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1. In der Schule des Bogenschützen –
eine Art Vorwort

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Der Bogenschütze, der das Seminar anleitete, nahm sehr behutsam und fast zärtlich seinen Bogen in die Hand und schaute ihn an. Mit geübten Händen spannte er ihn und sagte : „Man muss seinen Bogen so spannen, dass das richtige Maß an Spannungsenergie von der Sehne auf den Pfeil übertragen wird. Ohne Spannung taugt der Bogen nicht zum Schießen, überspannt ist er in Gefahr zu brechen. Die richtige Spannung zu finden – das ist das Ziel dieses Seminars.“

Im Lauf der Tage, die unter der Überschrift standen „Zen und die Kunst des Bogenschießens“, begriff ich, dass es nicht nur um den Bogen geht. Da ist der Pfeil. Wenn er auf die gespannte Sehne gelegt ist, gilt es zu warten. Ja, ich muss selbst zum Pfeil werden und aushalten, bis es Zeit ist. Dann aber muss ich loslassen und freigeben. Mich loslassen und freigeben. Es kommt nicht darauf an, dass der Pfeil trifft, es kommt darauf an, dass ich selbst zwischen Festhalten und Loslassen mein Maß finde.

Und weiter : Ich schaue auf das Ziel. Ein runder Punkt in der Scheibe. Weit weg ist das Ziel und doch ganz nahe, denn ich selbst bin das Ziel. Mich in meiner Mitte anzutreffen ist mein Ziel. Und wenn ich nicht treffe, gilt es, das hinzunehmen. Als Mensch bin ich ein Leben lang in der Spannung zwischen dem Sein „in der Mitte“ und meinem Leben „ganz außen“. „Ganz wichtig“, sagt der Meister, „ist dein Atem. Er geht und kommt und dazwischen ist nichts. Vertraue dich dem Atem an. In seinem Rhythmus findest du den richtigen Zeitpunkt für das Lösen deiner Finger. Im Einschwingen auf deinen Atem findet der Pfeil sein Ziel.“

Dies haben mich der Bogen, der Pfeil, das Ziel und vor allem mein Atem gelehrt : Alles ist in Spannung. Unsere Existenz bewegt sich zwischen Angst und Zuversicht, Hunger und Sattsein, Licht und Schatten, Trauer und Freude, Leben und Tod. Es ist gut so, denn aus der Spannung wächst Kraft. Die Kunst des Lebens liegt im Aushalten und Ausleben des „Dazwischen“. Wer sich den Gegensätzen und Paradoxien stellt, schöpft aus ihren Spannungen Energie.

Die eine Wahrheit ist, dass Spannungen – auch unangenehme Spannungen – nicht vermeidbar sind. Der Glaube, jeder Art von Lebenslast, Existenzangst und Sinnleere könne geholfen werden, wenn wir nur das richtige Mittel anwenden, ist eine Häresie.

Die andere, viel wichtigere Wahrheit ist, dass Spannungen in Wirklichkeit heilsam sind und sowohl dem ganzheitlichen Wohlbefinden als auch dem menschlichen Wachstum dienen. Wenn wir den Mut aufbringen, uns auf die Widerstände des Lebens einzulassen, werden sie uns Kraft und Lebensqualität schenken.

Dieses Buch will einladen, in guter Weise mit Spannungen umzugehen, ja sie als Kraftquellen für ein gesundes und erfülltes Leben zu nutzen. Dabei lade ich Sie ein, zunächst einige der großen biblischen Gestalten – vor allem Jesus von Nazaret – anzuschauen, um zu erkennen, dass sie keineswegs von Spannungen und Konflikten verschont blieben. Die Bibel stellt uns den Glauben als einen spannenden und spannungsreichen Weg dar. Unsere biblischen Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter zeigen, dass dieser Weg mühsam und heilsam zugleich ist – gerade wegen der Spannungen, in die er uns führt.

Es ist selbstverständlich, dass eine Schrift, die sich in die Reihe „Franziskanische Akzente“ einfügt, auch einen Blick auf Franz von Assisi wagt. Zweifellos ist auch sein Leben von starken Spannungen geprägt. Wie geht er damit um? Es ist immer fragwürdig, Menschen, die in einer ganz anderen Zeit gelebt haben, als Vorbilder zu präsentieren, müssen wir hier und heute doch mit ganz anderen und neuen Spannungen im persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben zurechtkommen. Dennoch : Die Art und Weise, wie Franziskus sein Leben in der Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Christus sieht und wie er die Paradoxien auf diesem Weg als Herausforderung für eine weltbejahende und hingebende Liebe sieht, ist in einem guten Sinn provokativ.

Schließlich will dieses Buch Wege aufzeigen, wie Menschen von heute ihre körperlichen und seelischen, aber auch ihre gesellschaftlichen und persönlichen Spannungen aushalten und als geistig-geistliche Energiequellen nutzen können. Entsprechend der Absicht dieser Reihe werden dabei vor allem franziskanische Grundhaltungen als hilfreiche Perspektiven vorgestellt. Sie motivieren uns dazu, ganz in der Gegenwart zu leben, in den emotionalen Bewegungen die Temperantia – das ist die Tugend des rechten Maßes – zu finden, im Umgang mit anderen Menschen Geschwisterlichkeit zu praktizieren und in unserer Gottesbeziehung die „Mystik der offenen Augen“ (J. B. Metz) zu üben, in der das Gebet zu einer Energiequelle der tätigen Nächstenliebe und des verantwortlichen Handelns in Kirche, Gesellschaft und Welt wird.

Die heilende Kraft menschlicher Spannungen

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