit sein können. Es wurde eine Zeit der Qual, der Lüge und der Heuchelei.
Ihrer Mutter war der Neue vorgestellt worden. Mit der ihm angeborenen Leichtigkeit fand Georg Kontakt zu Lisas Mutter und zu dem Jungen, aber die Mutter, die sich sonst als Mädchen für alles gebrauchen ließ, trat in den Weiberstreik. «Was bildest du dir eigentlich ein? Ich bin nicht deine Magd. Manchmal seh ich dich die ganze Woche nicht. Gut ist das auch für dein Kind nicht, warum erklärt sich dein neuer Freund nicht, wenn es wirklich die große Liebe ist, wie du mir weismachen willst? Und überhaupt benimmt sich ein Mann, der ernste Absichten hat, anders gegenüber seiner Künftigen. Die Hände wischt er sich an dir ab, nichts weiter. Und du? Du amüsierst dich auf meine Kosten. Ich mach das nicht mit.»
Und Lisa Fouchénd: «Ich bin nicht auf dich angewiesen, das merk dir, Mutter.»
Das letzte Wort behielt die Mutter. «So, nicht auf mich angewiesen? Dann nimm dein Kind, und geh deiner Wege.»
Es wäre sicherlich einfacher und auf die Dauer leichter gewesen, diesem Rat zu folgen. Aber davor schreckte Lisa zurück. Die Mutter mußte die Tochter zuletzt noch beruhigen, und alles blieb beim Alten. Lisa gab der mütterlichen Erpressung nach.
Ihre Sehnsucht richtete sich auf eine Familie, Vater, Mutter, Kind, aber sie wollte auch den Anspruch auf ihre Arbeit nicht verlieren, und sie sagte sich, daß beides auch im Bereich des Möglichen lag, hätte Georg Pilgramer nur gewollt. Beide Frauen spielten ihm die allerschönste Eintracht vor; das kleine Kind schrie vor Vergnügen, wenn der lange Laban erschien und eine Stunde mit ihm spielte. So zog er Vorteile aus dem Verhältnis, indem er sich dumm stellte. Indessen saß Lisa wie auf Kohlen, um wegzukommen. Nicht, daß sie was gegen dieses fröhliche Idyll gehabt hätte, und sie war auch ziemlich sicher, daß Georg sich wirklich über den Knirps freute und nicht nur so tat. Sie fürchtete vielmehr die Sticheleien ihrer Mutter, etwa eine Aufforderung, zu bleiben, nicht wegzugehen, sich des Kindes anzunehmen, Anspielung auf das schwebende Verhältnis, Fragen nach der Familie der anderen Partei.
Unten sagte Lisa dann erleichtert: «Bin ich froh, wenn ich da raus bin, die Alte bringt mich noch um mit ihrer kleinbürgerlichen Betulichkeit.»
Als kleinbürgerlich wird leicht abgestempelt, wer entweder auf Suche nach einem Rückhalt ist oder eine gefundene Sicherheit nicht aufgeben will.
«Ich finde deine Mutter ganz nett,»
«Ich auch. Ohne sie könnte ich nicht arbeiten gehen.»
Und wieder einmal mehr wurde heruntergespielt, wurde gezinkt, verfälscht, wurde nicht gesagt, was jeder dachte. Lisa fürchtete Georg zu verlieren, er reizte sie, befriedigte ihren Körper und ihr Verlangen nach einem auffallenden Partner. Mit Stolz vermerkte sie, wenn sich jemand nach ihnen umdrehte. Kleider machen Leute, hieß es früher, Mode hebt das Selbstgefühl, und beide kauften das Beste und das Teuerste und verschafften sich durch ihre Garderobe die Vorstellung, erstklassig zu sein.
In Wahrheit hatte sich eine Vielzahl von Problemen angestaut. Lisa beobachtete bei sich die aufkommende Enttäuschung. Noch gab sie sich Mühe bei ihrem Zusammensein, aber ihre Eitelkeit, ihr Selbstgefühl waren verletzt, da er doch sehen mußte, wie es stand, wenn er nur gewollt hätte. Eines Tages würde sie aufgeben, das wußte sie aus Erfahrung,
Für ihr Aussehen tat sie ungeheuer viel, unterzog sich erbarmungslos jeder kosmetischen Strapaze, um schön zu sein, um schlank zu bleiben. Niemals hätte Georg Pilgramer hinter der glatten, wie in Milch gebadeten Haut des Gesichtes, den großen' Augen von herrlichem Grün, all diesen abgestimmten Farben und Farbklängen, hinter ihrem Auftreten, ihrer Jugendlichkeit und Schlagfertigkeit den unsicheren, verängstigten und überforderten Menschen vermutet. Er kümmerte sich auch zu wenig um Lisa. Da er sich bei der Arbeit nicht verausgabte, hielt er sie ständig durch anstrengende Einfälle in Atem. Er kaufte Platten und hörte sie stundenlang ab. Lisa verstand weder etwas von Musik noch mochte sie Konzerte, aber selbstverständlich gab sie das Manko nicht zu, wollte auch hier zu den Eingeweihten zählen.
«Hör mal das Adagio. Es gibt eine neue Mozartbiografie. Ach, übrigens ist Mozart in letzter Zeit wirklich entstaubt worden ...»
«Hat denn Staub auf ihm gelegen?»
Selbstgespräche.
An seiner Sinnlichkeit ließ er sie teilhaben, verließ sich völlig auf seine Massagetechnik.
Hellsichtig sagte Lisa: «Und wenn du mal weniger Zeit hast oder dir weniger Zeit nimmst, Georg? Oder wenn ich nicht mehr will? Oder wenn es überhaupt Ernst wird mit uns? Vielleicht muß ich die Pille absetzen, ewig geht das nicht. Wenn ich zum Beispiel noch ein Kind kriege? Was machst du, wenn wir uns wirklich ganz altmodisch lieben müssen wie Julia und Romeo oder bloß wie unsere Eltern? Bist du dann auch gut?»
«Bleib lieber bei der Sache», riet er freundlich, während er sich rasch auszog.
Sie beobachtete ihn vom Bett aus, den langen, kräftigen und sonnengebräunten Körper eines Mannes, der im besten Lebensalter ist, da, wo der körperliche Abstieg gerade beginnt und noch nicht gespürt wird. Sonderbar wirkten zu diesem jugendlichen Mann der Kopf, die festen Lippen und die hohlen Wangen. Sein Mund strich auf ihrer Haut entlang, seine Hände öffneten ihre Beine; und sie spürte das allmähliche Zusammenfließen des Blutes in ihrem Schoß.
«Komm schon», sagte sie, «mach mich nicht verrückt.»
Aber es kam auch der Augenblick der Ruhe, des Beieinanderliegens, und er fragte: «Hast du die Pille tatsächlich abgesetzt?»
«Wäre es dir lieber, ich würde sie absetzen?»
«Das ist deine Sache, aber nett wäre es, du würdest vorher mit mir darüber reden.»
Dieses Gerede war noch freundlich, aber es blieb ein Stachel zurück.
«Mußt du unbedingt nach Theerberg?»
«Ich glaube schon», sagte er, «ich werde alt. Wenn ich nicht endlich anfange, dann gehe ich in Rente, ohne was getan zu haben. Ich bin doch schließlich Architekt. Für einen Künstler ist ohne Resultat zu leben sehr schlimm. Verstehst du das?»
«Und was wird aus mir?»
«Wird sich alles finden.»
Diese beiden Menschen hatten das Pech, einander zu begegnen.
5
Ihrem Kind hatte Lisa den Namen Olivier gegeben, einen Namen, den nur einer von zehn Menschen in Berlin richtig, aussprach. Selbst Lisa ging bei Gelegenheit zu Oliver über, ließ also das i weg, ihre Mutter hatte von Anfang an das Kürzel Oli vorgezogen. Obwohl der kleine Junge von zwei Frauen erzogen wurde, die meinten, es sei eine Niederlage an dem Kind gutzumachen, was besonderer Umsicht und Sorgfalt bedurfte, war Olivier schüchtern.
Lisa versuchte ihn in einen Kindergarten zu bekommen, bisher waren alle Versuche mißlungen, und so wie Lisa mit Behörden umging, falls es ihre eigenen Angelegenheiten betraf, hätte sie hundert Jahre auf einen Platz warten müssen.
Allerdings hing ihre Mutter sehr an dem Enkel, von daher spürte Lisa auch keinen Druck. Manchmal gestand sie sich die Hoffnung ein, zu heiraten und damit ihr Lebensproblem zu lösen. Gleichzeitig empörte sie sich gegen diese Hoffnung, die ja bedeutete, sie wäre auf einen Mann angewiesen, hätte sich zu unterwerfen. Zu ihrer Mutter sagte sie: «Alles Unsinn mit der Gleichberechtigung. Eigentlich müßte doch mal einer dieser wütenden weiblichen Gleichheitsapostel auf die Idee kommen, daß auch eine Frau einem Mann einen Antrag machen kann, stimmt' s?»
Die Mutter, die vor solchen Einfällen zurückschreckte, riet lebensklug: «Mach das bloß nicht. Jeder würde dich für ein Flittchen halten.»
«Na, siehste, isses nich so?»
Zu ihrem Kind hatte Lisa kein reines Verhältnis. Der Junge erinnerte sie zu oft und zu intensiv an eine böse Zeit in ihrem Leben. Heute sagte sie sich, sie sei damals noch ungeheuer dumm gewesen, in jedem Punkt, und mit dieser faulen Ausrede deckte sie den tatsächlichen Grund ab. Das verwöhnte Einzelkind, das nie gelernt hatte, in größeren Gemeinschaften zu leben, für das immer der Vater entschieden hatte, so viel und so oft, daß 'er zu einem Idol geworden war, stellte einen Liebesanspruch, der von keinem Mann zu erfüllen gewesen wäre.
Der Mutter gegenüber drückte es Lisa einfach aus: «Du hattest mit Vater ein mächtiges Glück, oder kannst du dich erinnern, daß mal was nicht gelaufen wäre?»
Ihr Überschuß an Vertrauen damals stellte nur die Kehrseite der Medaille dar.
«Harry war einfach ein Schweinehund, Mutter. Ich glaube, der konnte gar nicht anders. Wenn er den Mund aufmachte, schwindelte er, wenn er ihn zumachte, hatte er geschwindelt.»
«Und warum hast du das nicht beizeiten gemerkt? Wir haben dich zur Schule gehen lassen, studieren lassen.»
Nicht zu Unrecht entgegnete Lisa: «Als ob man so was auf Schulen lernt. Als Scheuerfrau, ach nee, Raumpflegerin hätte ich wahrscheinlich eher leben gelernt.» Sie besaß ein gutes Gefühl für die Heuchelei, die in der Begriffsklitterung Raumpflegerin lag.
Der Vater Oliviers kümmerte sich nicht um das Kind, zahlte manchmal, unterließ es häufig. Lisa hatte nicht die Kraft, vor Gericht ihren Anspruch durchzusetzen.
«Na und? Ich komm auch so durch.»
Sie kam auch so durch, ohne Zweifel, aber sie wußte auch, daß sie sich nur vor einer harten Entscheidung drückte. Einmal war sie der Unterhaltszahlungen wegen zum Justiziar des Hauses gegangen, einer älteren und würdigen Juristin, die den Verlag vertrat. Vertraulich hatte diese geraten: «Weißt du, Lisa, Harry ist doch freischaffend. Wir können es natürlich versuchen, aber viel Hoffnung mach ich dir nicht. Gehalt können wir nicht pfänden lassen. Sachen hatte er auch früher nicht, jetzt wird er sich hüten, pfändbare anzuschaffen. Erfahrungsgemäß ist es sehr schwer, von solchen Männern auch nur einen Pfennig zu kriegen. Und dann denk mal, wie das auf sein Verhältnis zu dem Kind zurückwirkt. Er ist ja schließlich der Vater.»
«Und so was nennt ihr Recht?»
«Natürlich hast du ein Recht auf Unterhalt, es fragt sich nur, inwieweit das Gesetz anwendbar ist. Soll ich die Klage einleiten? Hast du daran gedacht, daß es blitzschnell im Hause rum ist, wenn du vor Gericht gehst. Dafür wird Harry sorgen,»
Lisa, nach kurzem Nachdenken: «Laß es, bettel ich also weiter. Es geht mir nicht um die achtzig Mark, es geht mir um die damit verbundene Demütigung, zu erbetteln, was mir eigentlich zusteht.»
Und zur Mutter: «Ich werde ihm Olivier vor die Tür stellen, Mutter. Wieso denn eigentlich immer die Frau, wieso denn? Weil sie die Mutter ist? Unsere Oberdurchgucker halten Muttergefühle doch für Biologismus.»
«Wofür halten sie es?»
«Ach, schon gut.»
Widersprechenderweise war es ihr doch nicht recht, daß Georg Pilgramer zu dem Jungen ein Verhältnis hatte, freilich ohne den Zwang der Verpflichtung. Der Abstand an Jahren war für beide günstig, der Knirps in jenem Alter, wo alles schon funktioniert, wo Sprache und Mimik erlauben, sich verständlich zu machen. Georg begann das Kind zu entdecken, der schönsten Entdeckung nächst der der Liebe. Lisa beobachtete diese Entwicklung mit Eifersucht.
«Ich habe doch nichts dagegen, Mutter, bloß, er verzieht ihn. Wir müssen dann sehen, wie wir mit Olivier fertig werden.»
«Aber Lisa, wenn ihr wirklich mal heiratet, dann ist es doch richtig, daß er sich mit Oli befreundet. Was weiß denn ein Kind vom Vater? Jede beliebige Person kann doch zum Vater werden.»
Herabgestimmt murrte Lisa: «Selber keine Kinder haben wollen.»
Kurz bevor Pilgramer nach Theerberg ging, kam er mit dem Vorschlag, vierzehn Tage Urlaub zu machen. Für diesen Einfall war Lisa ihm dankbar, redete ihm aber aus, den Jungen mitzunehmen. Ehrlich bekannte sie: «Ich habe seit ein paar Jahren keinen richtigen Urlaub mehr machen können, immer mit Mutter und dem Kleinen am Halse. Wennschon, dennschon.»
In den Tagen der Reisevorbereitung verwandelte sie sich von einer nörgelnden, unter nervösen Störungen leidenden Berufstätigen in eine freundliche und großzügige Frau. Sogar unlustig begonnene Arbeit ging ihr plötzlich leicht von der Hand. Dank der Vorfreude holte sie spielend aus dem Tag heraus, was drinsteckte, hielt ich ordentlich in der Redaktion auf, tat sorgfältig, was ihr übertragen und lehnte Mehrarbeit ab. Zu Hause wusch und bügelte sie, packte aus, packte ein, konnte auf ihre gewohnten Tabletten verzichten, schlief tief, mit dem Resultat, erholt aufzustehen.
Das fiel natürlich auf. Pilgramer fragte: «Sag mal, Schatz, hast du irgendwas geerbt? Wirst du Chefredakteur?»
«Ich freu mich ganz einfach. Das ist es! Wir sind mit unserer idiotischen Sucht, alles zu perfektionieren, so weit, daß wir ohne Freude leben.»
«Was heißt wir? Doch nicht alle Leute. Such dir eine andere Arbeit, eine, die dir besser liegt.»
Er nahm sie in die Arme; sie sagte, sich auf Zehenspitzen stellend: «Laß dir die Beine kürzen.»
Ihrer Mutter erklärte sie: «Es soll so was wie eine Kreuzfahrt werden.»
«Ist er denn fromm, religiös?»
Lisa erläuterte, was sie meinte, und schloß: «Wenn der Junge in die Schule kommt, ist es sowieso aus mit solchen Touren. Schön, daß ich dich habe, Mutter.»
«Ach, Mädel, wenn du immer so sein würdest, hätten wir es um vieles leichter.»
Lisa versprach, mindestens alle zwei Tage anzurufen, um sich nach dem Kind zu erkundigen. «So was wollte ich schon immer mal machen, ich bin nie dazu gekommen.» Sie stutzte. «Wie alt bin ich denn? Gerade dreißig. Ich will dir mal was sagen, ich habe wohl manches falsch gemacht. Aber den liebe ich wirklich.»
Lebenserfahren fragte die Mutter: «Weil er mit dir wegfährt, deshalb glaubst du das?»
Am letzten Tag hatte Lisa zufällig mit Zebosinski Dienst, den sie ganz aus ihrem Bewußtsein gelöscht hatte. Zebosinski rief nicht mehr bei ihr an, nachdem er ihr tagelang durch nächtliche Anrufe den Schlaf geraubt hatte. Schließlich war es auch Pilgramer aufgefallen, daß regelmäßig angerufen wurde. Da es gelegentlich auch seinen Schlaf betraf, drohte er dem jungen Mann mit einer Anzeige.
Jetzt sagte Lisa zu ihrem Verflossenen: «Mach doch nicht so einen Aufstand, Zebo. Es gibt ja nicht 'ne Handvoll, es gibt ja das ganze Land voll.»
Zebosinski antwortete: «Wir werden ja sehen, wie lange deine Handvoll hält.»
Nach Dienstschluß warf sie sich neben Pilgramer in den Autositz. «Erledigt, kannst die erste Stufe zünden.»
Er startete den Motor.
6
Eigentlich war es eine der gewöhnlichsten Urlaubsfahrten, nicht weit und nicht aufwendig. Trotzdem war es eine schöne Reise, vielleicht gerade weil sie sich nicht zu viel vorgenommen hatten, ohne Plan fuhren, nicht unbedingt in einer selbst gestellten Frist irgendwo ankommen wollten. Zum ersten Mal erlebte Lisa einen Mann aus der Nähe, der nicht ihr Vater war.
Sie sagte sich, ihre Ruhe käme zu einem gut Teil aus der Sicherheit Georgs. Den, regte anscheinend nichts auf. Ob sie ein Hotel fanden oder nicht, ob sie ein oder zwei Zimmer nahmen oder ob sie einfach bei Fremden anklopften und um ein' Nachtquartier baten, immer wiederholte sich derselbe Vorgang. Georg sagte seinen Spruch, quittierte das mürrische Nein verständnisvoll nickend. Meist erreichte er, was er wollte; er bezahlte ausreichend, ohne zu übertreiben.
Übrigens war an Georg vieles gewöhnlich, wie Lisa meinte, das heißt wie bei Hinz und Kunz, der Trockenrasierer, das Transistorradio, Zeitungen kaufen, ohne sie wirklich zu lesen, das im Stehen verzehrte Backhähnchen. Oder der zu viel getrunkene Schnaps, was für den Entzug der Fahrerlaubnis gereicht hätte, eine der Tragödien unserer Zeit, die einen Sterblichen treffen können,
«Die weißen Mäuse kriegst du doch auch rum.«
«Die nicht», bemerkte Georg, «auf den Versuch laß ich es nicht ankommen.» Selbstverständlich vertraute er wie alle Sünder auf sein Glück, nicht ertappt zu werden.
In einer Gaststätte zwischen Jena und Dornburg fragte Georg den Wirt, ob er ein Zimmer habe. Es war keines frei. «Natürlich, sagen Sie, wo ist denn vielleicht noch ein Gasthof, oder wo kriegt man sonst ein Quartier?»
Lisa verfolgte das Gespräch ohne Interesse, ziemlich sicher, daß der Wirt sich entweder eines Gasthofes entsann oder einen anderen Vorschlag zu machen hatte.
Georg sagte: «Zur Not haben wir das Zelt.»
Es war nicht nötig, sich des Zeltes zu erinnern, bisher war es ungenutzt geblieben.
«Für eine Nacht könnte ich Sie aufnehmen,' mein Sohn ist nicht da.»
Und so weiter.
Lisa ging zur Post, um zu telefonieren. Sie hätte von der Gaststätte aus anrufen können, aber sie wollte keine Zuhörer. Sie ging durch Dornburg, nahm sich vor, auf den Schloßberg zu steigen. In der Abendsonne sah die Bergkuppe wie geflammt aus, dank der Rosen. Auf der Post mußte sie warten, aber dann kam der Anruf durch. Ihre Mutter sagte, in Berlin sei das Wetter nicht besonders, es regne auch jetzt, und Lisa antwortete, hier sei das Wetter schön, aber sie hütete sich, allzu überschwänglich zu loben, um der Mutter keinen Anlaß zu geben, sich zu ereifern.
«Wie lange bleibst du noch?»
«Mutter, ich bin gerade den vierten Tag weg. Ist denn was?»
«Nein, nein, ich dachte nur, du warst schon länger fort. Mir ist, als wäre eine Ewigkeit vergangen, seit ihr abgefahren seid. Oli will dich.»
Lisa sagte Freundliches zu dem Jungen, der sich auch schon auf das Telefonieren verstand und einigermaßen antwortete. «Du mußt lieb sein, Mutti ist bald wieder zurück.»
Ihre Mutter bemerkte noch, der Junge habe schlecht gegessen, heute früh erbrochen, aber jetzt scheine alles wieder in Ordnung.
«Du, ich muß Schluß machen. Hier steht eine Schlange, ich bin auf der Post in einem kleinen Nest.»
Sie unterließ es, ihre Adresse anzugeben, und es hätte auch nichts genutzt, morgen früh reisten sie weiter, wohin, das würde sich erst heute Abend entscheiden, wenn Georg die Karte aufschlug. Er liebte Landkarten und sammelte sie.
Es gab auch gar keine Schlange in der Post, es war die ruhigste Post an einem Freitagabend, die man sich denken konnte.
Lisa setzte sich auf eine Bank. Dieses Gespräch mit der Mutter hatte sie verstimmt, an das Leben erinnert, welches sie in wenigen Tagen wieder führen würde. Ihre Freude und gute Laune erloschen. Es würde vielleicht Tage dauern, bis sie sich wieder gefangen hatte. Dann sagte sie sich, daß sie auf alle Fälle morgen wieder anrufen müsse, schon um zu wissen, ob der junge ernsthaft krank sei. Vielleicht hatte ihre Mutter auch wieder bloß herumgeredet, um sich wichtig zu machen.
«Du entgehst diesen Verpflichtungen nicht», sagte sie laut, «kannst machen, was du willst.»
Auf dem Rückweg ins Hotel kam sie am Bahnhof vorbei, warf einen Blick auf den aushängenden Fahrplan und berechnete, daß sie morgen ganz früh in Berlin wäre, würde sie eine Karte kaufen und den Zug nehmen, der in einer halben Stunde ging. Oder sie hätten den Jungen doch mitnehmen sollen. Dann allerdings würde ihre Mutter wieder gequengelt haben, weil sie allein bleiben mußte.
Sie kaufte in einem Konsum eine Taschenflasche Schnaps und setzte sich wieder 'auf die Bank vor der Post. Oben an den Bergkuppen legten sich blaue Schatten auf das Rot der Blumen, von der Saale her wehte es feucht, und es roch nach Abfall. Lisa trank ein paar Schlucke und rauchte eine Zigarette. Dann ging sie in eine der engen Straßen und klapperte die Läden ab. Da die meisten schon geschlossen waren, konnte sie nichts kaufen. Nach dieser Stadtrunde erschien sie wieder im Gasthof, gerade zur rechten Zeit. Georg fuhr den Wagen auf den Hof. Sie half ihm die Taschen herauszunehmen und in das Zimmer zu bringen, das ihnen der Wirt überließ.
Es lag im Obergeschoß des Hauses, eines alten Bauwerks, das sich rühmte, Goethe beherbergt zu haben. Die Dachschrägen des Zimmers waren geputzt, auf den Putz hatte der Sohn des Wirtes Poster geklebt. Es gab kaum eine Handbreit Platz an den Wänden, überall hingen Bilder und Zeitungsausschnitte. Auf einer Kommode stand ein Plattenspieler. Unschwer waren das Alter und die Vorstellung vom Leben des Bewohners dieses Zimmers zu erkennen.
Georg untersuchte die Platten: «Tanzplatten und solch Zeug.» Er gestand: «Die Beatles höre ich aber ganz gern.»
Während sie auspackten, viel war es nicht, kam der Wirt, erkundigte sich, ob sie noch etwas benötigten, und ging wieder.
Lisa legte sich auf das Bett, streifte mit den Füßen die Schuhe ab, betrachtete ihre unsauberen Zehen und fragte: «Wo kann man sich waschen?»
«Geradeaus, erste Tür rechts.» Er erkundigte sich, wie es in Berlin stehe.
«Es regnet.»
«Hast du was», fragte er.
«Was soll ich denn haben, müde bin ich, und waschen möchte ich mich.» Sie drehte ihm den Rücken zu.
«Du, morgen wohnen wir im «Bären», bei Martin Luther, ich habe in Jena einen Kumpel»
«Wo hast du keinen Kumpel?»
Sie gab sich keine Mühe mehr, ihre Mißstimmung zu verbergen. Sie wünschte, daß er die Gründe durchschaue, sich zu ihr setze, ihr gut zurede, wie einem Kind. Und er merkte auch die Veränderung, versuchte sie an der Schulter herumzudrehen. Sie wehrte sich, machte sich schwer. Er beugte sich vor.
«Du hast getrunken», sagte er.
«Wenn du nichts dagegen hast, habe ich einen Schnaps getrunken.»
Er lachte, strich mit den Händen ihren Hals und die Rückenlinie, küßte ihre Schulter, aber jetzt wirkten diese Künste nicht. Sie empfand seine Berührung als eine Belästigung und schüttelte seine Hände nachdrücklich ab. Dann schob sie ihn beiseite und stand auf.
Es klang verwundert, als er noch einmal fragte: «Lisa, was ist denn? Hast du schlechte Nachrichten? Es muß doch was sein?»
Sie stand vor dem Spiegel, ihr Herz schlug alarmierend. Dumm kam sie sich vor, aber sie wahrte Haltung, entnahm ihrer Tasche Kamm und Bürste und begann sich zu frisieren.
«Findest du nicht auch, daß wir beide ziemlich sensibel sind?»
Georg nahm ihren Platz auf dem Bett ein, seine Beine lugten über den Rand. Sie bemerkte es, und bei dieser Kleinigkeit stellte sich ihr Gleichgewicht allmählich wieder her.
«Laß dir Säge und zwei Bretter geben, damit du das Bett verlängern kannst.»
«Ich schlaf auf der Couch.»
Sie fuhr fort: «Glaubst du, daß zwei Menschen zusammenpassen, die beide gleich im Temperament sind?»
Er schwieg, sah und hörte aufmerksam zu, verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
«Wir sind und in diesen paar Tagen viel schneller nähergekommen, ich meine, wir erleben uns ja täglich. Man kann ja nicht immer gleich gut gelaunt sein. Wenn einer mal nicht im gleichen Tritt geht, ist das schon ein Beinbruch? Ich finde, es kann nicht anders sein, oder?»
«Wofür entschuldigst du dich», fragte er.
«Sicher alles Quatsch. Du gehst ja sowieso nach Theerberg.»
Wieder türmte sich dieses Hindernis auf. Sie nahm nicht an, sie könne ihn überreden, ihretwegen auf seine Chance zu verzichten. Daraus folgte, daß er seine Arbeit für das Wichtigste hielt. Aber sie würde sagen können, ich habe einen Mann, mit demselben Stolz, derselben Arroganz den Alleinstehenden gegenüber, die nicht so erfolgreich gesucht hatten, mein Mann, als ob sich ein Mensch überhaupt besitzen ließe.
«Ganz wohl ist mir nicht in meiner Haut, gab er zu. «Ich habe bis jetzt noch nie organisatorisch gearbeitet. Ich will wissen, ob ich es kann, aber ich zerbreche mir auch jetzt noch nicht den Kopf, in vier Wochen bin ich schlauer»
Er stand auf, suchte sein Waschzeug heraus und Wäsche. «Ich geh duschen, nachher könnten wir auf das Schloß gehen, Besuch bei Goethe. Willst du dich hinlegen?» Da sie den Kopf schüttelte: «Was heißt schon Temperament, sensibel, zusammenpassen? Wir kennen uns knapp ein halbes Jahr. Wenn was ist, mußt du es mir sagen, klar?»
Sie nickte heftig, die Tränen verbeißend, angesichts dieses von ihr ersehnten Vatertones. Zugleich schwor sie sich, lieber den Mund zu halten, denn Georg war ja nicht ihr Vater, sondern etwas wie ein geliebter Feind. «Mach hinne , ich will auch duschen»
Damit war das Einvernehmen scheinbar wiederhergestellt.
Später, in den Gärten des Schlosses, bot sich ein Blick ins Saaletal; der Fluß machte eine Schleife, ein Wehr bildend, ringsum strahlte das Land in Grün, von abendlichem Blau gedämpft.
Lisa lehnte sich an die Schulter Georgs. «Jetzt könnte die Welt meinetwegen untergehen.»
«Wieso muß die Welt untergehen, weil man mit sich im Reinen ist?»
«Weil sich nichts wiederholen läßt. Sollten wir noch einmal hierher kommen, würde uns alles als viel schlechter erscheinen. Wir selber würden uns wohl auch schon ankotzen.»
Er stöhnte. «Was du an Pessimismus aufbringst, deckt den Bedarf einer Kreisstadt. Wir würden das hier anders erleben, wir würden uns vielleicht anders erleben, schlechter muß das nicht sein.»
Sie beharrte: «Wir werden es überhaupt nicht erleben, weil du andere Sorgen hast. Du bildest dir noch ein, du bist Wunder wer, du denkst, daß es auf dich ankommt. Was du am meisten besitzt, schätzt du am wenigsten.»
«Das ist mir zu hoch, Lisa. Wenn du lyrisch wirst, werf ich das Handtuch.»
«Überhaupt nicht lyrisch, mein Lieber. Jedermann vertraut dir, selbst ich, und ich bin wahrhaftig mißtrauisch wie ein Fuchs. Auf dein dummes Gesicht hin gibt man dir alles aus reiner Sympathie. Natürlich denkst du, du bist ein Genie. Es ist aber kein Verdienst dabei. Ehrlich gesagt, ich trau dir nicht mal zu, diese Baustelle zu leiten. Trotzdem wirst du nicht untergehen, wenn du keinen Fehler machst.»
«Der Fehler wäre?»
«Ich weiß es nicht», sagte sie. «Ich weiß es wirklich nicht. Ich stelle mir vor, du müßtest Holz ersetzen. In drei Wochen wärst du weg vom Fenster. Koblenz ist eine ganz andere Type. Ich weiß nicht. In ein paar Wochen werden wir schlauer sein.»
Beim Abstieg, es war jetzt ganz dunkel, sie ging an seiner Hand, mit der anderen hielt er eine Taschenlampe, fragte sie, wohin es morgen gehe und wann.
«Nach Jena, wenn du Lust hast und wir aufwachen. Eile haben wir ja nicht.»
Und noch später fand sie in ihre Ruhe zurück, ein Sichgehenlassen, dem sie mehr und mehr Reiz abgewann. Von Jena aus wollte sie zu Hause anrufen.
Im Gasthof empfing sie warmer Speisedunst und Gemütlichkeit. Sie aßen und betranken sich so gründlich, daß sie erst gegen zehn Uhr erwachten.
7
Mit dem räumlichen Abstand von Berlin erlosch Lisas Unruhe, dennoch blieb sie die alte Lisa, drückte sich davor, anzurufen und sich nach dem Jungen zu erkundigen. Dafür belog sie Georg, wenn er sie fragte, wie es in Berlin stünde. Sie tat es, weil sie fürchtete, den Urlaub abbrechen zu müssen, zurück zu müssen in das Einerlei. Dabei geschah genaugenommen auf dieser Reise wirklich nichts. Lisa entsann sich ganz anderer Reisen, mit den Strapazen eines gedrängt vollen Tagesprogramms, drei Wochen von Berlin nach Samarkand, vierzehn Tage davon im Flugzeug, in der Eisenbahn und im Bus.
Der Architekt Georg Pilgramer wußte eine Masse versteckter Bauwerke aufzufinden, hatte deren Geschichten parat, die er auf ironische Weise interpretierte: «Dieses Stadthaus baute Friedrich, der Dritte seines Namens. Das Land ist nicht größer als heutzutage ein Kreis. Hast du mal die Burgen und Jagdschlösser gezählt? Da soll einer kommen und sagen, unsere obersten Bauherren leiden an Größenwahn.»
«Da war doch mal was mit der Semperoper, du hast es vor ein paar Wochen noch für sehr wichtig gehalten, sie wiederaufzubauen»
«Ich bin für die Semperoper.»
«Ich bin für Wohnungen.»
Er lachte, verwies auf den alten Herrn, der nach vielen Jahren Baupraxis zu der Erkenntnis gekommen war, daß es sich beim Wohnungsbedarf um ein unlösbares Problem handelte.
«Du», sagte Lisa, «ich habe nie gewußt, wie viel man auf einer Strecke von dreihundert Kilometern erleben kann, gleich vor der Haustür.»
Ihr war klar, daß dieses Erleben mit der Art des Reisens zusammenhing; die Bequemlichkeit des Autos (sie selbst saß ja nicht am Steuer), die verschwenderische Art, mit Zeit umzugehen. Sie verfügte ja nicht über die Erfahrungen einer langen Tradition. Sie begriff auch sehr gut, daß der Sproß dieser Familie trotz vorübergehender Armut - Hungerbrokat, sagte sie sich - stets mit Sorgfalt auf seine Führungsrolle vorbereitet worden war. Weiter begriff sie auf dieser Reise, daß es den Söhnen solcher Linien gar nicht auf die Frage ankam, wer regierte, solange sie nur diese Führungsrolle spielten.
Eines Abends sprach sie diesen Gedanken aus. «Wir haben auf der Schule und später der Fakultät Stereotype vermittelt bekommen, der Bourgeois, der Kapitalist. Zwangsläufig verband sich damit die Vorstellung eines prinzipiellen Schurken. Für mich ist es ungemein schwer, mir den alten Herrn als einen Ausbeuter vorzustellen. Das ist er aber doch gewesen, oder? Ein sympathischer alter Mann, der ziemlich viel weiß, Manieren hat, wie wir sie nie lernen werden, der sogar Opfer bringen kann, vor keinem kriecht, vor keiner Macht der Welt, oder? Macht Reichtum sicher? Glaubt ihr immer noch, ihr seid im Besitz aller Schätze der Welt und des Geistes, der Kultur, der Wissenschaft? Dauert es so lange, ehe sich eine aufsteigende Klasse in der eroberten Welt wirklich zu Hause fühlt? Und wie kommt es, daß du spielend den Sprung geschafft hast, du bist doch immer ganz sicher gewesen, daß ein Koblenz auftaucht und dir Macht anvertraut.»
Sein Schweigen bestätigte ihr, wie richtig ihre Gedanken waren.
Bei anderer Gelegenheit saß er und zeichnete alte Fassaden. Sie stand hinter ihm und sah ihm auf die Hände. Aus Strichen, Kreisen, Ellipsen und unregelmäßig gekrümmten Linien flocht er ein Bild; Sie paffte und schwieg respektvoll.
«Musisch bin ich ein Kamel», bekannte sie, «deshalb läßt mich Holz auch Kultur machen.»
Aber allzugern hätte sie mit der gleichen Sicherheit Linien auf das Papier zeichnen wollen.
«Wenn du arbeitest, ist der Abstand zwischen uns noch größer», sie hockte sich hin, weil sie Schmerzen im Leib fühlte, das Anzeichen der Regelblutungen, sie hielt die Liebesbereitschaft, die sie an solchen Tagen heimsuchte, für abnorm. Als sie die Mappe mit seinen Skizzen durchblätterte, stellte sie fest, daß er, obwohl sie täglich mehrere Stunden fuhren, einige Dutzend Skizzen angefertigt hatte. Was sie verblüffte, war der geringe 'Aufwand, mit dem alle diese Sachen entstanden.
«Ich verstehe schon, du mußt täglich zeichnen, um die Hand locker zu halten, um am Ball zu bleiben. Du spannst ja überhaupt nicht aus, du bist ja immer du selbst.»
Täglich ließ er sie ein oder zwei Stunden allein. Jetzt, wo sie nichts von zu Hause wußte und nichts wissen wollte, bei einem Kaffee, der Zigarette und dem Schnaps, machte sie sich klar, daß sie in diesen Tagen gelernt hatte, sich auszusprechen, sich zu erklären. Dieser Gedanke steigerte in ihrer Vorstellung den eigenen Wert, und weiter schlug Erkennen in Gefühl um. Sie rüffelte sich grinsend: Lisa, du bist ganz schön doof gewesen, eine verklemmte alte Ziege, na ja, das ist aber auch endlich mal ein richtiger Mann.
Sie überraschte ihn mit der Bemerkung: «Ich geh weg von der Zeitung, ich such mir was anderes..
Und da war erstens auch nicht mehr die Hemmung, daß eine andere Stellung mühsam gefunden und errungen werden müßte, sondern die Illusion, mit einem neuen Kraftbewußtsein könne alles gelingen, und zweitens fühlte sie sich in der Lage, einen anderen Arbeitstag, ohne Stoßzeiten, ohne Fehlspannungen, auch durchzuhalten.
Alle diese Illusionen brachen wieder zusammen. Georg kam eines Mittags an den Tisch; sie übersah sein ernstes Gesicht.
«Ich hab schon was bestellt.»
«Ich habe eben zu Hause bei dir angerufen. Olivier ist im Krankenhaus. Wir müssen zurück.»
Er machte ihr keinen Vorwurf, daß sie ihn belogen hatte, er sagte überhaupt nichts weiter, er zog sich die Karte heran und suchte etwas zum Mittag für sich aus.
Sie verschob die Auseinandersetzung bis nach dem Essen. Als sie draußen standen, vor dem Auto, er bereit, einzusteigen, sagte sie: «Warte mal, laß uns erst mal reden, ehe ich meine Klamotten einpacke»
Er schloß die Türen auf, sie setzte sich neben ihn. Wie immer, wenn sie in die Enge getrieben wurde oder wenn sie es sich einbildete, was auf dasselbe hinauslief, ging sie zum Angriff über. Sie log weiter.
«Daß ich gestern angerufen habe, das hat dir die Alte nicht gesagt, stimmt's? Sie war dagegen, daß ich überhaupt mit dir wegfahre. Nach ihrer Ansicht müßte ich mir Olivier auf den Buckel binden. Für sie ist er unehelich. Für dich ist er das ja auch. Und was erlaubst du dir? Hinter meinem Rücken anzurufen? Das heißt doch wohl, du mißtraust mir? Du glaubst mir nicht? Alle schönen Reden kannst du dir künftig schenken.»
Seinem erstaunten Gesichtsausdruck entnahm sie die Wirkung ihrer Worte. Als sie ausgesprochen hatte, daß er ihr nicht glaube, wurde das für sie selbst zur Tatsache. Um so mehr, da sie wußte, daß er sich wahrscheinlich nichts dabei gedacht hatte, ihre Mutter anzurufen, sicherlich nur, um einen Gruß zu bestellen.
«Für meine Lage hast du dich ja noch nie interessiert», sagte sie bitter, «ich habe gewußt, daß diese Reise so endet. Bei mir geht immer alles schief.»
«Entschuldige», sagte er abgekühlt, «ich habe natürlich nicht wissen können, wie das Verhältnis zwischen dir und, deiner Mutter wirklich ist. Daß es mich was angeht, finde ich schon, aber im Augenblick handelt es sich doch nur darum, daß Olivier im Krankenhaus liegt.»
Unvorsichtig stellte sie die Frage: «Was hat er denn?»
«Sie wußte es nicht, wahrscheinlich wußte sie es auch gestern nicht, sonst hätte sie es' dir gesagt. Immerhin bringt man niemand in ein Krankenhaus ohne Lebensgefahr.» Nach einer Pause fuhr er' fort: «Übrigens solltest du dich mal von dem Irrtum befreien, dir ginge es besonders schlecht. Was heißt denn, mir geht alles schief? Unser Urlaub ...»
«Ist ja auch schiefgegangen», fauchte Lisa.
Er legte die Hände auf das Lenkrad. «In diesem Ton hat es keinen, Zweck weiterzureden. Wollen wir deine Sachen holen?»
«Das kommt dir sehr gelegen, nicht?»
«Was kommt mir sehr gelegen?»
«Daß du einen Grund gefunden hast, den Urlaub abzubrechen, und noch dazu einen, der dich in glänzender Pose entläßt. Warte hier, ich hole meinen Koffer.
Sie stieg aus, pfefferte die Tür ins Schloß und ging nach oben in ihr Hotelzimmer. Dort begann sie zu packen, viel war es ja nicht, unterbrach die Arbeit jedoch und trat ans Fenster. Georg saß nicht mehr im Wagen, er hatte die Motorhaube aufgeklappt und sah in den Motor. Öl goß er auf oder etwas Ähnliches, jedenfalls trug er die alten Lederhandschuhe, die für Schmutzarbeiten im Handschuhfach bereitlagen.
Einen Stuhl rückte sie sich an das Fenster, rauchte hastig, begann sich aber bald zu beruhigen. Die Urlaubstage wirkten doch nach. Sie sagte sich, daß sie es wieder einmal übertrieben hatte. Natürlich hätte sie ihm sagen müssen, daß sie einfach zu schwach gewesen war, anzurufen, es immer wieder aufgeschoben hatte. Warum sollte sie sich stets unterwerfen? Aus dem einmal begonnenen Schwindel entstand alles Weitere, bis hin zu den lächerlichen und verwegenen Behauptungen, die selbst ihm zu dick aufgetragen waren.
Er sah hinauf, klappte die Motorhaube zu. Sie winkte ihm, heraufzukommen, sah, wie er die Handschuhe auszog, ins Handschuhfach legte, abschloß und im Eingang verschwand.
Gleich darauf kam er herein.
«Georg, wenn du nicht angerufen hättest, würden wir noch vier Tage haben. Jetzt geht es nicht mehr, ich weiß.»
Es war ihr gleich, ob er erfuhr, daß sie gelogen, oder ob er es noch einmal überhörte.
«Laß uns diese Nacht noch bleiben», bat sie.
Er nickte, ließ Wasser ins Becken laufen und begann sich die Hände zu reinigen.
Sie heulte lautlos.
Später, als sie sich beruhigt hatte, gingen sie durch einen Park. Auf einem künstlichen Teich schwammen Enten, und mächtige alte Bäume umstanden die Wege.
Lisa, zitternd und erschöpft: «Was mach ich bloß? Warum werde ich so schlecht mit allem fertig? Ich bin keine gute Mutter, aber ich habe mein Kind gern, ich bin keine gute Tochter, aber ich kann meine Mutter nicht im Stich lassen. Ich bin keine gute Geliebte, und ich liebe dich doch. Meine Arbeit hasse ich und komme davon nicht los.» Sie dachte, der hält mich ja für hysterisch, der muß mich ja für hysterisch halten, ich mach mir doch alles kaputt.
«Weißt du, wie du von außen wirkst?» Da sie ihn fragend und neugierig ansah: «Du wirkst wie die perfekte Mutter, die keinen Termin versäumt, keinen Impftermin, keine Anmeldung für eine der hundert Sachen, die wir uns zum Wohle des Menschen ausgedacht haben. Man denkt, daß du den Laden schmeißt, daß deine Mutter ohne dich nicht auskommen könnte. Lisa macht alles, denkt an alles. Keine Lage, die sie nicht beherrscht, und dabei sieht sie noch hervorragend aus. Ohne Lisa dreht sich kein Rad.» Und plötzlich dozierte er: «Das ist ein Ereigniskomplex aus individueller Anlage und sozialen Forderungen,»
«Warum können wir uns nicht mehr verständlich machen?
Was ist los mit uns? Wir kennen nur noch Phrasen, wir glauben an nichts mehr, nicht mal an uns selbst.»
«Das ist mit ein Grund, weshalb ich nach Theerberg will, heraus aus der Enge der Bürokratie. Noch habe ich den nötigen Kraftüberschuß, noch. Wie lange? Ich weiß ganz genau, wie ungeeignet ich bin, so ungeeignet wie mein Großvater für den Bauunternehmer seiner Zeit, auch so randvoll mit Glaubensvorstellungen, ohne die man ja keinen Finger krümmen würde.»
Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie eine Klippe genommen hatte. So wirkte sie also, so hatte sie wirken wollen, emanzipiert, was sie ja für besonders tüchtig gehalten, erfolgreich, was ihr als Merkmal von Gleichheit zwischen Frau und Mann erschienen war.
«Du weißt eine ganze Menge», gab sie zu, «aber du wirst dich auch über mich hinwegsetzen. Mag es sein, wie es will, weg kann ich ja nicht, so rühren wie du kann ich mich auch nicht. Das Beste wäre wohl, wir würden nach dieser Reise Schluß machen. Wenn ich mir vorstelle, was da vielleicht auf mich zukommt, alle paar Wochen dein Besuch, ich kann so schlecht warten. Dann ist es mir schon lieber, wir machen ein Ende, verkorkst ist mein Leben sowieso. Wir können uns verloben, was würde sich ändern? Wir können auch heiraten, was würde sich ändern? Nichts. Wir haben keine Wohnung, weder hier noch in Theerberg. Aus Berlin gehe ich nicht weg, und eine Wohnung müßtest du doch leicht bekommen.»
Ehrlich bekannte er: «Es ist nicht allein das Äußere, Lisa.»
«Na, ich begreife. Versprich mir eins, sag mir, wenn es aus ist. Halte mich nicht hin.»
Sehr früh lagen sie auf der Autobahn, gegen zehn Uhr hielten sie vor der Wohnung.
«Ich danke dir für alles», sagte Lisa.
«Ach, Unsinn», er wehrte ab, «ich bringe euch ins Krankenhaus. Ich will doch auch wissen, was mit dem Knaben los ist,»
Oben war die Wohnungstür bereits geöffnet. Lisa war vorausgegangen, Georg folgte ihr mit ihren Sachen.
«Das hab ich mir gedacht», sagte Lisa laut.
Georg, der den Satz zwar verstanden hatte, aber nicht begriff, was Lisa meinte, kam schnell herauf. Und er kam gerade recht, um Olivier den Flur entlangtappen zu sehen.
«Mein krankes Kind», sagte Lisa spöttisch, «ist deine Mutti endlich wieder da? Das hat die Oma aber fein gemacht.»
Höhnisch schüttelte Lisa ihrer Mutter die Hand.
Der lange Georg Pilgramer schob sich mit den Koffern durch die Tür, sah verblüfft die Szene, stellte die Sachen ab; um das Kind und die Oma zu begrüßen.
«Er riecht noch», sagte Lisa haßerfüllt, «er kommt direkt aus dem Leichenschauhaus.»
Verärgert wehrte sich die Großmutter. «Ich konnte nicht wissen, daß sie ihn mir gestern noch zurückbringen.»
«Und du konntest Lab auch gestern am Telefon nicht sagen, daß gar nichts weiter ist.»
«Es soll Darmverschluß gewesen sein», verteidigte sich die alte Frau.
Lisa tippte sich an die Stirn.
Plötzlich mußte Georg lachen, er konnte sich nur schwer zurückhalten, setzte sich auf Lisas Koffer und sagte unter Lachen: «Also, Frau Müller, sollten Sie und mein Großvater eines Tages zusammenkommen, was unvermeidlich sein wird, so werdet ihr beide alles auf den Kopf stellen. Wer sich so auf das Panikmachen versteht, dem fehlt nur noch das Pendant, das die Panik wieder dämpft.»