Читать книгу Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft - Hepp Andreas - Страница 7
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
ОглавлениеWir leben nicht in der digitalen Gesellschaft. Wir sind aber auf dem Weg dahin. Diese beiden Sätze mögen zu Beginn eines Buches mit dem Thema ›digitale Gesellschaft‹ überraschen. Sie sollen aber signalisieren, dass wir es bei dem, was unter dem Begriff der digitalen Gesellschaft verhandelt wird, mit einem weitaus komplexeren Zusammenhang zu tun haben, als es gemeinhin den Anschein hat. Was ist die digitale Gesellschaft? Diese Frage ist leicht gestellt. Ungleich schwieriger ist es, sie zu beantworten.
Befasst man sich näher mit dem Begriff ›digitale Gesellschaft‹, so stellt man fest, dass er seit nunmehr mindestens einem Jahrzehnt so etwas wie eine Chiffre zu sein scheint: eine Chiffre für eine Gesellschaft, in der digitale Medien und Infrastrukturen eine herausgehobene Rolle spielen. Betrachtet man alleine die Buchpublikationen im deutschsprachigen Raum, die ›digitale Gesellschaft‹ in ihrem Titel tragen, zeigt sich das Spektrum, mit dem man es zu tun hat: Man findet historische Bände, die die Wege in die digitale Gesellschaft (2018) aufzeigen, Sammelbände, die die Politik in der digitalen Gesellschaft (2019) reflektieren, Bücher zur Netzpolitik (BECKEDAHL/LÜKE 2012), Kommunikationspolitik (2015) und Partizipationskultur (2014) der digitalen Gesellschaft oder ganze Entwürfe einer Theorie der digitalen Gesellschaft (NASSEHI 2019). Die verbindende Linie zwischen so unterschiedlichen Publikationen ist, dass sie unter digitaler Gesellschaft eine Gesellschaft verstehen, die auf digitalen Medien und ihren Infrastrukturen basiert. Unterschiede gibt es dann in den Perspektiven und Zäsuren. Beispielsweise lässt sich argumentieren, dass die moderne Gesellschaft bereits seit ihren Anfängen verschiedene Probleme aufgeworfen hat, deren »Lösung« (NASSEHI 2019: 12) die heutige Digitalisierung ist. Die digitale Gesellschaft ist in einer solchen Perspektive weit älter als die digitalen Medien selbst. Oder man bringt – wesentlich dichter an unserem Alltagsverständnis – die digitale Gesellschaft mit der schrittweisen »Durchdringung« (BÖSCH 2018: 10) der Gesellschaft mit Computertechnologien in Verbindung. Man hat es dann mit einem Prozess zu tun, der in den 1950er- und 1960er-Jahren begann.
Ich möchte in diesem Buch von einem Verständnis der digitalen Gesellschaft als einer auf digitalen Medien und ihren Infrastrukturen beruhenden Gesellschaft ausgehen. Mein Kernargument dabei ist, dass wir – auch wenn es die oben genannten Publikationen suggerieren – noch nicht in einer solchen Gesellschaft leben, uns aber auf dem Weg dorthin befinden. Es geht mir also um ein Prozessargument: Will man wirklich verstehen, was die entstehende digitale Gesellschaft ausmacht, sollte man sich näher mit dem gegenwärtigen Prozess ihres Entstehens befassen. Dies ist nicht unbedingt leicht, befinden wir uns doch inmitten dieses Prozesses. Es handelt sich bei ihm um eine vielschichtige Refiguration der Gesellschaft, die gleichwohl nicht einfach nur auf die jüngsten digitalen Medien verweist, sondern im Zusammenhang der Transformation der Gesellschaft mit und durch Medien insgesamt zu sehen ist.
Die Corona-Pandemie, wie wir sie alle 2020 und 2021 erlebten, ist ein gutes Beispiel für dieses Argument. Zuerst einmal führt uns die Pandemie vor Augen, dass wir gerade nicht bereits in einer digitalen Gesellschaft leben: Egal, ob man an das eigene Arbeiten, die Schule und Universität, die öffentliche Verwaltung oder die Organisation privater Unternehmen denkt – der Druck, unter Pandemie-Bedingungen viel mehr als bisher ›online‹ zu realisieren, hat exemplarisch gezeigt, dass dies trotz der von der Politik immer wieder proklamierten Digitalisierungsstrategien nicht so einfach möglich ist. Wären wir wirklich schon in einer digitalen Gesellschaft, in der digitale Medien und Infrastrukturen wirklich die Basis jeglicher sozialen Praktiken sind, hätten wir mit der Pandemie ganz anders umgehen können als in unseren heutigen Gesellschaften, die sich mitten auf dem Weg dahin befinden. Dennoch waren aber elektronische und digitale Medien zentral für die Art und Weise, wie wir diese Pandemie sozial erfahren haben und wie wir mit ihr umgegangen sind.
Es lassen sich hier zumindest vier Punkte ausmachen. Erstens haben wir die Pandemie von Beginn an auf der Basis von medienvermittelten Erwartungen erfahren. Filme und Serien, die gefährliche Viren, deren rasche Verbreitung und das Kämpfen der Menschheit mit diesen zum Gegenstand haben, sind mindestens seit den 1970er-Jahren populär. Und für diejenigen, die sie noch nicht kannten, waren sie nach Ausbruch von Covid-19 über die verschiedenen digitalen Plattformen leicht verfügbar. Vor diesem Hintergrund haben wir uns der Pandemie von bestehenden medienvermittelten Skripten dazu, was ›passieren kann‹ und ›wie man damit umgehen muss‹, aus angenähert. Zweitens haben wir eine medienvermittelte Erfahrung der Pandemie: Was wir über die Pandemie wissen, wurde uns über die Medien vermittelt, wobei hier der in Teilen automatisierte Datenjournalismus – die fortlaufende visuelle Aufbereitung der letzten Corona-Zahlen (Infektionen, Tote, Impfungen) – phasenweise eine erhebliche Rolle gespielt hat. Drittens haben wir es mit einer fortlaufenden medienvermittelten Analyse des Pandemieverlaufs zu tun. Damit ist gemeint, dass insbesondere digitale Medien und deren Infrastrukturen dazu eingesetzt werden, ›Daten‹ darüber zu gewinnen, wie Menschen mit der Pandemie umgehen. Beispiele dafür sind die Analysen zur Mobilität der Menschen während des Lockdowns anhand von Login-Daten ihrer Mobiltelefone oder verschiedene mathematische Modellierungen möglicher Pandemieverläufe anhand unterschiedlicher anderer digitaler Daten. Viertens schließlich waren wir immer wieder mit der Idee einer medienvermittelten Lösung einzelner Probleme der Pandemie konfrontiert. Insbesondere digitale Medien sind hier zu nennen, wenn beispielsweise zu Beginn der Pandemie die Politik eine Covid-App als zentrale Lösungsstrategie imaginierte, wenn digitale Verkaufs-, Vermittlungs- und Präsentationsplattformen als Lösung gesehen wurden, um einen Zusammenbruch von lokaler Wirtschaft, Kultur- und Veranstaltungsbranche zu verhindern, oder wenn das Homeoffice nur durch spezifische Plattformen und Videokonferenzsysteme möglich war. In all diesen Fällen wurden erhebliche Teile der ›Lösungen‹ aus dem Silicon Valley eingekauft und haben Unternehmen dort um die Faktoren reicher gemacht, wie Menschen durch die Pandemie in Deutschland ärmer wurden. Ungleichheiten der entstehenden digitalen Gesellschaft wurden durch die Pandemie nicht nur für alle ersichtlich, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit weiter verschärft.
Aus Sicht der Kommunikations- und Medienforschung verwundert all dies kaum. Seit Längerem wird zu der Frage geforscht, wie sich Kultur und Gesellschaft mit dem Wandel von Medien und Kommunikation ändern – und digitale Medien und deren Infrastrukturen sind nur Teil der letzten Stufe eines lang anhaltenden Wandels. Dieser Prozess der zunehmenden Durchdringung von Gesellschaft mit technischen Kommunikationsmedien wird als ›Mediatisierung‹ bezeichnet und hat eine lange Geschichte. So können wir uns beispielsweise moderne Nationalstaaten ohne mechanische und elektronische Massenmedien wie Druckmedien und Rundfunk nicht vorstellen. Erst diese machten es möglich, dass sich eine große Zahl von Menschen zu so etwas wie einer Nation ›zugehörig‹ fühlte. Oder anders formuliert: Die Nation wurde mit diesen und durch diese Medien erst »erfunden« (ANDERSON 1996: 1). Und auch unsere heutigen, hochgradig differenzierten Gesellschaften sind ohne die gegenwärtigen Medien – wie sie in Endgeräten wie dem Smartphone, Laptop oder Tablet greifbar werden – nicht vorstellbar. Weil diese digitalen Medien und Infrastrukturen unsere heutigen Gesellschaften umfassend durchdringen, spricht man hier von einer tiefgreifenden Mediatisierung – im Englischen ›deep mediatization‹, ähnlich wie auch ›deep learning‹ oder ›deep analytics‹ für verschiedene computerbasierte Verfahren des maschinellen Lernens oder der automatisierten Datenanalyse.
Das Kernargument dieses im englischen Original unter dem Titel Deep Mediatization erschienenen Buches ist, dass wir uns mit dem Prozess der tiefgreifenden Mediatisierung auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft befinden. Wenn wir die digitale Gesellschaft für uns alle auf eine produktive Weise gestalten wollen, ist es zuerst einmal notwendig, diese Transformation – die Refiguration von Gesellschaft mit digitalen Medien und deren Infrastrukturen – zu verstehen. Hierzu möchte ich in diesem Buch das Rüstzeug vermitteln. Bei der Übersetzung des englischen Buches ins Deutsche – die während des zweiten Lockdowns der Corona-Pandemie entstand – habe ich an einigen Stellen zusätzliche Erläuterungen, Beispiele und Literaturhinweise eingefügt, die mir für ein deutschsprachiges Publikum wichtig erschienen. Im Kern ist die deutsche Übersetzung aber identisch mit der englischen Originalausgabe.
Ich möchte dieses Buch meinem Sohn Levi Daniel Hepp widmen, der selbst zum Studium auszog, als ich die letzten Korrekturen am Original in englischer Sprache vornahm. Meine Hoffnung ist, dass zumindest einige der Gedanken, die ich formuliert habe, für ihn anregend sein werden.
Danken möchte ich vor allem meiner Frau Beate C. Koehler für die vielen Ermutigungen und Unterstützungen, die ich erfahren habe, sowie für ihre Begleitung bei Gastprofessuren, Auslandsaufenthalten und diversen Auslandsreisen. Ohne ihre Liebe, Akzeptanz, Unterstützung und Hilfe wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.
Dieses Buch ist das Ergebnis einer umfangreichen Forschungsarbeit, die zu einem großen Teil in Zusammenarbeit mit Kolleg:innen durchgeführt wurde, denen ich an dieser Stelle ebenfalls danken möchte. Der Ansatz, der meiner Argumentation zugrunde liegt, wurde in vier wissenschaftlichen Kontexten entwickelt. Dies ist erstens die gemeinsame Arbeit mit Nick Couldry zum Themenfeld der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit, deren Ergebnis u.a. das Buch The mediated construction of reality ist. Ich möchte Nick für die mehr als zehnjährige Zusammenarbeit und für die Möglichkeit danken, unsere gemeinsamen Ideen weiterzuentwickeln. Der zweite Kontext ist der Forschungsverbund ›Kommunikative Figurationen‹, in dem wir die medienbedingte Refiguration der Gesellschaft empirisch erforschen. Ich danke allen Beteiligten, insbesondere Andreas Breiter, Uwe Hasebrink, Leif Kramp und vor allem Wiebke Loosen für die anregende Arbeit in unseren gemeinsamen Projekten, die mir immer wieder neue Themenfelder erschlossen hat. Wichtig war hier für mich – neben der gemeinsamen theoretischen Arbeit – vor allem die Forschung zu Pioniergemeinschaften und zum Pionierjournalismus. Als dritter Kontext ist das DFG-Schwerpunktprogramm ›Mediatisierte Welten‹ zu nennen, in dem wir sechs Jahre lang die Mediatisierung verschiedener gesellschaftlicher Domänen untersucht haben. Ich möchte mich bei allen Mitgliedern dieses Programms für die gemeinsame Arbeit und die vielen anregenden Diskussionen bedanken, insbesondere bei Ronald Hitzler, Friedrich Krotz, Michaela Pfadenhauer und all den ›jungen Wilden‹, die schon früh Fragen zur Datafizierung aufgeworfen haben. Viertens basiert dieses Buch auf mehr als 15 Jahren empirischer Forschung zur Mediatisierung am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) der Universität Bremen. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Kolleg:innen für die konstruktive und anregende Zusammenarbeit über so viele Jahre hinweg bedanken, insbesondere bei den Mitgliedern meines Labs ›Mediatisierung und Globalisierung‹, mit denen ich auch frühere Versionen dieses Buches diskutiert habe: Alessandro Belli, Susan Benz, Matthias Berg (der inzwischen am Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering arbeitet), Julia Gantenberg, Stephan Görland, Andrea Grahl, Katharina Heitmann, Marco Höhn (der mittlerweile leider verstorben ist), Florian Hohmann, Sigrid Kannengießer, Heiko Kirschner, Leif Kramp, Hendrik Kühn, Anke Offerhaus, Cindy Roitsch und Anne Schmitz.
Darüber hinaus habe ich in diesem Buch verschiedene Anregungen aus Forschungsaufenthalten und Konferenzen aufgegriffen, für die ich mich ausdrücklich bedanken möchte. Kapitel 3 dieses Buches ist während einer Gastprofessur an der Université Paris 2 Panthéon-Assas entstanden. In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei meinen dortigen Kolleg:innen bedanken, insbesondere bei Tristan Mattelart, ohne den mein Aufenthalt nicht möglich gewesen wäre und der mir sehr konstruktives Feedback während meiner Zeit dort gab. Die Kapitel 5 und 6 habe ich geschrieben, als ich Gastprofessor am Department of Media and Communications der London School of Economics and Political Science war. Auch hier möchte ich mich bei meinen dortigen Kolleg:innen bedanken, insbesondere bei Bart Cammaerts, Nick Couldry, Sonia Livingstone und Robin Mansell – nicht nur dafür, dass sie mir den Aufenthalt ermöglicht haben, sondern auch für die Anregungen, die sie in vielen Gesprächen gegeben haben (und die vielen schönen Abende in und um London). In die deutsche Übersetzung sind einige Hinweise eingeflossen, die ich während eines Gastaufenthalts am Department of Communication der Stanford University erhalten habe. Hier danke ich insbesondere Fred Turner, dass er den Aufenthalt möglich gemacht hat – sowie für die Anregungen, die er mir gab. Darüber hinaus konnte ich Teile des Manuskripts dieses Buches auf vielen Konferenzen und Workshops vorstellen, teilweise als Keynotes, teilweise als Panel Papers. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich großzügig eingeladen haben, bei den Teilnehmer:innen der Tagungen und Workshops für die vielen ausführlichen Diskussionen und bei den anonymen Gutachter:innen für die Hinweise, die ich erhalten habe. Ein großer Dank geht auch an die Sektion Mediatization der European Communication Research and Education Association (ECREA), die seit vielen Jahren eine perfekte Heimat bietet, um Fragen der Mediatisierung zu diskutieren.
Ich möchte mich bei Göran Bolin, Nick Couldry, Knut Lundby, Wiebke Loosen und Kim Schrøder für ihre sehr hilfreichen Kommentare zum ersten Entwurf dieses Buches bedanken. Ihre Hinweise auf Unschärfen in der Argumentation, fehlende Beispiele und Verweise sowie reine Denkfehler ermöglichten es mir, das Manuskript weiter zu verbessern.
Eine wesentliche Hilfe bei der Fertigstellung des englischen Manuskripts waren verschiedene studentische Hilfskräfte. Ich möchte Jeanette Asmuss, Linda Siegel und Kian Reiling für ihre Besuche in der Bibliothek, ihre Visualisierungen der Daten und ihr Korrekturlesen danken. Alle drei haben mich bei meiner Arbeit maßgeblich unterstützt. Ein ganz besonderer Dank geht an Marc Kushin, der mir bei der sprachlichen Überarbeitung meines englischen Manuskripts geholfen hat. Bei der Übersetzung half mir Nicola Peters beim Finden der deutschen Zitate, bei der Korrektur des Literaturverzeichnisses und beim Erstellen des Index. Vor allem danke ich aber Leif Kramp, der mein Manuskript kritisch auf nach wie vor auftretendes ›Denglish‹ durchsah, sowie Heide Pawlik für die finalen Korrekturen.
Dem Verlag Herbert von Halem möchte ich dafür danken, dass er diese deutsche Übersetzung von Deep Mediatization möglich gemacht hat. Danken möchte ich daneben Volker Manz für das sorgfältige Lektorat. Mein Dank geht insbesondere an Rüdiger Steiner für die vortreffliche Betreuung und Begleitung im Prozess des Übersetzens sowie für seine Korrekturen und Hinweise zum eingereichten deutschen Manuskript.
Aber all diese Dankesworte dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich für die verbleibenden Fehler, Unklarheiten oder einfach schlechtes Schreiben selbst verantwortlich bin. Es liegt nun an den Leser:innen, über die Qualität dieses Buches zu entscheiden. Ich hoffe jedenfalls, dass es für viele Menschen anregend sein wird und dass es unser kollektives Nachdenken über die tiefgreifende Mediatisierung und die entstehende digitale Gesellschaft voranbringt.
Bremen, im Sommer 2021
Andreas Hepp