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Das Ende des Krieges ist in Sicht
ОглавлениеWilhelm Theisen stellte den kleinen Volksempfänger auf der schmalen Fensterbank hinter der Sitzbank an. Atmosphärische Störungen kratzten im Lautsprecher. Eine Stimme drang durch, wurde laut, dann leise, verschwand und kam zurück, die vom heldenhaften Kampf der deutschen Truppen um Breslau sprach. Sie sagte, dass Breslau eine Festung sei, in der Wehrmacht und Zivilbevölkerung wie ein Mann stünden und dem Feind den erbitterten Widerstand leisteten. Der Sprecher nannte 34 abgeschossene, russische Panzer. Verluste an eigenen Panzern nannte er nicht. Darauf sagte Wilhelm Theisen, dass die Wehrmacht den Großteil ihrer Panzer wohl in Russland und in Polen bereits verloren habe. Mit den paar übrig gebliebenen Panzern käme eine Panzerschlacht nicht mehr in Frage. Luise Agnes und Eckhard Hieronymus dachten an ihren Sohn Paul Gerhard und an die Bekannten und befreundeten Menschen in Breslau, wie dem alten Gemeindemitglied Matthias Kehrer, der an einem Lungenkrebs litt und zu dem Zeitpunkt verstarb, als Eckhard Hieronymus sich von ihm und seiner Tochter verabschiedete. Er erinnerte sich an den Abschied von der Kriegerwitwe Elisabeth Kreutzer, die so aktiv in der kirchlichen Frauenhilfe war und nach dem Tod ihres Mannes Adolf Kreutzer, der in den letzten Jahren als Küster ausgeholfen und die Glocken geläutet hatte, wenn der alte, an der Parkinsonschen Krankheit und am Bluthochdruck leidende Peter Meyer ausgefallen war. Frau Kreutzer hatte drei kleine Kinder und musste, nachdem ihr Mann an der Weichsel gefallen war und die Kriegerwitwenrente nicht reichte, aus finanziellen Gründen die geräumige Wohnung am Grossen Markt aufgeben und eine kleine Obergeschosswohnung in der verpönten Schindelgasse am hinteren Burgplatz beziehen. Sie bestritt den Lebensunterhalt für die Familie durch eine zusätzliche Halbtagstätigkeit als Putzfrau im Hause eines hochgestellten Parteimenschen, der aber angekündigt hatte, dass er Breslau verlassen werde, um sich und seine Familie vor den Russen in Sicherheit zu bringen.
Eckhard Hieronymus erinnerte sich an den Abschiedsbesuch beim tapferen, jungen Pfarrer Rudolf Kannengießer in der engen Dachgeschosswohnung in der Deutschstraße 25, mit dem von Büchern überladenen Schreibtisch im kleinen Arbeitszimmer, das auch sein Wohnzimmer war. An ihm bewunderte Eckhard Hieronymus die kompromisslose Geradheit im Glauben und die Furchtlosigkeit vor den Konsequenzen, die ihn einige Male in die Verhörkeller der Gestapo gebracht hatte, wo ihm das Erlebnis der Folter nicht erspart blieb. Eckhard Hieronymus hatte die drei russischen Tiefflieger vor Augen, die sie vom Dachfenster aus beobachteten, wie sie mit ratternden Maschinengewehren über die Stadt flogen, als die Menschen hektisch mit ihren Fluchtvorbereitungen zugange waren. Im Ohr hatte er die Kannengießer’schen Sätze, die er wie ein Vermächtnis mit sich trug: „Das ist nun das Ende. Dann werden auch bald die Nazimäuler schweigen. Sie werden irgendwo untertauchen und die Schuld für das klägliche Ende mit der großen Katastrophe auf die Menschen abwälzen, die dafür nicht ganz schuldlos sind, weil sie dem Teufel zur Macht verhalfen und zum Teufelswerk schwiegen und noch mitmachten, anstatt dagegen zu protestieren. Die Kirche habe kläglich versagt, wenn es um die Erfüllung des Auftrags geht, sich für die armen, wehrlosen und gequälten Menschen einzusetzen.
Wir als Kirchenmänner haben uns selbst zu ängstlichen Zuschauern degradiert, anstatt wie ein Paulus aufzustehen und die Verbrechen gegen die Menschheit laut und deutlich anzuprangern.“ Viele gute Menschen gingen Eckhard Hieronymus durch den Kopf, von denen er sich nicht mehr verabschieden konnte. Er fragte sich, wie es diesen Menschen wohl ergehen mochte, wenn der Sprecher im Radio vom heldenhaften Kampf um Breslau sprach, wenn er sagte, dass Breslau eine Festung sei, in der Wehrmacht und Zivilbevölkerung wie ein Mann stünden und dem Feind erbitterten Widerstand leisteten. Da stach die Bemerkung von Pfarrer Kannengießer auf die Frage, ob er Breslau verlassen werde, wie ein Leuchtturm heraus: „Ich werde den Kampf um Breslau von meinem Dachfenster aus verfolgen.“
Klaus Mehring, der sich noch Bratkartoffeln nachgeben ließ, sagte, dass die Kampfmoral bei der Truppe bei Null angekommen sei. Dieser Verlust hinge, soweit er es verstanden habe, nicht nur mit dem fehlenden Nachschub an Nahrung, Decken, Winterkleidung und Kriegsmaterial, sondern mit den Hinrichtungen und den Gräueltaten an der Zivilbevölkerung zusammen. Es war nicht nur ein Landser, der sein Entsetzen über die Vorgänge in den Konzentrationslagern ausgesprochen hatte. Sie alle drückten es aus, dass ein Volk, das solche Verbrechen begeht, der Strafe nicht entgehen könne. Sie sagten auch, dass die Kriegsgegner nicht frei von Verbrechen seien, dass aber die Schuldabrechnung mit dem Sühnemaß auf die zukommen und hart treffen werde, die den Krieg verlieren. „Das sind doch wir, die Deutschen!“, fuhr Eckart dazwischen, „die die Kriegsschuld aufgebrummt bekommen. Die Alliierten werden sich die Hände reiben und von den Deutschen hohe Reparationen erpressen.“ Darauf meinte Klaus Mehring, dass er nach allem, was er persönlich in den paar Monaten als Soldat erlebt habe, einen Sinn für die ausgleichende Gerechtigkeit in der Art entwickelt hätte, dass die Deutschen für die Verbrechen an der Zivilbevölkerung und den Menschen in den Konzentrationslagern schon ihre Strafe verdient hätten. „Wer sich an alten, wehrlosen Menschen und an Müttern mit ihren Kindern vergeht, der kann doch nicht ungestraft davonkommen.“ Das Prinzip der Bestrafung wurde ohne Gegenstimme geschluckt. Wilhelm Theisen sagte, dass dann auch die Alliierten für ihre Verbrechen bestraft werden sollten, worauf Eckhard Hieronymus fragte, wer denn die Sieger bestrafen soll. Das wäre die Aufgabe des Völkerbundes, erwiderte Wilhelm Theisen.
Es war kurz vor Mitternacht, als sich die Tischrunde in der Küche aufzulösen begann. Die Menschen verabschiedeten sich in Dankbarkeit von Mutter Dorfbrunner, der Frau von Haus und Hof, die einige Scheite und Braunkohlestücke im Herd nachlegte, um am Morgen die Glut zum Kochen zu haben und die Küche über Nacht warm zu halten. „Es ist spät geworden. Ihr müsst doch müde sein. Morgen früh könnt ihr länger schlafen. Deckt euch warm zu! Ich wünsche euch eine gute Nacht.“ Sie beauftragte ihren Sohn, den Gästen beim Auffinden der Schlafstellen zu helfen. Eckart ging mit der Petroleumlampe voraus, zog das Scheunentor auf, stellte die Lampe auf den Hackeklotz, hielt die Leiter für die aufsteigenden Breslauer Dorfbrunners fest und setzte sie dann gegen den Schober auf der anderen Scheunenseite. Er stieg als erster hoch, gefolgt von Klaus und Heinz, breitete das Heu auf dem Bretterboden dick genug aus und legte die ausgebreiteten Decken darauf. Klaus und Heinz waren von ihren Schlafstellen angetan. Sie meinten, dass sie da wie im Paradies schlafen würden. Vor welchem Schober die Leiter angelegt bleiben solle; diese Frage stellte Eckart den beiden Parteien auf den zwei gegenüberliegenden Schobern. Es wurde sich dahingehend geeinigt, dass sie dem linken Schober für die drei Breslauer angelegt bleiben solle, damit die Damen ohne Verzögerung das Plumpsklo vor dem Gemüsegarten aufsuchen können. Eckart wünschte den Parteien eine gute Nacht, löschte die Petroleumlampe, stellte sie neben den Sockel des Hackeklotzes und schob das Scheunentor von außen wieder zu. Aus dem Schweinestall kamen Schnarchgeräusche, der Hengst war still, auf dem Scheunengiebel saß die Eule, die Sterne flunkerten schwach, der Mond stieg in die neue Phase, und der Bodenfrost zog an. Eckart überquerte den Hof, überprüfte die Torverriegelung an der Hofeinfahrt und verschwand im Wohnhaus, wo er die Tür von innen verriegelte.
„Hört mal, ihr da drüben“, rief Klaus Mehring vom rechten Schober zum linken herüber, während Heinz seine ersten Schnarchtöne von sich gab, „heute habt ihr unsere Geschichte gehört, morgen wollen wir eure Geschichte hören.“ Darauf sagte Eckhard Hieronymus, dass er sie gerne erzählen werde; sie sei aber weniger aufregend, weil sich seine Geschichte auf die Familie, den Beruf und die Stadt Breslau beschränke. Er könne nicht mit Fronterlebnissen und den anderen fürchterlichen Erlebnissen aufwarten, mit denen die beiden als Soldaten in ihren jungen Jahren konfrontiert wurden. Klaus wollte das nicht so unter dem Scheunendach stehen lassen und meinte, dass jeder Mensch in dieser Zeit aufregende Dinge erlebe, die ihm nachts den Schlaf und tagsüber die Konzentration rauben. Eckhard Hieronymus gab ihm recht und erinnerte sich an den 1918-Novemberbrief seines verstorbenen Vaters, des Oberstudienrates Georg Wilhelm Dorfbrunner, der am Stiftsgymnasium für Knaben in Breslau Geschichte und Geographie unterrichtete, wie er davon schrieb, dass durch die Sorgen über die Ungewissheit des Verbleibs seiner Söhne Friedrich Joachim und Hans Matthias seine Konzentration derart gelitten habe, dass er im Unterricht die Jahreszahlen vom 1. Punischen Krieg mit dem Kampf um Troja durcheinandergeworfen hatte und sich vor Verwechselungen in der Geographie auch nicht mehr sicher sei.
„Morgen werde ich ihnen unsere Geschichte erzählen“, sagte er zu Klaus, der mit dem „Lift“ bereits auf Talfahrt ins Unterbewusstsein abgestiegen war, und aus dem ‘fahrenden Zug’ noch murmelte: „Dann ist es ja gut.“ Heinz schnarchte, als sägte er die Scheune in Stücke. „Luise Agnes, schläfst du?“, fragte Eckhard Hieronymus im Flüsterton. „Nein, die Erlebnisse des Tages lassen mich nicht zur Ruhe kommen“, sagte sie. Dann rief er flüsternd nach Anna Friederike, die der Schlaf bereits überwältigt hatte. „Es war der vollste Tag meines Lebens“, sagte Luise Agnes. Etwas später fügte sie hinzu: „Wo wird Mutter sein? Hast du eine Idee, wohin Ludwig und Martha Lorch gegangen sind?“ „Nein, ich weiß es nicht“, antwortete Eckhard Hieronymus, „sie haben mir nichts gesagt.“ „Stand denn auf dem Zettel nichts? So, wie ich die Lorches kenne, machen sie immer klare Angaben.“ „Morgen schaue ich noch einmal auf den Zettel. Ich kann mich nicht erinnern, dass da etwas vermerkt war.“ „Vielleicht haben Lorches die Angabe des Ziels im Schreiben versteckt, aus Sorge, dass das Papier in falsche Hände kommt.“ „Das kann gut sein, denn sie haben Mutter durch all die Jahre vor den Nazis bewahrt und gut für sie gesorgt. Da sollte nun am Schluss nicht ein Fehler passieren.“ „Ob Mutter Dorfbrunner mit deinem Bruder Friedrich Joachim in Dresden angekommen ist?“ „Das hoffe ich. Dresden ist nicht so weit von hier, das können wir bald in Erfahrung bringen.“ „Hat Onkel Alfred ein Telefon?“ „Ich weiß es nicht.
Komm lass uns für die letzten Stunden bis zum Morgen zur Ruhe kommen. Möge der Herr seine Hand auf das bedrängte deutsche Volk und die vielen anderen gequälten Völker legen, dass die Menschen aus der Sackgasse der Verzweiflung herausfinden und die Wunden mit dem Verband der Verzeihung bedeckt werden. Möge der Herr auch diesen Hof und seine guten Menschen beschützen; möge er seine Hand auf unseren Sohn Paul Gerhard legen und ihn zur Familie zurückführen. Wir bitten den Herrn, uns unsere Sünden zu vergeben, die wir bewusst und unbewusst begangen haben. „Vor dir, Herr, der du unsere Herzen kennst, bekennen wir unsere Fehler und Schwächen und bitten dich um deine Gnade und den Beistand für den Gang in eine uns völlig ungewisse Zukunft. Lass uns Mutter Hartmann und Mutter Dorfbrunner mit dem Bruder Friedrich Joachim bald finden. Herr, wir bitten dich um unser tägliches Brot, das wir uns selbst nicht besorgen können. Nimm uns in unserer Not und in unserem Flehen an. Amen!“
Zu den fremdartigen Gerüchen kamen die fremden Scheunengeräusche dazu. Es nagte und kratzte, klopfte und wühlte in den verschiedensten Ecken und Winkeln. Windstöße brachten die Dachschindeln zum Klappern, die Bretterfugen zum Knarren und das Scheunentor zum Vor-und-zurück-schlagen mit dem Quietschen des Eisenriegels im Schloss. Hier mussten außer den fünf Menschen, die teils schliefen und teils den Schlaf noch suchten, andere Wesen übernachten, denn es raschelte im Heu auf beiden Schobern. „Meinst du, dass hier Mäuse sind?“, fragte mit dem Gefühl des aufkommenden Ekels Luise Agnes ihren Mann, der bereits im „Gleitflug“ zur unterbewussten Etage war und auf die Frage nicht mehr reagierte. Das tat für ihn Anna Friederike; sie bat ihre Mutter dringend, nun endlich zu schlafen.
„Selbst wenn es Mäuse sind, die tun dir nichts, das sind keine Nazis. So, nun schlaf endlich.“ Das Wort der Tochter hatte sich die Mutter zu Herzen genommen und schlief endlich ein. Hatte sie doch zu später Stunde begriffen, dass sie vor Mäusen keine Angst zu haben brauchte. Denn Mäusen ist es ganz egal, wie arisch sich die Menschen ausnahmen, solange sie nur an die Getreidekörner oder das Saatgut für die nächste Saison herankommen. Luise Agnes war tief eingeschlafen. Sie bekam das kräftige Rascheln mit dem plötzlichen Absprung der Katze vom Schober mit der quietschenden Maus im Maul nicht mit. Doch nun hatte sich Anna Friederike erschrocken. Sie drehte sich zur Seite, mit der Bauchseite gegen den Rücken der Mutter. Eckhard Hieronymus drehte sich nach dem Katzensprung mit dem Gesicht zu Luise Agnes und stellte im Drehen aus dem Halbschlaf die Frage: „War etwas?“
Nachdem sich die Ohren an die nächtlichen Scheunengeräusche gewöhnt hatten, trat die Schlafphase in Kraft. Die Mäuse konnten huschen, rascheln und knabbern, sie störten die Schlafenden nicht. Plötzlich, es war in den frühen Morgenstunden, draußen war es noch stockdunkel, stieg Anna Friederike die Leiter herunter, um ihre Blase auf dem Plumpsklo zu entleeren, als Heinz im Traum aufschrie: „Hört endlich mit der Prügel auf! Ich will es sagen, wer’s war. Ihr schlagt mich noch tot.“ Eckhard Hieronymus setzte sich wie vom Schlag getroffen auf. Er fuhr mit der Hand über die Decken, fühlte Luise Agnes neben sich, aber nicht Anna Friederike neben ihrer Mutter. „Anna Friederike, wo bist du?“, rief er. Statt der Antwort knarrten und quietschten die Räder auf der Laufschiene des Scheunentors. „Hört endlich auf, ihr seid doch Schweine! Es macht euch nichts aus, mich totzuschlagen. Euch wird der Teufel holen! Dann jammert und zittert ihr. Hört doch auf, das hat doch alles keinen Zweck!“
Eckhard Hieronymus stieg die Leiter herab. Er rutschte mit dem linken Fuß von der Sprosse und konnte sich mit letzter Armkraft vor dem Absturz retten. Er stieß gegen den Hackeklotz, warf die Petroleumlampe um, stellte sie wieder auf, schob das Scheunentor auf, dann wieder zu, und ging zum Plumpsklo, um Anna Friederike zu suchen. Die Brettertür war verriegelt. Noch bevor er ihren Namen rief, rief sie von drinnen nach draußen: „Vater, bist du’s?“ „Ja, ich bin’s“, sagte mit großer Erleichterung Eckhard Hieronymus. „Warte, ich bin gleich fertig. Das ist ja lausig kalt. Da kann man nicht lange auf dem Klo sitzen, ohne festzufrieren.“ Der Vater entlastete seine Blase draußen auf dem gefrorenen Boden des Gemüsegartens. Als Anna Friederike den Türriegel zurückschob, zog Eckhard Hieronymus die Trainingshose hoch. Beide gingen zur Scheune zurück. Anna Friederike öffnete und schloss das Scheunentor. Der Vater stieg als erster die Leiter zum Schober hoch. Anna Friederike folgte mit ihren Händen den Fersen des Vaters. Sie fanden Luise Agnes im tiefen Schlaf, horchten nach ihren ruhigen Atemzügen und wunderten sich, dass sie nichts vom Katzensprung, dem Leiterabstieg und dem Aufschrei von Heinz aus seinem geträumten Folterverhör mitbekommen hatte. Vater und Tochter legten sich ihr zu beiden Seiten, deckten sich sorgsam zu und unternahmen einen letzten Schlafversuch.
Es wurde länger als geplant in den Morgen geschlafen. Die Uhrzeiger standen zwischen neun und zehn. Durch die Bretterspalten drang das trübe Licht. Klaus und Heinz auf dem anderen Schober schliefen tief. Außer gelegentlichen Verdauungsgeräuschen war von ihnen nichts zu hören. Eckhard Hieronymus stieg mit dem Handtuch über der Schulter und einem Stück Seife in der Hand die Leiter herab und machte sich auf den Weg zur Waschküche. Er legte Seife und Handtuch ab und ging zum Plumpsklo, um sich dort eingeriegelt dem Verdauungsgeschäft zu widmen. Sich den Po mit Zeitungspapier abzuputzen, was für die Landbevölkerung Routine war, das musste Eckhard Hieronymus nun lernen. Er ging zur Waschküche zurück, wusch sich im Eimer die Hände, rasierte sich vor einem kleinen Spiegel auf der Fensterablage, goss das kalte Wasser mit der großen Blechkanne in den Bottich, stieg hinein und machte das morgendliche Bad im Schnellverfahren. Dann stieg er aus dem Bottich und rieb die Haut mit dem Handtuch trocken. Er zog sich den Trainingsanzug über, als Luise Agnes und Anna Friederike in die Waschküche kamen, um ihre Kaltwasserbäder zu nehmen. Er ließ sein Badewasser ab, steckte dann den Stöpsel in das Ablaufloch und schüttete frisches Wasser in den Bottich. Dann ließ er die Frauen für sich, ging zur Scheune und nahm die Leitersprossen zum Schober, wo er die „Betten“ machte, die Decken zusammen- und übereinanderlegte, sich anzog, die Haare ohne Spiegel kämmte, die Leiter herunterstieg und vor dem offenen Torspalt der Scheune stehend den 146., seinen Lieblingspsalm sprach, dem er sein Morgengebet anschloss, wobei er Paul Gerhard, die beiden Mütter, seinen Bruder Friedrich Joachim mit dem gebliebenen Schaden aus dem 1. Weltkrieg, und die vielen Menschen in großer Not in das Gebet einschloss.
Durch den Torspalt sah er Eckart, den fleißigen Bauer, der im Schweinestall zugange war, dort ausmistete, den Mist auf der Schubkarre über den Hof nach draußen beförderte und trockenes Stroh nachschüttete. Dann trug er die Eimer mit Trockenfutter und frischem Wasser in den Stall. Die Schweine dankten es mit dem Grunzen der Behaglichkeit, was Eckhard Hieronymus bis zur Scheune hörte. Auf dem rechten Schober raschelte das Heu. Klaus stand in Hose und übergehängter Decke am Sprung und blickte auf den meditierenden Superintendenten a. D. herab. „Guten Morgen Herr Pfarrer aus dem verlassenen Schlesien.“ Eckhard Hieronymus sah hinauf und grüßte zurück: „Guten Morgen Soldat mit Herz, der auf wehrlose Menschen nicht schießt.“ Klaus lächelte: „Kannst du die Leiter hier anlegen, damit ich herunter komme. Ich muss dringend aufs Klo.“ Eckhard Hieronymus nahm die Leiter vom linken Schober und legte sie mit Geschick am rechten Schober an. „Danke“, sagte Klaus und stieg in Eile mit Decke und Handtuch die Sprossen herab und verschwand in Richtung Gemüsegarten. Eckart rief dem sinnierenden Namensvetter seinen Guten Morgen vom Schweinestall herüber: „Ging es mit dem Schlafen?“, fragte er mit der Strohgabel in der Hand. „Ja es ging, nachdem wir uns gegenseitig warm hielten“, rief Eckhard Hieronymus zurück. „Da müssen wir eben noch mehr Decken auftreiben. Ich werde mich darum kümmern“, rief Eckart und ging mit dem Korb vom Schweinestall in den Hühnerstall, um die gelegten Eier einzusammeln. Luise Agnes und Anna Friederike kamen in ihren Trainingssachen aus der Waschküche zurück. „War das kalt“, sagten beide und schlugen die nassen Badetücher in der kalten Morgenluft aus. Eckhard Hieronymus stellte die Leiter wieder an den linken Schober. Die Frauen kletterten hoch und legten ihre Kleider an. Beim Kämmen der Haare halfen sie sich gegenseitig. „Der Kaffee ist fertig!“, rief die Frau von Haus und Hof. In Winterkleidern, jede hatte noch ein zweites Winterkleid im Koffer, stiegen sie die Leiter herab und brachten die nassen Badetücher mit, um sie irgendwo zum Trocknen aufzuhängen. Die drei Breslauer betraten die Küche und drückten die Wohltat der Wärme, die vom Herd ausging, aus. Marga Dorfbrunner in bäuerlicher Kleidung mit vorgebundener blauer Schürze begrüßte sie, nahm Luise Agnes die nassen Badetücher ab und hängte sie über die beiden Leinen, die im Nebenraum gespannt waren.
„Setzt euch an den Tisch!“, sagte sie, als sie aus dem Nebenraum zurückkam. Sie goss den Kaffee aus geröstetem Getreide in die Tassen, stellte die volle Brotschale, die Butter und Marmelade auf den Tisch, während in der Pfanne die Spiegeleier mit Speck brutzelten. „Konntet ihr denn schlafen?“, fragte sie nicht ohne Neugierde wegen der anhaltenden Kälte. Luise Agnes sagte, wie es war: „es war ein neues Erlebnis, denn in einer Scheune haben wir noch nicht übernachtet.“ Eckhard Hieronymus machte eine kleine Berichtigung, als er sagte, dass er als Junge bei Onkel Clemens und Tante Hilde im oberschlesischen Dahrendorf schon in einer Scheune übernachtet habe. „Das ist mir neu“, sagte erstaunt Luise Agnes, und alle lachten über diese alte Neuigkeit, die Eckhard Hieronymus wie ein Jugendgeheimnis gehütet hatte. „Die Scheune bei Nacht ist ein Erlebnis für sich“, fuhr Luise Agnes fort, „da gibt es viele Gerüche und Geräusche, die dem Städter fremd sind und ihm das Gruseln lehren.“ Marga Dorfbrunner hatte die Spiegeleier auf die Teller verteilt, ihren Platz in Herdnähe am Tisch eingenommen und allen einen guten Appetit gewünscht. Sie fragte Luise Agnes, wie sie das mit dem Gruseln-Lehren meinte. „Ich wusste nicht, dass in der Scheune so viel Leben ist, dass es nachts gespenstisch raschelt, hämmert, klopft und knackt“, sagte Luise Agnes. „Das sind doch nur Mäuse, für die es draußen auch zu kalt ist“, erwiderte Marga Dorfbrunner mit einem Schmunzeln, „die tun dir aber nichts.“ „Das sagte Anna Friederike auch, als sie mir befahl, endlich zu schlafen.“ Anna Friederike lachte. Sie sagte, dass Mutter dann tatsächlich eingeschlafen war und so tief schlief, dass sie nicht merkte, wie eine Katze mit einer quietschenden Maus im Maul an ihr vorbeihuschte und vom Schober herunter sprang.
„Was sagst du da?“, fragte erstaunt Luise Agnes. „Das wird Lieschen, unsere Hofkatze, gewesen sein, die vor ein paar Tagen Junge bekommen hat, deren Nest in der Scheune ist“, erklärte Marga Dorfbrunner. Eckhard Hieronymus setzte dem hinzu, dass er etwas gehört hatte, es aber im Schlaf nicht einzuordnen wusste. „War etwas?“ Das hast du gesagt und dich zu Mama rumgedreht“, vervollständigte Anna Friederike die Geschichte vom Katzensprung. Sie gab zu, dass sie sich erschrocken hatte. Alle lachten über diesen Teil des mitternächtlichen Scheunenerlebnisses. Eckhard Hieronymus schloss den zweiten Teil an, der nicht mehr zum Lachen war, als nämlich Heinz die Folterszene träumte und aufschrie: „Hört endlich mit der Prügel auf! Ihr schlagt mich noch tot.“ „Der arme Junge“, sagte Marga Dorfbrunner. „Das habe ich auch nicht gehört“, sagte Luise Agnes und machte ein betroffenes Gesicht. Eckart kam von seiner Hofarbeit zurück, hatte sich die Pantoffeln angezogen und setzte sich mit an den Tisch. Die Mutter briet zwei Spiegeleier und tat sie ihm auf den Teller. Er berichtete, dass Heinz noch schlief und Klaus dabei sei, sich anzuziehen. „Haben wir noch Decken?“, fragte er die Mutter. „Nein“, sagte sie, „wir haben alle Decken verteilt. Frag mal den Gutsherrn, ob er uns mit Decken aushelfen kann.“ „Ja, den werde ich fragen“, sagte Eckart. „Will jemand von euch mitkommen?“, fragte er die Breslauer. Eckhard Hieronymus erinnerte sich, dass sein Großvater ihm von einem Gut in Pommritz erzählte, auf dem die ersten Dorfbrunners gearbeitet hätten, bis sie durch Fleiß und Sparsamkeit den eigenen Hof erwarben. Das erzählte er bei Tisch, konnte sich allerdings nicht mehr an den Namen des Gutsherrn erinnern, den sein Großvater genannt hatte.
„Von Wittkopf“, sagte Bäuerin Dorfbrunner. „Seit urdenklichen Zeiten ist das Gut im Familienbesitz der Wittkopfs.“ Eckhard Hieronymus sprach sein Interesse aus, mit Eckart zum Gut zu fahren, um zu sehen, wo seine Vorfahren einst gearbeitet hätten. Nun kamen auch Klaus und Heinz. Sie entschuldigten sich für das Zuspätkommen. „Das macht nichts; ihr habt viel Schlaf nachzuholen“, sagte die Bäuerin mit mütterlichem Verständnis. „Setzt euch, ich mache euch das Frühstück.“ Wieder schlug sie Eier in die Pfanne, stellte zwei Tassen auf den Tisch und goss den Kaffee ein. Während sie die Spiegeleier briet, fragte sie, wie sie denn geschlafen hätten. „Wie tot haben wir geschlafen, ich jedenfalls“, sagte Klaus, „und ich auch“, sagte Heinz, der hinzufügte, dass er seit mehr als einer Woche das erste Mal richtig geschlafen hätte. Seinen erschütternden Foltertraum erwähnte er nicht. Das nahmen die Dorfbrunners mit Erstaunen zur Kenntnis, die daraufhin auf den Schrecken, den das Nachterlebnis mit dem fürchterlichen Aufschrei auslöste, nicht mehr eingehen wollten.
Eckhard Hieronymus fragte die Bäuerin Dorfbrunner, wann jemand aus dem Dorf in die Stadt führe, weil er die Lebensmittel- und Kohlekarten für die Familie besorgen müsse und sich um Arbeit für sich und Anna Friederike umsehen wolle. „Für hier braucht ihr diese Karten nicht“, sagte Marga Dorfbrunner, worauf Luise Agnes bemerkte, dass sie den Pommritzern nicht auf der Tasche liegen wollen. „Wie könnt ihr so etwas sagen“, widersprach die Bäuerin, „als die Breslauer Dorfbrunners gehört ihr mit zur Familie. Ihr habt doch euer Schlesien verloren. Wo sonst wolltet ihr bleiben!“ Luise Agnes und ihr Mann bedankten sich für die ungewöhnliche Gastfreundlichkeit. „Versteh uns bitte richtig“, versuchte Eckhard Hieronymus die Lage zu erklären, „wir können dir nicht die ganze Zeit auf der Pelle sitzen und nichts tun.“ „Das versteh ich“, sagte die Frau von Haus und Hof, „hier gibt es genug Arbeit. Wenn es euch nichts ausmacht, dann könnt ihr Eckart und mir bei der Arbeit helfen.“ „Das möchten wir auch gerne tun“, sagten beide wie aus einem Mund. „Hoffentlich stellen wir uns da nicht zu ungeschickt an“, fügte Luise Agnes hinzu. „Kein Meister ist vom Himmel gefallen. Das gilt insbesondere für die Arbeit auf einem Bauernhof“, sagte die Bäuerin mit Blick auf die Breslauer aus der Weisheit der Bodenständig- und -gehörigkeit. Sie fragte Eckhard Hieronymus, was sonst noch zu erledigen sei. „Ich muss versuchen, Kontakt mit meiner Mutter und meinem Bruder sowie mit der Mutter von Luise Agnes zu bekommen“, sagte er. „Wisst ihr denn, wo ihr sie finden könnt?“ „Meine Mutter und mein Bruder Friedrich Joachim wollten zu Onkel Alfred nach Dresden in die Münchner Straße. Wo Luisens Mutter ist, die von einem freundlichen Bauernehepaar auf dem Treckwagen mitgenommen wurde, das wissen wir nicht.“ „Lass uns nochmal auf den Zettel der Lorchs schauen“, wandte Luise Agnes ein, „vielleicht ist da doch ein Vermerk, wo sie hinwollten.“ Während Eckhard Hieronymus den Zettel aus der Jackentasche zog, machte Bäuerin Dorfbrunner die zutreffende Bemerkung, dass es bei der Vielzahl der auseinandergerissenen Familien letztlich dem Zufall überlassen bleibe, ob sich die Familienmitglieder wiederfänden. Er gab den Zettel Luise Agnes, die nun das Geschriebene von vorn nach hinten und von hinten nach vorn, Buchstabe für Buchstabe verfolgte.
Eckhard Hieronymus fragte die Namensschwester, ob sie vielleicht ein Telefonbuch von Dresden habe. „Augenblick mal, ich schaue in die Schublade nebenan.“ Sie wurde in der Schublade fündig und kam mit einem völlig veralteten Telefonbuch aus dem Jahre 1936 in die Küche zurück. Eckhard Hieronymus schlug die Seiten auf und wieder um; er suchte unter „D“ nach Decker A. in der Münchner Straße und fand ihn mit der Nummer 37582. Er freute sich über den Sucherfolg, zu dem Marga Dorfbrunner kommentierte, dass es glückliche Zufälle gäbe. „Schau mal her!“, stupste Luise Agnes ihren Mann an, „kannst du an den Ecken und zwischen den Zeilen die Buchstaben sehen? Und da ist unten rechts noch eine kleine Halle mit einer Giebelwand vorn skizziert, in der „HA“ steht.“ „Ja, ich kann es sehen.“ „Aber wie muss ich die Buchstaben zusammensetzen, dass sie einen Sinn ergeben? Gehört das „HA“ mit der Giebelwand dazu?“ „Lass mal sehen!“ So sahen beide auf den Zettel, gingen auf ihm auf Forschungsreise, lasen horizontal und vertikal sowie in beiden Diagonalen. Nach einer längeren Odyssee kamen sie auf den Trichter. Sie nahmen das „HA“ mit der Giebelwand und der kleinen, perspektivisch skizzierten Halle als Ausgangspunkt, fanden zwischen den Zeilen und versetzt geschrieben die zum „HA“ fehlenden Buchstaben „L“ und „L“ und „E“, brachten sie in eine Reihenfolge, die dem Sinn nach der Skizze mit der Halle entsprach und kamen so auf den Namen der Stadt Halle an der Saale.
Staunend gratulierte Bäuerin Dorfbrunner zu diesem Erfolg, die am Tisch die Suchodyssee der beiden aufmerksam verfolgt hatte. Eckhard Hieronymus fragte, ob er ihr Telefon benutzen dürfe. Marga Dorfbrunner führte ihn in den Nebenraum, wo das Telefon auf einer kleinen Schublade stand, an der das oberste Ladenfach offen stand, aus der sie das veraltete Dresdner Telefonbuch geholt hatte. Er wählte die Nummer 37582. Beim dritten Klingelzeichen war Friedrich Joachim am Apparat. An beiden Enden der Leitung verschlug der Überraschungseffekt für Sekunden die Sprache. Bei dem großen Fluchtdurcheinander, den die Volksauswanderung, die die Dimension einer Völkerwanderung angenommen hatte, war es für die beiden Brüder unbegreiflich, dass sie nun direkt miteinander sprachen. Sie fragten, wie der andere die Flucht mit den Ängsten und Beschwernissen, den Entbehrungen und schlaflosen Nächten überstanden hat. Eckhard Hieronymus erkundigte sich nach dem Befinden der Mutter, die, so berichtete Friedrich Joachim, im Zug einen Schwächeanfall erlitten hatte, aus dem sie dank schneller Hilfe eines Arztes gerettet wurde. Nun sei sie mit Onkel Alfred zum Arzt gegangen, der bei ihr einen hochgradigen Erschöpfungszustand mit einer Eisenmangelanämie und der seelischen Depression festgestellt hat und sie darauf behandelt.
„Wie seid ihr denn bei Onkel Alfred untergekommen?“, fragte Eckhard Hieronymus. Friedrich Joachim berichtete von einer Dreizimmerwohnung im zweiten Stock eines alten Mietshauses in der Münchner Straße 27, die Onkel Alfred nach dem Tod seiner Frau Trude vor fünf Jahren beibehalten hatte. Von den drei Zimmern seien nun zwei zu Schlafzimmern geworden, wobei das größere, das Wohnzimmer ihr Schlafzimmer sei, wo Mutter im dort aufgestellten Bett von Tante Trude und er auf dem Sofa schlafe. „Könnt ihr so leben?“ Eckhard Hieronymus merkte die ungeschickte Frage und nahm es hin, ohne weitere Fragen zu stellen, als Friedrich Joachim ihm antwortete: „Was heißt schon leben können in einer Zeit, in der die Not den Menschen unter den Füßen brennt und es so viele Tote gibt.“ Eckhard Hieronymus sagte nach einer Pause des betroffenen Mitgefühls, dass er, Luise Agnes und Anna Friederike auf dem bäuerlichen Stammhof der Dorfbrunners im Dorf Pommritz seien und ihre erste Nacht auf dem Heuschober der Scheune verbracht hätten. „Dann sind wir bei Onkel Alfred gut dran, weil Mutter hier ein Bett und ich ein Sofa zum Schlafen habe“, meinte Friedrich Joachim, worauf Eckhard Hieronymus sein tiefempfundenes Dankgefühl ausdrückte, dass er mit seiner Familie überhaupt eine Unterkunft gefunden hatte. „Da hast du völlig recht“, bestärkte ihn der Bruder in diesem Gefühl, „wie viele Menschen finden bei der Kälte nichts und müssen in Bahnhöfen, auf ihren Trecks oder neben der Straße im Freien übernachten, und das mit ihren Kindern.“
Eckhard Hieronymus sprach von der freundlichen Aufnahme durch die Bäuerin Dorfbrunner und ihrem Sohn Eckart, der nach dem Tod seines Vaters vor drei Jahren den Hof führe. „Ist das nicht ein komisches Gefühl, auf dem Bauernhof unserer Vorfahren zu sein und in der Scheune zu schlafen, die die Vorfahren schon mit Heu vollgepackt und vor ihr das Getreide gedroschen haben?“, fragte Friedrich Joachim. „Ja, es ist ein seltsames, ein erhebendes Gefühl, in dem Ehrfurcht vor der unbeugsamen Willensstärke und den fleißigen Händen der frühen Dorfbrunners bei der harten Feldarbeit und den vollbrachten Leistungen mitschwingt“, erklärte Eckhard Hieronymus. Vom Treffen und dem üppigen Mittagessen mit Reinhard Dorfbrunner, dem Obersturmführer der SS im Speiseraum der Standortkommandantur Ost, die in einem mit Luxus ausgestatteten Hotel in der Bautzener Steinstraße untergebracht war, erzählte er dem Bruder nichts. Da wollte er keine falschen Gefühle wecken oder Missverständnisse aufkommen lassen. Stattdessen sagte Eckhard Hieronymus, dass er sich für eine Arbeit umsehen wolle, um ein wenig Geld zum Unterhalt der Familie zu verdienen. „Das wird nicht einfach sein, denn in der Kirche dürften die Pastorenposten besetzt sein“, gab Friedrich Joachim seinem Bruder, dem Breslauer Superintendenten, zu bedenken. „Da magst du recht haben; aber versuchen will ich es“, erwiderte Eckhard Hieronymus.
Eckart holte den braunen Hengst aus dem Stall, bürstete ihm das Fell über dem Rücken und an den Flanken, legte ihm den Mantel über, dessen Riemen er unterm Brustkorb verschnallte, und spannte ihn vor den gummibereiften Pritschenwagen mit den beiden Bänken darauf. Dann kam er in die Küche und fragte Eckhard Hieronymus, ob er zum Gut der Wittkopfs mitfahren wolle. Als er das bejahte, sagte Eckart, dass er sich die Decke von seinem Schlafplatz mitnehmen solle, da es kalt sei und die Fahrt eine halbe Stunde dauern würde. Eckhard Hieronymus wünschte den Frauen am Tisch in der behaglichen Küche noch einen guten Morgen, holte die Decke, stieg auf den Pritschenwagen, setzte sich auf die vordere Bank, weil auf der hinteren Klaus und Heinz schon saßen, und legte die halb ausgebreitete Decke über seine Beine. Als Kopfbedeckung brachte Eckhard die Wintermütze seines verstorbenen Vaters, die sich Eckhard Hieronymus tief in die Stirn und über die Ohren zog. Eckart schwang sich auf den Kutscherbock, gab dem Hengst das ‘Hü’-Kommando und nahm den Weg zum verschneiten Wald, hinter dem das Gutshaus lag.
Anders als das stille, gleichmäßige Gleiten des Schlittens im Schnee wurde die Fahrt zur Holperfahrt über gefrorene Schneisen, vereiste Rillen und Querfurchen, ausgefahrene und zergleiste Fahrrinnen mit den harten Höckern frostverstörter Äste und den tiefen Löchern auf beiden Wegseiten. Die Landschaft lag erstarrt unter der vereisten Bodendecke, auf der eingedrückte Fuß- und Laufspuren zu lesen waren. Sonst bewegte sich auf dieser Decke so gut wie nichts. Aus einem Fuchsbau schaute der Rotkopf mit der spitzen Schnauze unentschieden heraus. Bussard und Adler standen auf Telegrafenmasten wie festgeeist und sahen nichts, wofür sich ein Flug lohnte. Aus dem Wald, in dem die Bäume langgezogene Eiszapfen an herabgebogenen Zweigen trugen, schrie der Hirsch vor Hunger. Bei der Fahrt durch die enge Schneise klirrte und knackte es in den Ästen, deren vereiste Hänge das grautrübe Tageslicht verspiegelten. Es war gut, sich die Baumwolldecke übergezogen zu haben. Sie fuhren in den Gutshof ein, auf dem Arbeiter in grauen, filzzerrissenen Lodenmänteln, tief runtergezogenen Filzmützen mit dunkelgrünen Fausthandschuhen in verdreckten Stiefeln und klobigen Holzschuhen, aus denen die Enden der Fußlappen heraushingen, die vereisten Reste zusammengeschmolzener Schneeberge und festgefrorene Erdklumpen mit Hacken lösten, auf Schubkarren schaufelten und von der Zufahrt zum Gutsherrenhaus räumten.
Eckart hielt mit dem Wagen vor den Stufen zum Haupteingang des Herrenhauses, vor dem zu beiden Seiten alte Linden- und Nussbäume standen. Er sprang vom Kutscherbock, nahm die sieben Stufen zur alten, mit Schnitzwerk verzierten Eichentür und klopfte an. Eckhard Hieronymus saß eingedeckt auf der Vorderbank und sah den Arbeitern bei der schweren Arbeit zu. Sie sahen fremdartig aus und sprachen kein Wort. Klaus und Heinz auf der Hinterbank meinten, dass sie russische Gefangene seien, die hier zur Fronarbeit verdonnert waren. Das stimmte mit dem Eindruck überein, den Eckhard Hieronymus von den ernsten und abgemagerten Gesichtern mit den slawisch prominenten Jochbögen gewonnen hatte. Eckart stand noch draußen vor der Tür und wartete mit gelassener Geduld. Die Tür ging auf, und ein älterer Herr in grüner Jägeruniform mit blanken, hohen Stiefeln trat ihm entgegen. Es war bis zum Pritschenwagen hin zu sehen, dass dieser Jäger über seiner rechten Brusttasche das Parteiabzeichen mit den gekreuzten Haken trug. Sie mussten sich kennen, denn der gestiefelte Herr gab Eckart die Hand, nahm ihn mit hinein und schloss die Tür. Klaus zeigte seinen Hang zum Sarkasmus, als er sagte, ob dieser Stiefelmann noch alle Tassen im Schrank hätte, wenn er doch sehe, dass Menschen auf dem Wagen sitzen, denen der Schweiß doch nicht von den Stirnen tropfe. Eckhard Hieronymus fand das gutsherrische Benehmen überheblich und meinte, wobei er den Kopf zu den beiden nach hinten drehte, dass dieser Mensch seine Überraschung umso mehr noch erleben werde, weil er sich um andere Menschen nicht so zu kümmern schien, wie das von einem Gutsherrn zu erwarten wäre.
Der Jägersmann mit dem Parteiabzeichen kam nach zehn Minuten wieder heraus, diesmal mit zwei schwarzweiß gescheckten Doggen, die die Stufen gemächlich herab stolzierten, zu den hackenden und schaufelnden Männern weiter stolzierten und ihre Hosenbeine von unten nach oben abschnüffelten. Eckart folgte dem Gutsherrn mit einem bedenklich dünnen Stoß gefalteter grauer Wehmacht Decken, die er unterm Arm trug, mit dem Gesicht des zu Wenigen auf den Pritschenwagen zuging und sie in einer Kiste hinter der zweiten Bank verstaute. Der Gutsherr bemühte sich die Treppen nicht erst herab, sondern betrachtete mit den hüftgestützten, gewinkelten Armen und dem grauen Blick des verzogenen Adels von der obersten Treppenstufe herunter die Räumungsarbeiten der ihm zugeteilten Gefangenen, pfiff die Doggen zurück, gab einen Dreisekundenblick dem Pritschenwagen mit dem sich aufsetzenden Eckart Dorfbrunner und den übrigen, in Decken gehüllt sitzenden Männern, ging hinein wie der gestiefelte Kater, gefolgt von den Doggen, und schloss resolut die alte, eichene Herrenhaustür mit dem eingeschnitzten Familienwappen der Von Wittkopfs, die dann auch schwer ins Schloss fiel.
Klaus fragte: „Ist das alles?“ Eckart nickte: „Mehr Decken hat er nicht gegeben, obwohl im Lagerraum die Baumwolldecken sich bis zur Lagerdecke stapeln.“ Da sagte Heinz: „Dann waren wir bei einem Gutsherrn mit dem Parteiabzeichen, der vom Bonzengeiz bereits zerfressen ist. Diese Typen kennen nur sich und kümmern sich um die andern einen feuchten oder trockenen Kehricht.“ Heinz kommentierte: „Der soll sich mal keine falschen Hoffnungen machen. Wenn er die ihm zugeteilten Zwangsarbeiter in derselben Weise von oben herab behandelt, dann wird ihn bald der rote Teufel holen.“ Eckhard Hieronymus schwieg. Er versuchte sich zu erinnern, was sein Großvater ihm von diesem Gut erzählt hatte, auf dem einst ein großzügiger Gutsherr von Bildung war, der seine Leute menschlich behandelte. Er zog den Strich darunter und stellte den Bildungszerfall fest, der in die Wittkopfs gefahren sei, dass sie selbst das gute Benehmen verlernt hatten. Erstaunlich war die Bemerkung von Eckart, der, nachdem der Wagen die enge Waldschneise durchfahren hatte, meinte, dass Geiz nicht nur ein Armutszeugnis sei, sondern dazu noch gefährlich ist, weil er mit Neid und Hass gepaart die Geißel der Menschheit sei, an deren Folgen die Völker so hart zu leiden hätten.
Sie kamen in weniger als zwei Stunden nach Verlassen des Hofes wieder in Pommritz an, zu früh, als was sie sich von der Fahrt versprochen hatten. Auch Eckarts Mutter war über die frühe Rückkehr überrascht. Die drei Mitfahrer falteten ihre Decken zusammen und legten sie auf der Vorderbank des Pritschenwagens ab. „War der Herr Wittkopf nicht da?“, fragte sie den Sohn, der den dünnen Stapel Decken schon unterm Arm hielt. „Ist das alles?“, fragte sie gleich hinterher, ohne die Antwort auf die erste Frage abzuwarten. „Das ist alles“, antwortete Eckart der Mutter. „Kommt, setzt euch, ich mache einen Kaffee. Dazu gibt es frisch gebackenes Brot mit frischer Butter.“ Die Heimkehrer empfanden die Wärme, mit der Mutter Dorfbrunner sprach, und die Wärme in der Küche, die sie mit dem Duft des frisch gebackenen Brotes atmeten, als besonders wohltuend. Sie setzten sich an den Tisch, bekamen den frisch gebrühten Kaffee in die vor ihnen stehenden Tassen eingegossen und langten mit großem Appetit nach dem Korb mit den Brotscheiben, die sie mit Butter bestrichen, deren Bissen sie mit großem Genuss im Mund zerkauten.
Marga Dorfbrunner kam nicht darüber, dass sich der Gutsherr so kleinlich angestellt hatte. Sie verlangte nach mehr Information: „Hat sich denn auf dem Gut etwas Besonderes zugetragen, dass die volle Aufmerksamkeit von Herrn Wittkopf in Anspruch nahm? Er war doch sonst nicht so.“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Eckart bedrückt. Da half ihm Heinz nach, der von den Fronarbeitern berichtete, die die Zufahrt zum Herrenhaus vom vereisten Schnee und den festgefrorenen Erdklumpen säuberten. „Der Wittkopf stand mit dem Parteiabzeichen an der grünen Jägeruniform wie ein Krösus auf der letzten Stufe vor dem Portal und sah wie ein Despot, umgeben von seinen beiden Doggen, auf die Arbeiter und uns auf dem Pritschenwagen, die wir uns in Decken gehüllt hatten, mit dem Bonzenblick der Dummheit herab. Von so einem, der dazu hohe schwarze Stiefel trug, habe ich nie eine menschliche Geste erwartet. Der kennt nur sich selbst und sonst niemanden.“ „Eckhard Hieronymus, sag, wie hast du das empfunden?“, fragte die Bäuerin. „Wenn ich es auf eine kurze Formel bringe, dann muss ich sagen, dass ich da gar nichts empfunden habe, weil es da nichts zu empfinden gab, was irgendwie menschlich gewesen wäre. Ich versuchte mich an die Erzählungen meines Großvaters zu erinnern, der von einem Gutsherrn mit Bildung sprach, dem das Wohlergehen anderer Menschen am Herzen lag.
Heute habe ich vom Pritschenwagen aus einen Gutsherrn vor dem Portal des Eingangs zu seinem Herrenhaus gesehen, der nur noch den Namen seiner Vorfahren trägt, dem ansonsten die von meinem Großvater erwähnte Bildung soweit abhanden gekommen war, dass er noch nicht einmal zu wissen schien, wie er sich richtig zu benehmen hatte.“ Marga Dorfbrunner machte ein ernstes Gesicht. Sie ließ sich die Schilderungen vom Gutshof und seinem Herrn durch den Kopf gehen. Sie stellte die zeitlich etwas vorgegriffene Frage, wie es dem Herrn Wittkopf gehen würde, wenn die Russen nach Pommritz kommen. „Das kann ich ihnen prophezeien“, sagte Klaus, „wenn die russischen Soldaten auf dem Gut die russischen Gefangenen antreffen, dann werden sie den Wittkopf gleich einsperren und nach Sibirien in ein Arbeitslager verfrachten. Denn bei Leuten, die ihren Profit durch die Fronarbeit der Gefangenen machen, werden sie kein Pardon kennen.“ „Und die Abrechnung kommt bald. Keiner wird ihr entgehen“, fügte Heinz hinzu. „Lasst uns nicht der Zeit vorausgreifen“, meinte Eckart, worauf Heinz sagte, dass man nicht weit vorausgreifen müsse, was bereits nahe zu greifen ist.
Am späten Nachmittag kam Wilhelm Theisen aus Bautzen zurück, wo er dringende Besorgungen zu erledigen hatte. Bauer Hohlfeld vom Hof des Nachbardorfes hatte ihn am frühen Morgen abgeholt, weil auch er Besorgungen in der Stadt zu machen hatte. So war Wilhelm Theisen beim Amt für Wohnraumbeschaffung zur Unterbringung von Flüchtlingen, wo er dem zuständigen Beamten, einer Frau der Endvierziger, mitteilte, dass auf dem Hof drei Flüchtlinge aus Breslau untergebracht seien. Klaus und Heinz erwähnte er nicht, da ihr Dasein nach deren eigenen Schilderungen illegal sei und mit einer Katastrophe enden würde, wenn sie von Amts wegen gefasst würden.
Wilhelm schilderte die Frau als eine verbissene Nationalsozialistin, die das Parteiabzeichen an ihrer Jacke trage und im Amtszimmer das eingerahmte Großfoto des „Führers“ hinter Glas hängen habe. Sie wollte alles genau wissen. So musste er eine Art Baubeschreibung von Haus und Hof geben, aus der die Anzahl der Zimmer ersichtlich wurde. Als sie die Zimmerzahl an den Fingern abzählte, dabei die Küche mit dazu zählte, wunderte sie sich, dass sie zum Zählen nur vier Finger der rechten Hand benötigte. Weil sie es genau wissen wollte, fragte sie noch einmal, wie viele Personen auf dem Hof lebten. Bei Weglassung von Klaus und Heinz aus Sicherheitsgründen gab er die Zahl ‘6’ an, drei vom Hof und drei aus Breslau. Die Amtsfrau schaute ihn mit dem gewohnten Blick des Misstrauens an und fragte, wie denn sechs Personen in vier Räumen schlafen würden, wenn sie die Küche dabei mitgezählt habe. Offenbar hatte sie den Verdacht, wenn auch fälschlicherweise, des Betrugs, durch Angabe von mehr Flüchtlingen, um mehr Lebensmittelkarten zu ergattern. Er habe ihr die Wahrheit gesagt, dass die schlesischen Flüchtlinge ihre Schlafstellen auf dem Heuschober der Scheune hätten. Sie wollte es erst nicht glauben und stellte die deutsche Gewissensfrage, ob sie den Inspektor schicken solle, um diese Angaben zu überprüfen. Er habe ihr bei dieser Frage gelassen ins Gesicht geschaut und gesagt, dass es ihr freistünde, dies zu tun, wenn sie es ihm nicht glauben wolle. Auf die Reaktion auf ihre Frage, die für sie die Gretchenfrage war, hellte sich ihr Gesicht auf. Sie sagte, dass sie es nun glauben würde und stellte die entsprechende Bescheinigung aus, unterschrieb sie und drückte ihr den Stempel auf, womit nun die Lebensmittelkarten beschafft werden können. Wilhelm Theisen berichtete, dass an den Pfeilern der Spreebrücke Kästen mit Dynamit befestigt und rund um die Stadt Schützengräben von Kriegsgefangenen und Häftlingen aus dem Zuchthaus „Gelbes Elend“ unter Bewachung der ‘SS’ ausgehoben würden. Er habe keinen Zweifel, dass die Vorbereitungen für den Endkampf nun bis an die Spree reichen und es nur eine Frage der Zeit sei, dass Bautzen zur Festung erklärt würde.
Die Schilderung löste Bedrückung auf die Gemüter am Tisch in der warmen Küche des Pommritz’schen Hofes aus. „Damit musste doch gerechnet werden“, sagte Klaus, „dass jeder Quadratmeter Boden gegen die russische Invasion verteidigt würde. Denn Berlin ist nicht mehr weit, dem die russischen Armeen näher sind als die Armeen der Westalliierten. Da wird das Letzte noch zertrümmert werden, was die Bomber nicht zertrümmert haben.“ „Das hört sich ja schrecklich an“, sagte Luise Agnes. Alle machten ein besorgtes Gesicht. Keiner wusste einen Rat, wie aus dem Dilemma herauszukommen war. Sie wussten es, dass alle im selben Boot saßen, das als das deutsche zum Untergang verdammt war. Eckhard Hieronymus dachte an die Sätze des tapferen Pfarrers Rudolf Kannengießer in der Deutschstraße 25 in Breslau, der am Dachfenster stand und die drei russischen Tiefflieger auf sich zufliegen sah, die ungestört über Breslau aus den Maschinengewehren wild ihre Salven auf die Zivilbevölkerung schossen, die mit den Fluchtvorbereitungen zugange war, der sagte, dass das nun das Ende sei.
Er sagte weiter, dass die Nazimäuler bald schweigen und irgendwo untertauchen und die Verantwortung für das klägliche Ende mit der großen Katastrophe auf die Menschen abwälzen werden, die dafür nicht ganz schuldlos sind, weil sie dem Teufel zur Macht verhalfen und zum Teufelswerk geschwiegen und noch mitgemacht anstatt dagegen protestiert zu haben. Eckhard Hieronymus sah das ernste Gesicht des Pfarrers so klar vor sich wie am Tage des Abschieds, als er neben ihm vom Fenster seiner kleinen Dachwohnung den Überflug der russischen Tiefflieger verfolgte. Da sagte Pfarrer Kannengießer noch, dass es für ihn unfassbar sei, wie die braunen und anderen Horden mit dem deutschen Volk umgegangen seien, dass es so gequält und geschunden wurde. Unter dem Schlussstrich fasste er zusammen, dass die Arroganz vor den Fall komme, nicht aber die unzählbaren Toten zum Leben zurückkehren. Besonders bedrückend waren für Eckhard Hieronymus die letzten Sätze, die dieser mutige Pfarrer zum Abschied sagte: “Was in den Konzentrationslagern geschehen ist, das bleibt vor der Welt unentschuldbar. Allein dafür werde dem armen deutschen Volk das Brandzeichen des barbarischen Verbrechens auf die Stirn gedrückt werden, das da nicht mehr wegzukriegen ist.”
Das Telefon klingelte. Eckart eilte in den Nebenraum und nahm den Hörer ab. Er kam zurück und sagte, dass es die Mutter Dorfbrunner aus Dresden sei, die ihren Sohn sprechen möchte. Eckhard Hieronymus gab seinem Kreislauf den Adrenalinstoß und eilte mit rotem Kopf zum Telefon. „Eckhard, mein Sohn, bist du’s?“ „Ja, Mutter, ich bin’s. Meine liebe Mutter!, das ist eine große Freude, deine Stimme nach so langer Zeit wieder zu hören. Wie geht es dir?“ „Naja, wie es einer alten Frau eben geht. Die stärkste bin ich nicht mehr.“ „Friedrich Joachim sagte, dass du im Zug einen Erschöpfungsanfall erlitten hast und nun in ärztlicher Behandlung bist.“ „Da wird der liebe Joachim wieder übertrieben haben. Denn, wie du hörst, lebe ich noch.“ „Ja, du lebst, und dafür sind wir sehr dankbar. Aber sag, Mutter, wie lebst du?“ „Mit eingeschränkten Kräften, wie es einer alten Frau zusteht.“ „Komm, nun spiel deine Beschwerden nicht so runter! Friedrich Joachim sagte, dass der Arzt einen hochgradigen Erschöpfungszustand mit einer Eisenmangelanämie festgestellt hat und dich darauf behandelt.“ „Mein lieber Sohn, du wirst deiner alten Mutter so einen Zustand doch zubilligen können. Das Leben geht auch an mir nicht spurlos vorbei.“ „Sicher tut das Leben das nicht. Aber es fällt mir schwer, dir einen solchen Zustand zubilligen zu wollen.“ „Ach, mein lieber Eckhard, betrachte mich doch nicht so eng. Öffne dein Herz, den Verstand hast du, um mein Leben im größeren Zusammenhang zu sehen. Jeder von uns hat seine eigene Lebensuhr, die mit der Geburt aufgezogen, aber nicht ewig ticken wird. Auch für mich wird die Zeit kommen, wo die Uhr nicht mehr ticken will. Dagegen sträube ich mich nicht. Das weißt du auch, dass der Mensch die Uhr weder zurückdrehen noch neu aufziehen kann. Alles hat sein Ende, weil alles seinen Anfang hat.“
„Mutter, du sprichst nun philosophisch.“ „Nein, mein Sohn, ich spreche ganz natürlich, und du solltest es verstehen.“ „Aber du wirst verstehen, dass sich deine Kinder Sorgen um ihre Mutter machen. Das ist doch auch natürlich.“ „Das ist nicht nur natürlich; das ist sehr lieb von euch.“ „Isst du denn ordentlich? Ich frage deshalb, weil sich schon unser Vater Sorgen um deine Magerkeit machte.“ „Ich esse, so gut ich essen kann. Aber ich muss mir das Essen buchstäblich in den Mund schieben, weil mir der Appetit zum Essen fehlt.“ „Gibt der Arzt dir ein Eisenpräparat, denn der fehlende Appetit kann mit der Eisenmangelanämie im Zusammenhang stehen.“ „Der Arzt gibt sich große Mühe und verschreibt mir alles mögliche, was in der Apotheke nicht immer zu bekommen ist.“ „Mutter, schreib auf einen Zettel, was du brauchst. Ich werde mich bemühen, es dir zu beschaffen.“ „Danke. Nun genug von mir! Wie geht es dir, Luise Agnes und Anna Friederike? Wo seid ihr? Habt ihr was von Paul Gerhard gehört?“
Eckhard Hieronymus hat mit der Frage gerechnet: „Nein, von Paul Gerhard haben wir seit seinem Weggang zur Front nichts mehr gehört.“ „Ach, das macht mich aber traurig.“ „Auch wir sind in großer Sorge um sein Leben; war er doch voller Hoffnung, sein Medizinstudium zu beginnen. Paul Gerhard wollte Chirurg werden. Er hatte die Begabung für den Beruf des Arztes und zum Chirurgen die manuelle Geschicklichkeit.“ „Ja, das hast du immer gesagt. Lass uns hoffen, dass der gute Junge bald zurückkommt.“ „Ja, Mutter, das hoffen wir auch. Zu deiner Frage, wo wir sind, da wirst du staunen. Wir sind auf dem Bauernhof unserer frühen Dorfbrunner-Vorfahren im Dorf Pommritz bei Bautzen.“ „Das ist aber schön. Seid ihr gut aufgenommen worden?“ „Ja, wir sind sogar herzlich aufgenommen worden.“ „Habt ihr auch genug Platz zum Schlafen?“ „Ja, den haben wir“, wobei Eckhard Hieronymus den Heuschober nicht erwähnte, „da brauchst du dir keine Sorgen machen.“ „Ob wir uns noch einmal sehen werden?“, fragte Mutter Dorfbrunner, „das wäre mir eine große Freude. Denn wir beide wissen nicht, wie die Zukunft aussehen wird.“ „Ich werde nach einer Möglichkeit suchen, denn auch wir würden uns freuen, unsere liebe Mutter und geliebte Oma wiederzusehen.“ „Lass uns das Gespräch nun beenden, denn mir ist es etwas schwindelig im Kopf.“ „Ja, Mutter, wir werden uns in den nächsten Tagen wieder sprechen. Ich wünsche dir eine gute Besserung, dass du uns noch lange erhalten bleibst. Grüße Friedrich Joachim und Onkel Alfred. Wisse, dass wir dich alle sehr lieb haben.“ „Dafür danke ich euch. Auch ihr liegt mir am Herzen. Grüße Luise Agnes, Anna Friederike und die Dorfbrunners vom Hofe. Gott beschütze euch!“ „Und dich, Friedrich Joachim und Onkel Alfred auch.“
Eckhard Hieronymus legte den Hörer auf und stand noch eine Weile vor der Kommode mit dem Telefon. Er sah im Geiste, wie auch Mutter in der Wohnung ihres Bruders Alfred Decker im zweiten Stock des Mietshauses in der Münchner Straße 27 noch eine Weile vor dem Telefon verharrte, um, wie er, das Gespräch noch einmal Revue passieren zu lassen. Er ging in die Küche zurück, wo die Augen der am Tisch Sitzenden auf ihn gerichtet waren, richtete die Grüße an alle aus und berichtete in zusammengefasster Form das Telefonat. Bäuerin Dorfbrunner drückte ihre Freude aus, dass ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn zustande kam. Besonders freuten sich Luise Agnes und Anna Friederike, dass sich die Großmutter vom Schwächeanfall soweit erholt hatte, dass sie zumindest telefonieren konnte. Auf ihre Frage, ob ein Wiedersehen möglich sei, wusste aus dem Stegreif keiner eine Antwort. „Da müssen wir uns unsere Gedanken noch machen“, sagte die Bäuerin, während Eckhard Hieronymus den Obersturmführer Reinhard Dorfbrunner ins Visier seines geistigen Auges nahm, der ihm in der Sache des Wiedersehens mit der Mutter am ehesten helfen könnte, zumal er seine Hilfe beim Mittagessen im Speiseraum des Hotels, in dem die Standortkommandantur Ost in der Steinstraße untergebracht war, angeboten hatte und das Angebot mit dem dicken Blut der Dorfbrunners begründete, dass ein Dorfbrunner dem andern Dorfbrunner hilft, wenn er die Hilfe braucht.
Der Ausspruch des Breslauer Pfarrers Rudolf Kannengießer beschämte ihn. Eckhard Hieronymus dankte ihm für die Lektion, die aus der Weisheit eines unerschütterten Glaubens kam. Er empfand den Ausspruch als einen Leitsatz im Hinblick auf das Gefragtwerden am Tage des letzten Gerichts. Anna Friederike hörte das ‘Mea culpa’ und fragte den Vater, was er denn hätte, wofür er sich schuldig sprach. Eckhard Hieronymus nahm die Tochter an die Hand und sagte: „Schuldig bin ich, dass ich zu alledem geschwiegen habe, als es an der Zeit war, dagegen zu protestieren. Ich kann doch nicht unschuldig sein, dass ich nichts unternommen habe, weder geistig noch weltlich, als der Demagoge das Krankheitsbild des Größenwahnsinns zeichnete und bot.“ „Was hättest Du denn tun können?“, fragte Anna Friederike. „Das ist eine andere Sache. Aber ich habe gar nichts getan, habe es einfach laufen lassen. Es gab Menschen wie die Geschwister Scholl, die etwas gegen das Unrecht unternommen haben.“ „Und dafür hingerichtet wurden wie die Menschen des 20. Juli.“ „Wie dem auch sei, nun ist es zu spät. Auch ich habe am Schicksal, durch das wir nun zu gehen haben, meinen Teil der Schweigeschuld zu tragen.“
Er erzählte Anna Friederike, was Pfarrer Kannengießer sagte, als er sich von ihm verabschiedete, dass die Kirche kläglich versagt habe, als es um die Erfüllung des Auftrags ging, sich für die armen, wehrlosen und gequälten Menschen einzusetzen. Die Kirchenmänner hätten sich selbst zu ängstlichen Zuschauern degradiert, anstatt wie ein Paulus aufzustehen und die Nazi-Verbrechen an den Menschen laut und deutlich anzuprangern. Das Schweigen war ein schwerer Fehler. Sie ließen den Kornmarkt und den Reichenturm links liegen, gingen rechts über den Blumenmarkt auf das Hotel mit der Standortkommandantur zu und fragten an der Rezeption nach dem Obersturmführer. Der kam mit ernstem Gesicht die Treppe runter und sagte, dass die Russen Breslau mit Artillerie und geballten Panzerverbänden eingeschlossen hätten. Es sei eine Frage von Wochen oder Tagen, dass die Festung fällt.
Sie gingen zum Speiseraum und setzten sich an denselben Tisch, an dem sie vor zwei Tagen zusammen mit Luise Agnes gesessen hatten. Als Vorspeise wurde Hühnerbouillon mit Ei serviert. Der Obersturmführer bestellte gleich den Chablis vom 40er Jahrgang. Er fragte, während die Serviererin die Weingläser auf den Tisch stellte, die Flasche öffnete, das Glas des Gastgebers zum Probeschluck füllte, der es nach dem Probeschluck auf den Tisch stellte, wie das Gespräch unter den Kirchenbrüdern verlaufen sei. Eckhard Hieronymus sagte, dass es nichts gebracht hätte und der Superintendent im Amt von den Schwierigkeiten berichtete, die er aufgrund der Streichung einer Pfarrstelle aus Kostengründen habe, dass ein Pfarrer, der kurz vor seinem Ruhestand steht, das letzte Jahr noch durchhalten wolle, um sein Ruhegeld in voller Höhe zu beziehen. „Du siehst“, sagte der Namensvetter Reinhard Dorfbrunner im spöttischen Tonfall, „wieweit die Hilfsbereitschaft bei einem Kirchenmann geht, wenn er einem Amtsbruder helfen soll.“ Er lachte: „Sagen wir erstmal Prost! Das andere wird schon kommen, wenn auch ganz anders, als wir es gedacht haben. Denn wenn Breslau fällt, dann sind die Bolschewisten bald in Bautzen. Aber sag, hast du deinem heiligen Mitbruder nicht gesagt, dass du eine Familie mit einer hübschen Tochter hast?“ „Ich habe die Familie erwähnt, die Tochter hat er gesehen“, erwiderte Eckhard Hieronymus. Es fuhr dem Obersturmführer „der aufgeblasene Hosenkacker“ aus dem Mund, als er sich mit Messer und Gabel über den Schweinsbauch mit Sauerkraut und Salzkartoffeln hermachte und sich dazu reichlich scharfen Mostrich auf den Teller gelöffelt hatte.
„Versteh mich richtig“, sagte der Namensvetter, „ich meine nicht dich persönlich, denn du bist ein Dorfbrunner, ich meine es ganz allgemein, dass ihr Kirchenleute jedes Mal jämmerlich versagt, wenn man euch braucht.“ Eckhard Hieronymus schwieg, und sein Schweigen wurde als Ausdruck der Zustimmung verstanden. Sie stießen die Gläser auf das Wohl der Dorfbrunners und die guten Geister an, die sie zur Bewältigung der Zukunft brauchten, sich aber nicht greifen ließen. „Aus meiner philosophisch angehauchten Sicht wird es nicht einfach sein, den Schlamassel zu durchwaten und durchzustehen, der auf uns zukommt nach allem, was passiert ist“, meinte Reinhard, der Obersturmführer, mit ernster Miene.
Eckhard Hieronymus ging darauf ein und meinte, dass die Zukunft von den Taten abhänge, die begangen wurden, egal ob bewusst oder unbewusst. Jeder müsse sich selbst fragen, ob er das Richtige oder das Falsche getan hat, ob er ehrlich oder korrupt war. „Es wird die Frage nach dem Wissen und Gewissen sein, wie die Zukunft auf uns zukommen wird. Sie wird deshalb anders auf uns zukommen, als wir denken, dass sie auf uns zukommen soll, weil wir die Wahrheit nicht ertragen, sie wegdrücken und uns weiter belügen. Der Mörder wird nicht ungestraft davonkommen, wie auch der Schweiger nicht, der den Mord gesehen, aber nichts unternommen hat. Die Schuld des Schweigens ist eine gemeine und schwere Schuld, die zu verantworten ist. Sie wird weit in die Zukunft reichen, und die nächsten Generationen werden ihre Köpfe schütteln, dass so etwas möglich war. Wer sich noch schämen kann und Grund zum Schämen hat, der sollte sich jetzt schon schämen.
Wer sich nicht schämen kann oder schämen will, wenn er Grund zum Schämen hat, dem ist dann auch der letzte Rest an Menschlichkeit abzusprechen.“ „Mensch!“, unterbrach ihn der Obersturmführer, „fährst du aber schwere Geschütze auf. Die könnten wir jetzt gut in Breslau und an der ganzen Front gebrauchen, um den Feind zu stoppen. Meinst du nicht auch, dass Europa auf dem Prüfstand und damit auf dem Spiel steht, je tiefer die russischen Armeen ins deutsche Reichgebiet eindringen?“ „Da stimme ich dir zu“, sagte Eckhard Hieronymus, „dabei müssen wir uns fragen, wer den Krieg mit dem Riesenreich im Osten begonnen hat, an dem schon Napoleon, der in Moskau war, strauchelte und den Großteil seiner Armee mit Waffen durch Typhus verloren hat. Man hätte daraus lernen können, dass der russische Koloss vom Westen her zwar verwundbar, aber nicht zu erobern ist. Dafür sind die geographischen Dimensionen viel zu groß.“
„Dass du als Kirchenmann dich in der Kriegsstrategie profilierst, das habe von dir nicht erwartet. Ich meine aber, dass jeder bei seinen Leisten bleiben solle. Hast du nicht schon mit dem lieben Gott genug zu tun? Ich gebe zu, dass ich mit meinen Leisten auch nicht weiter komme, weil es an Panzern und anderem schlagkräftigen Kriegsgerät fehlt. Wir haben das Ziel nicht erreicht. Nun überrollt uns die Rote Armee mit ihren T34. Doch widerstandslos werden wir nicht von der Bühne verschwinden, das sind wir dem deutschen Boden und der deutschen Ehre schuldig.“ „Der deutschen Ehre sind wir vieles schuldig geblieben“, gab Eckhard Hieronymus zu bedenken und fragte, ob es sinnvoll sei, nun noch das Letzte mit den unersetzbaren Baudenkmälern in Schutt und Scherben zu schießen. Darauf bemerkte der Obersturmführer, dass der Krieg fürchterlich in seiner Einfachheit ist, in dem es ausschließlich auf den Sieg ankommt. Da nimmt keiner Rücksicht auf die Baudenkmäler, auch wenn sie aus historischer, architektonischer und künstlerischer Sicht unersetzbar sind. Man denke an die ägyptischen und griechischen Tempel, die zerstört wurden, an die Skulpturen, denen die Augen ausgestochen und die Arme, Nasen und Ohren abgeschlagen wurden.
Es war ein Mittagessen mit Diskussion zur Lage der verbluteten und verbrauchten Nation. Der Obersturmführer zielte auf den Untergang des Abendlandes hin, weil der bolschewistische Einfall in die Mitte Europas nicht aufzuhalten ist; Eckhard Hieronymus ging es um Gründe und Schuld, warum der Weg in die Katastrophe zu gehen war. Beide hatten in der Schule den „Phaidon“ gelesen. Sie kamen auf Sokrates zu sprechen, dass er zur Erhaltung Athens als Infanterist im Peloponnesischen Krieg bei Delion und Amphipolis kämpfte und nach den Kämpfen den Vorsitz im Rat der Rechtspartei übernahm und das aufgebrachte Volk zu beschwichtigen und davon abzuhalten versuchte, die Feldherren wegen der verlorenen Arginusenschlacht hinzurichten. Er erlebte den Niedergang und die Katastrophe Athens. „Weißt du“, fragte Eckhard Hieronymus den Namensvetter, „warum Sokrates kein Partei- oder Staatsführer sein wollte?“ Der Obersturmführer wusste es nicht; Eckhard Hieronymus zitierte aus der Apologie: „Niemand sei seines Lebens sicher, der einer Volksmasse offen und ehrlich begegnet. Deshalb müsse, wer ein Kämpfer für das Rechte sein und dabei kurze Zeit am Leben bleiben wolle, sich auf den Verkehr mit Einzelnen beschränken.“ Der Namensvetter lachte und sagte, dass der „Führer“ diesbezüglich doch Glück gehabt habe, worauf der andere Vetter ironisch wurde und sagte, dass Sokrates etwas anderes unter Offenheit und Ehrlichkeit verstand, wobei er die Toleranz anders denkenden Menschen gegenüber als unverzichtbar angesehen hatte.
Bei der Nachspeise sah Eckhard Hieronymus auf die Uhr, es war halbdrei, und sagte, dass Eckart auf sie warte, um sie nach Pommritz zurückzubringen, und sie um drei Uhr eine Absprache beim Frauenarzt hätten. Da fragte der Obersturmführer, ob denn die hübsche Tochter schwanger sei. „Nein“, winkte Anna Friederike ab, „aber vielleicht kann er mich als Schwester in seiner Frauenklinik gebrauchen. Dann verdient wenigstens einer das Brotgeld für die Familie.“ Der Vetter legte den Arm auf ihre Schulter und sagte: „das ist eine gute Idee. Hat sich doch wieder gezeigt, wie nutzlos Kirchenleute sind, wenn man sie braucht.“ Er brachte die Breslauer zum Ausgang. Bei der Verabschiedung sagte er zu Friederike, dass er ihr die Daumen drücke und die Lebensmittelkarten mit den größeren Zuteilungen vom Fahrer am nächsten Tag nach Pommritz bringen lassen werde. „Vielleicht komme ich auch selbst. Dann bringe ich echte Kaffeebohnen mit.“
Eckhard Hieronymus und Anna Friederike überquerten den Blumenmarkt, wo an der Ecke Kornstraße Eckart mit dem Pritschenwagen schon wartete. „Wir haben noch einen Termin beim Arzt am Albertplatz. Kannst Du da auf uns warten?“, fragte Anna Friederike. „Kein Problem.“, sagte Eckart. Der Arzt, ein großer, schlanker Herr der Endvierziger, saß hinter dem Schreibtisch und trug die Untersuchungsdaten in die Karteikarte der Patientin ein. „Nehmen Sie bitte Platz.“ Vater und Tochter setzten sich dem Arzt gegenüber und warteten, bis er die Eintragung beendet hatte. „Sie kommen das erste Mal. Was ist ihr Problem?“ Eckhard Hieronymus stellte sich und seine Tochter vor, erwähnte, dass sie Flüchtlinge aus Breslau seien. Er stellte die Frage, ob die Möglichkeit bestehe, dass seine Tochter in der Klinik arbeiten könne. Der Arzt schaute Anna Friederike an. Sein erster Eindruck stimmte ihn positiv. „Wo haben Sie ihre Ausbildung abgeschlossen?“, fragte er mit gütigem Blick. „Ich habe keine Ausbildung; dazu habe ich es nicht geschafft“, sagte Anna Friederike. Eckhard Hieronymus erklärte die Situation, dass die Tochter vorhatte, Medizin zu studieren, dass sie aber nicht immatrikuliert wurde, weil sie das Blut einer jüdischen Großmutter habe. Alternativ stand für sie der Beruf der Krankenschwester. Da hatte der Krieg die Ausbildung verhindert. Er erwähnte, dass er als Superintendent von Breslau mit dem hiesigen Superintendenten Bosch gesprochen habe, der ihm aber nicht zu einer Arbeit verhelfen konnte. Nun gäbe es in der Familie keinen, der durch Arbeit das Geld für das tägliche Brot verdiene. Der Frauenarzt hatte die prekäre Situation verstanden und sagte seine Unterstützung zu, dass Anna Friederike in der Klinik als Hilfsschwester arbeiten könne. Als Eckhard Hieronymus sagte, dass sie auf einem Hof im Dorf Pommritz untergebracht seien, bot der Arzt ein kleines Zimmer unter dem Dach an, von dem die Tochter Gebrauch machen könne. Vater und Tochter bedankten sich für das Angebot. Es wurde vereinbart, dass Anna Friederike unverzüglich mit der Arbeit beginnen könne.
Die Frage nach dem Wohin stand ernst in den Gesichtern der Kutscher, auf denen die Zuversicht mit der Bestimmtheit, dass sie die Antwort kannten, so gut wie bei keinem zu sehen war, auch wenn die Fahrtrichtung stimmte. Die Zeit drängte, und die Menschen aus dem Osten drückten mit ihrer aufgeladenen Habe in den Westen hinein. Die Landschaft, über die hinweggezogen wurde, lag hartgefroren unter den Hufen und Rädern; sie lud ihrerseits nicht zum Verweilen ein.
Nach etwas mehr als einer Stunde hatte Eckart das Dorf erreicht. Er fuhr in den Hof, sprang vom Bock herunter, spannte den Hengst aus und führte ihn in den wärmeren Stall, wo er ihm Heu und Wasser gab. Die beiden Breslauer legten die Decke zusammen und auf die Bank, stiegen vom Wagen und gingen in die Küche, in der es behaglich warm war, und Luise Agnes der Bäuerin beim Kartoffelschälen half. „Kommt, setzt euch! Ich mache erstmal einen Kaffee.“ Vater und Tochter waren froh, dass sie zurück waren und sich an den Tisch in der warmen Küche setzten. „Wie war’s?“, fragte Luise Agnes, wobei sie den beiden in die Gesichter blickte und dann mit dem Schälen der Kartoffeln weitermachte. „Es gibt zwei gute Nachrichten und eine schlechte. Welche willst Du zuerst hören?“, fragte Anna Friederike die Mutter. „Fang mit den guten an!“ Da berichtete ihr Anna Friederike, dass sie in der Frauenklinik sofort mit der Arbeit beginnen könne und dass der Namensvetter Lebensmittelkarten mit den besseren Zuteilungen beschaffen werde, die der Fahrer morgen bringen würde, wenn er sie nicht selbst bringt. „Das sind in der Tat gute Nachrichten“, sagte Luise Agnes, die auf Kartoffel und Schälmesser blickte.
„Nun weiß ich auch die schlechte Nachricht“, fuhr sie fort, „dass Vater mit dem Superintendenten gesprochen hat, der ihm nicht helfen kann, weil er keine Arbeit für ihn hat.“ „So ist’s; du bist eine Hellseherin“, sagte Anna Friederike. Die Mutter meinte, dass man kein Hellseher sein muss, um die Schwächen von Kirchenleuten zu kennen. Schweigend saß Eckhard Hieronymus vor seiner Tasse Kaffee, die die Bäuerin Dorfbrunner eingegossen hatte. Er war mit seinen Gedanken noch einmal bei dem kurzgewachsenen Konsistorialrat Braunfelder in Burgstadt, der, als er ihm an dem großen Schreibtisch mit der polierten Schreibtischplatte gegenübersaß, wie ein Wasserfall sprach und jeden Versuch, wenn er etwas sagen wollte, „wegspülte”, dass er bei den Gesprächen, zu denen er ihn gerufen hatte, einfach nicht zu Wort kam. Er sah die Manie, wie der Rat in seinem Wortschwall das metallene Brustkreuz mit seinen kurzen, fleischigen Finger fasste und umfuhr und nicht mehr aus den Fingern gab. Der andere Kirchenmann war der Bischof Rothmann in Breslau, der am Entwurf des pastoralen Rundbriefes die Passage streichen wollte, in der davon die Rede war, dass der Geist der Zeit gegen die Wahrheit sei, die zu verkünden war, weil das Böse mächtig zuschlägt, wenn die weltliche Macht größer sein will als die Macht Gottes, wo aus dem Machtkonflikt jene Unbilden entstehen, die durch Verdrehung der Wahrheit die Monster von Hass und Zwietracht hervorbringen. Der Bischof begründete den Weglassungsvorschlag mit seinem baldigen Ruhestand, dem er in Ruhe entgegensehen wolle, ohne vorher von der Gestapo noch gestört zu werden. Eckhard Hieronymus hatte die spöttische Bemerkung seines Namensvetters in SS-Uniform im Ohr, der sagte, dass die Kirchenleute jämmerlich versagen, wenn man sie braucht. Doch gab es unter den Kirchenmännern auch den Pfarrer Richter mit dem einen, dem rechten Arm, in Burgstadt und den jungen Pfarrer Kannengießer in Breslau. Sie waren Vorbild, was den Mut, die Wahrheit zu sagen, anging und die Unerschütterlichkeit des Glaubens betraf. Eckhard Hieronymus war der Auffassung, dass der Namensvetter diesen beiden Pastören seinen Respekt gezollt hätte. Ob er sie vor der Gestapo in Schutz genommen hätte, diese Frage konnte sich Eckhard Hieronymus allerdings nicht beantworten.
Da der Obersturmführer gesagt hatte, dass er die besseren Lebensmittelkarten vielleicht selbst bringen würde, mussten die Vorbereitungen bezüglich Klaus und Heinz gleich getroffen werden. Die sollten vor dem Namensvetter versteckt gehalten werden, denn keiner konnte sich seine Reaktion vorstellen, wenn diese beiden für ihn völlig überraschend über den Hof liefen oder von ihm in der Scheune gefunden würden. Etwa hundert Meter hinter dem Plumpsklo stand ein altes Holzhäuschen. Eckart, Heinz und Klaus gingen zu dem Häuschen und richteten es soweit her, dass sich die beiden solange dort verstecken konnten, wie der Namensvetter mit den anderen Dorfbrunners in der Küche des Hauses saß und mit ihnen Bohnenkaffee trank, wofür er die gerösteten Bohnen mitbringen wollte. Die drei holten leere Kanister, eine leere Tonne und zwei Radfelgen heraus und stellten den Kram draußen vor das Häuschen. Dann brachten sie zwei Strohballen aus der Scheune und breiteten das Stroh auf dem Boden des geleerten Häuschens aus. Darauf kam eine alte Pferdedecke, dass ihnen der Bodenfrost nichts anhaben konnte.
Sie waren mit der Vorbereitung noch zugange, als Eckart die schwarze Limousine auf den Hof zufahren sah. Er rief aufgeregt: „Er kommt ja heute schon. Los, macht, dass ihr reinkommt!“ Schnell nagelte Eckart zwei Bretter quer über die geschlossene Laubentür. Die schwarze Horchlimousine fuhr in den Hof ein. Aus der Beifahrertür stieg der Hüne von Obersturmführer aus. Mit einem Päckchen in der linken Hand drehte er sich auf dem Hof um, denn lange war er nicht mehr da gewesen. Er zog den Kopf tief ein, als er durch die Tür ging und auf die Küche zuschritt. Alle schauten verblüfft, als der Hüne plötzlich in der Küche stand, mit dem doch erst morgen, und dann mit dem Vielleicht gerechnet wurde, wie er es gesagt hatte. „Das ging aber schnell“, rutschte es Anna Friederike heraus. Die Begrüßung war jovial, wobei die Bäuerin zu ihm aufschaute und die allgemeine Verblüffung dadurch runterspielte, indem sie sagte, dass er nun mal aufhören könne zu wachsen. Der Namensvetter lachte, drückte ihr das Päckchen in die Hand und sagte, dass sie mal einen guten Kaffee machen solle. Er setzte sich zu den andern an den Tisch und überreichte Anna Friederike die drei Lebensmittelkarten mit den besseren Zuteilungen, während Luise Agnes noch mit dem Kartoffelschälen beschäftigt war. Der Fahrer drehte die Limousine im Hof, so dass sie mit der Frontscheibe zur Hofausfahrt zu stand. Eckart hatte die Schlafstellen auf dem rechten Schober unkenntlich gemacht, die Mäntel zusammengerollt und mit den Taschen im Heu versteckt. Die Leiter hatte er an den linken Schober angelegt und schob nach Verlassen der Scheune das große Tor zu, klopfte beim Vorbeigehen ans Fenster der Fahrertür, grüßte den Fahrer auf zivile Weise, der zurückgrüßend mit dem Kopf nickte.
Eckart trat in die Küche und fragte, woher dieser Duft käme. Der Obersturmführer, der die Jacke ausgezogen hatte und mit Hemd und offenem Kragen neben Anna Friederike saß, rief: „Der Duft kommt aus der Kaffeekanne. Heute gibt es richtigen Bohnenkaffee. Den sollten wir zusammen trinken. Wer weiß, ob wir so noch einmal zusammenkommen. Luise Agnes stellte den Topf mit den geschälten Kartoffeln zur Seite, hängte die Schürze an den Haken neben dem Herd und setzte sich neben ihren Mann an den Tisch. Der Namensvetter schaute sie an und fragte ironisch: „Hat dir der heilige Hieronymus schon erzählt, welche Unterstützung ihm sein Amtsbruder zuteil werden lässt?“ „Er hat nur zugehört, als Anna Friederike von zwei guten Nachrichten und einer schlechten sprach und mich fragte, welche Nachricht ich zuerst hören wolle. Ich bat sie, mir erst die guten zu erzählen. Da sie bei den guten Nachrichten nichts vom Gespräch mit dem Superintendenten erwähnte, konnte ich mir die schlechte Nachricht selbst zusammenreimen. Da brauchte Eckhard Hieronymus kein Wort weiter zu verlieren.“ Der Namensvetter lachte: „Du bist eine kluge Frau und rücksichtsvoll dazu. Mit so einer Frau könnte ich auch leben.“ Luise Agnes lachte, Anna Friederike schmunzelte, und Eckhard Hieronymus schaute seinem Namensvetter in die blauen Augen. „Habe ich es nicht prophezeit“, fuhr der Namensvetter fort, „auf die Kirchenleute kann man sich nicht verlassen; sie haben immer dann eine Entschuldigung, wenn man ihre Hilfe braucht.“ Eckhard Hieronymus wandte ein, dass es, gottlob!, Pastöre gibt, die eine übermenschliche Hilfsbereitschaft an den Tag legen und in ganz selbstloser Weise helfen, worauf der Namensvetter meinte, dass jede Regel ihre Ausnahmen hat.
Die Küchenluft war vom köstlichen Duft geschwängert. Man erinnerte sich der Zeiten, als dieser Duft über den Frühstückstischen schwebte. Alle genossen den richtigen Bohnenkaffee. Es kam eine Stimmung am Ecktisch in der Küche des Bauernhofes in Pommritz auf, die ganz umgekehrt war zu den Ereignissen, die außerhalb der Küche abliefen. Man erzählte Geschichten aus den Zeiten, die in Bezug auf den Kaffeegenuss doch besser waren, die für alle länger und für manche schon lange zurücklagen. Was da jeder zum Besten gab, mutete oft wie ein Märchen, besonders für die Jüngeren, an, weil es eben immer mit dem „Es war einmal“ begann, ob es bei Oma Hedwig oder Onkel Gustav war. Die Geschichten nahmen ihre Zeit, die ihnen auch solange gegeben wurde, bis die Grenze der Geduld erreicht war, weil sie alle in der Vergangenheit steckenblieben, wo doch die Fragen nach der Zukunft ihren Ursprung haben und deshalb unter den Nägeln brannten, deren Antworten aus den Geschichten, als die Zeiten noch besser waren, nicht gewonnen werden konnten.
Reinhard Dorfbrunner im Hemd mit offenem Kragen, der seine Uniformjacke für die Zeit des gemeinsamen Kaffeetrinkens in der Küche des Dorfbrunner’schen Familienhofes an den Nagel gehängt hatte, hatte doch einen Hang zur Philosophie, als er sagte, dass nun eine Ära des deutschen Volkes mit den herausragenden Kulturleistungen von Jahrhunderten zu Ende geht, die nicht wiederholbar sei und in ihrer Höhe und Größe unerreichbar bleiben wird. Wenn die Russen im Osten und die Westalliierten im Westen und Süden Deutschland besetzen, wird auch die deutsche Sprache aufhören, so deutsch zu sein, wie sie zu Goethes und Schillers Zeiten war. Es werden Verfremdungen mit der Besetzung des deutschen Bodens auch in die deutsche Sprache kommen, die das Sprachempfinden stören und seine Tiefen aufweichen und verflachen werden. Die Verflachung wird weiter in die Musik und in die anderen Kulturbereiche gehen. Das Deutsche, dass in Wort und Ton einst groß, fein und tiefgründig aus dem deutschen Boden kam, wird es dann nicht mehr geben. Das einst so tief empfundene Deutschtum wird nicht mehr wieder zu erkennen sein; es wird für immer vergangen sein. Das waren schon Sätze, die jeden berührten. Keiner hatte es erwartet, dass ein SS-Obersturmführer so etwas sprechen konnte.
Eckhard Hieronymus drückte seinen Schmerz aus, dass die Einsicht, die deutsche Kultur auf ihrer Höhe zu erhalten, nicht früher gekommen sei. Er sagte: „Man muss der Staatsführung den Vorwurf der Bildungslosigkeit machen, dass sie die großen Kulturgüter von Anfang an in Gefahr brachte, sie in den niederen Machtgeifereien schlichtweg aufs Spiel setzte. Wäre etwas Bildung da gewesen, dann hätte es auch Anstand und Respekt vor dem Menschen und seiner Leistung gegeben, die das Deutschtum zu jener Höhe gebracht hatte. Stattdessen wurden Völker überrannt, Kriege angezettelt und hinter den Fronten gefoltert und ermordet. Es sind Dinge abgelaufen, die der Achtung der deutschen Kultur schweren Schaden zugefügt haben, da deutsche Köpfe fürchterliche Dinge ausgedacht und deutsche Hände fürchterliche Dinge getan haben, die gegen alle Grundregeln der Zivilisation gerichtet waren. Nun komme die deutsche Einsicht zu spät, weil zu den deutschen Gräueltaten viel zu lange deutsch geschwiegen wurde. Das lässt sich nun nicht mehr ungeschehen machen.
Der Krieg ist für uns verloren. Die deutsche Kultur haben wir der Bildungslosigkeit geopfert. Nun kommen die andern, und sie werden uns den Spiegel unserer Taten vorhalten. Da klafft das Defizit zwischen Größe und Gemeinheit, zwischen deutscher Empfindsamkeit und deutscher Brutalität, zwischen deutschem Soll und deutschem Haben, das sich in einfachen Worten weder erklären noch erfühlen lässt. Und ich wage zu sagen, würden die Deutschen die Sieger sein, sie würden weiter zu den deutschen Gräueltaten, die an Männern, Frauen und Kindern begangen wurden, schweigen. Sie würden totschweigen, was sie begangen haben, würden dasselbe aber brandmarken, wenn es die anderen begangen hätten. Das ist die jüngste deutsche Geschichte mit der deutschen Gewissenlosigkeit, mit der der Moloch aus dem Defizit steigt, dem millionenfach der Opportunismus nachlief, der blind für die Gequälten und taub für all die Folter- und Kinderschreie war. Wie gesagt, die Einsicht in die Dimensionen der großen deutschen Kultur wurde verbrüllt und verjagt, als die Staatsführung auf die Bildungslosigkeit setzte. Nun kommt die Einsicht, wenn sie noch eine ist, zu spät. Der Krug ist zerbrochen, Breslau wird fallen, und die großen Städte sind zerbombt. Was soll da noch zu retten sein?“
Die Reaktion war die Stille der tiefsten Betroffenheit. Auch Eckhard Hieronymus schwieg. Bäuerin Dorfbrunner goss den Kaffee nach. „Nun will ich euch etwas Lustiges erzählen“, sagte der Namensvetter, „es ist lustig, weil es paradox erscheint. Als ich in der Oberprima war, wollte ich entweder Medizin oder Theologie studieren. Jetzt mögt ihr lachen [was keiner tat], weil das zu meiner Uniform überhaupt nicht passt. Auch ich hatte mir vorgenommen, mein Leben für die Menschen einzusetzen, den Notleidenden zu helfen und den Beruf dafür zu wählen. Das Abitur in Grimma hatte ich als Drittbester passabel abgelegt. Ich konnte den Beruf nach meiner Neigung und Begabung wählen. Zur Wahl hatten mir meine Eltern die freie Hand gelassen. Die Theologie habe ich dann doch nicht gewählt, weil mir die Sache mit dem lieben Gott zu riskant schien, ich meine die Tatsache, dass sich die meisten Menschen für ihn nicht mehr interessierten. Ich begann das Studium der Medizin und belegte in den ersten Semestern im Rahmen des Studium generale auch geisteswissenschaftliche Fächer wie Mathematik und Philosophie. Hier aber erkannte ich bald, dass mir die abstrakten Denkwissenschaften doch nicht auf den Leib geschrieben waren, wenn sie mich anfangs auch faszinierten. Mit der Medizin hielt ich bis zum Physikum durch, wo ich die Prüfung in physiologischer Chemie zu wiederholen hatte. Das Heilfach habe ich dann gegen den Rat meines Vaters, der ein Geschäft zur Herstellung von Arm- und Beinprothese führte, auch an den Nagel gehängt, als die Weimarer Republik mangels Volk eingegangen beziehungsweise untergegangen war und die Ära mit dem Heilsgruß ins zweite Jahr ging.
Es waren zwei Dinge, dass ich aus freien Stücken der Waffen-SS beigetreten war; erstens: es sollte eine vorbildliche Kampftruppe von hoher Moral und Disziplin sein, das schien mir bei dem politischen Fiasko und Durcheinander nach dem ersten, verlorenen Weltkrieg eine Herausforderung zu sein, deren Notwendigkeit zur Herstellung von Recht und Ordnung mich damals überzeugte, heute nicht mehr; zweitens: ich wollte die Sprossen der Offizierslaufbahn bis zur Leitermitte steigen, aber nicht bis obenhin, da es ganz oben zu politisch wurde und ich das absolute Gehör der Hörigkeit und die Spürnase für die analen Abgase des Höchsten nicht hatte und auch nicht entwickeln wollte. In der Leitermitte dagegen war Platz für mich, wo ich mich für die Umsetzung der Moral und Disziplin bei der Truppe in die Praxis einsetzen konnte und auch einsetzte. Ich darf sagen, dass diese Tugenden in meiner Kampftruppe bis auf den Tag den hohen Stellenwert behalten haben. Bis auf einen hat sich keiner meiner Leute an wehrlosen Menschen vergangen. Stattdessen haben sie alten und gebrechlichen Menschen und Müttern mit ihren Kindern geholfen. Einer war da das schwarze Schaf; er hatte sich an einem Mädchen vergriffen, bekam dafür eine Woche Bunker und zwei Jahre Strafbataillon bei den schweren Pionieren, zuletzt vor Stalingrad. Bei der Heilsarmee hätte ich es, wenn ich es rückblickend bedenke, wahrscheinlich weiter gebracht. Aber die war zu jener Zeit in Auflösung begriffen.“ Diese Bemerkung löste ein Schmunzeln aus.
„Dann warst du, wenn ich dich richtig verstanden habe“, kommentierte Eckhard Hieronymus, „das weiße Lamm im schwarzen Wolfspelz.“ „Nicht ganz“, erwiderte der Namensvetter, denn eine blütenweiße Weste habe ich nicht. Auch ich habe zu Dingen geschwiegen, zu denen ich nicht hätte schweigen sollen. Ich werfe mir vor, einen Untersturmführer einer anderen Einheit nicht erschossen zu haben, der ein Massaker an wehrlosen Menschen, an Männern, Frauen und Kindern in einem Dorf, nicht weit von Kiew, befehligt und inszeniert hatte. Diese Schuld muss ich neben kleineren Schulden mit in mein Grab nehmen.“
Beim Abschied sagte der Namensvetter in SS-Uniform: „Meldet euch, wenn ihr etwas braucht. Ihr wisst, dass ein Dorfbrunner hilft, wenn ein anderer Dorfbrunner die Hilfe braucht. Macht’s gut!“ So jovial, wie er bei der Ankunft die Hand gegeben hatte, gab er sie zum Abschied. Er setzte sich in die Limousine und winkte den Herumstehenden mit lockerer Hand. Dabei kniepte er mit dem rechten Auge Anna Friederike zu.
Eckart schob die Flügel des Einfahrtstores zu und hängte die Eisenstange quer ein. Dann eilte er mit den anderen zum Holzhäuschen, um Klaus und Heinz aus dem Verschlag zu befreien. Nachdem er die Nägel aus den Brettern gezogen hatte, die quer über der Tür eingenagelt waren, drückten Klaus und Heinz die Tür von innen auf. Sie waren erleichtert, den Blitzbesuch unbemerkt überstanden zu haben und die andern in gelockerter Stimmung anzutreffen. Sie gingen in die warme Küche zurück, aus der ein köstlicher Duft entgegenkam. Bäuerin Dorfbrunner setzte den Wasserkessel über das Feuer und brühte zur Freude aller noch einmal einen richtigen Bohnenkaffee auf. „Man muss die Beziehungen haben, dann gibt es richtigen Kaffee, den es auf Marken nicht gibt“, sagte sie und bereitete das Abendbrot vor.