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EINLEITUNG
(Erster Teil)
ОглавлениеWachstum der Wahrheit - Rückläufige Bewegung des Wahren
Von der Präzision in der Philosophie — Die philosophischen Systeme — Warum sie das Problem der Zeit vernachlässigt haben — Was aus der Erkenntnis wird, wenn sie die wirkliche Zeit in sich aufnimmt — Rückwirkende Kraft des wahren Urteils — Spiegelung der Gegenwart in die Vergangenheit — Über Geschichte und geschichtliche Erklärung — Logik der Retrospektion
Was der Philosophie am meisten gefehlt hat, ist die Präzision. Die philosophischen Systeme sind nicht auf die Wirklichkeit, in der wir leben, zugeschnitten. Sie sind zu weit für sie. Man prüfe nur irgend ein passend ausgewähltes unter ihnen, so wird man sehen, daß es ebensogut auf eine Welt passen würde, in der es weder Pflanzen noch Tiere, in der es nichts als Menschen gäbe, und in der sich die Menschen des Essens und Trinkens enthielten, in der sie weder schliefen noch träumten, noch ihre Gedanken ziellos schweifen ließen, in der sie altersschwach geboren würden, um als Säuglinge zu enden, in der sich die Energie nicht zerstreute, sondern konzentrierte, kurzum auf eine Welt, in der alles gegen den Strich ginge und sich ins Gegenteil verkehrte. Ein richtiges System ist eben eine Gesamtheit von so abstrakten und infolgedessen unbestimmten Begriffen, daß man hierin neben dem Wirklichen alles Mögliche und selbst Unmögliches unterbringen kann. Eine Erklärung, die uns befriedigen soll, muß mit ihrem Gegenstand fest verwachsen sein: bei ihr besteht sozusagen keine Leere zwischen Gegenstand und Erklärung, kein Zwischenraum, in den eine andere Erklärung sich ebensogut einfügen ließe. Sie paßt nur für das eine bestimmte Objekt, dem sie einzig und allein angemessen ist. Von dieser Art kann die wissenschaftliche Erklärung sein. Mit ihr gehen absolute Genauigkeit und eine vollständige oder wachsende Evidenz Hand in Hand. Kann man das auch von den philosophischen Theorien sagen?
Eine philosophische Lehre schien uns früher hierin eine Ausnahme zu machen, und wahrscheinlich wurden wir dadurch in unserer frühesten Jugend besonders von ihr angezogen. Die Philosophie von Spencer zielte daraufhin, einen genauen Abdruck der Dinge zu nehmen, und sich dem Detail der Tatsachen anzuschmiegen. Zweifellos suchte auch sie sich auf unbestimmte Allgemeinbegriffe zu stützen. Wir fühlten wohl die Schwäche der „First Principles“. Aber diese Schwäche schien uns darin zu liegen, daß der ungenügend vorbereitende Vf. die grundlegenden Begriffe der Mechanik nicht hatte vertiefen können. Wir hätten diesen Teil seines Werkes gerne wieder aufgenommen, um ihn zu vervollständigen und tiefer zu begründen. Wir versuchten uns daran, unseren Kräften entsprechend. So stießen wir auf das Problem der Zeit. Hier erwartete uns eine Überraschung.
Wir waren tatsächlich höchst erstaunt, als wir sahen, wie die wirkliche Zeit, die die erste Rolle in jeder Entwicklungsphilosophie spielt, der Mathematik entgleitet. Da ihr Wesen im ständigen Vorübergehen besteht, so ist keiner ihrer Teile mehr da, wenn ein nächster folgt. Kein Teil läßt sich mit dem anderen zur Deckung bringen. Somit ist ein Messen unmöglich, unvorstellbar, undenkbar. Zweifellos enthält jeder Maßstab ein Moment willkürlicher Festsetzung, und es ist selten, daß zwei Größen, die gleich genannt werden, sich vollständig decken. Auch hier muß die Deckung für eine ihrer Erscheinungsformen oder ihrer Wirkungen möglich sein, die etwas von diesen Größen festhält: jedoch mißt man dann diese Wirkung oder jene Erscheinungsform. Aber angewendet auf die Zeit würde der Begriff der Deckungsgleichheit eine Absurdität in sich einschließen. Denn jede Wirkung der Dauer, die sich mit sich selbst zur Deckung bringen ließe und folglich meßbar wäre, würde ihrem Wesen nach nicht mehr eine Dauer sein. Wir wußten wohl seit unserer Schulzeit, daß die Dauer sich mißt durch die Bahn eines beweglichen Körpers, und daß die mathematische Zeit eine Linie ist. Aber wir hatten noch nicht bemerkt, daß diese Operation sich radikal von allen anderen Messungsoperationen unterscheidet, denn sie vollzieht sich nicht an einem Aspekt oder einer Wirkung, die symbolisch ist für das, was man messen will, sondern an einem Etwas, das jede Meinung ausschließt: die Linie, die man mißt, ist unbeweglich, die Zeit dagegen ist Bewegung; die Linie ist etwas endgültig Fertiges, die Zeit dagegen ist ein Werdendes und sogar der Grund von allem übrigen Werden. Das Zeitmaß bezieht sich niemals auf die Dauer als solche, soweit sie wirklich Dauer ist. Man zählt allein eine gewisse Anzahl von Endpunkten von Zeitintervallen oder von sogenannten Momenten, d. h. im Grunde von virtuellen Ruhepunkten der Zeit. Behaupten, daß ein Ereignis nach Ablauf einer Zeit stattfinden wird, besagt einfach, daß man von jetzt bis dahin eine Anzahl von Gleichzeitigkeiten einer gewissen Art gezählt haben wird. Zwischen den Gleichzeitigkeiten kann sich alles Beliebige abspielen. Die Zeit könnte sich ungeheuer, selbst unendlich beschleunigen: Für den Mathematiker, Physiker und Astronomen wäre damit nichts geändert. Der Unterschied für das Bewußtsein wäre jedoch tiefgreifend (ich will natürlich sagen, eines Bewußtseins, das nicht mit Molekularbewegungen innerhalb des Gehirns solidarisch wäre). Für ein solches Bewußtsein bedeutete es nicht mehr die gleiche Anspannung des Wartens von heute auf morgen, von Stunde zu Stunde. Dieser bestimmten Erwartung und ihrer äußeren Ursache kann die Wissenschaft nicht Rechnung tragen: Selbst wenn sie sich auf die Zeit bezieht, die abläuft oder ablaufen wird, so behandelt sie sie so, als ob sie abgelaufen wäre. Das ist im übrigen ganz natürlich. Ihre Rolle ist es, vorauszusehen. Sie zieht aus der materiellen Welt all das heraus, was der Wiederholung und Berechenbarkeit fähig ist und was infolgedessen nicht dauert. Sie bewegt sich damit in derselben Richtung, nur nachdrücklicher, wie der gesunde Menschenverstand, der schon eine Vorstufe von Wissenschaftlichkeit ist: Wenn wir in der Umgangssprache von Zeit reden, denken wir für gewöhnlich an das Maß der Dauer und nicht an die Dauer selbst. Aber man fühlt und erlebt diese Dauer, die die Wissenschaft eliminiert, die so schwierig zu erfassen und auszudrücken ist. Sollen wir nicht einmal untersuchen, was sie wirklich ist? Wie würde sie einem Bewußtsein erscheinen, das sie nur erleben wollte, ohne sie zu messen, das sie erfassen würde, ohne sie zu fixieren, das sich selbst schließlich als Objekt nähme, und das, Zuschauer und Akteur, spontan und reflektierend zugleich, die fixierende Aufmerksamkeit und die fliehende Zeit verschmelzen lassen würde?
Dies war die Frage. Damit drangen wir ein in das Gebiet des inneren Lebens, für das wir uns bis dahin nicht interessiert hatten. Sehr schnell erkannten wir die Unzulänglichkeit jeder Assoziationspsychologie. Die damals bei der Mehrzahl der Psychologen und Philosophen verbreitete Art psychologischer Auffassung war das Ergebnis einer künstlichen Konstruktion des bewußten Lebens. Was würde die direkte unmittelbare Schau ohne dazwischen geschaltete Vorurteile ergeben? Eine lange Reihe von Überlegungen und Analysen ließ uns diese Vorurteile einzeln beiseiteschieben, ließ uns viele Begriffe aufgeben, die wir kritiklos übernommen hatten. Schließlich glaubten wir ganz rein die innere Dauer wiederzufinden, eine Kontinuität, die weder Einheit noch Vielheit ist und in keine unserer Denkschablonen eingeht. Wir hielten es für sehr natürlich, daß die positive Wissenschaft sich nicht für diese Dauer interessiert hatte: Vielleicht ist es gerade ihre Aufgabe, uns eine Welt zu schaffen, in der wir um der Bequemlichkeit der Handlung willen die Wirkungen der Zeit zum Verschwinden bringen. Wie konnte aber die Philosophie Spencers, eine Entwicklungslehre, die geschaffen ist, um der Wirklichkeit in ihrer inneren Bewegung, ihrem Fortschritt, ihrer inneren Reifung zu folgen, die Augen vor dem verschließen, was die ständige Veränderung selbst ist?
Diese Frage sollte uns später dazu bringen, das Problem des Lebens wieder aufzunehmen, wobei der wirklichen Zeit Rechnung zu tragen war: Wir sollten dabei finden, daß Spencers „Evolutionismus“ fast vollständig zu erneuern war; zunächst aber fesselte uns die Vision der Dauer. Bei der Durchsicht der verschiedenen Systeme stellten wir fest, daß die Philosophen sich kaum mit ihr beschäftigt hatten. Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch sind Zeit und Raum auf die gleiche Ebene gestellt und wie Dinge derselben Art behandelt worden. Man untersucht dann eben nur den Raum, bestimmt seine Natur und seine Funktion und überträgt die gefundenen Ergebnisse auf die Zeit. Die Theorie der Zeit wird so ein Seitenstück zur Theorie des Raumes: um von der einen zur anderen zu gelangen genügt es, ein Wort zu ändern: man hat „Nebeneinanderstellung“ durch „Aufeinanderfolge“ ersetzt. Von der wirklichen Dauer hat man sich systematisch abgewandt. Warum? Die Wissenschaft hat ihre Gründe, es zu tun. Aber schon die Metaphysik, die der Wissenschaft vorausging, ging auf diese Weise vor, obwohl sie nicht die gleichen Gründe hatte. Beim Überprüfen der Lehren schien es, als ob die Sprache dabei bereits eine große Rolle gespielt hätte. Die Dauer drückt sie immer als Ausdehnung aus. Die Ausdrücke, die die Zeit bezeichnen, sind der Sprache des Raumes entlehnt. Wenn wir die Vorstellung der Zeit bilden wollen, so ist es in Wirklichkeit der Raum, der sich uns darstellt. Die Metaphysik hat sich den Denkgewohnheiten der Sprache anpassen müssen, und diese richteten sich nach dem Denken des gesunden Menschenverstandes.
Aber wenn die Wissenschaft und der gesunde Menschenverstand hier übereinstimmen, wenn die Intelligenz, möge sie nun spontan oder reflektierend sein, die wirkliche Zeit beiseiteschiebt, sollte das denn nicht mit der ursprünglichen Bestimmung unseres Verstandes zusammenhängen? Gerade das glaubten wir zu bemerken, als wir die Struktur des menschlichen Verstandes untersuchten. Es schien uns, daß gerade eine seiner Funktionen darin bestand, die Dauer zu verschleiern, sowohl bei dem Begriff der Bewegung wie auch bei dem der Veränderung.
Handelt es sich um Bewegung, so behält die Intelligenz davon nur eine Reihe von Positionen zurück: einen zuerst erreichten Punkt, einen weiteren und dann noch einen weiteren. Wenn man dem Verstand entgegenhält, daß zwischen diesen Punkten etwas vor sich geht, so schiebt er schnell neue Positionen dazwischen und immer so weiter, bis ins Unendliche. Von dem eigentlichen Übergang von Punkt zu Punkt wendet er seinen Blick ab. Wenn wir darauf bestehen, so sucht er die Beweglichkeit in immer kleinere Zwischenräume zurückzuschieben, entsprechend einer immer größeren Zahl eingeschobener Positionen, bis sie immer weiter zurückweicht und schließlich im unendlich Kleinen zu verschwinden scheint. Nichts ist natürlicher, wenn die Intelligenz dazu besonders bestimmt ist, unser praktisches Wirken auf die Dinge vorzubereiten und zu klären. Wir gewinnen eine Handhabe für die Wirkung auf die Dinge nur durch die Fixierung von festen Punkten; unsere Intelligenz trachtet also nach Festigkeit. Sie fragt sich, wo das Bewegliche ist, wo das Bewegliche sein wird, wo es vorübergeht. Selbst wenn sie den Moment des Überganges beachtet, selbst, wenn sie sich dann also für die Dauer zu interessieren scheint, so beschränkt sie sich dabei nur darauf, die Gleichzeitigkeit von zwei virtuellen Punkten zu konstatieren: den Punkt, in dem die betrachtete Bewegung fixiert wird, und den möglichen Ruhepunkt einer anderen Bewegung, deren Verlauf als diejenige der Zeit angesehen wird. Aber immer handelt es sich dabei um wirkliche oder mögliche Unbeweglichkeiten. Überspringen wir einmal die intellektuelle Vorstellung der Bewegung, die sie als eine Reihe von Positionen symbolisiert, erfassen wir sie unmittelbar ohne den dazwischen geschobenen Begriff: dann finden wir sie als eine unteilbare Ganzheit. Gehen wir noch weiter: lassen wir sie zusammenfallen mit einer jener unbestreitbar wirklichen, absoluten Bewegungen, die wir selbst hervorbringen, dann erfassen wir die Bewegung in ihrem innersten Wesen, und wir fühlen, daß sie eins ist mit einer Anstrengung, deren Dauer eine unteilbare Kontinuität darstellt. Aber da dabei ein gewisser Raum durchmessen sein wird, nimmt unsere Intelligenz, die überall nach einem festen Halt sucht, nachträglich an, daß die Bewegung mit diesem Raum verschmilzt (als ob das Bewegliche mit etwas Unbeweglichem eins sein könnte!), und daß das bewegliche Ding nacheinander in jedem Punkte der Linie, die es durcheilt, auch wirklich ist. Im Höchstfall kann man sagen, daß es dort gewesen wäre, wenn es früher angehalten worden wäre, wenn wir, um eine viel kürzere Bewegung zu erzielen, eine ganz andersartige Anstrengung gemacht hätten. Von da an bis zu der Ansicht, daß die Bewegung nur eine durchlaufene Reihe von Zeitpunkten wäre, ist nur ein Schritt: die Dauer der Bewegung wird sich dann in „fixe Zeitpunkte“ zerlegen, von denen jeder einer bestimmten Position im Raume entspricht. Aber die Zeitpunkte und die Raumpositionen des bewegten Dings sind nur gleichsam Momentaufnahmen, die unser Verstand von der Kontinuität der Bewegung und der Dauer aufnimmt. Mit diesen nebeneinandergesetzten Momentaufnahmen hat man einen praktischen Ersatz der Zeit und der Bewegung, der sich den Erfordernissen der Sprache anpaßt, um später sich der Berechnung darzubieten, aber das ist nur eine künstliche Rekonstruktion: die Zeit und die Bewegung sind in Wirklichkeit etwas anderes.1)
Dasselbe können wir vom Begriff der Veränderung im allgemeinen sagen. Der Verstand zerlegt sie in aufeinanderfolgende und distinkte Zustände, die als unveränderlich angesehen werden. Betrachtet man jeden dieser Zustände genauer, beobachtet man dann, daß er sich dauernd ändert, fragt man, wie er dauern könnte, wenn er sich nicht dauernd änderte, so schiebt der Verstand schnell eine Reihe von weiteren Zuständen ein, die sich nötigenfalls ihrerseits weiter zerlegen lassen, usw. bis ins Unendliche. Wie sollte man aber nicht sehen, daß das Wesen der Dauer in einem ununterbrochenen Fluß besteht, und daß etwas Statisches, das mit anderem Statischen aneinandergereiht wird, niemals eine wirkliche Dauer ergibt? Was also wirklich ist, das sind nicht die in Momentaufnahmen fixierten „Zustände“, die wir im Verlauf der Veränderung aufnehmen, sondern das ist im Gegenteil der Fluß, das ist die Kontinuität des Übergangs, das ist die Veränderung selbst. Diese Veränderung ist unteilbar, sie ist sogar substantiell. Wenn unser Verstand sich darauf versteift, sie als unsubstantiell zu beurteilen, ihr, ich weiß nicht, welchen festen Träger unterzuschieben, so liegt das daran, daß er sie durch eine Reihe von nebeneinander gesetzten Zuständen ersetzt hat; aber diese Vielzahl ist künstlich; künstlich ist auch die Einheit, die man nachträglich wiederherzustellen sucht. Es gibt hier nur eine ununterbrochene Dynamik der Veränderung — einer Veränderung, die niemals ihren Zusammenhang in einer Dauer verliert, die sich endlos aus sich selber weiter gebiert.
Diese Überlegungen ließen in unserem Geist viele Zweifel entstehen und gleichzeitig große Hoffnungen. Wir sagten uns, daß die metaphysischen Probleme vielleicht falsch gestellt waren, aber daß gerade aus diesem Grunde keine Veranlassung mehr bestand, sie für „ewig“, d. h. unlösbar zu halten. Die Metaphysik datiert von dem Tage an, wo Zeno von Elea Widersprüche herausstellte, die der Bewegung und Veränderung, wie sie sich unserem Verstande darstellen, innewohnen. Die Hauptanstrengung der alten und modernen Philosophen bestand darin, diese Schwierigkeiten, wie sie durch die intellektuelle Symbolisierung der Bewegung und der Veränderung hervorgerufen werden, durch eine immer subtilere intellektuelle Arbeit zu überwinden und zu umgehen. So wurde die Metaphysik dahin geführt, die Wirklichkeit der Dinge jenseits der Zeit zu suchen, jenseits dessen, was sich bewegt und was sich verändert, folglich außerhalb dessen, was unsere Sinne und unser Bewußtsein unmittelbar erleben. Seitdem konnte sie nur noch ein mehr oder weniger künstliches. Gebäude von Begriffen, eine hypothetische Konstruktion sein. Sie gab vor, die Erfahrung zu überschreiten, in Wirklichkeit setzte sie nur an die Stelle der lebendigen und vollen Erfahrung, die einer wachsenden Vertiefung fähig ist, einen festen, trockenen, entleerten Extrakt, ein System allgemeiner abstrakter Ideen, die aus dieser selben Erfahrung oder vielmehr aus ihren oberflächlichsten Schichten abstrahiert worden waren. Das ist gerade so, wie wenn man eine gelehrte Abhandlung schreiben wollte über die Puppenhülle, aus der sich der Schmetterling befreit, und behauptete, daß der fliegende, veränderliche, lebendige Schmetterling seinen Daseinsgrund hätte und seine Vollendung fände in der starren Haut, aus der er entschlüpft ist. Beseitigen wir vielmehr diese Haut und wecken wir die Puppe zu neuem Leben auf! Geben wir der Bewegung ihre Beweglichkeit zurück, der Veränderung ihr Fließen, der Zeit ihre Dauer. Wer weiß, ob nicht die unlösbaren „großen Probleme“ nur dieser abgelösten Haut anhaften. Sie würden weder die Bewegung, noch die Veränderung, noch die Zeit betreffen, sondern nur die begriffliche Hülle, die wir fälschlich für sie selbst oder für ihr Äquivalent hielten. Die Metaphysik wird dann die Erfahrung selbst werden. Die Dauer wird sich als das offenbaren, was sie tatsächlich ist, nämlich fortdauernde Schöpfung, ununterbrochenes Hervorquellen von Neuem.
Denn das gerade läßt unsere gewohnheitsmäßige Vorstellung von Bewegung und Veränderung uns nicht sehen. Wenn die Bewegung nur eine Reihe von festen Punkten und die Veränderung eine Reihe von Zuständen ist, so besteht die Zeit aus scharf abgegrenzten und nebeneinandergesetzten Teilen. Zweifellos sagen wir wohl noch, daß sie aufeinanderfolgen, aber dieses Folgen gleicht dann den abrollenden Bildern eines Films: der Film könnte zehnmal, hundertmal, tausendmal schneller ablaufen, ohne daß irgend etwas an dem, was abläuft, geändert würde. Wenn er unendlich schnell abliefe, wenn der Ablauf (diesmal außerhalb des Apparates) so beschleunigt würde, daß er sich für uns in einem Moment zusammendrängte, so wären es immer noch die gleichen Bilder. Die so verstandene Aufeinanderfolge fügt ihnen also nichts Neues hinzu: sie würde ihnen eher etwas nehmen, sie würde ein Defizit, eine Unzulänglichkeit unserer Wahrnehmung ausdrücken, die verurteilt wäre, den Film Bild für Bild zu zerlegen, statt ihn als Ganzes auf einmal zu erfassen. Kurz, die so verstandene Zeit ist nur ein idealer Raum, wo man sich alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse nebeneinander aufgereiht denkt und dazu noch ihre Unfähigkeit, uns en bloc zu erscheinen. Der Ablauf in der Dauer drückt diesen Mangel aus und würde gleichsam die Hinzufügung einer negativen Größe bedeuten. Derartige Vorstellungen liegen bewußt oder unbewußt dem Denken der Mehrzahl der Philosophen zugrunde, in Übereinstimmung übrigens mit den Forderungen des Verstandes, mit den Notwendigkeiten der Sprache, mit dem Symbolismus der Wissenschaft. Keiner von ihnen hat bei der Zeit nach positiven Eigenschaften gesucht. Sie behandeln die Aufeinanderfolge als ein verfehltes Nebeneinander und die Dauer als eine verhinderte Ewigkeit. Daher kommen sie trotz aller Bemühungen niemals zu der Vorstellung einer wirklichen Neuschöpfung, die unvorhersehbar ist. Ich spreche nicht nur von den Philosophen, die an ein so rigoroses Verketten der Erscheinungen und Ereignisse glauben, daß die Wirkungen sich aus den Ursachen ableiten lassen: sie stellen sich vor, daß die Zukunft in der Gegenwart gegeben ist, daß sie theoretisch darin sichtbar ist, daß sie infolgedessen nichts Neues ihr hinzufügen kann. Aber selbst jene kleine Zahl unter ihnen, die an den freien Willen geglaubt haben, haben ihn auf eine bloße „Wahl“ zwischen zwei oder mehreren Entscheidungen zurückgeführt, die im Voraus vorgezeichnet wären, sodaß der Wille sich darauf beschränkte, einen von ihnen zu verwirklichen. Sie nehmen also auch an, selbst wenn sie sich darüber keine Rechenschaft ablegen, daß alles von Ewigkeit her gegeben ist. Von einer Handlung, die wahrhaft schöpferisch wäre (wenigstens von innen her gesehen), und die vorher nicht einmal in der Form einer reinen Möglichkeit existierte, scheinen sie sich keinen Begriff zu machen. So ist jedoch die wahrhaft freie Handlung. Aber um sie zu erfassen, um sich überhaupt irgend eine Schöpfung von wahrhaft Neuem und Unvorhersehbarem vorzustellen, muß man sich wieder in die reine Dauer zurückversetzen.
Man versuche einmal, sich wirklich heute die Handlung vorzustellen, die man morgen ausführen wird, selbst wenn man genau wüßte, was man tun wird. Die Einbildungskraft mag sich vielleicht die auszuführende Bewegung genau vorstellen, aber was man bei der Ausführung wirklich denken und empfinden wird, das kann man heute in keiner Weise wissen, weil unser Seelenzustand morgen das ganze Leben, das man bis dahin durchgelebt hat, mit dem, was dieser besondere Augenblick außerdem noch hinzufügen wird, mit umfaßt. Um diesem Seelenzustand im voraus den Inhalt zu geben, den er haben soll, benötigt man aber gerade die Zeit, die das Heute von Morgen trennt; denn man könnte das Seelenleben nicht um einen einzigen Augenblick vermindern, ohne dann auch den Inhalt zu verändern. Könnte man die Dauer einer Melodie verkürzen, ohne sie damit wesentlich zu verändern? Das innere Leben ist diese Melodie selbst. Vorausgesetzt also, daß man wüßte, was man morgen tun wird, so würde man von seiner Handlung nur ihren äußeren Umriß vorhersehen können; jede Anstrengung, um im voraus ihren inneren Gehalt vorzustellen, wird eine Dauer umfassen, die man in fortschreitendem Wachstum weiterführen wird, bis zu dem Augenblick, an dem die Handlung tatsächlich stattfindet, und wo keine Rede mehr von Vorhersehen sein kann. Wie sollte das auch möglich sein, wenn die Handlung wirklich frei ist, d. h. wenn sie sowohl in ihrem äußeren Umriß, als auch in ihrer intimeren inneren Färbung in dem Moment, in dem sie sich vollzieht, als unteilbares Ganzes geschaffen wird?
Radikal ist also der Unterschied zwischen einer Evolution, deren ununterbrochene Phasen sich gegenseitig durchdringen, in einer Art von innerem Wachstum, und einem Ablauf, dessen scharf abgegrenzte Teile sich nebeneinanderreihen. Der Fächer, den man entfaltet, könnte sich immer schneller öffnen, sogar gleichzeitig, er würde immer die gleiche auf der Seide vorgezeichnete Stickerei entfalten. Aber eine wirkliche Evolution, die auch nur um ein Geringes beschleunigt oder verlangsamt wird, verändert sich innerlich ganz und gar. Ihre Beschleunigung oder Abnahme der Geschwindigkeit ist gerade diese innere Veränderung. Ihr Gehalt bildet mit ihrer Dauer nur ein Ganzes.
Allerdings gibt es neben den Bewußtseinsträgern, die diese Dauer erleben, eine Dauer, die sich weder zusammenziehen noch ausdehnen läßt, materielle Systeme, über die die Zeit nur hinweggleitet. Von den Erscheinungen, die hier aufeinanderfolgen, kann man tatsächlich sagen, daß sie dem Entrollen eines Fächers gleichen, oder besser eines Films. Im voraus berechenbar, existierten sie unter der Form des Möglichen vor ihrer Verwirklichung. Derartig sind die Systeme, die die Astronomie, Physik und Chemie erforschen. Bildet das materielle Universum insgesamt ein System dieser Art? Wenn unsere Wissenschaft es annimmt, so versteht sie darunter einfach, daß sie im Universum alles Unberechenbare beiseite läßt. Aber der Philosoph, der nichts beiseite lassen will, muß wohl oder übel feststellen, daß die Zustände unserer materiellen Welt mit der Geschichte unseres Bewußtseins gleichzeitig sind. Da dieses dauert, müssen jene mit der wirklichen Dauer in irgend einer Weise in Verbindung stehen. In der Theorie könnte ein Film, auf dem die aufeinanderfolgenden Zustände eines gänzlich berechenbaren Systems abgebildet sind, mit beliebiger Geschwindigkeit ablaufen, ohne daß irgend etwas daran geändert würde. Tatsächlich ist diese Geschwindigkeit bestimmt, da das Abrollen des Films einer gewissen Dauer unseres inneren Lebens entspricht, — und zwar dieser und keiner anderen. Der Film, der abrollt, ist also wahrscheinlich mit einem Bewußtsein, das dauert und seine Bewegung reguliert, verbunden. Wenn man ein Glas Zuckerwasser bereiten will, muß man wohl oder übel warten, bis der Zucker schmilzt. Diese Notwendigkeit, zu warten, ist die Tatsache, die von Bedeutung ist. Sie drückt aus, daß — wenn man aus dem Universum Systeme herausschneiden kann, für die die Zeit nur eine Abstraktion, eine Beziehung, eine Zahl ist — doch das Universum selbst etwas anderes ist. Wenn wir es in seiner Gesamtheit umfassen könnten, als unorganisch, aber durchwoben von organischen Wesen, so würden wir sehen, wie es unaufhörlich ebenso neue, ebenso originelle, ebenso unvorhersehbare Formen annähme wie unsere Bewußtseinszustände.
Aber wir haben soviel Mühe, zu unterscheiden zwischen der Aufeinanderfolge in der wahren Dauer und der Nebeneinanderstellung in der räumlichen Zeit, zwischen einer Evolution und einem Abrollen, zwischen der radikalen Neuheit und einer neuen Kombination von bereits Existierendem, und endlich zwischen der Schöpfung und der einfachen Wahl, daß man diese Unterscheidung nicht von zuviel Gesichtspunkten aus gleichzeitig beleuchten kann. Sagen wir also, daß es in der Dauer, als schöpferische Evolution aufgefaßt, eine unaufhörliche Schaffung von Möglichkeiten und nicht allein von Wirklichkeiten gibt. Viele werden es nur widerstrebend zugeben, weil sie immer meinen, daß ein Ereignis sich nicht vollzogen hätte, wenn es sich nicht hätte vollziehen können: daß es folglich möglich gewesen sein müsse, bevor es wirklich werden konnte. Aber schauen sie näher hin, so werden sie erkennen, daß „Möglichkeit“ zwei ganz unterschiedliche Dinge bedeutet, und daß man meistens von dem einen zum anderen pendelt, indem man willkürlich mit dem Sinn des Wortes spielt. Wenn ein Musiker eine Symphonie komponiert, war sein Werk dann möglich, bevor es wirklich wurde? Ja, wenn man es dahin versteht, daß seiner Verwirklichung kein unübersteigbares Hindernis im Wege stand. Aber von diesem ganz negativen Sinn des Wortes geht man, ohne darauf zu achten, zu einem positiven Sinn über: man stellt sich vor, daß jede Sache, die hervorgebracht wird, durch irgend einen genügend umfassenden Geist im voraus hätte wahrgenommen werden können, und daß sie so in Gestalt einer Idee vor ihrer Verwirklichung existierte, — eine ganz absurde Vorstellung im Fall eines Kunstwerks, denn sobald der Musiker die genaue und vollständige Idee der Symphonie hätte, die er komponieren wird, wäre seine Symphonie damit geschaffen. Weder im Bewußtsein des Künstlers, noch viel weniger aber in irgendeinem anderen Bewußtsein, das dem unseren vergleichbar, selbst wenn man es als unpersönlich oder sogar nur als virtuell ansehen wollte, wäre die Symphonie in der Eigenschaft eines bloß Möglichen vorhanden, bevor sie wirklich wurde. Aber kann man nicht dasselbe sagen von irgend einem Zustand des Universums unter Einschluß aller bewußten und lebendigen Wesen? Ist er nicht reicher an Neuem, an radikaler Unvorhersehbarkeit, als die Symphonie des größten Meisters?
Dennoch erhält sich hartnäckig die Überzeugung, daß selbst, wenn ein solcher Zustand vor seiner Verwirklichung nicht konzipiert worden sei, er doch immerhin hätte konzipiert werden können, und daß er in diesem Sinne von Ewigkeit her im Zustand des Möglichen in irgend einem reellen oder virtuellen Bewußtsein als Vorstellung vorhanden ist. Wenn man dieser Illusion genau auf den Grund ginge, würde man sehen, daß sie mit dem Wesen selbst unseres Verstandes zusammenhängt. Die Dinge und die Ereignisse finden statt in bestimmten Augenblicken, das Urteil, das das Erscheinen des Dinges oder des Ereignisses feststellt, kann erst nach ihnen kommen, es hat also sein Datum. Aber dieses Datum verwischt sich sofort auf Grund des in unserem Verstand verankerten Prinzips, daß alle Wahrheit ewig ist. Wenn ein Urteil im gegenwärtigen Augenblick wahr ist, so muß es, scheint uns, auch immer so gewesen sein. Wenn es auch noch so wenig vorher ausdrücklich formuliert war, so war es doch sozusagen de jure schon da, bevor es de facto gefällt wurde. So schreiben wir jedem wahren Urteil eine Art von Rückwirkung zu, oder vielmehr wir verleihen ihm eine Art rückläufiger Bewegung. Als ob ein Urteil den Ausdrücken, die es zusammensetzen, vorhergehen könnte! Als ob die Ausdrücke nicht erst mit der Erscheinung der Gegenstände, die sie darstellen, geboren würden! Als ob das Ding und die Idee des Dings, seine Wirklichkeit und seine Möglichkeit nicht gleichzeitig geschaffen würden, wenn es sich um eine wirklich neue, von der Kunst oder der Natur erfundene Form handelt!
Die Folgen dieser Illusion sind zahllos.2) Unsere Schätzung der Menschen und Ereignisse ist vollständig durchtränkt von dem Glauben an den retrospektiven Wert des wahren Urteils und an die rückläufige Bewegung, die die einmal gesetzte Wahrheit automatisch in der Zeit ausführen würde. Allein durch ihren Vollzug projiziert die Wirklichkeit hinter sich ihren Schatten bis in die unbestimmte Weite der Vergangenheit. Sie scheint so unter der Form des bloß Möglichen vor ihrer eigentlichen Verwirklichung existiert zu haben. Daher rührt der Irrtum, der unsere Auffassung von der Vergangenheit so verdirbt, sowie unsere Anmaßung, bei jeder Gelegenheit die Zukunft vorwegnehmen zu wollen. Wir fragen uns z. B.: was wird aus der Kunst, der Zivilisation von morgen? Wir stellen uns so im Groben die Entwicklungskurve der Gesellschaft vor; ja, wir gehen so weit, daß wir die Einzelheiten der Ereignisse vorhersagen. Sicher werden wir immer die Wirklichkeit, wenn sie eingetreten ist, mit den Ereignissen, die ihr vorausgegangen sind, und den Umständen, unter denen sie hervorgetreten sind, verbinden können, aber auch eine ganz verschiedenartige Wirklichkeit, natürlich nicht irgend eine beliebige, hätte sich ebensogut mit denselben Umständen und Ereignissen, nur unter einem anderen Gesichtswinkel aufgefaßt, verbinden lassen. Wird man daraufhin sagen, daß man unter Berücksichtigung aller Seiten des gegenwärtigen Zustandes und deren Verlängerung nach allen Richtungen hin schon jetzt alle Möglichkeiten in der Hand hätte, zwischen denen die Zukunft wählen wird, vorausgesetzt, daß sie überhaupt wählt? Aber zunächst einmal können diese Verlängerungen selbst ganz neu hinzutretende Qualitäten sein, die als Ganzes absolut unvorhersehbar entstünden, und dann existiert eine „Seite“ der Sache als „Seite“ nur, insoweit unsere Aufmerksamkeit sie herausgehoben hat als Ausschnitte von einer bestimmten Form aus dem Ganzen der gegenwärtigen Umstände: wie sollten danach also „alle Seiten“ des gegenwärtigen Zustandes existieren, bevor durch die nachfolgenden Ereignisse die originellen Formen der Ausschnitte, die die Aufmerksamkeit vornimmt, geschaffen worden wären? Diese Seiten gehören also nur retrospektiv zu der ehemaligen Gegenwart, d. h. zur Vergangenheit, und sie hatten in dieser Gegenwart, als sie noch wirklich gegenwärtig war, nicht mehr Realität, als in unserer augenblicklichen Gegenwart die Symphonien der zukünftigen Musiker haben. Um ein einfaches Beispiel anzuführen: nichts hindert uns heute daran, die Romantik des 19. Jahrhunderts mit dem zu verknüpfen, was bei den Klassikern bereits romantisch war. Aber der romantische Aspekt des Klassizismus hat sich erst klar abgehoben durch die retroaktive Wirkung der Romantik, nachdem sie einmal in Erscheinung getreten war. Wenn es nicht einen Rousseau, einen Chateaubriand, einen Vigny, einen Viktor Hugo gegeben hätte, dann hätte man nicht allein niemals etwas von Romantik bei den ehemaligen Klassikern wahrgenommen, sondern es hätte auch wirklich keine Romantik bei den ehemaligen Klassikern gegeben, denn diese Romantik der Klassiker tritt erst dadurch heraus, daß man in ihrem Werk einen gewissen Aspekt heraushebt, und dieser Ausschnitt existierte in seiner besonderen Form in der klassischen Literatur vor dem Auftreten der Romantik ebensowenig, wie in der vorübereilenden Wolke die amüsante Zeichnung existierte, die ein Künstler darin wahrnimmt, indem er die amorphe Masse nach dem Belieben seiner Fantasie organisiert. Die Romantik hat also retroaktiv auf den Klassizismus gewirkt, so wie die Zeichnung des Künstlers auf jene Wolke. Retroaktiv hat sie ihre eigene Gestaltung der Vergangenheit eingebildet und eine Erklärung ihrer selbst durch die vorausgehenden Umstände erst geschaffen.
Es bedarf eines glücklichen Zufalls, wenn wir in unserer jetzigen Gegenwart gerade das bemerken, was für den zukünftigen Historiker von besonderem Interesse ist. Wenn dieser Historiker unsere Gegenwart betrachten will, dann sucht er darin besonders die Erklärung seiner Gegenwart und vor allem die Erklärung dessen, was diese Gegenwart an Neuem enthält. Von diesem Neuen können wir heute noch keine Vorstellung haben, wenn es eine wirkliche Neuschöpfung ist. Wie könnten wir also heute schon uns nach ihr ausrichten, um unter den Tatsachen gerade die auszuwählen, die man hervorheben, oder vielmehr erst fabrizieren muß, indem man die gegenwärtige Wirklichkeit im Hinblick auf jene Zukunft zurechtschneiden würde? Die grundlegende Tatsache der modernen Zeit ist die fortschreitende Entwicklung der Demokratie. Daß wir in der Vergangenheit, wie sie von den Zeitgenossen beschrieben wurde, auf diese Entwicklung hinweisende Anzeichen finden, ist unbestreitbar, aber die vielleicht interessantesten Hinweise würden von ihnen nur dann hervorgehoben worden sein, wenn sie gewußt hätten, daß die Menschheit in dieser Richtung marschiere; nun trat aber diese Entwicklungsrichtung damals nicht deutlicher hervor, als irgend eine andere, oder vielmehr, sie existierte noch gar nicht, da sie erst durch die Entwicklung selber geschaffen wurde, ich möchte sagen durch das Fortschreiten der Männer, die nacheinander den Begriff Demokratie erfaßt und verwirklicht haben. Die vorausdeutenden Hinweise sind also in unseren Augen nur deswegen Anzeichen, weil wir heute die Entwicklungsbahn kennen, weil diese Entwicklung inzwischen vollzogen worden ist. Weder diese Bahn, noch ihre Richtung, noch auch infolgedessen ihr Zielpunkt waren also gegeben, als diese Geschehnisse sich vollzogen: also waren jene Tatsachen noch keine Anzeichen. Gehen wir noch weiter. Wir sagten, daß die wichtigsten diesbezüglichen Tatsachen von den Zeitgenossen vernachlässigt werden könnten. Aber in Wahrheit existierten eben die meisten Tatsachen als Tatsachen zu jener Zeit noch gar nicht, sie würden retrospektiv für uns existieren, wenn wir jetzt jene Zeit in ihrer Ganzheit wieder aufleben lassen könnten, um auf das ungeteilte Ganze der Wirklichkeit von damals den besonderen Lichtschein fallen zu lassen, den wir die demokratische Idee nennen; die so beleuchteten Teile, die in dem Ganzen nach den ebenso originellen wie unvorhersehbaren Umrissen der Zeichnung eines großen Meisters herausgeschnitten wären, würden die vorbereitenden geschichtlichen Tatsachen der Demokratie sein. Kurz, um unseren Nachkommen die Erklärung der für sie wesentlichen Ereignisse aus der Vergangenheit her zu überliefern, müßten wir uns dieses zukünftige Ereignis schon jetzt vorstellen können, und es dürfte infolgedessen keine wahre Dauer geben. Wir überliefern den nachfolgenden Generationen, was uns interessiert, was unsere Aufmerksamkeit im Lichte unserer vergangenen Entwicklung betrachtet und formt, aber nicht das, was die Zukunft für jene interessant machen wird durch die Entstehung eines neuen Interesses, durch eine neue Richtung, der ihre Aufmerksamkeit sich zuwendet. Mit andern Worten, die historischen Ursprünge der Gegenwart können in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht vollständig aufgehellt werden, denn man könnte sie in ihrer Ganzheit nur wieder überschauen, wenn die Vergangenheit von den Zeitgenossen als eine Funktion einer noch unbestimmten Zukunft ausgedrückt werden könnte, einer Zukunft, die aber gerade deshalb unvorhersehbar wäre.
Nehmen wir eine Farbe wie Orange.3) Da wir außerdem noch Rot und Gelb kennen, können wir Orange in einem Sinn als gelb, im anderen als rot auffassen und sagen, daß es eine Zusammensetzung von Gelb und Rot ist. Aber nehmen wir einmal an, daß nur die Farbe Orange existierte, wie sie ist, und Gelb und Rot wären noch nicht in der Welt bekannt, — würde dann wohl Orange als aus jenen beiden Farben zusammengesetzt erscheinen? Offenbar nicht. Die Empfindung rot und die Empfindung gelb, die einen ganzen Mechanismus in den Nerven und im Gehirn in sich einschließen und zugleich ganz besondere Dispositionen des Bewußtseins, sind Schöpfungen des Lebens, die entstanden sind, aber die auch nicht hätten entstehen können — und wenn es weder auf unserem Planeten, noch auf irgend einem anderen Wesen gegeben hätte, die diese beiden Empfindungen gehabt hätten, dann wäre die Empfindung des Orange eine einfache unteilbare Empfindung gewesen; niemals wären in ihr als Komponenten oder als Aspekte die Empfindungen des Gelb und des Rot vorgestellt worden. Ich erkenne an, daß unsere gewöhnliche Logik protestiert. Diese sagt: „Da nun einmal die Empfindungen gelb und rot heute als Zusammensetzung in die des Orange eingehen, gingen sie immer darin ein, selbst wenn es eine Zeit gegeben hat, wo keine der beiden wirklich existierte, sie waren dann virtuell darin vorhanden.“ Aber das zeigt eben, daß unsere gewöhnliche Logik eine retrospektive Logik ist. Sie kann es nicht lassen, in die Vergangenheit als sog. Möglichkeiten oder Virtualitäten die gegenwärtigen Wirklichkeiten zurückzuprojizieren, so daß dasjenige, was jetzt in ihren Augen zusammengesetzt ist, es auch immer gewesen sein soll. Sie gibt nicht zu, daß ein einfacher unteilbarer Zustand, wenn auch sich selbst gleichbleibend, ein zusammengesetzter Zustand werden kann und zwar allein dadurch, daß die Entwicklung neue Gesichtspunkte schafft, in die man ihn geistig auflösen kann. Sie will nicht glauben, daß, wenn diese Elemente nicht als Wirklichkeiten aufgetaucht wären, sie auch nicht vorher als Möglichkeiten existiert hätten, da die Möglichkeit einer Sache nur immer die Spiegelung der einmal aufgetauchten Wirklichkeit in eine unbestimmte Vergangenheit bedeutet (außer dem Fall, wo diese Sache nur eine ganz mechanische Gruppierung präexistierender Elemente ist). Wenn sie unter der Form des Möglichen alles, was in der Gegenwart an Wirklichkeit auftaucht, in die Vergangenheit zurückschiebt, so liegt das daran, daß sie nicht zugeben will, daß irgend etwas neu auftaucht, daß irgend etwas geschaffen wird, daß die Zeit eine wirksame Kraft ist. In einer neuen Form oder einer neuen Qualität sieht sie nur eine Neugruppierung alter Elemente, niemals etwas absolut Neues. Jede Vielheit löst sich für sie in eine bestimmte Anzahl von Einheiten auf. Sie erkennt nicht die Idee einer unbestimmten Vielheit oder gar einer ungeteilten Vielheit an, die rein intensiver oder qualitativer Art ist, die eine unbegrenzt wachsende Zahl von Elementen in sich einschließt in demselben Maße, wie in der Welt die neuen Gesichtspunkte auftauchen, von denen aus man sie betrachten kann, Es kommt sicherlich nicht in Frage, auf diese Logik zu verzichten, noch auch sich gegen sie zu empören, aber man muß sie erweitern, geschmeidiger machen und einer Dauer anpassen, in der das Neue unaufhörlich hervorsprudelt, und die Entwicklung eine schöpferische ist.
Das war vorzüglich die Richtung, die wir einschlugen. Viele andere eröffneten sich vor uns und um uns herum von dem Zentrum aus, in dem wir unseren Standpunkt genommen hatten, um die reine Dauer wieder zu erfassen. Aber wir schlugen diese Richtung vorzugsweise ein, weil wir, um unsere Methode zu erproben, als erstes das Problem der Freiheit gewählt hatten. Gerade dadurch versetzten wir uns ganz in den Fluß des inneren Lebens, von dem die Philosophie uns zu oft bloß die erstarrte Oberfläche festzuhalten schien. Waren der Romanschreiber und der Moralist in dieser Richtung nicht viel weiter vorgedrungen als der Philosoph? Vielleicht — aber nur gelegentlich unter dem Druck der Not hatten jene das Hindernis genommen. Keinem war es noch eingefallen, methodisch „auf die Suche nach der verlorenen Zeit“ zu gehen. Wie dem auch sei, wir gaben in dieser Hinsicht in unserem ersten Buch nur Andeutungen, und wir beschränkten uns im zweiten noch auf Anspielungen, als wir den Plan de l’action — in dem die Vergangenheit sich in der Gegenwart zusammenzieht — verglichen mit dem Plan du rêve, in dem sich die Totalität der Vergangenheit unteilbar und unzerstörbar entfaltet. Aber wenn auch das Studium der Seele in concreto an individuellen Beispielen Sache der Literatur ist, so schien uns doch die Aufgabe der Philosophie zu sein, hier die allgemeinen Bedingungen der direkten unmittelbaren Selbstbeobachtung festzustellen. Diese innere Beobachtung wird durch die Denkgewohnheiten, die wir angenommen haben, verfälscht. Die hauptsächlichste Entstellung ist ohne Zweifel diejenige, die das Problem der Freiheit geschaffen hat, ein Pseudoproblem, das aus einer Verwechslung der wahren Dauer mit dem Raum entstanden ist. Aber es gibt noch andere, die denselben Ursprung zu haben scheinen: unsere Seelenzustände scheinen uns zählbar, diese oder jene unter ihnen sollen, in dieser Weise dissoziiert, eine meßbare Intensität haben, jedem von ihnen glauben wir die Worte substituieren zu können, die sie bezeichnen, und die sie dann überdecken, wir schreiben ihnen dann die Festigkeit, die Diskontinuität, die Allgemeinheit der Worte selber zu. Diese Hülle gilt es zu erfassen, um sie zu zerreißen. Aber man wird sie nur erfassen, wenn man zuerst ihre Gestalt und Struktur untersucht, wenn man auch ihre Bestimmung versteht. Sie ist von Natur räumlich, und sie hat eine soziale Bedeutung. Die Räumlichkeit also und in diesem ganz besonderen Sinn auch die Erfordernisse des Gemeinschaftslebens sind hier die wahren Ursachen für die Relativität unserer Erkenntnis. Wenn wir diesen trennenden Schleier entfernen, dann kehren wir zum Unmittelbaren zurück und berühren ein Absolutes, ein Unbedingtes.
Aus diesen ersten Überlegungen gingen Schlußfolgerungen hervor, die glücklicherweise fast banal geworden sind, aber die damals kühn erschienen. Sie forderten den Bruch mit der Assoziations-Psychologie, die, wenn auch nicht als Lehre, so doch als Methode, damals allgemein anerkannt war. Sie verlangten noch einen weiteren Bruch, den wir nur erst andeuteten. Neben der Assoziations-Psychologie gab es den Kantianismus, dessen Einfluß übrigens, oft mit der ersteren verbunden, nicht weniger mächtig und nicht weniger allgemein war. Diejenigen, die den Positivismus eines Comte, oder den Agnostizismus eines Spencer zurückwiesen, wagten nicht, die kantische Auffassung von der Relativität der Erkenntnis zu bestreiten. Kant hatte, so sagte man, bewiesen, daß unser Denken eine Materie bearbeitet, die von vornherein in Raum und Zeit zerstreut ist, und die so ganz speziell auf den Menschen zugeschnitten ist: das sog. „Ding an sich“ entschlüpft uns; um dieses zu erfassen, bedürfte es einer intuitiven Erkenntnisfähigkeit, die wir nicht besitzen. Ganz im Gegensatz dazu ging aus unserer Analyse hervor, daß wenigstens ein Teil der Wirklichkeit, nämlich unsere Person, in ihrer ursprünglichen Reinheit erfaßt werden kann. Hier ist das Material unserer Erkenntnis nicht geschaffen und gleichsam zerbröckelt und entstellt durch eine Art von boshaftem Geist, der danach einen Haufen atomisierter Empfindungen unserem Bewußtsein zu einer künstlichen Synthese dargeboten hätte. Unsere Person erscheint uns, so wie sie ist, in ihrem „An-sich“, sobald wir uns von Denkgewohnheiten freimachen, die wir aus Bequemlichkeit angenommen haben. Aber sollte es nicht ebenso bei anderen Wirklichkeiten sein, vielleicht gar bei jeder? War die „Relativität der Erkenntnis“, die jeden Aufschwung der Metaphysik verhinderte, ursprünglicher und wesentlicher Art? Sollte sie nicht vielmehr zufälliger Art sein und auf einer erworbenen Denkgewohnheit beruhen? Sollte sie nicht ganz einfach daher rühren, daß die Intelligenz Vorstellungsgewohnheiten angenommen hat, die für das praktische Leben notwendig sind: diese Gewohnheiten, auf das Gebiet der Spekulation übertragen, stellen uns einer entstellten und umgemodelten Wirklichkeit gegenüber, die konstruiert ist; aber die Konstruktion zwingt sich uns nicht unausweichbar auf, sie rührt von uns selbst her; was wir selbst gemacht haben, können wir auch wieder auflösen, und dann treten wir in direkten Kontakt mit der Wirklichkeit. Es war also nicht nur die psychologische Theorie des Assoziationismus, die wir beiseite schoben, es war auch, und aus einem analogen Grund, eine allgemeine Philosophie, wie etwa der Kantianismus und alles, was sich damit verband. Beide, die damals in ihren großen Zügen anerkannt waren, erschienen uns als impedimenta, die die Philosophie und die Psychologie am Fortschritt hinderten.
Es blieb also die Aufgabe vorwärtszuschreiten. Es genügte nicht, das Hindernis beiseitezuschieben. Wir machten uns an die Arbeit und gaben uns an das Studium der psychologischen Funktionen, dann der psychophysiologischen Beziehungen, dann an das Studium des Lebens im allgemeinen und suchten dabei immer die direkte Schau, wodurch wir immer Probleme ausschalteten, die nicht die Dinge selber betrafen, sondern ihre Übersetzung in künstliche Begriffe. Wir wollen hier nicht eine Geschichte skizzieren, deren erstes Ergebnis darin bestünde, die äußerste Kompliziertheit einer so einfach erscheinenden Methode aufzuzeigen; wir werden übrigens im nächsten Kapitel kurz noch einmal darauf zurückkommen. Aber da wir damit begonnen haben, daß wir sagten, wir hätten vor allem an die Präzision gedacht, so wollen wir mit dem Hinweis schließen, daß die Präzision unseres Erachtens durch keine andere Methode gewonnen werden kann. Denn die Ungenauigkeit schreibt sich im allgemeinen daher, daß eine Sache durch einen zu unbestimmten Allgemeinbegriff aufgefaßt wird, wobei Sache und Begriff übrigens fix und fertigen Wortschablonen entsprechen. Aber wenn man damit anfängt, die fertigen starren Begriffe zu beseitigen, wenn man sich eine direkte Schau des Wirklichen verschafft, wenn man dann diese Wirklichkeit unterteilt mit Rücksicht auf ihre natürliche Gliederung, so werden diesmal die neuen Begriffe, die man bilden muß, um sich auszudrücken, dem Ding genau auf den Leib zugeschnitten sein: die Ungenauigkeit wird nur entstehen können durch ihre Ausdehnung auf andere Dinge, die sie gleichermaßen in ihrer Allgemeinheit mit umfaßten, aber die für sich studiert werden müssen unter Außerachtlassung dieser Begriffe, wenn man sie ihrerseits wirklich kennen lernen will.
1) Wenn der Kinematograph uns auf der Leinwand die unbeweglichen Momentaufnahmen, die im Film nebeneinandergereiht sind, in Bewegung zeigt, so überträgt er gleichsam mit diesen Momentaufnahmen selber die Bewegung, die sich im Apparate vollzieht. Es gibt hier nur eine ununterbrochene Dynamik der Veränderung, einer Veränderung, die nie ihren Zusammenhang mit sich selbst verliert, die sich endlos aus sich selber weiter gebiert.
2) Über diese Folgen und noch allgemeiner über den Glauben an den retrospektiven Wert des wahren Urteils, über die rückläufige Bewegung der Wahrheit, haben wir uns ausführlicher geäußert in den Vorträgen an der Columbia-Universität in New York im Januar 1913. Wir beschränken uns hier auf einige Hinweise.
3) Die vorliegende Studie ist vor unserem Buch „Les deux sources de la Morale et de la Religion“, in der wir denselben Vergleich entwickelt haben, geschrieben worden.