Читать книгу Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft - Hepp Andreas - Страница 8

1.EINLEITUNG

Оглавление

Populäre Medien präsentieren uns gerne fiktive Charaktere wie Mia, eine junge Frau, die im Jahr 2037 lebt: Eines Morgens wird Mia mit freundlichen Worten von Ben, ihrem künstlichen Begleiter, aus ihrem tiefen Schlaf geweckt. Ben ist eine auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Softwareanwendung, die hauptsächlich in der ›Cloud‹ existiert. Mia kann jederzeit über ihre Smartwatch, ihr Mobiltelefon und andere Geräte auf Ben zugreifen. Sie lebt in einem Smart Home: Wenn sie ihr Badezimmer betritt, schaltet sich das Licht automatisch ein. Am Rand des Badspiegels erscheint stets ein kuratierter Fluss von Nachrichten aus ihren Social-Media-Kanälen sowie eine Auswahl von Gesundheitsdaten und persönlichen Metriken wie ihre Herzfrequenz, die Qualität ihres Schlafs in der letzten Nacht und wie viele Kalorien sie am Vortag verbrannt hat. Das Essen in ihrer Küche wird automatisch zubereitet; künstliches Fleisch wird dafür in Bioreaktoren gezüchtet und der Kühlschrank wird automatisch durch Online-Einkäufe aufgefüllt. Mia fährt mit einem Hochgeschwindigkeitszug zur Arbeit. Wenn sie sich individueller durch die Stadt bewegen möchte, kann sie dies in einem autonomen Elektroauto tun. Sie arbeitet in einem Support-Center für autonome Fahrzeuge und es ist ihre Aufgabe, einen Simulator zu steuern, um einen fahrerlosen Lkw durch belebte Innenstädte zu manövrieren, wenn menschliche Unterstützung benötigt wird. Dank der Produktivitätsvorteile, die Robotik und KI-Technologien bieten, muss Mia nur vier Stunden am Tag arbeiten. In ihrer Freizeit genießen Mia und ihre Freunde Virtual-Reality-Erlebnisse und reisen auf diese Weise an weit entfernte Orte, vielleicht zu einem Außenposten auf dem Mars, um über die wogenden Dünen des Roten Planeten zu fahren.

Dieses Szenario wurde ursprünglich als ›Multimedia-Story‹ von Journalist:innen des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel in Zusammenarbeit mit Zukunftsforscher:innen des Ars Electronica Future Lab entwickelt. Der Artikel positioniert sich als »optimistische[r] Blick in die Zukunft, der nicht zwangsläufig der realistischste ist«.1 Trotz der oft beschworenen Risiken und Gefahren, die mit der Digitalisierung verbunden werden, geht es den Autor:innen vor allem um die »Chancen […], die die Zukunft bietet«. Ihr Szenario begreifen sie dabei nicht als »haltlose Fantasie«, sondern als eine »auf dem aktuellen Stand der Forschung« basierende Zukunftsvision, die von den bereits heute verfügbaren medientechnologischen Innovationen ausgeht.

Es gibt mehrere Gründe, warum ich dieses Buch mit der Geschichte von Mia beginne. Zunächst einmal zeigt Mias Alltagswelt, wie ein Leben in der digitalen Gesellschaft aussehen könnte. Einige der im Szenario beschriebenen Möglichkeiten sind bereits heute Teil unserer Alltagswelt: Während Bens Funktionalitäten umfangreicher sind als die der aktuellen Sprachassistenten, haben wir auf ähnliche Artificial Companions bereits jetzt über unsere Smartphones, Smartwatches und andere ›smarten‹ Geräte Zugriff. Beispiele dafür sind Amazons Alexa, Microsofts Cortana oder Apples Siri. Diese sind bereits in der Lage, unsere Termine zu erfassen, wir können Nachrichten und E-Mails diktieren, nach Informationen suchen lassen und mit einfachen Sprachbefehlen Einkäufe tätigen. Und diese Begleiter ›leben‹ bereits jetzt in der ›Cloud‹. Es scheint, dass wir möglicherweise auf dem besten Weg zu einer digitalen Gesellschaft sind, die dem oben beschriebenen Szenario ähnelt.

Interessant ist dieses Szenario aber auch im Hinblick auf das, was es nicht thematisiert – nämlich die potenziell problematischen Aspekte eines durch immer mehr vernetzte digitale Medientechnologien umfassend durchdrungenen Lebens. Zum Beispiel sammeln heutige Sprachassistenten kontinuierlich Daten über uns, während wir sie nutzen. In vielen Fällen ist die automatisierte Analyse dieser Daten das zentrale Geschäftsmodell hinter ihrer Entwicklung. Technologien, bei denen wir mittels Simulation Fahrzeuge und andere Geräte steuern, sind bereits in mehr Berufen verbreitet, als wir denken. Aber auch hier wird in der Zukunftsvision des Spiegel nicht deutlich, in welchen Bereichen die Simulationssteuerung derzeit am weitesten verbreitet ist.2 Wenn wir ihren Einsatz genauer untersuchen würden, könnten wir feststellen, dass ihr vorherrschendes Einsatzgebiet das Militär und dessen Steuerung unbemannter Drohnen ist.

Einerseits unterscheidet sich Mias Geschichte also vielleicht gar nicht so sehr von der heutigen Zeit, in der digitale Medien und Technologien bereits in erheblichem Maße die Alltagswelt durchdringen. In der sozialwissenschaftlichen Medien- und Kommunikationsforschung wird diese zunehmende »Verschränkung« (engl.: »entanglement«, SCOTT/ORLIKOWSKI 2014: 873) unserer sozialen Welt mit allgegenwärtigen Medientechnologien als »tiefgreifende Mediatisierung« bezeichnet. Andererseits projiziert die Erzählung des Spiegel das Fortschreiten einer solchen tiefgreifenden Mediatisierung in die Zukunft der digitalen Gesellschaft ausschließlich als eine durch digitale Technologien besser und effizienter gewordene Alltagswelt. Die Darstellung bleibt kurzsichtig gegenüber den möglichen negativen Seiten eines durch tiefgreifende Mediatisierung geprägten Lebens.

Die utopische Beschreibung des Spiegel stimmt mit vielen anderen Mainstream-Darstellungen des medialen Wandels überein, in denen uns Imaginationen von möglichen Zukünften präsentiert werden. Journalist:innen und Zukunftsforscher:innen versprechen seit Jahrzehnten eine ›schöne neue Welt‹ der digitalen Gesellschaft. Diese Welt ist ›weiß‹, sie ist ›sauber‹ und einfach ›besser‹, weil sie durch ›weiße‹, ›saubere‹ und ›bessere‹ Medientechnologien geschaffen wird. Wir können solche Mythen bis zum Beginn der Digitalisierung zurückverfolgen. Schon in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren wurde von digitalen Medientechnologien erzählt, die eine Fülle von ›positiven‹ Transformationen der Gesellschaft mit sich bringen würden. Wir würden mit ihnen beispielsweise in einer ›neuen Wirtschaft‹ (ALEXANDER 1983) kooperieren und in ›virtuellen Gemeinschaften‹ (RHEINGOLD 1994) zusammenleben.

Solche Erzählungen zeigen, dass die tiefgreifende Mediatisierung nicht einfach von Technologieunternehmen ›produziert‹ und von Nutzer:innen ›angeeignet‹ wird. Sie wird auch von verschiedenen Akteur:innen imaginiert und durch positive Zukunftsszenarien wie die oben beschriebenen vorangetrieben. Wir haben es bei dem Entstehen der digitalen Gesellschaft mit einem hochdynamischen und vielschichtigen Prozess zu tun.

In diesem Buch möchte ich der so entstehenden digitalen Gesellschaft nachspüren. Als digitale Gesellschaft bezeichne ich solche Gesellschaften, deren verschiedene Domänen – Gemeinschaften, Organisationen, Gruppen etc. – auf digitalen Medien und deren Infrastrukturen beruhen. Der Wandlungsprozess, der uns hin zur digitalen Gesellschaft führt, ist die tiefgreifende Mediatisierung. In einem solchen Verständnis ist die digitale Gesellschaft noch nicht vollkommen erreicht. Aber wir sind in vielen Ländern der Erde auf dem besten Weg dahin. Um die sich so eröffnenden Möglichkeiten, aber auch Grenzen und Probleme nachzeichnen zu können, bedarf es allerdings vor allem eines Verständnisses des Wandlungsprozesses ihres Entstehens: der tiefgreifenden Mediatisierung selbst. Mein Ziel mit diesem Buch ist es, zu einem Verständnis dieser tiefgreifenden Mediatisierung beizutragen, um den Blick für die Herausforderungen der Gestaltung einer digitalen Gesellschaft zu eröffnen.

Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft

Подняться наверх