Читать книгу Astralux - Wo bist du? - Henriette Pascher - Страница 3

1. Jugend

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"Sieh mal an, da kommt ja unsere Geldquelle!"

Hämisch grinsend näherte sich Norbert, der Anführer der vier Peiniger seinem Mitschüler Manuel.

"Na, du Typ eines jämmerlichen Versagers, ich hoffe, du hast diesmal genug Kohle mit. Wenn nicht, du weißt ja, was dann mit dir passiert, nicht wahr?"

Manuel sah noch die üblichen Taschenmesser aufblitzen, doch dies- mal wurde er zum Täter. Blitzschnell brachte er die Pistole in Position und schoss so lange, bis sich keiner der jahrelangen Mobber mehr rührte. Schreiend stoben die Klassenkameraden aus dem Zimmer.

Als Professor Schweinemann den Klassenraum betrat, wurde er eben-falls von dem 14-jährigen bedroht. Da Manuel bisher immer ein ruhiger, unauffälliger und leicht lenkbarer Schüler war, konnte er sich diesen Ausraster nur schwer vorstellen.

"Kommen Sie ja nicht näher, oder ich schieße!"

"Manuel, sei doch vernünftig. Dir ist doch hoffentlich klar, dass dir eventuell eine lebenslange Gefängnisstrafe droht, wenn du hier wahllos Leute über den Haufen schießt."

"Schnauze, das geht Sie gar nichts an. Bisher war Ihnen mein Leben doch scheißegal. Warum auf einmal diese scheinheilige Fürsorge? Oder haben Sie etwa Angst, dass ich Sie auch kalt mache?"

"Aber so kenn ich dich doch gar nicht. Junge, denk an deine Zukunft."

"Damit Sie sehen, dass Sie keinen Einfluss mehr auf mich haben, gebe ich Ihnen einen kleinen Vorgeschmack davon, wie und vor allem wo Sie Ihre Zukunft verbringen werden."

Und schon knallte ein neuer Schuss direkt auf die Geschlechtsteile des Professors. Mit einem Schrei des Entsetzens und des Schmerzes sackte er am Boden zusammen.

"Professorchen, ich bin ja nicht so ein Unmensch wie Sie, ich gebe Ihnen jetzt den Gnadenschuss, einverstanden?"

Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte ihn Professor Schweinemann an und bat demütig, ihn am Leben zu lassen. Aber es war schon zu spät.

Die zweite Kugel durchbohrte direkt sein Herz.

Nachdem Manuel nun alle Quälgeister, die ihm das Leben beinahe rund um die Uhr zur Hölle machten, ins Jenseits katapultiert hatte, ließ er sich von den nun eintreffenden Polizeibeamten - alle vorsorglich in kugelsicheren Anzügen verpackt - widerstandslos festnehmen.

"Na, da werden sich deine Eltern aber freuen, wenn sie erfahren, was sie da für ein Früchtchen großgezogen haben.

"Die brauchen Sie erst gar nicht anzurufen, die hab ich auch kaltgemacht."

"Wie bitte, das ist doch wohl nicht dein Ernst?"

"Wissen Sie, auf ein paar kaputte Typen mehr oder weniger kommt es mir wirklich nicht mehr an."

Sprachlosigkeit machte sich breit. Soviel Zynismus und Abgebrühtheit, aber auf der anderen Seite ein freiwilliges Eingeständnis eines weiteren Mordes war selbst für erfahrene Polizisten, die es auch schon mit mehreren zerstückelten Leichen zu tun hatten, zu viel.

Zwei Beamte fuhren nun zu seinem Elternhaus. Als sich auf ihr Läuten niemand rührte, sperrten sie mit Manuels Schlüssel die Gartentür auf.

Es empfing sie großer, gepflegter Swimmingpool, der von Blumen- und Gemüsebeeten eingerahmt wurde. Im Haus befand sich im Erdgeschoss neben Vorraum, WC und Abstellraum eine Wohnküche, ein geräumiges Wohnzimmer mit Kamin und einer Orgel mit drei Manualen. Dann ging es noch zu einer zu einem Wintergarten umgebauten Terrasse mit vielen exotischen Pflanzen. Erst im Obergeschoß fanden sie neben drei weiteren Zimmer und

zwei luxuriösen Bädern die gesuchten Leichen seiner Eltern. Todesursache bei beiden

Kopfschuß. Wahrscheinlich im Schlaf überrascht.

"Mensch, Andi, ich hab mir immer gewünscht, in so einem wunder-schönen Haus zu leben, und dieser junge Schnösel macht sich mit dieser Wahnsinnstat alles kaputt."

"Der Junge wird schon seine Gründe haben. Uns wird er das sicher nicht erzählen."

Und die hatte er auch. Aber er war weder bereit, seinem Verteidiger noch dem Richter etwas über seine Eltern davon zu erzählen.

"Sie geben also zu, nicht nur vier Mitschüler, Herrn Professor Schweinemann sondern auch ihre Eltern ermordet zu haben. Möchten Sie sich dazu äußern?" fragte ihn der Richter.

"Ich wurde gemobbt und in letzter Zeit musste ich auch Schutzgeld bezahlen, damit sie mich eine Weile in Ruhe ließen. Und was den Herrn Professor Schweinemann betrifft. Er war äußerst ungerecht zu mir. Ein kleines Beispiel: Nur weil mein Nachbar bei einer Klassenarbeit von mir abgeschrieben hat, bekam ich für eine fehlerfreie Arbeit ein genügend."

"Und wie war ihr Verhältnis zu ihren Eltern?"

"Darüber möchte ich keine Auskunft geben."

"Das könnte aber eventuell ihr Strafausmaß mindern."

"Ja, ich weiß, ich möchte aber trotzdem nicht."

"Gut, wie Sie wünschen. Wir werden uns jetzt zur Beratung zurückziehen."

Manuel konnte dem Richter schwer sagen, dass er sich als Kind zu sehr bemuttert und umklammert fühlte. Später hat sich seine Mutter nur noch auf ihre Karriere konzentriert. Seinen Vater hatte er zumindest bis zu seiner Volksschulzeit in guter Erinnerung. Da er Jäger war, nahm er ihn manchmal auch auf Hochsitze mit. Hier gab es einige der seltenen Gelegenheiten, wo er wenigstens beweisen konnte, dass er fähig war, ohne fremde Hilfe hinauf- und hinunter zu klettern. Er durfte dann auf seinem Schoß sitzen und spannenden Märchen lauschen. Zwischendurch tauchten dann am Rande der Lichtung ganz vorsichtig schnuppernd Rehe, Hirsche oder Füchse auf. Hin und wieder verirrten sich auch Hasen direkt in die Schusslinie. Er durfte sie dann auch im Fernrohr ganz nahe betrachten. Aber diese Idylle änderte sich schlagartig mit dem Karriere-Wahnsinn seiner Mutter.Sein Vater begann zu trinken, wurde alkoholabhängig und verlor da-durch auch seinen Job. Alles Lamentieren seiner Mutter, seine Sucht in den Griff zu bekommen und sich wieder einen Job zu suchen gingen ins Leere. Wozu auch, wenn die Frau das Doppelte von ihm verdiente. Anfangs kümmerte er sich wenigstens noch einigermaßen um den Haushalt, aber dann hängte er auch tagsüber in diversen Kneipen ab. Da seine Mutter jetzt zeitmäßig nur mehr Einkauf und Kochen schaffte, musste er sich zusätzlich zu den Hausaufgaben um die Reinigung des Hauses und Gartenbetreuung kümmern. Am Abend mussten sie dann seinen Vater suchen, nach Hause transportieren, von der Urin verseuchter Kleidung befreien, waschen, und für das Bett fertig machen.

"Wir sind zu der einstimmigen Erkenntnis gelangt, dass das Urteil auf lebenslange Haft lautet. Es besteht jedoch die Möglichkeit, wieder die Freiheit zu erlangen, wenn zwei Puzzles mit je fünftausend Teile zusammengesetzt werden. Dann würde das lebenslang in bedingt um-gewandelt werden. Die kleinste Straftat im weiteren Leben wird jedoch die ursprüngliche Haftstrafe sofort wieder aktivieren.

Angeklagter, haben Sie das verstanden?"

"Ja, ich denke schon. Obwohl ich sagen muss, dass ich lebenslang schon sehr hart finde. Ich habe maximal mit zehn Jahren gerechnet."

Manuel war wie betäubt. Sein Verteidiger hat zwar angedeutet, das Höchststrafausmaß könnte durch eine Gesetzesänderung hinaufgesetzt werden, aber dass ihn diese Neuerung schon treffen würde, mit dem hat er nicht gerechnet. Vielleicht hätte es ja was genützt, wenn er die Wahrheit über seine Eltern erzählt hätte. Aber er schämte sich so dermaßen, dass er lieber lebenslange Haft in Kauf nahm. Eigentlich wollte er ja nach seinem zweiten Amoklauf Selbstmord begehen. Er wusste es selbst nicht so genau, warum er es nicht gemacht hatte. War es nur Angst, vor seinem Tod noch schlimme Schmerzen zu erleiden oder eventuell als Krüppel weiterleben zu müssen, weil er es nicht sofort mit einem Schuss schaffte? Außerdem konnte einem ja niemand so genau sagen, ob es ein ewiges Leben gab oder nicht. Und wenn ja, wurde es einem durch Selbstmord verwehrt bzw. landete man dann in der sogenannten Hölle? Zumindest katholische Geistliche behaupteten das. Ob es der tatsächliche Wirklichkeit entsprach, wusste ja niemand. Man konnte nur daran glauben oder nicht. Aber wenn er die Gefangenschaft genauso oder noch unerträglicher als sein bisheriges Leben empfand, konnte er ja auch dort Selbstmord begehen. Oder war vielleicht doch noch ein Funken Hoffnung in ihm, aus seinem Leben etwas Positives herauszuholen? Wenn das wirklich so wäre, dann würde er ja in diesem Leben etwas verpassen. Und was soll dieser Scheiß mit den Puzzles? Das ist doch nur für Kindergarten-Kinder, aber sicher nichts für fast erwachsene Teenager wie ihn.

Aber da sollte er sich gewaltig täuschen. Zuerst einmal nahm er seine Zelle in näheren Augenschein. Zellengenossen dürfte er keine haben, da nur ein Bett vorhanden war. Er war etwas enttäuscht, da er sich ganz gerne mit anderen Gesetzesbrechern unterhalten hätte. Aber wahrscheinlich hatte man Angst, dass er weitere Morde begehen würde. Wenn seine Vermutung stimmte, dann würde er damit die Rollen vertauscht haben. Bisher hatte er immer vor den anderen Angst gehabt. Aber Tatsache war sicher, dass er vom Opfer zum Täter geworden war. Dann gab es da noch einen Tisch mit einem Sessel, ein schmaler Kasten, ein Waschbecken und ein WC. Am Fußende des Bettes stand auf einer Kommode ein kleiner Fernseher. Das war's dann wohl. Ein wenig spartanisch, fand Manuel. Da er ja noch nie ein Gefängnis von innen gesehen hatte und nur sein eigenes Luxusheim kannte, wusste er nicht, dass er in einer Fünf Sterne Zelle gelandet war.

Erst jetzt merkte er das Plakat am Kasten:

Werter Zellenbewohner!

Sollten Sie am Tisch zwei Puzzle-Bilder vorfinden, möchten wir Sie daran erinnern, dass mit Fertigstellung derselben ihre Haftzeit damit vorläufig beendet ist. Es liegt also ganz in Ihrer Entscheidung, wann Sie wieder in Freiheit entlassen werden.

Die Gefängnisleitung

Sollen sich doch andere Gefangene mit diesem Kinderkram auseinander, für ihn war das jedenfalls nichts. Außerdem, was fing er schon mit einer sogenannten Freiheit an, wenn er dann als ehemaliger Strafgefangener so gut wie keine Chance auf einen Job hatte. So gesehen war es vielleicht gar nicht so schlecht, dass es lebenslang bekam.

Der Fernseher erregte da weit mehr Interesse. Er zappte sich zuerst durch einige Sender und blieb schließlich bei RTL hängen. Bei der Serie "Alles, was zählt" ging es ähnlich kaputt zu, wie in seinem eigenem Leben, nur das hier mehr mit verbaler Gewalt agiert wurde. Einige andere Sendungen waren ähnlich destruktiv, bis er auf "Helfer mit Herz" aufmerksam wurde. Hier ging es darum, wie Familien in Notlagen geholfen wurde. Ob es für seinen Fall da auch eine Hilfe gab? Arm waren seine Eltern ja nicht und einen Schicksalsschlag in Form einer schweren Krankheit gab es auch nicht. Aber ist es nicht schlimm genug, den Niedergang seines eigenen Vaters tagtäglich mitansehen zu müssen? Ganz zu schweigen von Tante Elli, ein weiterer dunkler Fleck in seinem Unterbewusstsein. Zuerst konnte er sich bei ihr noch ausweinen, wenn seine Eltern zunehmend immer weniger Zeit für ihn hatten. Sie war so etwas wie eine letzte Vertraute in einer Welt, die zunehmend zu einem Horror-Szenario wurde. Deshalb war es für ihn auch nichts Ungewöhnliches sich im Jacuzzi, das sich seine Eltern zur Entspannung im Keller einbauen ließen, den ganzen Frust von der Seele zu reden. Bis sie eines Tages ganz sanft seinen Penis massierte. Der Rest ergab sich dann wie von selbst. Anfangs empfand er es als recht angenehm, vielleicht auch ein wenig Stolz, dass ihn seine Tante bereits als Mann akzeptierte. Doch nach und nach nahm er immer mehr ihre Falten und ihre aus den Fugen geratene Figur wahr. Er wollte einfach nicht mehr. Das ließ sich Tante Elli natürlich nicht gefallen. So einen jugendlichen Liebhaber bekommt man schließlich nicht alle Tage. Sie drohte ihm damit, dass sie nicht mehr als Gratis-Psychiater zur Verfügung stehen würde. Aber er hatte ja niemanden mehr, mit dem er sein Elend teilen konnte. Es war ihm natürlich schon klar, nichts im Leben war umsonst. Aber musste es ausgerechnet diese Art von Gegenleistung sein? Er hat ihr sogar angeboten, für sie einkaufen oder sonstige Besorgungen zu machen oder ihre Wohnung zu putzen, aber das wollte sie nicht. Er hatte dann noch eine Weile mitgemacht. Bis ihm schließlich eine geniale Idee kam. Er drohte nun ihr, mit ihrer Tochter Sabine dasselbe zu machen, was sie mit ihm gemacht hat. Es war dann eine Weile Ruhe, aber die hielt leider nicht lange an.

Die erste Woche war Manuel komplett fernsehsüchtig. Doch mit der Zeit interessierte ihn diese passive Berieselung immer weniger. Er konnte sich selbst nicht verstehen. Zu Hause hätte er es sich so gewünscht, war aber zeitmäßig nicht möglich. Und jetzt, wo er praktisch rund um die Uhr schauen konnte, ließ die Anziehungskraft immer mehr nach. Sein reger Verstand verlangte immer mehr nach aktiver Betätigung. Immer öfter wanderte sein Blick zu den Puzzles.

Vielleicht war es ja doch nicht so schlecht, sich damit näher zu beschäftigen.

Das erste Bild stellt zentral eine Pyramide dar, im Vordergrund zwei Kamele. Eines davon mit einem farbenprächtigen Reiter und im Hintergrund ein mystisch leuchtenden Planet, der gerade in einem orangerotem Wolkenmeer eintaucht. Manuel fühlte sich geradezu magisch angezogen. Genau jetzt war der richtige Zeitpunkt, das Puzzle-Abenteuer in Angriff zu nehmen. Und das zweite Bild? Ein Eiskristall-Palast. Als er es näher betrachtete, merkte er, dass auf den Schneemauern lauter Eisblumen oder gefrorenes Wasser in Form eines Spinnennetzes hafteten. Ob das nur der Phantasie eines Malers entsprungen war oder ob es das auch in Wirklichkeit gab, wusste Manuel nicht. Tatsache war nur, dass sein Interesse jetzt endgültig geweckt war.

Aber wie beginnen? Er brauchte ja eine Unterlage, auf die er die Puzzles kleben konnte. Also, wenn der Richter und die Gefängnisleitung schon so erpicht waren, von Inhaftierten Bilder anfertigen zu lassen, - warum wohl? - musste das wohl auch irgendwo zu finden sein. Als er seine Zelle etwas genauer unter die Lupe nahm, entdeckte er hinter dem Kasten zwei Korktafeln, ähnlich wie die Pinnwände, aber nur viel größer. Er schätzte 1,5 x 1 Meter. So jetzt fehlte nur noch ein Kleber. Intuitiv zog der die Tischlade auf. Und siehe da, zwei große Uhu-Tuben sprangen ihm da ins Auge. So, nun stand einem fulminanten Beginn wohl nichts mehr im Wege.

Voll Begeisterung öffnete er den ersten Karton. Aber alles, was er fand, waren zwei große Plastiksäcke mit lauter winzigen Teilen. Und, wo war die Beschreibung, wie man diese Dinger möglichst schnell zusammen-setzen konnte? Na ja, eines stand zumindest fest: Kinderspiel war das sicher keines. Er leerte also die zwei Säcke vorsichtig am Tisch aus. Aber auch jetzt war keine Anleitung zu finden. Das war für ihn eine völlig neue Situation. Bisher hatte man ihm immer gesagt, was zu tun und zu lassen war. Jetzt durfte er sich frei entscheiden, ob er das Puzzle zusammensetzen wollte oder nicht. Okay, wenn man es schon machte, dann wäre es zumindest eine nette Geste, eine Erklärung für einen totalen Neuling beizulegen. Er könnte zwar einen anderen Häftling oder den Gefängniswärter um Hilfestellung bitten, aber irgendwie wollte er das nicht. Außerdem ist es ja auch nicht sicher, ob die Ausgesuchten diese Erfahrungswerte besaßen. So blieb also nichts anderes übrig, als selbst einen Weg zu finden.

Als er sich den Chaos-Haufen länger angeschaut hatte, konnte er Farb- und Formen-Unterschiede erkennen. Am besten wird wohl sein, wenn er mit den vier Ecken beginnen würde. Das hieß also, er musste jene Teile finden, wo zwei Seiten im rechten Winkel zusammentrafen ohne Ein- und Ausbuchtungen. Er war richtig stolz auf sich, als er nach langem Suchen, die vier Eckpfeiler "seines" Bildes gefunden hatte. Er hatte noch nie empfunden, dass die Zeit so schnell und vor allem so angenehm vergangen war. Aber das hing wahrscheinlich mit seiner Faszination und dem absolutem Hineintauchen in eine einzige Beschäftigung zusammen.

Fast hätte er heute auf sein Abendessen vergessen. Es gab Linseneintopf. Zu Hause hätte er ein solches "arme Leute Essen" sicher nicht angerührt. Aber hier blieb ihm ja wohl nichts anderes übrig, wenn er nicht verhungern wollte. Ja, okay, so übel schmeckte es eigentlich gar

nicht. Zumindest machte es satt.

Am nächsten Tag kündigte ihm der Gefängniswärter einen Besuch an.Nanu, wer sollte ihn denn sehen wollen, wo er doch seine gesamte Familie ausgerottet hatte, damit er endlich Ruhe hatte vor diesen sinn- losen Unterhaltungen. Als er den Besucherraum betrat, wurde ihm regerecht übel. Ach ja, Tante Elli hatte er doch tatsächlich verdrängt. Sie war der letzte Rest seiner kaputten "Familie". Jetzt fragte er sich, warum er sie nicht auch über den Haufen geschossen hatte. Besser wäre es sicher gewesen. Aber jetzt hatte er ja keine Möglichkeit dazu. Schade!

"Hallo, Manuel, ich hoffe, du freust dich, dass ich dich nicht vergessen habe!"

"Ja, natürlich, riesig. Was willst du?"

"Das klingt ja nicht gerade erfreut. Also, ich wollte dir nur mitteilen, ich bin mit Sabine in dein Elternhaus eingezogen."

"Du bist was? Sag, dass das nicht wahr ist!"

Er sprang von seinem Sessel auf und war gerade dabei, sie in einer Art Affekthandlung zu erwürgen. Aber zwei starke Arme des Gefängnis-wärters verhinderten gerade noch rechtzeitig einen weiteren Mord.

"Meine Güte, Manuel, was ist denn so schlimm daran? Sei doch froh, dass ich mich darum kümmere. Sonst müsste man einen fremden Mieter nehmen oder das Haus überhaupt verkaufen. Das wirst du doch nicht wollen, oder?"

Aufgrund der eisernen Arme, die ihn nach wie vor festhielten, hat sich Manuel etwas beruhigt.

"Tante Elli, soll ich dir mal sagen, was ich denke? Dir geht es doch nur darum, dass du bei deinen Leuten angeben kannst, in welch chicen Haus du jetzt wohnst. Mach doch, was du willst, ist mir scheißegal. Sollte ich je wieder aus diesem Knast herauskommen, werde ich in dieses verdammte Haus sowieso nicht einziehen."

"Ich seh schon, du bist heute nicht gerade gut gelaunt."

"Das wundert dich, nach all dem, was zwischen uns vorgefallen ist?"

"Es wird wohl das Beste sein, wenn ich ein anderes Mal wieder komme."

Fast fluchtartig verließ Tante Elli den Besucherraum.

"Und solltest du nochmals hier auftauchen, werde ich dich sicher nicht empfangen. Kannst schon mal einen Besuch in der Hölle machen, dort wirst du sowieso eines Tages landen."

Manuel war so aufgewühlt, dass er die darauf folgende Nacht nur sehr schlecht schlief. Und auch noch viele Wochen danach wurde er nicht nur in der Nacht, sondern auch tagsüber von Alpträumen gequält, in denen er die vielfachen Vergewaltigungen immer wieder neu durchmachen musste. Er musste mit jemanden darüber reden, sonst würde er innerlich zerplatzen. Er ging im Geiste seine neuen Bekanntschaften durch. Am besten würde sich wohl sein Bildungs-Mentor eignen. Auch wenn er für seine Begriffe uralt war. Da er sich ja erst in der achten Schulstufe befand, musste er seine Ausbildung nun im Gefängnis weiterführen. Es war nur schade, dass sich hier keine auch nur an-nähernd in seinem Alter befanden. Aber vielleicht war es ja auch ein Glück, wer weiß das schon so genau. Auf seine bisherigen Mitschüler konnte er sowieso locker verzichten. So hatte er wenigstens die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lehrpersonals. Als sein Mentor ihn das nächste Mal besuchen kam, nahm er all seinen Mut zusammen und versuchte, sein Problem möglichst ohne ausufernde Emotionen anzusprechen.

"Kann ich dich kurz sprechen, auch wenn es nicht meine Ausbildung betrifft?"

"Aber ja, du weißt ja, du kannst mit jedem Problem zu mir kommen."

"Es handelt sich um meine Tante Elli. Sie ist die einzige lebende nähere Verwandte, die ich noch habe. Aus diesem Grund ist sie auch in mein Elternhaus übersiedelt. Im Moment sicher die beste Lösung. Aber wenn ich je die Chance habe, je wieder hier herauszukommen, ich möchte auf gar keinen Fall in das Haus meiner verdorbenen Kindheit einziehen. Zum einem die negativen Erinnerungen an meine Eltern und andererseits wegen Tante Elli. Ich weiß nicht, wie Ich es dir am besten sagen soll. Ich versuch es einmal, vorsichtig auszudrücken. Sie hat mir meine sexuelle Unschuld geraubt. Verstehst du mich?"

"Das heißt also, du hattest den ersten sexuellen Kontakt mit deiner Tante, ist das richtig?"

"Ja genau. Aber nicht nur das. Ich weiß jetzt nicht, ob du mir glaubst. Aber sie zwang mich immer wieder dazu. Sie war damals die einzige Vertraute, die ich für all meine Probleme hatte. Als ich versuchte, mich zu weigern, drohte sie, mir nicht mehr zuzuhören und nicht mehr zuhelfen. Ich hab dann meinerseits angekündigt, dass ich meine Kusine Sabine, also ihre Tochter, vergewaltigen werde. Das hat eine Weile geholfen, aber nicht lange."

"Manuel, das ist ja furchtbar, du musst ja durch die Hölle gegangen sein! So gesehen, kann ich sehr gut verstehen, dass du nie mehr in dein Elternhaus einziehen möchtest."

"Siehst du, und deshalb habe ich mir überlegt, sollte ich noch als Minderjähriger diese Gefängnismauern hinter mich lassen, ob da nicht die Möglichkeit besteht, dass ich von einer netten Familie adoptiert werden kann. Wenn möglich mit anderen Jugendlichen in meinem Alter. Weißt du, ich hab mir immer gewünscht, in einer großen Familie aufzuwachsen, wo man sich gegenseitig hilft und fördert. Und wo sich einer auf den anderen hundert Prozent verlassen kann.

Glaubst du, dass das Wirklichkeit werden könnte?"

"Tja, ich muss schon sagen, du hast einen etwas ungewöhnlichen Wunsch. Aber es zeigt mir, dass du dich nicht aufgegeben hast. Du hast dir auch schon sehr viele Gedanken über deine Zukunft gemacht. Ich denke schon, dass das möglich sein wird. Vor allem war es gut, dass du mir das schon so zeitgerecht gesagt hast. Ich werde also mit dem Gefängnisdirektor sprechen. Ich denke schon, dass sich da etwas machen lassen wird. Ich kann allerdings nicht versprechen, ob deine Idealvorstellung verwirklicht werden können."

"Du glaubst also, mein Wunsch könnte in Erfüllung gehen?"

"Ja, durchaus. Aber hundert Prozent versprechen kann ich es dir nicht."

"Weißt du eigentlich, dass du mein erster richtiger Freund bist. Ja, okay, du könntest vom Alter her sicher mein Vater sein, aber es stört mich nicht."

"Oh, danke für diese Ehre. Ich mag dich auch sehr, Manuel. Weißt du, was ich glaube? Im Grunde genommen hast du einen guten Kern. Du hast in deinem kurzen Leben das Pech gehabt, mit den falschen Leuten zusammen sein zu müssen. Und ich wage sogar zu sagen, dass du in deinem Leben noch etwas Großes leisten wirst."

"Wow, so was Tolles hat mir noch niemand gesagt. Ich bin so froh, dich kennen gelernt zu haben."

"Wenn du weiter so initiativ bist wie bisher, habe ich keine Sorgen, dass du deinen Weg gehen wirst. Und vergiss nicht, regelmäßig an deinen Puzzle-Bildern zu arbeiten. Es werden vielleicht Zeiten kommen, wo du nur ein oder auch gar kein passendes Teil trotz langem Suchen finden wirst. Aber lass dich nicht entmutigen. Nur wenn du weitermachst, wirst du zwei riesige Bilderfertiggestellt zu haben und danach winkt die Freiheit.

zum Ziel kommen. In diesem Fall ist es ja ein doppeltes. Du hast die ungeheure Befriedigung,

Und jetzt muss ich dich leider verlassen, ich habe ja auch noch andere Leute zu betreuen."

"Ja, natürlich, also dann tschüss Klaus, bis zu nächsten Mal!"

Noch nie in seinem kurzem Leben hatte Manuel erlebt, dass ihm ein Mensch soviel positive Energie geben konnte.

Mit Feuereifer machte er sich wieder ans Puzzeln. Diesmal ging es darum, sämtliche Randstücke herauszufiltern. Also alle Teile, die nur auf einer Seite weder eine Ein- noch Ausbuchtung hatten. Diesmal türmte sich schon ein kleines Häufchen vor ihm auf. Wie sollte er da bloß den Anschluss an die vier Ecken finden? Er betrachtete den Chaos-Berg und dann seinen Puzzle-Beginn. Erst jetzt fiel ihm auf, dass jedes Anfangs-Teilchen eine andere Farbschattierung hatte. Das hieß also, er konnte den großen Berg in kleinere unterteilen, was die Suche natürlich gleich einfacher machte. Er unterteilte zuerst in einen blauen und orangen für die Himmel-Anteile und einen braunen für die Bodenanteile. Und innerhalb dieser Farbkategorien gab es hellere und dunklere Schattierungen. Und so waren aus einen großen Chaos-Berg sechs überschaubare Häufchen geworden.

Aber war es mit den Herausforderungen und Problemen, die jeder Mensch zu meistern hatte, nicht ähnlich? Wenn man mehrere Bau-stellen als ein einziges unüberschaubares Konglomerat wahrnimmt, dann kann schon mal Panik ausbrechen. Wie es ja auch bei ihm der Fall war. Aber, was wäre gewesen, wenn er seine anfangs ja nur unangenehmen Situationen in drei überschaubare Gruppen geteilt hätte? Und zwar in Eltern, Schule und Tante. Bei der Schule fiel ihm schon eine andere Lösung ein. Er hätte zum Schuldirektor gehen können. Wenn das ergebnislos verlaufen wäre, gab es dann auch noch den Schulpsychologen oder Schul-Sozialarbeiter. Und eventuell hätten diese auch bei den Eltern und bei der Tante helfen können. Vielleicht wären dann die Morde sogar zu verhindern gewesen? Unangenehmen Zeitgenossen wird er auch in Zukunft immer wieder begegnen. Und von daher war es keine Lösung, weitere Morde zu begehen, noch dazu, wo er dann seiner lebenslängliche Haft sicher nicht mehr entgehen konnte. Obwohl er persönlich eigentlich nichts dagegen hätte, die ganze Welt auszurotten. Okay, vielleicht wäre es doch nicht so eine gute Idee. Weil dann wäre er ja allein, was nicht unbedingt erstrebenswert ist. Aber Spaß beiseite, er hatte den Eindruck, es gab wohl mehr Menschen mit primitiver Geisteshaltung, als solche, die sich und andere in der Entwicklung fördern.

Jetzt hatte sich auch der Gefängnis-Alltag bei ihm eingespielt. Vormittag hieß es die Schulbank drücken, dann gab es Mittagessen, dann ging es für gewöhnlich zum Hofgang, um nicht komplett zu vereinsamen. Aber so toll empfand er es dann auch wieder nicht. Die lieben Mithäftlinge waren ja allesamt ururalt. Was sollte er schon mit diesen Oldies anfangen? Umgekehrt war es offenbar auch das selbe. Keiner von diesen Gruftis versuchte auch nur annähernd mit ihm in Kontakt zu kommen. Was er so von den anderen mitbekam, ging es hier hauptsächlich um einen Erfahrungsaustausch über Einbrüche oder wie man besser Geldbörsen oder andere lukrative Sachen klauen konnte. Also nicht unbedingt Themen, die ihn positiv weiter gebracht hätten. Aber zumindest machte ihn die "frische" Luft und die Bewegung wieder fitter für die Hausaufgaben. Und immer öfter fragte er sich, warum er sich mit Sachen herumquälen musste, die er wahrscheinlich nie in seinem Leben gebrauchen würde. Aber seine Lehrer sagten jedes Mal, dass er noch zu jung wäre, um das beurteilen zu können. Und was war, wenn sie nicht Recht hatten? Mittlerweile hatte er ja schon genügend Erfahrung mit nervigen und unfähigen Erwachsenen gesammelt. Okay, seine grauen Gehirnzellen wurden in Schwung gehalten. Aber wenn das größtenteils sinnloses Zeug war, wurde damit nicht nur unnötig Hirn-Kapazität belegt, die anderweitig besser ausgenutzt werden könnte, sondern es wurde auch wertvolle Lebenszeit vergeudet. Ganz zu schweigen davon, was man alles in dieser Zeit hätte machen können. Man könnte mit Leuten zusammen sein, die einem mit positiver Energie aufluden wie z.B. Klaus oder sich mit so interessanten Sachen beschäftigen wie Puzzle-Bilder zusammen-setzen. Jetzt war es war für ihn schwer vorstellbar, dass er das einst als Kinderkram abgetan hatte. Das Bild hatte nun bereits einen Puzzle-Rahmen bekommen. Die Grundlage war damit gelegt. Jetzt ging es an den Innenausbau. Er hatte auch schon gelernt, sich nicht partout auf ein einzelnes Teilchen zu konzentrieren, wenn es sich absolut nicht finden lassen wollte. Wenn er stattdessen eine markante Ein- oder Ausbuchtung suchte, war er meistens relativ schnell fündig geworden.

Konnte man das Prinzip vielleicht auch auf andere Lebens-Situationen anwenden? In einer Wohnung oder einem Haus gab es mehrere Türen. Viele waren offen, aber ein paar verschlossen. Man wollte aber gerade in einen abgesperrten Raum. Man versuchte verschiedene Schlüssel, die aber alle nicht passten. Auch Klopfen und gegen die Tür treten half nicht. Die Lösung war erst das offene Zimmer daneben. Hier gab es eine weitere offene Tür in den Raum, den man ursprünglich betreten wollte. Aber auf direktem Weg hatte man nur unnütz Zeit und Energie verschwendet.

Manuel bekam nun immer mehr Übung. Im Moment kam er auch sehr flott voran. Er hatte nun die zwei Kamele und den bunten Reiter schon fast fertig, als er deutlich eine Stimme hörte:

"Na, junger Mann, hast du nicht Lust, dir die Pyramide von innen anzuschauen?"

Nanu, hatte der schon Halluzinationen oder hatte der Reiter tatsächlich zu ihm gesprochen? Ja, natürlich will ich, aber mir fehlt das Geld für eine Reise dorthin, dachte er. Aber das genügte schon. Er hatte das Gefühl, dass er sich dem Sog eines unsichtbaren Schlauches, der vom Bild seinen Ausgang nahm, nicht entziehen konnte, und im nächsten Moment befand er sich als Reiter auf dem zweiten Kamel. Es war alles wie auf dem Bild. Sogar der eigenartige Planet, nein der Mond war es nicht, dafür war er zu groß, versank in dem kitschigen Orange.

Heißer Wüstenwind umwehte seinen Körper. Offenbar befand er sich in einer anderen Art von Wirklichkeit.

"Herzlich willkommen, Manuel, ich habe dich schon erwartet. Ich bin beauftragt worden, dir das Innere der Pyramide zu zeigen."

"Wieso weißt du meinen Namen und wer bist du eigentlich?"

"Ich habe dich schon lange beobachtet. Du kannst Roman zu mir sagen. Du bist auserwählt worden, etwas Wichtiges für deine Zukunft zu lernen."

Das war jetzt zwar keine erschöpfende Antwort auf seine Frage. Aber er traute sich nicht, weiter nachzubohren. Er hatte seit einiger Zeit ein brennendes Interesse für Pyramiden entwickelt und er hoffte sehr, dass dieser geheimnisvolle Fremde ihn nicht enttäuschte.

Voller Angst klammerte er sich an den vorderen Höcker seines Kamels, da er ja noch nie auf einem so großen Tier geritten ist. Aber schon bald passte er sich dem schaukelnden Gang seines Wüsten-Taxis an und begann es, so richtig zu genießen. Als sie die Pyramide erreichten, gab es noch eine Extrarunde entlang den vier Seiten. Erst jetzt merkte er, wie riesig dieses Bauwerk tatsächlich war.Roman machte vor der Stahlrohrleiter halt.

"So, Manuel, wir sind da, du kannst absteigen."

"Und wie, wenn ich fragen darf?"

"Du kannst die sportliche Variante nehmen, indem du runterspringst, oder die gemäßigtere, indem du dich mit Hilfe der beiden Höcker halb hinuntergleiten lässt und dann springst."

Nachdem er ja kein Weichei sein wollte, entschied er sich für die sportliche Variante, was er unmittelbar darauf bereute, da er mit seinem rechten Fuß umknickte. Er konnte zwar auftreten, aber es tat höllisch weh. Roman merkte gleich, was los war und zauberte aus seiner Satteltasche eine Salbe und einen Verband.

"Hier, schmier dich damit ein, dann wird es dir besser gehen!"

Dankbar ließ sich Manuel in den Sand fallen und trug das kühle Gel auf seinen angeschwollenen Knöchel auf. Anschließend zog ihm Roman einen Stützverband darüber.

"So, probier jetzt aufzustehen. Du wirst sehen, du hast nur mehr ganz leichte Schmerzen."

Und tatsächlich. Roman hatte Recht. Schließlich musste er ja jetzt die Leiter hochklettern. Ob er das schaffte? Vorsichtig probierte er die ersten paar Stufen. Ja, es funktionierte. Sein erstes großes Abenteuer konnte beginnen. Ganz langsam hangelte er sich nun hoch, bis er die Stahltüre erreichte. Als er sie öffnete, empfing ihn eine Plattform. Vorne gab es einen Aufzug und rechts führte ein Holzrutsche in eine unbekannte Tiefe.

"Roman, wie geht es jetzt weiter? Aufzug oder Rutsche?"

"Das lass ich dir über. Du kannst es dir aussuchen."

Okay, dann Rutsche. Er wollte ja schließlich was erleben. Eigenartig war nur, dass immer stets ein paar Meter vor ihm der Raum in Licht getaucht war. Ansonsten herrschte komplette Dunkelheit. Der letzte Teil ging in eine linke Kurve und dann befand er sich in ebenem Gelände. Aber wo war Roman?. Ah ja, da tauchte er gerade in seinem eigenem Lichtkegel auf. Er hatte es vorgezogen, den Aufzug zu benutzen.

"So, Manuel, du siehst hier vor uns drei Gänge. Der Mittlere ist für uns reserviert. Links wirst du immer wieder Halbkugeln entdecken, die zusammengeklebt eine ganze ergeben. Und rechts werden nur ganze Kugeln rollen."

"Okay, und was hat das zu bedeuten?"

"Das darf ich dir jetzt noch nicht sagen. Das wirst du später erfahren. Folge mir einfach!"

Seine Neugierde war zwar erwacht, aber irgendwie hatte er sich sein Abenteuer anders vorgestellt. Langweilige Kugeln, die mit allen möglichen Materialien zusammengeklebt waren. Angefangen von farblosen bis farbenprächtigen Tixostreifen, Paketklebeband und Maler-Abdeckband bis hin zu Metallklammern war alles vertreten. Sie bewegten sich nur sehr langsam vorwärts, da die Klebematerialen meist nicht sehr gut hielten. Er bemerkte immer wieder, wie zwei Halbkugeln auseinander brachen und sich anschließend lange und oft auch immer wieder vergeblich bemühten einen haltbaren Kleber zu finden. Offenbar war es ja ihre Aufgabe, sich auf diesem Weg weiter zu bewegen. Aber das ging eben nur als ganze Kugel. Er bekam direkt Mitleid mit diesen Halbkugeln, die immer wieder Anläufe nahmen, um endlich wieder eine komplette Einheit zu sein. Manchmal brauchten sie

auch die Hilfe des Vorder- und Hintermannes, um endlich wieder ein Stück rollen zu können, was schließlich auch ihre Bestimmung war.

Ganz anders dagegen die rechte Seite. Hier gab es zwar nicht so viel Verkehr wie auf der linken, dafür hatte er aber den Eindruck, dass sie sich graziös fortbewegten. Und sie strahlten irgendwie eine Freiheit und Unabhängigkeit aus, sofern man das von einer Kugel sagen konnte. Aber vielleicht verbarg sich dahinter ja ganz etwas anders.

Der Weg führte in einer Schneckenlinie immer mehr in das Innere, bis er schließlich in einem großen Rundeau mündete. Zentral beherrschte eine Riesenkugel den Raum. Überall kamen Rohre heraus, an deren Enden sich wieder kleinere Kugeln befanden. Die große ruhte auf fünf kleineren. Von dem ganzen Gebilde ging ein eigenartiges, Leuchten aus. Manuel war total fasziniert. Was war das bloß? So etwas hatte er noch nie gesehen. Aber er traute sich auch nicht zu fragen. Von diesem Wesen ging so viel Majestätisches, Überirdisches, Vollkommenes aus. Aber noch ehe er zum Nachdenken kam, veränderte das geheimnisvolle Etwas seine Gestalt. Ganz langsam verschwanden die Rohre und die kleinen Kugeln in dem großen Gebilde. Das neue Riesengeheimnis rollte allmählich auf Manuel zu und sandte gleichzeitig weiße und violette Lichttropfen aus, so als sollte es ein Willkommens-Gruß sein.

"Hallo Manuel, ich habe dich schon erwartet. Wir werden dir jetzt eine Performance bieten, die du dein ganzes Leben nicht vergessen wirst. Und wenn die Zeit reif ist, und du den Sinn dahinter verstanden hast, hast du den Schlüssel für ein erfülltes Leben gefunden."Kaum waren die letzten Worte verklungen, wurde es komplett dunkel. Zu Beginn zuckten Sternspritzer da und dort auf und verglühten gleich wieder. Das in schwaches violettes Licht getauchte Geheimnis fuhr seine "Füße" und "Hände" wieder aus und damit setzte auch eine Sphärenmusik ein. Das war auch der Beginn der übrigen Darsteller. Wie auf ein unhörbares Kommando strömten alle vollständigen schwarzen Kugeln herein und bildeten einen Kreis rund um das Lichtwesen. Die, die sich nahe der Fußkugeln befanden, wurden ebenfalls teilweise in violettes Licht getaucht, die anderen jedoch blieben schwarz. Und nun begann ein scheinbares Gerangel unter den dunklen, um auch etwas von der Helligkeit abzubekommen. Mit einem Mal sandte der „Atomium“ ähnliche Mittelpunkt Lichtblitze in allen Regenbogenfarben aus, so als ob dieser Streit immer mehr Farbe und Helligkeit hervorlocken würde. Dann begann ein eigenartiger Tanz der Schwarzen, die sich wie von einem Magnet angezogen um die scharten, die etwas violettes Licht behalten konnten. Und so bekamen immer mehr schwarze zumindest violette Flecken. Die Lila-Angesteckten bemühten sich daraufhin soviel Nähe wie möglich zum Mittelpunkt zu bekommen, indem sie um die violetten Kugelfüße regelrecht Tänze aufführten. Und dann kamen auch die Halb-Kugeln ins Spiel. Sie bildeten einen großen Halbkreis um die Szenerie. Anfangs sah es ja noch recht lustig aus, wenn sie von einem Rand zum anderen schaukelten, aber dann erinnerten sie immer mehr an Käfern, die auf den Rücken gefallen sind, und aus eigener Kraft nicht mehr auf die Beine kamen. Aber nun passierte etwas Unerwartetes. Immer mehr von den Schauklern fingen an, die glatte Fläche von innen her aufzufüllen. Diejenigen, die es halboval wie einen Rugby aufgeblasen hatten, schafften es schon, ein bisschen zu rollen. Anfangs noch ein wenig unrund, aber nach und nach immer besser, bis sie mit den normalen vollen Kugeln mithalten konnten. Manuel hatte den Eindruck, dass sie richtig glücklich darüber waren. Aber konnten Kugeln denn Gefühle haben? Vielleicht waren es nur verzauberte Lebewesen oder am Ende gar Menschen? Diejenigen, die erst später zur vollen Kugel wurden, stupsten ihre ehemalige zweite Hälfte immer wieder an, so als wollten sie Hilfestellung geben. Und wenn es dann so weit war, vollführten sie einen wahren Freudentanz. Sie klackten zusammen wie zwei Magnete, rissen sich wieder auseinander und veranstalteten zwischen den vielen Säulen Versteck- und Fangspiele. Manchmal passierte es auch, dass die ehemaligen Hälften zu einer einzigen doppelt großen Kugel verschmolzen. Wenn sie sich dann trennten, bekamen sie wieder die ursprüngliche Größe. Begegnungen mit violett eingefärbten hatten positive Auswirkungen auf die Benachteiligten. Sie bekamen auch etwas von dieser hübschen Farbe ab.

Zum Abschluss dieser Vorstellung passierte nun etwas Unerwartetes. Mit einem Mal hatte Manuel das Gefühl, dass alle Mitwirkenden so leicht wie Luftballone wurden. Jeder hatte plötzlich eine andere Farbe bekommen und sie vollführen einen Lufttanz nach genau einstudierter Choreographie. Die Musik wurde allmählich leiser, die Tanzenden bewegten sich immer mehr Richtung Boden, die schillernden Farben wurden blasser, bis nur noch schwarz übrig blieb. Die Lichtblitze vom Mittelpunkt wurden immer seltener, bis schließlich der ganze Raum in vollständige Dunkelheit gehüllt war.

Manuel verspürte wieder diesen eigenartigen Sog und ehe noch Angst aufkommen konnte, befand er sich wieder in seiner Gefängniszelle. Er starrte auf sein Puzzle-Bild und war sich nicht sicher, ob er das nicht alles geträumt hatte. Vielleicht war er ja vor Erschöpfung

eingeschlafen. Aber da erinnerte er sich, beim Sprung vom Kamel hatte er sich ja den Knöchel verstaucht. Er schaute sich seinen rechten Fuß an und da war sie noch, die Bandage, die ihm Roman angelegt hatte. Also konnte es kein Traum gewesen sein. Eigentlich hatte er

Glück im Unglück gehabt. Denn was wäre gewesen, wenn er sich den Fuß gebrochen hätte? Wer hätte ihm denn schon geglaubt, dass er in einem Phantasieland gewesen ist. Er hätte irgend etwas erfinden müssen, wobei natürlich auch hier keine Gewähr gegeben ist, ob man ihm geglaubt hätte. Der Verband musste natürlich so schnell wie möglich verschwinden. Er verstaute ihn im hintersten Winkel im Kasten und hoffte, dass er deswegen keine unangenehmen Fragen über sich ergehen lassen musste. Aber andererseits, wer sollte da schon hineinschauen. Und wenn, konnte er immer noch sagen, er hatte sich schon öfter den Knöchel verstaucht und diese Binde zur Vorsicht gleich mitgenommen.

Aber was hatte es mit dieser Show wirklich auf sich? Was sollte er mit Kugeln, Halbkugeln und diesem eigenartigem Atomium anfangen? Hatte ihm sein Unterbewusstsein einen Streich gespielt? Viele Fragen, auf die er keine Antwort wusste.

Ein Traum war es ja offenbar nicht, sonst wäre der Beweis der Bandage und seines noch schmerzenden Fußes nicht vorhanden. Egal, wie auch immer. Wenn das wirklich eine Bedeutung für sein Leben haben sollte, wird er später sicher noch dahinter kommen.

Er hatte im Moment andere Sorgen. In Deutsch musste er eine Kurzgeschichte schreiben. Einziger Anhaltspunkt: Der Beginn: Ein abgefahrener Zug, von dem nur die roten Schlusslichter zu sehen waren. Stundenlang stellte er sich vor, wie er persönlich dort am Bahnsteig stand und dem Waggon nachstarrte. Aber es kam nichts. Er hatte es sogar mit einer Zeichnung versucht. Aber auch das half nichts. Da er mit Phantasie nicht gerade gesegnet war, blieb offenbar nur noch ein Ausweg. Das Internet! Er googelte mit "Kurzgeschichte Zug" und wurde tatsächlich fündig. Damit man ihm nicht gleich seinen Ideenklau bemerkte, versuchte er den Inhalt mit eigenen Worten wiederzugeben. Aber leider ohne Erfolg. Er bekam die Arbeit mit nichtgenügend zurück, da zahllose Rechtschreibfehler seine Geschichte verunzierten. Aber, was ihn noch mehr störte, war der Vermerk: Sollte die Idee aus dem Internet kopiert sein, dann bedeutet das einen Diebstahl geistigen Eigentums, was einen Eigentumsdelikt darstellt. Immerhin zeigte er ja Phantasie mit der eigenen Wiedergabe des Textes. Und wozu den Scheiß Rechtschreibung, wo man am PC doch das Korrekturprogramm einstellen konnte. Er fühlte sich total ungerecht behandelt. Er fragte sich, warum dieser Ideenfindung überhaupt soviel Bedeutung beigemessen wurde. Da er nicht die Absicht hatte, Schriftsteller zu werden, weil er sich in dieser Hinsicht völlig unbegabt fühlte, warum musste er dann mit diesen Unnötigkeit seine wertvolle Zeit vergeuden, die er doch wesentlich besser für seine Puzzle-Tätigkeit verwenden konnte.

Er vertiefte sich gerade wieder in seine Pyramide, als er immer nervöser wurde, da ihm sein letztes braunes Teilchen fehlte. Er hatte nun auch die restlichen Haufen schon mehrmals durch gesichtet, aber es ließ sich einfach nicht finden. Er fing schon vor Aufregung zu schwitzen an, schwer zu sagen, weil er sich immer mehr als Baumeister der realen mystischen Bauwerke fühlte oder weil er Angst hatte, das Bild nicht fertigstellen zu können. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Er wusste mittlerweile, dass, wenn auch nur ein Puzzle fehle, er jegliche Chance auf Freiheit verwirkt hatte. Aber was ist, wenn er gar nicht Schuld war, weil das Teilchen ursprünglich nicht eingepackt war? Das müsste natürlich noch geklärt werden. Aber wenn das so wäre, wie sollte er das beweisen?

"Mach dich jetzt bloß nicht fertig!" versuchte sich Manuel selbst zu beruhigen. "Irgendwo musst du doch sein! Zeig mir doch, wo du dich versteckst!"

In dem Moment klopfte es an seine Zellentür.

"Manuel, Sie haben Besuch!"

"Nein, nicht schon wieder meine Tante Elli!"

"Glaub ich eher nicht, es ist ein junges Mädchen, eher in ihrem Alter!"

Der Gefängniswärter zwinkerte mit dem Auge, so als ob er andeuten wollte, er freue sich mit ihm, dass nun endlich seine Freundin käme.

Als Manuel den Besucherraum betrat, traute er seinen Augen nicht. Was wollte seine Kusine eigentlich von ihm? Irgendwie verhieß das nichts Gutes. Und er sollte Recht behalten.

"Hallo Sabine, was verschafft mir die Ehre deines Besuches?"

"Ich wollte dir eigentlich nur mitteilen, dass ich von zu Hause in eine WG gezogen bin, da meine Mutter zur Zeit völlig durchdreht."

"Was meinst du damit genau?"

"Na ja, ich weiß nicht wie ich dir das sagen soll. Sie hat jetzt im Haus so eine Art Swinger-Klub eingerichtet."

"Und, was interessiert mich das, was meine Scheiß-Tante so treibt!"

"Dass sie scheiße ist, gebe ich dir recht. Aber seit dieser Club besteht, kümmert sie sich auch nicht mehr um den Haushalt."

"Es wird dir sicher nicht schaden, wenn du auch mit anpackst!"

"Nur nicht frech werden, mein kleiner Cousin. Ich hab wirklich keine Lust, den Dreck, den ihre Lover verursachen, wegzuputzen. Abgesehen davon wurde ich von den sexuellen Lustschreien, mal rechts, mal links, ständig aus dem Schlaf gerissen."

"Aber Tante Elli ist doch geschieden. Ich hab bis jetzt gedacht, ihr wohnt zu zweit dort. Und überhaupt, wenn sie schon einen Freund hat, genügt ihr einer nicht mehr?"

"Leider nein. Mama hat sich zu einem männersüchtigen Sexmonster entwickelt. Was glaubst du, warum ich ausgezogen bin? Widerlich. Es ist einfach zum Kotzen. Aber das ist nicht der eigentliche Grund, warum ich hier bin. Also, wenn es dir nicht gleichgültig ist, dass dein Elternhaus zu einer Hurenbude verkommt, würde ich mich an deiner Stelle um einen anderen Mieter umschauen."

Die edle Absicht, ihrem Cousin helfen zu wollen, entsprach jedoch nicht ganz der Wahrheit. Eigentlich hatte sie nur eines im Sinn: Rache an ihrer Mutter. Wenn sie sich schon eine neue Bleibe suchen musste, war es nur gerecht, wenn auch ihre Mutter wieder von vorne anfangen musste. Und der Swinger-Klub wird dann sicher auch nicht mehr so leicht zu verwirklichen sein.

"Das ist ja richtig gruselig, was du da schilderst. Jedenfalls danke, für deine Information."

Es schien fast so, als ob das nächste Problem, jetzt noch am Horizont, wie eine Riesenwelle auf ihn zurollte. Und das blöde Gelabbere vom Pfarrer in der Religionsstunde, als er die Schule noch in Freiheit besuchte, die Familie sei das wertvollste Gut auf dieser Welt, das man sich nicht verscherzen sollte, entpuppte sich auch immer mehr als handfeste Lüge. Oder gehörte er bloß zu einer Minderheit, die dieses Pech trafen? Das war eher unwahrscheinlich. Die hohe Gewaltbereit-schafft, die er bisher bei gleichaltrigen Schulkollegen erlebt hatte, ließ darauf schließen, dass sie offenbar zu Hause ebenfalls nicht den Rück-halt bekamen, den sie brauchten, um ihre eigenen Probleme zu lösen. Womöglich erlebten sie mit ihren Eltern ähnliches wie er mit seiner Familie oder waren noch unglücklicher als er. Aber solche Menschen ins Jenseits zu befördern, wie er es getan hatte, zog eine Menge anderer Schwierigkeiten nach sich.

Astralux - Wo bist du?

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