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Vor vielen Jahren habe ich den Roman von Werner Bergengruen „Der Großtyrann und das Gericht“ gelesen. Der Großtyrann ist Herr der Stadt Casano. Er führt ein strenges Regiment, aber, so meint er es jedenfalls, nur zum Besten seiner Stadt. Eines Tages will er seine Untertanen auf die Probe stellen. Er inszeniert einen Mord und streut jeden Tag ein anderes Gerücht in der Bürgerschaft, wer der Mörder gewesen sein könnte. Er führt die Leute bewusst in Versuchung. Er will herausfinden, wie sie in ihrer Angst reagieren. Nach einer schlimmen und heillosen Zeit, in der sich alle gegenseitig bezichtigen, um die eigene Haut zu retten, beruft der Großtyrann eine Gerichtsverhandlung ein. Er deckt alles auf, die Meineide, die Intrigen, den Verrat an den besten Freunden, die dunklen Machenschaften, mit denen sich die Bürger seiner Stadt aus der Affäre ziehen wollten. Der Großtyrann schließt mit der Feststellung: „Ich habe gesehen, dass der Mensch nur in Versuchung geführt zu werden braucht, um in Schuld zu fallen.“ Da steht ein beherzter Bürger auf und sagt es dem Großtyrannen ins Gesicht: „Du bist der schlimmsten Versuchung erlegen, nämlich der, andere in Versuchung zu führen.“

„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen!“ Wir beten diesen Satz tagtäglich. Wenn wir genau darüber nachdenken, stockt uns der Atem: Ist das möglich? Kann Gott uns in Versuchung führen? Was könnte er damit wollen? Kann es sein, dass Gott uns auf die Probe stellt? Will er wissen, wie weit wir treu sind und wo wir schwach werden?

Wenn es so wäre, dann müssten wir ihn als eine Art Großtyrann betrachten, wie ihn Bergengruen im Roman vorstellt. Nein! Gott hat es nicht nötig, uns auf die Probe zu stellen. Und er tut es auch nicht.

Gott führt uns Menschen. Er führt uns durch unsere persönliche Lebensgeschichte. Er führt uns durch unsere Zeit, durch die Situationen unseres Alltags. Gott bietet sich uns immer als Weggefährte an. Nun ist aber das Leben nicht nur gut. Auf unserem Weg gibt es, das ist die konkrete Erfahrung, Stolpersteine und Schlaglöcher. Es gibt, vom Leben vorgegeben, Umwege, Irrwege, Abwege. Es gibt, wenn wir im Bild bleiben, Wegelagerer und Räuber. Ich kann mich als Mensch auf meinem Lebensweg verlaufen, ich kann fallen, ja sogar abstürzen. Das Leben selbst ist Versuchung, ja mein eigenes Herz ist Versuchung, ich kann mir zur Gefahr werden. Auch andere Menschen können mir zur Gefahr werden, sogar die Nächsten und Liebsten. Es gibt Angst, Misstrauen und Enttäuschung. Es gibt das Böse, das auf uns lauert. Jesus kennt das Leben, er kennt das Herz des Menschen. Jesus weiß, dass wir Menschen in Versuchungen geraten, oft, ohne uns dessen bewusst zu sein. Er weiß, dass nicht Lust oder Luxus die größten Versucher sind, sondern die Angst.

Ich denke an einen Jugendlichen, der von seinen Kameraden als Feigling gehänselt wurde. Sozusagen als Mutbeweis stahl er in einem Geschäft eine Schachtel Zigaretten. Aber er war kein Dieb. Er wollte sich nur die Anerkennung seiner Kameraden erbetteln.

Ich denke an jenen Mann, der seit Jahren wusste, dass man in seiner Firma Steuern hinterzog. Er machte das Spiel sogar mit – mit schlechtem Gewissen. Der Mann war kein Betrüger. Er hatte Angst, seine Arbeit zu verlieren. Die Angst macht zum Mitläufer. – Vielleicht ist das die übelste aller Versuchungen.

Was wir im Vaterunser erbitten, bedeutet: Gott möge uns nicht in der Versuchung fallen lassen. Er möge uns im Gegenteil unbeschadet herausführen. Deswegen der wichtige Nachsatz: Erlöse uns von dem Bösen. Der Beter will sagen: Gott, löse uns aus der Fessel des Bösen, an die wir durch die Versuchungen des Lebens immer wieder gebunden werden. Bewahre uns davor, dass wir dem Bösen erliegen.

Der Versucher sagt zu Jesus: „Befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird!“ (Mt 4,3) Es ist die Versuchung jedes Menschen. „Du sollst satt werden, du sollst alles haben“, sagt uns eine innere diabolische Stimme. Und die Werbeplakate sagen es uns auch. Nicht nur der Magen will satt werden. Auch die Augen und die Ohren, ja alle Sinne. Auch die Konten wollen satt werden, die Terminkalender, die Auftragsbücher. Wir sind nie ganz zufrieden. Wir sind nahezu unersättlich. Im Grunde wollen wir unsere verletzte und sehnsüchtige Seele sättigen.

Wir sehnen uns im Grunde nach einem sinnvollen und glücklichen Leben und tun uns doch so schwer, den Sinn und das Glück zu genießen. Unser Lebenshunger will uns in Wahrheit zum Wesentlichen hinführen, zu einem bewussten Leben, zur Liebe, zu Gott. Das ist die Chance des Fastens und der Fastenzeit. Wer seinen Konsum einschränkt, wird seinen tieferen Hunger spüren. Und er kann zu den Quellen gelangen, die ihm wirkliches Leben schenken.

Unsere zweite Versuchung heißt: Ich will etwas Besonderes sein. Auch diese Versuchung entspringt einem gesunden Bedürfnis. Wir brauchen Ansehen und Selbstwertgefühl, um leben zu können. Ein Kind kann sich nur gesund und gut entwickeln, wenn es angesehen wird. Und vom guten Blick leben auch wir Erwachsene. Wenige Menschen leiden an zu viel Selbstbewusstsein, die meisten an zu wenig. Wahrscheinlich ist ebendies der Grund, warum unser Streben nach Ansehen zu einer gefährlichen Versuchung werden kann.

Jesus sagt zum Versucher nur einen Satz: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“ (Mt, 4,7) Gott will auch nicht, dass wir ihm etwas vorspielen. Die Lebensregel Jesu heißt: Sei ganz du selbst. Spiele dir und anderen kein Theater vor. Du hast es nicht nötig. Im Innersten weißt du, wer du bist. Und deine Mitmenschen spüren, ob deine Worte und Taten von Herzen kommen.

Jesus erlebt in der Wüste eine dritte Versuchung: Macht! Satan bietet ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht an. Unsere persönliche Versuchung zur Macht kommt meist nicht so laut daher, sie ist viel subtiler. Oft merken wir die kleinen Machtspiele gar nicht. Mit ein paar gut platzierten Worten kann ich mich geschickt in Szene setzen. Macht ist die heimlichste und die unheimlichste aller Versuchungen.

Die Bibel zeigt uns etwas sehr Tröstliches: Unsere Versuchbarkeit ist auch unsere Gnade. Es ist unsere Gnade, dass wir unstillbare Sehnsüchte haben. Die Ohnmacht ist die Macht des Kindes. Es lässt sich bedingungslos lieben. So wird es erwachsen. Welch eine Chance, wenn wir in den kommenden Wochen ganz tief die Stellen unserer Seele berühren dürfen, wo unsere Sehnsüchte und unsere Versuchbarkeit liegen. Welch eine Chance, wenn wir Gott in dieser Mitte unserer Seele Wohnrecht geben. Der große französische Philosoph Blaise Pascal sagt es so: „Der Mensch ist ein Abgrund, der nur mit Gott gefüllt werden kann.“

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