Читать книгу Hema - Das Herz einer indischen Löwin - Hemalata Naveena Gubler - Страница 6

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Der Tag, der alles veränderte

Der 4. Juli dieses Sommers war ein Tag wie jeder andere auch. Für mich ein normaler Samstag im Familienwahnsinn mit zwei kleinen Kindern, einer langen To-do-Liste und vorausgesagten dreißig Grad im Schatten. Ich musste jedoch bald feststellen, dass es dennoch genau jener Tag war, an welchem alles anders wurde. Ich veränderte mich und somit veränderte sich alles. Aber ich möchte am Anfang meiner Geschichte beginnen.

Mama von zwei kleinen Kindern zu sein und somit morgens keinen Wecker stellen zu müssen, hatte den Vorteil, dass ich keine Schlummertaste drücken konnte, welche mich weiterschlafen ließ – was von anderen durchaus auch als Vorteil gewertet werden durfte – und andererseits den Nachteil, dass ich nie wusste, um welche Zeit ich aufstehen musste. Mein Sohn war an jenem Tag bereits kurz nach fünf Uhr wach und schrie aus Leibeskräften, als hätte er seit Tagen nichts mehr in den Magen bekommen. Ich war stolz darauf, dass er bereits mit sechs Wochen das Beistellbett an meiner Seite verlassen hatte und in sein eigenes Zimmer umziehen konnte. Seit er in seinem eigenen Zimmer schlief, kam auch ich endlich wieder zu etwas mehr Schlaf. Von viel war jedoch nicht die Rede. Vielleicht war Mama sein Teil eines wissenschaftlichen Experiments, um zu beweisen, dass Schlaf für das menschliche Überleben nicht essenziell notwendig war. Wenn Leon durchschlief, war bestimmt seine Schwester wach und wollte zu uns ins Elternbett oder suchte mitten in der Nacht nach ihrem Schnuller oder sonst einem Kuscheltier, welches sie unbedingt brauchte, um weiterzuschlafen. Meistens war es ihr heiß geliebter Teddy, welcher alles mitmachen und miterleben durfte. Doch in so einer Nacht musste es bestimmt noch ein anderes Kuscheltier sein, welches sie seit Wochen eigentlich gar nicht mehr vermisst hatte. Ich glaubte, als Mama von zwei kleinen Kindern kommt man selten bis nie in die Tiefschlafphase, mit einem Ohr ist man immer wach. Denn wenn eines der Kinder einen Laut von sich gab, und war es noch so ein leises Wimmern, selbst abgedämpft durch Spucktuch und Kuscheltier, hörte ich es und war sofort wach und augenblicklich bereit, aufzustehen, um nach ihnen zu sehen. Gerade die ersten Wochen und Monate mit einem Baby waren da sehr anstrengend. Mit geschlossenen Augen zog ich mich aus dem Bett hoch, tapste durch den dunklen Flur, quer durch das Wohnzimmer, hob meine Füße dort, wo ich wusste, wo am Boden noch ein Spielzeug lag, weil ich es vor dem Schlafen nicht mehr aufräumen wollte, und gelangte in unsere Küche. Den Schoppen konnte ich auch im Halbschlaf zubereiten, eine Superkraft von Eltern. Anfangs hatte ich beide Kinder noch gestillt, doch auch das hatte seine Vor- und Nachteile. Wie auch immer, heute war Leon früh auf und obwohl ich mir gestern Abend erlaubt hatte, endlich wieder einmal einen Film zu Ende zu schauen, es also später wurde und ich somit nur knappe fünf unruhige Stunden Schlaf hatte, war ich stolz darauf, dass der Kleine bereits schon so viele Stunden am Stück durchschlafen konnte. Lilly schlief noch tief und fest in ihrem Bett. Und nur das zählte für mich, dass es meinen Kindern gut ging.

Nichtsdestotrotz war ich bereits in aller Früh gestresst und schlecht gelaunt. Heute war die Vier-Monats-Kontrolle beim Kinderarzt angesagt. Ich hatte bewusst den ehestmöglichen Termin morgens um acht Uhr gewählt, da ich wusste, dass Leon und ich einerseits schon wach und andererseits keine anderen Kinder da sein würden. Die Zeit im Wartezimmer würde also nur kurz sein. Und wenn es etwas gab, was ich nicht ertragen konnte, war es, in einem Wartezimmer beim Arzt zu sitzen. Vor allem mit einem Baby. Leon strahlte mich an, als ich zu ihm ans Bettchen kam, und beim Anblick seines begehrten Schoppens gluckste er fröhlich. Er stürzte die warme Milch in einem Zug hinunter. Ich sah ihm dabei zu und überlegte mir unterdessen, was an diesem heutigen Tag alles erledigt werden musste. Eigentlich wusste ich das, denn ich hatte vor dem Zubettgehen nochmals alles aufgezählt und in meinem Handy kontrolliert, ob ich auch alles eingetragen hatte. Meine To-do-Liste lag im Wohnzimmer auf dem Esstisch und wartete darauf, dass ich endlich mit der ersten Aufgabe beginnen und diese auf der Liste als erledigt markieren oder durchstreichen würde.

Heute war für Leon die erste Impfung an der Reihe. An dieser Stelle will ich nicht näher auf die Thematik, sein Kind impfen zu lassen, ja oder nein, eingehen. Jede Mutter, jeder Vater sollte das machen, was für das eigene Kind richtig erscheint. Die Untersuchung an sich würde nicht lange dauern. Die Autofahrt zum Kinderarzt war auch nur fünf Minuten lang, für die Wartezeit – obwohl ich mit keiner wirklichen Wartezeit rechnen durfte – plante ich zehn Minuten ein und für die Untersuchung nochmals fünfzehn Minuten. Also war es eigentlich eine schnelle Sache und dann würden wir bereits wieder zu Hause sein und mit meinem Mann und Lilly gemeinsam frühstücken. Bis wir zurück waren, waren sie bestimmt auch schon auf und würden hungrig sein. All diese Gedanken schnellten wie grelle Lichtblitze durch meinen Kopf und so bemerkte ich zuerst gar nicht, dass Leon den Schoppen bereits leer getrunken hatte. Ich hob ihn hoch, damit er sein Bäuerchen machen konnte, und lobte ihn dafür. Nachdem ich den Kleinen frisch gewickelt und angezogen hatte, setze ich ihn in seine Lieblingsschaukel und gab ihm eine Holzrassel in die Hand. Obwohl der Greifreflex bereits ab Geburt bei einem Baby vorhanden ist, konnte er die Rassel natürlich noch nicht so richtig halten. Dennoch war er fasziniert von den bunten Farben und dem Geräusch der Holzperlen, welche gegeneinander schlugen.

Ich ließ mir einen Kaffee aus der Maschine und verschwand kurz im Badezimmer, um mich anzuziehen, und versuchte, meine langen Haare in irgendeine anständige Position zu bringen. Zurück im Wohnzimmer zog ich die Rollläden hoch und kochte Wasser ab, damit ich es dann für einen allfälligen Schoppen unterwegs mitnehmen konnte. Wenn man mit einem Baby auch nur eine halbe Stunde weg musste, hatte man den halben Haushalt dabei. Das fing an bei frischen Windeln und Feuchttüchern, ging weiter über Schnuller und Schoppenpulver, abgekochtes Wasser, Spucktücher, Impfbuch, Spielzeug, Ersatzkleider und noch vieles mehr. Ich hatte den Wickelrucksack bereits gestern Abend mehrmals kontrolliert und wollte trotzdem nochmals sicher gehen, dass ich auch wirklich nichts vergessen hatte, was ich vielleicht hätte brauchen können.

Ich fühlte mich mies. Ich wollte nicht los, obwohl es ja wirklich keine große Sache war. Aber als Mama war man wahrscheinlich trotzdem nervös, da man sich unentwegt um die Gesundheit der Kinder sorgte. Wuchs der Kleine gut, wie viel würde er wiegen, hatte er endlich zugenommen – denn anfangs konnte Leon kaum zunehmen, was auch der Grund war, dass ich ihm zusätzlich nach dem Stillen noch den Schoppen geben musste –, wie war der Stand der Entwicklung? Mama zu sein, hieß, die Stärke zu finden, von der man nicht wusste, dass man sie hatte, und die Ängste zu bewältigen, von denen man nicht ahnte, dass es sie gab. Jedes Kind hatte seinen eigenen Rhythmus und dennoch hatte ich eine App, in welcher immer der nächste Entwicklungsschritt erklärt und veranschaulicht wurde. Diesen Prozess zu verfolgen, war natürlich sehr interessant und für mich irgendwie auch beruhigend, weil ich so dachte, dass ich es im Griff hätte. Was genau ich dabei im Griff hatte oder worüber damit auch die Kontrolle, war mir zwar nicht klar. Ich nahm mal an, das Mama sein selbst. Kinder entwickelten sich so, wie es sein musste, und jedes in seinem Tempo. Wie ungesund es war, stets eine solche Kontrolle haben zu wollen und zu brauchen und dabei auch noch zufrieden damit zu sein, wenn alles nach Norm und Plan lief, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, und es sollte mir noch zum Verhängnis werden.

In den ersten vier Monaten geschah bei diesem winzigen Würmchen bereits schon so unglaublich viel. So ein Menschchen war wahrhaftig ein Wunder. Natürlich, manchmal raubten sie einem wirklich den letzten Nerv, aber um nochmals darauf zurückzukommen, es ging darum, dass ich mich als Mama immer um meine Kinder sorgte. Ob sie gesund und glücklich waren, ob ich ihnen das Richtige beibringen konnte, ob ich sie genügend fördern würde und ob sie dennoch genügend Kind sein durften. Ob ich genug Zeit zum Kuscheln mit dem Kleinen und zum Spielen mit der Großen hätte. Obwohl, ich wollte auch mit ihr kuscheln. Also, mit beiden Kuscheln. Und Spielen. Mich plagten unendlich lange Sorgenketten und die gewaltigen Problemberge, welche sich direkt vor mir auftürmten, schüchterten mich immer wieder ein, und immer öfter erschien es mir hoffnungslos, diese zu bezwingen. Nebenbei gab es aber auch noch die Dinge, die ich sowieso zu erledigen hatte, wie etwa den Haushalt, sich bei meinen Freunden zu melden, die Freunde einzuladen und bei diesen Einladungen für die Gäste auch etwas zu kochen oder zu backen. Ich machte das gerne, vor allem Apéros mit selbst zubereitetem Fingerfood. Doch neben zwei kleinen Kindern, welche einem ununterbrochen brauchten, war es tatsächlich manchmal eine Meisterleistung, gleichzeitig noch Gemüse zu rösten oder schöne Drinks vorzubereiten, und somit auch stressig. Den heutigen Arzttermin mit Leon wollte ich einfach schnell hinter mich bringen und vom Kinderarzt zu hören bekommen, dass es meinem kleinen Sohn gut ging.

Leon war in seinem Maxi-Cosi und wir fuhren los. Der Kinderarzt war nur wenige Autofahrtminuten weg. Natürlich war ich wie immer einige Minuten zu früh und die Türe war noch verschlossen. Also musste ich mit Leon im Treppenhaus warten. Nachdem ich dann den Impfausweis abgab, durften wir direkt in das Behandlungszimmer gehen. Ich zog Leon bereits bis auf die Windeln aus, damit der Kinderarzt ihn dann direkt untersuchen konnte. Leon jammerte ungeduldig, schließlich war es ja auch etwas frisch, aus dem warmen Auto und dem kuscheligen Maxi-Cosi herauszukommen und nun halbnackt auf diesem Wickeltisch zu liegen. Ich versuchte, ihn mit dem Mobile abzulenken, und zupfte an den mit Nylon befestigten Schmetterlingen. Während ich in Leons wunderschöne hellgrüne Augen sah, merkte ich plötzlich, wie ich unruhig wurde. Mein Kleiner war weiterhin unzufrieden und ließ sich auch vom Mobile nicht ablenken.

Auf einmal hatte ich Magenschmerzen, die innert wenigen Sekunden immer heftiger wurden. Ich verspürte Übelkeit und während ich Leon mit beiden Händen an seinen Armen hielt, schloss ich die Augen. Unangenehme, flackernde Bilder blitzten vor meinem inneren Auge auf und so öffnete ich sie wieder. Dann drehte sich alles. Der Anblick von Leon war verschwommen, ich hörte sein Weinen, welches mittlerweile zwar lauter war, für mich sich dennoch wie aus weiter Entfernung und gedämpft anhörte. Ich bemerkte, wie meine Beine an Kraft verloren, und lehnte mich deshalb nach vorne, mit dem Bauch direkt an den Wickeltisch, um nicht umzufallen. Ich kannte solche Momente, sie kamen dann, wenn ich kurz davor war, ohnmächtig zu werden. Grund dafür war meistens mein niedriger Blutdruck. Seit der Primarschule passierte mir das ab und zu, wenn ich zu wenig oder nichts gegessen hatte, was ja auch heute Morgen der Fall war, oder wie so oft, wenn ich zu wenig geschlafen hatte und übermüdet war. Bis dahin war das kein Problem, ich wusste, dass, wenn ich mich zwanzig Minuten hinlegte und die Beine hochlagerte, das Blut wieder zurück in den Kopf fließen konnte. Zucker in Form von Sirup, Traubenzucker oder Red Bull half meistens, damit sich der Kreislauf schnell wieder stabilisieren konnte. Danach war alles wieder gut. Heute war es aber anders. Heute hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Angst davor, schwach zu sein und ohnmächtig zu werden. Ich durfte nicht ohnmächtig werden. Was, wenn meine Beine nachgaben, wenn Leon dann alleine, ohne meine schützenden Arme um ihn, auf diesem Wickeltisch lag und er mich suchte, sich versuchte, zu drehen, und dann vom Wickeltisch hinunter auf den Boden fiele. Er wäre tot. Ich würde mein Baby verlieren, mein Mann seinen Sohn und Lilly ihren kleinen Bruder. Ich musste also stark bleiben. Doch es wurde immer schlimmer, ich kniff die Augen so fest zusammen, dass sie sogar schmerzten, und hielt mich krampfhaft am Gedanken fest, dass ich das hier überstehen musste. Ich musste schließlich für Leon stark sein, welcher jetzt geimpft würde, und dann musste ich mit ihm auch wieder sicher nach Hause kommen.

Wie jedes Mal kurz vor einer Ohnmacht begann das hohe Pfeifen in meinem Ohr. Und wenn dieses Pfeifen da war, so wusste ich, dass es sich jeweils nur noch um Sekunden handelte, bis ich das Bewusstsein verlor. Ich hörte mein Herz klopfen, so laut, dass es mich wahnsinnig machte. In diesem Moment hörte ich den Kinderarzt ins Zimmer kommen. Ich öffnete die Augen wieder und sah wie durch einen Schleier, wie er sich dem Wickeltisch näherte. Ich hörte ihn etwas sagen, weiß heute jedoch nicht mehr, was es war, vermute aber, dass er uns einfach begrüßt hatte.

Er bemerkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, und sagte, ich solle mich kurz hinsetzen. Ich beobachtete mich selber wie in Zeitlupe, wie meine Hände von Leons Armen glitten und der Kinderarzt übernahm. Ich machte zwei kleine Schritte zum Stuhl und setzte mich hin. Ich sah dem Kinderarzt zu, wie er Leon auf seinen Arm nahm und eines der Fenster öffnete, und hörte ihn wieder aus weiter Entfernung sagen, dass die Luft hier etwas stickig sei. Ich rutschte vom Stuhl auf den Boden hinunter, weil ich dachte, ich könnte vom Stuhl fallen, kroch zum Wickelrucksack hinüber und öffnete ihn. Mit zittrigen Händen drehte ich den Verschluss der kleinen Wasserflasche auf und trank sie bis zur Hälfte leer. Leon schrie unterdessen bereits, es tat mir im Herzen weh, ihn so zu hören. Er spürte, dass etwas nicht gut war und ein fremder Mensch ihn im Arm hielt. Leon konnte mich weder sehen, hören noch riechen. Ich saß am Boden und fühlte mich wie ein kleines Kind, als der Kinderarzt mich frage, ob ich heute Morgen schon etwas gegessen hätte. Ertappt verneinte ich. Ich sagte aber auch, dass das wieder vorbei gehen würde und ich solche Schwächeanfälle kannte. Der Kinderarzt und Leon verließen das Zimmer und ich saß alleine auf dem kalten Boden. Und dann kam sie, die Panik. Unangemeldet, unerwünscht und in voller Wucht. Mit aller Macht brach sie über mich herein. Mein Herz raste, es drohte buchstäblich aus meinem Brustkorb herauszuspringen und angsterfüllt riss ich meinen Mund auf, um mehr Sauerstoff zu bekommen. Nun fiel mir das Schlucken auf einmal schwer, es tat richtig weh. Was passierte mit mir, was war da bei mir los? Wo war der Kinderarzt und wo war mein Baby? Eine Arztgehilfin kam rein. Sie gab mir ein Glas Sirup. Nervös suchte ich nach Traubenzucker im Wickelrucksack, fand aber keinen, egal wie oft ich jedes Fach darin durchwühlte. Wann hatte ich das letze Mal solch einen Schwächeanfall, dass ich keinen Traubenzucker dabei hatte? Das musste ewig her sein. Und obwohl ich einerseits die Schwindelgefühle kannte und wusste, dass das aufgrund des niedrigen Blutdrucks und des geschwächten Kreislaufs war, wusste ich genau, dass es heute anders war als sonst. Auch Monate später konnte ich dieses Gefühl nicht beschreiben und in Worte formulieren, ich spürte es einfach. Etwas war anders. Ich wusste, dass ich nervös war, weil die Impfung ausstand und ich noch nicht mal erzählt hatte, wie es Leon überhaupt ging, wie viel er zur Zeit trank und wie die ersten Monate verliefen. Und als der Kinderarzt mit Leon endlich wieder bei mir war, fragte er mich etwas völlig Neues: „Haben Sie Panik?“ Ich starrte ihn verdattert an und war fassungslos. Panik? Ich hatte niemals Panik, weil ich immer alles im Griff hatte. Ich wusste, was ich wollte und was ich machte. Ich hatte also nie Panik. Ich dachte, dass ich jetzt Ruhe bewahren musste, wir waren schon länger da, als ich es geplant hatte. Obwohl der Kinderarzt meinte, es sei vielleicht besser, wenn ich mich auf die Liege legen würde, blieb ich auf dem Boden, mittlerweile jedoch nicht mehr sitzend, sondern auch liegend. Ich hatte Angst, dass ich bei diesem starken Schwindel von der Liege herunter fallen würde. Ich sollte meinen Mann anrufen, hieß es. Also rief ich ihn an. Ich konnte kaum sagen, was los war. Nur, dass es mir nicht gut ginge und er sofort herkommen solle. Lilly musste er natürlich mitnehmen. Sie müssten sich zuerst anziehen, da sie erst gerade aufgestanden wären und beide noch im Pyjama seien, sagte Dave. Die Magen- und Schluckbeschwerden waren mittlerweile ziemlich heftig. Ich klammerte mich mit schwitzigen Händen am kühlen Stuhlbein fest. Die Zeit, bis mein Mann mit Lilly auftauchte, kam mir wie eine Stunde vor. Angeblich waren es nur knappe zwanzig Minuten. Lilly legte sich zu mir auf den Boden und fragte mich, ob ich Bauchaua hätte. Sie meinte natürlich Bauchschmerzen. Ich nickte müde. Mein Mann kümmerte sich mit dem Kinderarzt um Leon. Die Impfung ging schnell und wir konnten endlich gehen. Der Kinderarzt sagte meinem Mann, dass er sich am Nachmittag bei uns melden würde, um sich zu vergewissern, dass es mir gut gehe. Lilly nahm mich bei der Hand und wir gingen zum Auto. Wie die Kleine mich an der Hand nahm und mir so signalisieren wollte, dass sie jetzt für mich stark war und für mich da war, das war unglaublich schön und gleichzeitig tat es so weh, weil ich doch diejenige von uns war, welche stark sein musste.

Mein Auto mussten wir hier stehen lassen. Dave sagte, dass er dieses später mit einem Kollegen holen würde. Wir fuhren los. Ich saß auf dem Beifahrersitz und krallte meine Fingernägel in das Sitzpolster. Ich fühlte mich wie im freien Fall und hatte keinen Halt. Ich dachte, ich würde jeden Moment ohnmächtig werden. Mein Mann löste vorsichtig meine versteiften Finger vom Sitzpolster und hielt meine Hand in seiner. Ich konnte nichts sagen und Dave versuchte die angespannte Stimmung etwas zu überspielen, indem er sich mit Lilly unterhielt. Das war nämlich das Letzte, was ich wollte, dass Lilly zu spüren bekam, wie schlecht es mir ging. Ich versuchte, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Ich dachte, dass, wenn ich möglichst schnell und oft einatme, ich mehr Sauerstoff bekäme. Gleichzeitig versuchte ich, angestrengt aus dem Fenster zu sehen, die Dinge anzuschauen, an welchen wir vorbeifuhren, um bei Bewusstsein zu bleiben. Zu Hause in der Garage stieg ich sofort aus und ging hinauf in unsere Wohnung. Dave sagte, er würde mit den Kindern nachkommen, ich solle mich hinlegen. Torkelnd ging ich hoch, zog mir benommen die Kleider aus und legte mich auf den Rücken in unser Bett. Ich konnte jedoch keine zwei Sekunden liegen bleiben, stand sofort wieder auf, lief durch die Wohnung hin und her und fragte mich, wieso es mir noch nicht besser ging. Die zwanzig Minuten, die es jedes Mal dauerte, waren längst vorbei. Ich riss die Balkontüre auf und ging nach draußen auf unseren Sitzplatz. Die Sonne schien, es war bereits sehr warm, doch ich fror. Also kehrte ich wieder um und ging zurück ins Wohnzimmer. Wo blieben mein Mann und die Kinder? Wieso waren sie noch nicht bei mir? Ich öffnete die Wohnungstüre und hörte meinen Mann mit einer Nachbarin im Treppenhaus sprechen. Also war alles gut, sie würden gleich hoch kommen. Ich lief von der Küche durch das Wohnzimmer, ins Schlafzimmer und wieder zurück, immer schneller, bis ich rannte. Mir tat alles weh und ich hatte ein heftiges Stechen in meiner Brust. Das Schlucken schmerzte nach wie vor und der Magen brannte. Als mein Mann dann hochkam, sagte ich zu ihm, dass ich das Gefühl hätte, fast keine Luft mehr zu bekommen. Also ging ich wieder in den Garten hinaus, mit der Hoffnung, draußen besser atmen zu können. Leon schlief friedlich in seinem Maxi-Cosi und Lilly setzte sich auf die Couch und spielte mit ihrem Teddy. Gott sei Dank bekamen die Kinder nichts mit. Ich ging wieder hinein und wieder hinaus. Als ich dann ein erneutes Mal drinnen war und vor dem Spiegel stand und mich ansah, war es, als blickte mich eine Fremde an. Das war nicht ich. Dieser verzerrte Blick, die Augen von Angst und Panik erfüllt, unwissend, was vor sich ging und was noch geschehen würde. Ich torkelte wieder zurück ins Wohnzimmer, mein Blickfeld war mittlerweile so verschwommen, dass ich nicht mehr richtig einschätzen konnte, wo die Wand war. Mein Mann sah mich an, sagte aber nichts. Ich war froh, dass er so gelassen bleiben konnte. Ruhig war er bestimmt nicht, aber er wirkte so. Und das war gut so. Denn ich war genug nervös für alle zusammen. Mein Herz schmerzte so sehr, dass mir plötzlich bewusst wurde, dass ich gleich einen Herzinfarkt haben könnte. „Du musst die Ambulanz rufen. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe.“ Endlich konnte ich sagen, was ich seit über einer Stunde fühlte. Ich war mir nämlich überhaupt nicht sicher, ob ich diesen Tag überstehen würde, lebend, meine ich. Vielleicht konnten die mich reanimieren, wenn ich wirklich zu wenig Sauerstoff hatte oder ich einen Herzinfarkt hatte, dachte ich. Mein Mann rief an. Ich bewunderte ihn, wie ruhig er am Telefon sprach. Ich selber hatte in dieser Situation nämlich sogar die Telefonnummer vergessen und sagte mir, dass, wenn ich das Ganze hier überlebte, ich die Notfallnummer in meinem Handy unter den Favoriten abspeichern würde, falls dies nicht bereits systemtechnisch so erfasst war. Ich stand vor meinem Mann, hielt seine Hand und schaute ihn an. Ich hörte, wie er am Telefon sagte, dass ich mich nicht hinlegen konnte und Schmerzen in der Brust hätte und immer wieder erwähnte, dass ich zu wenig Luft bekäme. Dann war wieder eine Pause. Die Person am anderen Ende der Leitung schien zu sprechen. Was sagte sie? Wieso wollte sie so viel wissen? Hatte sie zumindest schon eine Ambulanz losgeschickt? Was, wenn diese zu spät kam? Ich würde sterben, hier und heute in meiner Wohnung, vor den Augen meiner eigenen Kinder. Tränen schossen mir in die Augen und rannen über die Wangen hinunter. Es würde zehn Minuten dauern, sagte mein Mann, als er mit dem Telefonieren fertig war. Als ich erneut beinahe schrie, dass ich keine Luft bekam, sagte mein Mann, ich solle wieder in den Garten gehen, wenn das besser sei. Also ging ich wieder nach draußen und legte mich dort auf die Platten auf den Boden. Ich hatte Gänsehaut, und obwohl es nun bereits heiß wurde und die Sonne auf mich niederbrannte, war mir kalt. Mein Mann brachte mir eine Decke. Und so lag ich da und wartete auf die Ambulanz. Als ich mich später an diesen Moment zu erinnern versuchte, wusste ich nicht mehr, was ich in diesem Augenblick gedacht hatte. Und dann endlich, sieben Minuten später kam sie, sogar mit grellem und drehendem Blaulicht. Vier Rettungssanitäter kamen durch unsere Wohnung in den Garten zu mir hinaus. Alle mit Schutzmasken.

Ja, in diesem verrückten Jahr hatten wir weltweit das Covid-19-Virus, welches die ganze Welt in Angst und Schrecken versetzte. Manche glaubten, dass das Virus bewusst in einem chinesischen Labor gezüchtet wurde, andere hielten die Geschichte nur für eine Spekulation und ein Schauermärchen. Aufgrund der Panikmacherei gab es auch noch diejenigen, die sich abschrecken ließen und wirklich Angst davor hatten. Ich selber kannte jemanden, der dieses Virus hatte und dem es sehr schlecht ging, so dass er hospitalisiert werden musste. Ich musste zugeben, auch ich hatte Respekt davor, keine Angst, jedoch hatte auch ich mir Gedanken dazu gemacht und mich an die Vorschriften des Bundes gehalten. Die Schließung unserer Kinderkrippe, in welcher Lilly war und in die Leon eigentlich ab Juli auch hätte hingehen sollen, war eine der vielen Konsequenzen davon. Wir mussten in kürzester Zeit eine neue Krippe finden. Eine Krippe, welche in der Nähe war, unserer Erziehungsphilosophie entsprach, uns sympathisch war und natürlich auch noch bezahlbar war. Im Unternehmen meines Mannes gab es teilweise Kurzarbeit, zum Glück aber blieb seine Abteilung davon verschont. Auf meiner Arbeit wurde auch striktes Homeoffice verordnet und ich wusste noch nicht genau, wo ich im August nach Beendung meines Mutterschaftsurlaubs wieder zu arbeiten beginnen sollte, zu Hause im Homeoffice oder im Büro vor Ort. Ich freute mich wahnsinnig darauf, wieder zur Arbeit zu gehen. Seit acht Jahren war ich schon dort und ich konnte es ehrlich gesagt kaum erwarten, auch wieder Mitarbeiterin und Arbeitskollegin und nicht nur Ehefrau und Mutter zu sein.

Corona, so heisst das Virus. Ich hoffe, dass heute, wenn ihr, liebe Leserinnen und liebe Leser, diese Zeilen vor euch habt, diese Pandemie endlich aus der Welt geschafft und überstanden ist. Leider, so wusste ich, hätte sich die Wirtschaft bis dahin aber noch nicht erholt. Das Coronavirus hatte vieles zerstört und während ich das niederschrieb, war dieses nach wie vor Bestand unserer Leben und bereitete sich aktuell sogar gleich auf eine weitere Welle vor. Die Fallzahlen stiegen wieder. Arbeitsstellen wurden gestrichen, Personen starben, das soziale Umfeld und Freizeitaktivitäten wurden radikal heruntergefahren, da man aufgrund von Mindestabstand und Hygienevorschriften Einschränkungen vornehmen musste. In den letzten Monaten fühlte ich mich wie in einem Kriegsgebiet. Und das im Jahre 2020 in der Schweiz, einem der sichersten und finanziell besten Orte auf der Welt. Wo waren wir bloß gelandet? Was passierte mit dieser Welt und ihrer Menschheit?

Obwohl ich immer noch auf den Gartensitzplatten lag, die Wolldecke über mir, und nun diese vier Sanitäter um mich herum standen, kamen mir all diese Gedanken. Und zwar in einer solch rasanten Geschwindigkeit, als würde man einen Film im Fernsehen vorspulen. Dieses Tempo an Gedanken war sehr unangenehm, denn ich konnte mich an keinem einzelnen Gedanken wirklich festhalten und ich hatte keine Taste, um Pause zu drücken, wie auf der Fernbedienung.

Ich starrte in die Gesichter um mich herum oder wohl eher auf ihre Masken. Die Sanitäterin zu meiner rechten Seite legte ihre Hand auf meinen zitternden Handrücken und stellte mir einige Fragen. Ich hörte sie sprechen, sah in ihre Augen und spürte ihren warmen Händedruck auf meiner Hand, doch ich verstand keines der Worte, die sie von sich gab. Mein Mann kam dazu und konnte einige Antworten für mich übernehmen. Ein weiterer Sanitäter tauschte unsere Wolldecke mit einer Wärmedecke aus seinem Rettungskoffer. Er legte mir eine Infusion an und einen Augenblick später hatte ich auch einen Sauerstoffschlauch unter meiner Nase. Es roch sehr chemisch und unangenehm. Mir wurde darauf sofort wieder übel und endlich fand ich auch meine Stimme wieder und konnte mich nun mitteilen. Ich erzählte vom heutigen Besuch beim Kinderarzt, von den Kreislaufproblemen und vor allem von der Angst, dass ich zu wenig Sauerstoff bekommen könnte und von den Herzschmerzen. Mit einem weiteren Gerät aus einem der roten Koffer kontrollierte die Frau, die meine Hand hielt – sie schien die leitende Sanitäterin in diesem Team zu sein – wie viel Sauerstoff meine Lunge tatsächlich bekam. „Mehr wie hundert Prozent Sauerstoffzufuhr geht nicht. Sie haben definitiv genügend Luft“, meinte sie mit beruhigender Stimme und drückte meine Hand sanft. Wie war das möglich? Seit über zwei Stunden hatte ich Angst, dass ich ersticken könnte. Meinten die etwa, ich erzählte ihnen ein Märchen? Vielleicht hatte ich ja Corona, vielleicht hatte es mich nun auch erwischt, schoss es mir durch den Kopf. Doch sie schüttelte den Kopf und sagte, ich hätte keine Symptome dergleichen und die Schmerzen in meiner Brust, welche ich als Herzschmerzen wahrnahm, waren sehr wahrscheinlich durch die Verspannung einer Hyperventilation in meiner Panik entstanden. Ob ich an Panikattacken leiden würde, war die nächste, sehr unangenehme Frage an mich. Ich schüttele den Kopf. „Natürlich nicht!“, antwortete ich energisch. Jetzt kam doch tatsächlich schon wieder jemand mit dieser Panik. War heute der Welt-Panik-Tag oder was sollte das? Was für eine Frage! Ich war wirklich verärgert. Mein Herz wurde zum Glück dennoch überprüft. Ich erzählte, dass ich bereits im Frühling teilweise, wenn auch unregelmäßig, undefinierbare Stiche in der Herzregion hatte, mich aber nicht traute, meinem Mann oder sonst wem davon zu erzählen. „Sie haben zwei kleine Kinder und vor wenigen Monaten gerade erst entbunden. Das ist natürlich sehr anstrengend“, meinte eine weitere Sanitäterin, die bis dahin nur zugeschaut hatte. Was wusste die denn schon von meinem Leben und überhaupt vom Leben einer Mutter mit zwei kleinen Kindern, dachte ich und ignorierte ihre Aussage etwas genervt. Ich wusste aber im Grunde, dass es mehr eine Feststellung war, und ja, natürlich hatte sie recht, aber ich wollte nicht zugeben, dass es anstrengend ist, schließlich liebe ich meine Kinder und würde alles dafür tun, dass es ihnen gut geht und sie glücklich sind. Ich bin ihre Mama, die schon alles geschafft hat. Ich war eine Powerfrau, was also wollte mir diese Fremde da schon von meinem Leben erzählen? Ich konnte nicht beantworten, ob es in meiner Familie Herzprobleme gab. Ich war adoptiert und so wusste ich nichts über eine womögliche Vererbung oder dergleichen. Die Antwort „Ich weiß es nicht, ich bin adoptiert.“ musste ich schon so viele Male geben. Dabei hatte ich nie etwas Schlimmes empfunden, es war einfach auch nur eine Tatsache. Ich bin adoptiert und ich wusste die Antwort darauf nicht. Auch dieses Mal sagte ich diesen Satz, jedoch wurde ich das erste Mal dabei auch traurig. Oder wütend? Ich wusste nicht, was es war und was sich da in diesem Moment in mir ausbreitete. Ich war froh, dass ich gemäß diesem Gerät anscheinend genügend Sauerstoff bekam und ich keinen zusätzlichen brauchte, und dennoch blieb dieser grässlich stinkende Schlauch in meiner Nase. Und selbstverständlich war ich auch froh, dass es meinem Herz auch gut ging. Es schlug zwar etwas schnell, aber es war in Ordnung. Meine Beine kribbelten und es machte mich unruhig. Am liebsten wäre ich aufgestanden und herumgelaufen, so, wie wenn ein Fuß eingeschlafen wäre. Doch ich wusste, dass ich die Kraft zum Aufstehen gar nicht hatte. Mir wurde die Infusion angelegt, Flüssigkeit zum einen und Schmerzmittel zum anderen, da ich nach wie vor heftige Magenkrämpfe hatte. Auch wenn ich nun wusste, dass es meinem Herz gut ging, wollte ich wissen, warum ich so Schmerzen in meiner Brust hatte. Ich wiederholte mich also erneut und erklärte, dass ich glaubte, zu wenig Sauerstoff zu bekommen, und ich mir sicher war, demnächst in Ohnmacht zu fallen oder an einem Herzinfarkt zu sterben. Die leitende Sanitäterin kam ganz nah zu mir, viel zu nah meiner Meinung nach. Und dann kam heute zum dritten Mal das Wort und vor allem dieser schreckliche Satz: „Das war eine Panikattacke.“ Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz nun tatsächlich stehenblieb. Dieser Satz an diesem Samstagvormittag, draußen auf unserem Sitzplatz, umringt von Rettungssanitätern und meinem Mann, der daneben stand und mich ansah, dieser komplette Satz, mit konjugiertem Verb und Punkt am Ende, veränderte alles. Nicht nur diesen Tag, nein, er veränderte mein ganzes Leben. Dieses Leben, welches ich bis dahin gelebt hatte. Er veränderte mich und meine Umgebung und das Leben, welches mir noch bevorstand. Einfach alles.

Ich sagte nichts. In meinem Kopf rotierte es. Was erlaubte sich diese Frau? Sie hatte keine Ahnung, wer ich war, wie mein Leben aussah, was ich tat. Und anscheinend hatte sie auch keinerlei Ahnung, was ich wirklich hatte oder was in mir gerade vorging. Ich war wütend, richtig wütend. Auf diese Frau, auf den ganzen Tag und vor allem auf mich selbst. Ich löste jedes Problem selber, egal wie groß es auch schien, ich fand für alles eine Lösung und tat selber immer alles, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Ich wollte die Ambulanz, damit sie mich retten konnte, weil ich dachte, ich würde hier sterben. Weil ich Angst hatte, dass meine Familie mich heute verlieren würde. Und das Schmerzmittel in dieser Infusion hatte auch noch nicht gewirkt. Es hat nichts gebracht, dass die da waren. Das Einzige, was ich davon hatte, war wohl bald eine hohe Rechnung von der Krankenkasse. Und da ich nie zum Arzt musste, weil ich immer gesund war, war somit die ganze Jahresfranchise ausstehend, welche ich nun selber bezahlen musste, toll.

Ich sah einen der Sanitäter in unsere Küche gehen und sich dort suchend umschauen. Mein Mann folgte ihm und wurde gefragt, ob ich irgendwelche Medikamente einnahm, ob ich schon länger mit psychischen Problemen zu tun hätte und ob ich eine Psychologin hätte, welche man kontaktieren könnte. Dieses Szenario war wie in einem Kriminalfilm. Die Leiche, das war wohl ich, da ich mich auch genau so fühlte, lag irgendwo am Boden, in diesem Falle draußen auf unserem Sitzplatz, und nun traf die Polizei oder eben hier die Ambulanz ein und suchte nach der Mordwaffe oder der Ursache für den für alle überraschenden und unerklärbaren Tod. Ich nahm keine Medikamente. Ich hatte noch nie psychische Probleme. Die Wut, die in mir brodelte, konnte man sich kaum vorstellen. Wütend darüber, dass fremde Menschen sich ein Urteil über mich und mein Leben bildeten, kamen mir wieder die Tränen.

Natürlich, das musste ich zugeben, war ich nicht glücklich. Schon länger nicht. Ich wusste nicht, seit wann, und ich wusste nicht genau, an welchem Tag ich das genau festgestellt hatte. Irgendwann im Frühling vielleicht, nach der Geburt von Leon. Ich war oft traurig und Dinge, die ich früher, auch mit einem Kind, mühelos erledigt hatte oder angegangen war, fielen mir auf einmal schwer. Ich hatte das starke Bedürfnis, alleine sein zu wollen. Weit weg von meinem Leben, das ich lebte, und von den Menschen, die um mich herum waren. Das war auch der Grund, weshalb ich für ein Wochenende in einem Hotel wohnte. Dies nicht, weil ich nicht zu Hause sein wollte oder von meiner Familie getrennt, sondern, weil ich einfach alleine sein wollte. Was schlussendlich auch der Grund dafür war, dass ich nach vielen Ermutigungen von Familie und Freunden den Schritt gewagt hatte, einen ersten Termin bei einer Psychologin wahrzunehmen. Ein Schritt, welcher mir extrem viel Mut gekostet hatte. Denn diesen Schritt zu gehen, bedeutete für mich, dass ich das erste Mal selber keine Lösung für mein Problem mehr hatte, dass ich Hilfe brauchte. Ich war überzeugt, dass, wenn ich ein paar Mal dort war, meinen Kummer von der Seele gesprochen hätte, alles wieder gut war und wieder so, wie es immer war. Obwohl ich das selber nie erleben wollte, wusste ich, dass es viel mehr Menschen gab, als man dachte, die einen Psychologen aufsuchten, um ein Problem oder, wenn schlimmer, auch eine Krise zu bewältigen. Ich tat es eigentlich nur, damit mein Umfeld aufhörte, mir ständig zu sagen, dass ich mich verändert hatte und ich endlich mit jemanden reden sollte. Ich wusste, sie meinten es gut, sie wollten mir helfen. Alle wollten mir helfen. Doch ich wollte keine Hilfe, ich brauchte keine Hilfe. Ich hatte noch immer alles alleine geschafft. Schließlich hatte ich als kleines Mädchen den Weg von Indien in die Schweiz auf mich genommen. Hatte mich in ein neues Land mit einer anderen Kultur und einer neuen Sprache gewagt. Ich konnte auch bestens damit umgehen, dass ich als dunkelhäutiges Mädchen in fast jeder Situation auffiel und nach meinem ursprünglichen Geburtsort gefragt wurde. Was berechtigt also fremde Menschen aufgrund von Herzschmerzen und Sauerstoffmangel, und vor allem vor meinen beiden Kindern, zu urteilen, dass ich jetzt eine Panikattacke hätte, was auch immer das zum Teufel nochmal überhaupt sein sollte? Und die Frage nach Medikamenten und psychischen Problemen war für mich dann noch das Beste am Ganzen. Bei der Frage, ob in meiner Familie psychische Erkrankungen vorkämen, gab ich wie zuvor die gleiche Antwort, dass ich adoptiert war und ich es deshalb nicht wusste. Bestätigung genug, dass sie mir vielleicht doch nicht zugehört hatten. Einige Minuten vorher war es die Frage nach psychischen Problemen, jetzt war die Formulierung bereits bei psychischer Erkrankung angelangt. Ich konnte nicht mehr. Heiße Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Dennoch versuchte ich, ruhig zu atmen, langsam und bewusst, wie es der Sanitäter mir sagte. Ich wusste, ich musste das jetzt einfach überstehen. Alleine wieder einmal, wie so manches in meinem Leben, so, dass sie dachten, es wäre alles wieder gut und ich hätte mir das alles nur eingebildet. Und vorgetäuscht, damit sie jetzt schnell wieder gehen würden.

In diesem Moment sah ich eine Nachbarin auf dem Balkon. Sie schaute, ohne eine Reaktion zu zeigen, hinunter. Natürlich erschrickt man im erstem Moment, wenn eine Ambulanz vor dem Hause steht und man sieht, dass sich vier Rettungssanitäter um die Nachbarin kümmern. Wenn sie daliegt, versehen mit diversen Schläuchen für Stauerstoff, Flüssigkeit und Schmerzmittel, und ein großer Kasten daneben, welcher piepsend den Herzschlag überwacht. Und dennoch, wo blieb der Anstand, wo der Respekt und wo blieb die Privatsphäre dem anderen gegenüber? Zwei der Sanitäter begannen ihre Sachen wieder in ihren Koffer einzupacken. Sie waren zum Aufbruch bereit. Ich war erleichtert. „Wir gehen jetzt“, sagte die leitende Sanitäterin und hielt mich am Arm. „Schaffen Sie es alleine oder sollen wir ihnen helfen?“ Sie sah mich fragend an. Wieso waren die Schläuche immer noch an mir und weshalb sollte sie mir hochhelfen? Ich war irritiert. Sie sagte doch, dass sie gehen würde. Erst dann kapierte ich, dass sie mich mitnehmen wollten. „Es ist ja alles gut, haben Sie gesagt, also kann ich hier bleiben“, hatte ich trocken geantwortet. Sie wollten sich mein Herz doch nochmals genauer anschauen und ich sollte im Spital mit dem Oberarzt sprechen. Mir wurde wieder schwindlig und ich stellte erst in diesem Moment fest, dass es die letzten Minuten eigentlich wieder besser war mit den Kreislaufproblemen. Ich wollte auf keinen Fall durch das Wohnzimmer gehen. Meine Kinder sollten mich nicht, wie ein Weihnachtsbaum geschmückt, mit Sauerstoff und Infusion weggehen sehen. Mein Mann wollte mir versichern, dass er nachkommen würde. Aufgrund der Situation mit Corona wurde ihm jedoch nicht erlaubt, mit- oder nachzukommen. Die Sanitäter halfen mir dabei, aufzustehen, durch den Garten und über unsere selbst kreierte Plattentreppe hinunter auf den Parkplatz zu gelangen. Sie hoben mich auf die Trage und schnallten mich an. Ich fühlte mich schwach, ausgeliefert und sehr hilflos. Das Piepsen auf dem Herzüberwachungsmonitor wurde wieder lauter. Ich dürfte mich nicht aufregen, dass sei nur so laut, weil mein Herzschlag schneller wäre und ich müsste mir keine Sorgen machen. Und sie hätten mich nur angeschnallt, damit ich mich im Ambulanzwagen nicht verletzten könne oder von der Trage fallen. Es würde alles gut werden. Ich hörte wieder das Pfeifen im Ohr und war wieder kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Bevor sie mich gemeinsam in den Wagen hochheben konnten, mussten sie tatsächlich einem weiteren Nachbarn sagen, dass er von der offenen Türe des Fahrzeugs wegtreten solle. Ein anderer Nachbar stand auf seinem Balkon und schaute hinunter. Er machte sich nicht die Mühe, sein Schauen zufällig wirken zu lassen, nein, er verharrte an Ort und Stelle und sah zu. Es war mir peinlich. Sie dachten bestimmt alle, ich hätte Corona. Auf der Fahrt ins Spital konnte ich nicht aufhören, zu weinen. Ich wimmerte leise vor mich hin. Ich hörte mir selber zu und wusste nicht, ob ich Mitleid mit mir selber hatte oder ob es einfach nur grässliche Scham war. Ich schämte mich, dass ich einen solchen Aufwand betrieb und das, obwohl sie sagten, es wäre alles gut. Ich schämte mich, weil ich danach eine hohe Arztrechnung zahlen musste. Ich schämte mich, weil ich nicht bei meinen Kindern bleiben konnte, und ich erinnerte mich ebenfalls, dass ich jetzt eigentlich die Wäsche waschen wollte, welche ich bereits gestern Abend vorsortiert hatte. Ich hatte mich im Wäschekalender im Keller eingetragen.

Im Spital angekommen, wurde ich von der Trage auf ein Spitalbett umgelegt und erhielt nun auch eine Schutzmaske. Wie konnte man mir eine solche Maske aufzwingen, unter welcher ich noch weniger Luft bekäme? Es ging mir dabei nicht darum, dass ich mich gegen das Tragen der Maske im Kampf gegen das Coronavirus weigern wollte, ich hielt mich stets an alle Vorschriften. Aber in diesem Moment, in dem ich dachte, dass ich aufgrund von Sauerstoffmangel sterben würde, fand ich die Maske dann doch sehr fragwürdig. Ich verstand nicht mehr viel. Ich sollte das Herz nochmals kontrollieren, den Oberarzt kurz sehen und dann würde ich sofort meinen Mann anrufen, damit er mich so rasch wie möglich wieder nach Hause holen konnte. Das war mein Plan. In der Notfallabteilung wurde ich in ein separates Abteil geschoben und der sterile, duschähnliche Vorhang zum Flur wurde zugezogen. Eine junge Frau kam herein und ersetzte die Infusion mit einem neuen Beutel. Die Schmerzmedikamente wollten noch immer nicht wirken. Ich hatte nach wie vor sehr starke Magenschmerzen. Ich riss mich jedoch zusammen, damit wir kurz miteinander sprechen konnten. Sie wollte wissen, wie hoch mein Gewicht war und ob ich genügend aß.

Ich sagte ihr, dass ich mein aktuelles Gewicht nicht kannte, da ich sehr selten bis fast nie auf einer Waage stand. Ich war schon immer sehr schlank und in meiner ganzen Kindheit und Jugendzeit bis kurz vor der Schwangerschaft mit Lilly hatte ich immer sehr viel Sport betrieben. Ich war im Leichtathletikverein, in einer Tanzgruppe, war viel Joggen und bis vor wenigen Jahren noch immer aktiv in einem Fußballverein tätig. Sport war mir immer sehr wichtig gewesen, nicht der Figur halber, sondern weil es mir mental guttat und Sport für mich sehr interessant war. Bis heute verfolgte ich am meisten jedoch Fußball. Seit 1998 bin ich Fan des italienischen Fußballclubs AS ROMA und war fasziniert vom Talent des römischen Fußballgottes Francesco Totti. Leider spielt Totti nicht mehr aktiv Fußball. Für mich gab es aber immer nur den einen wahren Captain der ROMA und das war nun mal Totti. Mein Vater zog mich früher immer auf, weil ich so ein begeisterter Fußballfan war und Totti so bewunderte und für ihn schwärmte. Ich hatte unzählige Fußballartikel und in meinem Zimmer zu Hause bei meinen Eltern die ganzen Wände damit tapeziert. Fotos und Zeitungsartikel, Fußballbilder, die sogenannten Paninibilder, und Schals, Trikots und andere Accessoires. Natürlich alle in den Farben der ROMA, der Giallorossi. Ich weiss immer noch, dass ich mein erstes Fußballtrikot von meinen Eltern geschenkt bekommen habe. Wir hatten es in Luino auf einem italienischen Markt gekauft. Wir waren wie sooft im Tessin in den Ferien, weil wir dort ein Ferienhaus hatten. Genauer gesagt, gehörte es meinen Großeltern. Wir verbrachten fast jede Ferien in der kleinen Ortschaft in den Hügeln von Bogno. Von dort aus war es nicht mehr weit über die Grenzen nach Italien. Und wie ein italienischer Markt es so an sich hatte, gab es dort alles, was man brauchen wollte und konnte. Mich interessierten dabei aber immer nur die Händler und Marktstände mit den Fußballtrikots. Dafür gab ich mein ganzes Taschengeld aus. Das war nicht viel, im Vergleich zu anderen in meiner Klasse. Ich war oft neidisch, weil meine Schulfreunde mehr Taschengeld besaßen. Irgendwann war ich jedoch froh darüber, denn so lernte ich schon sehr früh, mit Geld umzugehen.

Das war einer der Gründe, weshalb ich immer auf alles sparen konnte, ohne dabei Kredite auf mich zu nehmen und in Schulden zu geraten. Ich hatte auch noch nie eine Mahnung, geschweige denn eine Betreibung, und meine allererste Geldbuße aufgrund von Geschwindigkeitsübertretung hatte ich diesen Mai. Ein paar Wochen später wusste ich es dann doch etwas besser. Es war die Mrs. Perfektionismus in mir, welche mich zu diesem korrekten Verhalten gezwungen hatte und welche mir auch noch einen gewaltigen Stein in den Weg legen sollte.

Ich antwortete der Krankenschwester, dass ich heute zwar noch nichts gegessen habe, aber eigentlich sehr gerne esse, ich habe jedoch eine sehr gute Verbrennung. Eine Gewichtszunahme, welche mir bewusst war und die man mir auch ansah, verzeichnete ich nur, als ich mehrere Monate in Australien war und mich mehrheitlich von Bier und Fastfood ernährte, und selbstverständlich in den beiden Schwangerschaften. Dennoch, das musste ich wohl zugeben, hatte ich nach dieser zweiten Schwangerschaft etwas Mühe mit meinem Körper.

Ich wusste durchaus, dass eine Schwangerschaft dem Körper vieles zumutet, schließlich erschafft er dabei auch ein wundervolles Wesen. Und nach einer zweiten Schwangerschaft war es auch klar, dass der Körper etwas mehr Zeit brauchte, um sich wieder zu erholen. Diese Zeit wollte ich mir und meinem Körper aus irgendwelchen Gründen aber nicht geben. Ich wollte so schnell wie möglich wieder so schlank sein wie vorher. Aus diesem Grund hatte ich im Frühling, kurz nach der Geburt von Leon, bereits wieder mit intensivem Sporttraining zu Hause begonnen. In den letzten Wochen war ich jedoch sehr müde und hatte es deshalb wieder vernachlässigt. Ich fühlte mich nicht dick, so meine ich das nicht. Und das war ich ja auch nicht. Ich fühlte mich in meinem Körper einfach nicht mehr wohl und fand mich selber somit auch nicht mehr schön.

Die Krankenschwester informierte mich, dass der Oberarzt jetzt vorbeikäme und sie sich verabschieden würde. Und, dass sie mir vergewissern könne, dass ich auf keinen Fall dick sei. Müde lächelte ich sie an. Sie wollte höflich sein. Und ja, ich wusste ja, dass ich nicht dick war und ich seit der Geburt bereits sehr viel abgenommen hatte, sogar überdurchschnittlich viel in einer solch kurzen Zeit, was wiederum eher ungesund war. Von Zufriedenheit war ich jedoch noch weit entfernt. Sie zog den Vorgang hinter sich wieder zu und ich war wieder alleine. Ich starrte auf die gegenüberliegende kalte weiße Wand.

Ich fühlte mich erschöpft, müde vom ganzen Tag, obwohl ich noch nicht annähernd das getan oder erreicht hatte, was ich mir mit meiner heutigen To-do-Liste vorgenommen hatte. Ich bemerkte auch, dass diese Nervosität nicht mehr vorhanden war. Und auch das Gefühl der Enge beim Schlucken war weg. Nur noch die muskuläre Verspannung im Brustbereich, wie die leitende Sanitäterin das so schön bezeichnen wollte, war noch da. Die schmerzte sogar noch sehr. Die Magenschmerzen waren auch besser, das Schmerzmittel schien endlich seine Wirkung zu zeigen. Ich war ruhig. Ich fixierte einen etwas dunkleren Flecken an der Wand, vielleicht war es auch nur ein Schatten. Wovon, habe ich aber nicht nachvollziehen können.

Und in dieser Ruhe und Stille offenbarte sich mir ein mir unbekanntes und neues Gefühl. Die vielen Gedanken, welche sonst in meinem Kopf herumrasten, waren ausnahmsweise nicht da. Ich wusste gar nicht, worüber ich mir in diesem Moment gerade Gedanken oder Sorgen hätte machen sollen. Tatsächlich war ich damit gerade ein bisschen überfordert. Üblicherweise hatte ich immer etwas zu studieren, planen, überlegen oder abwägen. „Es ist okay“, sagte ich leise vor mich hin und im nächsten Augenblick fragte ich mich dennoch, was ich damit genau meinte. Was war okay? Und ich fühlte, dass es der Gedanke war, zu akzeptieren, dass dies nun mein Ende war. Meine Zeit war abgelaufen. Lilly und Leon würden ohne mich groß werden, ohne mich ihre ersten Erfahrungen mit dem Leben machen, ohne mich das erste Mal am Meer sein und ohne mich Fußball spielen. Ich war traurig und Tränen überkamen mich unaufhaltsam. Aber es war okay. Es musste wohl so sein, weil ich die Kraft nicht mehr hatte. Die Kraft, um ein Leben zu führen und dabei nicht zu wissen, ob ich glücklich war und was mir fehlte oder was ich brauchte. Ich hatte die notwendige Kraft einfach nicht mehr. Und somit war es in Ordnung. Heute, an diesem 4. Juli, war es also soweit. Und ich wusste, dass alles gut werden würde. Es waren sehr traurige und schlimme Gedanken und noch heftiger war das fremde Gefühl, dass ich etwas hinnahm, ohne mich zu fragen, was ich tun musste, damit es anders würde. Diese Ruhe hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gespürt. Ein Moment, in dem ich nichts tun musste, niemand hatte etwas von mir erwartet, ich wurde nichts gefragt und um nichts gebeten, ich hatte nichts zu tun und da war kein Gedanke, welcher mich hätte unter Druck setzen können. War es das Gefühl, das Menschen kurz vor dem Sterben begleitet? Wenn man sein Ende ohne Wenn und Aber hinnimmt und akzeptiert?

In diesem Moment kam ein Mann in langem, weißem Kittel und setzte sich auf den Stuhl an meinem Bettrand. Er war sehr jung und ich überlegte mir, in welchem Alter er bereits sein Medizinstudium abgeschlossen haben musste, um jetzt schon den Titel des Oberarztes zu erlangen. Er kontrollierte nochmals mein Herz, es war nach wie vor alles in Ordnung. Er reichte mir eine kleine weiße Schmelztablette. Sie würde mir helfen, etwas zur Ruhe zu kommen, und wenn ich mich müde fühlen würde, dürfte ich mich dann zu Hause etwas hinlegen. Er legte mir noch ein durchsichtiges Tütchen auf den Tisch und fügte hinzu, dass dies Temesta sei und er dieses in einer solchen Situation immer mitgebe. Ich konnte erkennen, dass darin nochmals zwei weitere Tabletten enthalten waren. Ich würde heute also doch nicht sterben und durfte wieder nach Hause. Das war’s. Er ging und ich durfte noch einen Moment bleiben. Ich betrachtete die kleine weiße Tablette in meiner Hand. Ich war ein absoluter Gegner von Medikamenten. Ich nahm nur während der Schwangerschaft die notwendigen Medikamente wie Folsäure, Eisen und Vitamine für meine Kinder in meinem Bauch. Auch wenn ich Bauch- oder Kopfschmerzen hatte, griff ich nur im Alleräußersten zum Schmerzmittel. Außerdem nahm oder tat ich selten etwas, vorauf ich nicht vorbereitet war. Ich wollte stets wissen, weshalb etwas so war oder helfen sollte, was mögliche Konsequenzen oder in diesem Falle eventuelle Nebenwirkungen sein konnten.

Ich war auch absolut kritisch gegenüber Drogen. Nicht, dass ich nicht die eine oder andere Erfahrung damit gemacht hätte. So war es nicht mal in meinem kleinen, perfekten Leben. Ich hatte eine ziemlich rebellische Jugend. Wieso das so war, wurde mir erst zu einem viel späteren Zeitpunkt bewusst. In diesem Moment wollte ich einfach nur diese Ruhe und Gelassenheit genießen, welche ich so intensiv verspürte. Ja, das war genau das, was auch Drogen oder bestimmte Medikamente mit einem machen konnten: Gefühle und Stimmungen verändern. Der Vorhang ging wieder auf. Eine neue Krankenschwester kam herein und entfernte mir wortlos die Infusion und klebte mir ein weißes Pflaster auf die Einstichstelle der Nadel. Dann ging sie wieder. Ich richtete mich auf und erhob mich. Das Tütchen mit den beiden weiteren Tabletten steckte ich mir ein. Ich konnte sie ja noch immer wegwerfen. Falls ich sie jedoch brauchte, würde ich froh sein, sie bei mir zu haben. Vorsichtig löste ich die kleine Schmelztablette in meiner Hand aus ihrer Verpackung und das Temesta zerging auf meiner Zunge.

Mein Mann holte mich ab. Zu Hause war alles wieder gut. Ich war ruhig, gelassen und konnte mir nicht mehr vorstellen, was an diesem Tag alles passiert war und weshalb ich alles so intensiv erlebt hatte. Ich nahm an, dass es die Wirkung dieses Temestas war. Mein Kaffee, den ich heute Morgen zwar hingestellt hatte, aber nicht mehr trank, weil ich ihn aus lauter Stress vergessen hatte, schüttete ich nun weg. Irgendwann wurde ich sehr müde und schläfrig. Ich legte mich hin und schlief acht Stunden am Stück durch. Ich war wie im Koma. Wenn eines der Kinder gerufen hätte, hätte ich vermutlich nichts davon gehört. Ich war weg.

Hema - Das Herz einer indischen Löwin

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