Читать книгу Poppichs Flucht - Herbert E Große - Страница 3

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2. Kapitel

Als Frau Markgraf Paul in der Hotelhalle erblickte, holte sie ihn schnell ein, hielt ihn am Arm fest und sagte: „Herr Poppich, die Sache mit Bulgarien geht klar. Das habe ich gerade zufällig aufgeschnappt, als sich mein Mann mit dem Restaurantchef unterhielt. Aber bitte, das bleibt noch unter uns. Ich weiß nicht, wie alles offiziell weitergeht."

„Versprochen, Frau Markgraf.“

Paul hatte die Bulgariensache schon fast vergessen gehabt. Aber jetzt schossen ihm die Gedanken nur so durch den Kopf. Wie soll denn das alles gehen? Ich nach Bulgarien!? Einmal raus aus diesem Land!? Etwas anderes sehen und kennenlernen!? Wer hat schon so ein Glück in diesem Gefängnisstaat!? Ach, wenn das noch mein Vater erfahren hätte! Und wie erkläre ich es der Mutter? Die wird verzweifelt sein und nicht aufhören, gute Ratschläge zu geben.

Wie hatte der Vater immer gesagt: „Nur mit der Ruhe! Kommt Zeit, kommt Rat."

Paul kaufte sich erst einmal einen größeren Atlas.

Man sah es ihm an, dass er in Gedanken überall war, nur nicht bei der Arbeit.

Bärbel, die Frau vom „magischen Auge“, sprach ihn an. „Lieber Poppich würden sie mir einen großen Gefallen erweisen?“-

„Jeden!“ Denn zwischenzeitlich wusste er, dass nur Bärbel ihn gewarnt haben konnte.

„Paul“ - Bärbel nannte ihn zum ersten Mal beim Vornamen - „wenn sie mir den Gefallen nicht erweisen können, weiß ich, dass ich mich trotzdem auf sie verlassen kann und dieses Gespräch niemals stattgefunden hat“, begann Bärbel.

„Sie haben mein Ehrenwort, egal, was jetzt kommt.“

„Kurz heraus, ich würde gern jemanden in ihrem Appartement heimlich treffen“, sagte Bärbel plötzlich gefasst.

„Oh Gott, nicht so kurz vor meiner Bulgarienreise ein konspiratives politisches Treffen, das meinen Bulgarientraum vernichtet“, antwortete Paul spontan.

„Nein, nein, keine Angst. Es ist ein heimliches privates Treffen, von dem mein Mann nichts wissen darf. Auch ich gebe ihnen mein Ehrenwort. Erst nachdem ich von Frau Markgraf im Vertrauen erfahren habe, dass es mit Bulgarien klappt, habe ich den Mut gefunden, sie zu fragen. Ihr Bulgarienaufenthalt ist nicht gefährdet.“

„Wann brauchen sie den Schlüssel?“

„Wenn es ihnen recht ist, schon heute Nachmittag nach meiner Schicht“, antwortete Bärbel.

„Nein, das geht nicht. Es ist eine Junggesellenbude, und ich bin nicht vorbereitet.“

„Keine Sorge, wir sehen über die Junggesellenordnung hinweg. Vielleicht räumen wir auch auf. Wenn das Licht gelöscht ist, sind wir wieder weg.“

Paul war alles egal; Bulgarien wartete.

Vielleicht hat Gerda Zeit, mit mir essen zu gehen, bis ich wieder in meine Wohnung kann, dachte er und begab sich zu dem Café, in dem seine Bekannte arbeitete. Doch Gerda war nicht da, sodass er sich entschloss, ins Kino zu gehen.

Nach dem Kinobesuch schlenderte Paul langsam in Richtung seines Appartements. Es wurde gerade das Licht gelöscht.

„Das passt ja wie die Faust aufs Auge“, sagte er halblaut vor sich hin.

An der Haustür angelangt, hörte er laute Stimmen und erkannte Bärbel. Er stellte sich so, dass er nicht gesehen werden konnte; zum Weggehen war es zu spät.

Das Rendezvous ist aber nicht gerade glücklich verlaufen, dachte er sich. Jetzt sah er auch das „magische Auge“, der seine Frau ohrfeigte und ihr Vorhaltungen machte, gerade mit dem Poppich fremdzugehen. „Das könnte dein Sohn sein, du Schlampe! Warte ab, das wird Folgen haben für euch beide“, brüllte er.

So, das war mein Bulgarientraum, sagte sich Paul.

Er wartete, bis die beiden weggegangen waren, und ging niedergeschlagen in sein Appartement. Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, hörte er eine leise Stimme: „Nicht erschrecken, Paul. Ich bin es, die Gerda.“

Ihm verschlug es regelrecht die Sprache. „Das verstehe, wer will. Für mich ist das alles zu viel“, sagte er zu Gerda.

„Das kann ich nachvollziehen. Bärbel und ich lieben uns schon lange. Unsere Treffen wurden immer schwieriger, sodass wir auf sie und ihr Appartement gekommen sind. Morgen wollten wir es ihnen alles erklären und fragen, ob wir während ihres Bulgarienaufenthaltes ihr Appartement gegen Übernahme der Miete benutzen dürfen. Aber Bärbels Mann hat etwas geahnt und stand plötzlich vor der Tür. Jetzt können wir nur hoffen, dass er glaubt, dass Bärbel ein Verhältnis mit ihnen hat, und nicht erfährt, dass sie bisexuell ist. Ich glaube, das würde den allergrößten Ärger geben.“

„Und wie soll ich das alles überstehen? Mit Bulgarien wird es wegen des Stasiclowns nichts mehr werden. War ein kurzer, aber schöner Traum! Weiter geht’s“, antwortete Paul. „Auf zum nächsten Gefecht!“

Weil beide jetzt nicht allein sein wollten, blieb Gerda bis zum Morgen. Sie redeten über Gott und die Welt, nur nicht über Bulgarien. Er war sicher, dass er den Vorwurf des Fremdgehens überleben würde, doch Bulgarien, das tat weh.

Am nächsten Morgen erschien Paul unausgeschlafen und traurig zur Arbeit. Alles war ruhig. Offenbar hatten sich die gestrigen Ereignisse noch nicht herumgesprochen.

Das „magische Auge“ hatte sich entschlossen, die Angelegenheit zunächst mit dem Genossen Markgraf zu besprechen. Markgraf bekleidete einen weit höheren Rang als er, und es war sicher besser, die ganze Sache zuerst MfS-intern zu besprechen, hatte er sich überlegt.

Herr Markgraf war zunächst entsetzt. Er fing sich aber schnell und überlegte, was am besten zu tun sei. Laut schimpfte er auf diesen verfluchten, undankbaren Poppich. „Man verschafft ihm einen Bulgarienaufenthalt, und dann das. Andererseits hat er sich aber auch als treuer DDR-Bürger erwiesen, obwohl er nicht in der Partei ist“, sagte er.

Plötzlich fragte er sein Gegenüber: „Weiß Poppich, in welcher Funktion du hier im Hotel arbeitest?"

„Ich glaube nicht“, antwortete das „magische Auge".

„Wäre es nicht vielleicht besser, wenn wir die ganze Angelegenheit nicht so hoch hängen? Deine Frau ist nun mal mit diesem Hundesohn fremdgegangen, das steht fest. Aber stell dir nur einmal vor, das wird hier im Hotel bekannt. Dann kannst du deine Sachen packen und wirst versetzt.“

„Aber ich kann mir das doch nicht gefallen lassen“, antwortete das „magische Auge".

„Ich will Ruhe im Haus und mit den Genossen in Berlin. Die nächste Staatsjagd steht an. Da kann ich im Vorfeld keine Personalprobleme gebrauchen, Genosse."

Beide schwiegen einen Moment und überlegten.

Plötzlich hatte Herr Markgraf eine Idee: „Was hältst davon, wenn meine Frau als Vorsitzende der Konfliktkommission die Angelegenheit im kleinen Rahmen verhandelt? Da werden nur du, deine Frau und Poppich anwesend sein."

„Aber meines Wissens gibt es eine solche Möglichkeit rechtlich gesehen nicht. Die Konfliktkommission muss immer vollzählig und öffentlich tagen“, sagte das „magische Auge".

„Egal. In der Personalakte von Poppich wird später nur stehen, dass er wegen einer unangemessenen Kontaktaufnahme zu einer Kollegin ermahnt worden sei. Er selbst erfährt doch gar nichts davon. Deine Frau hat einen Schuss vor den Bug bekommen, und von den Hörnern, die man dir aufgesetzt hat, wird niemand etwas erfahren.“

„Einverstanden! Wenn du, Genosse Markgraf, das für richtig hältst, soll es so gemacht werden."

Beide gaben sich zur Bestätigung die Hand, und Frau Markgraf wurde gerufen.

Herr Markgraf empfing sie mit folgenden Worten: „Genossin Markgraf, Folgendes hat sich ereignet: Poppich hat die Bärbel verführt und Bärbel ist mit Poppich fremdgegangen oder so. Als Vorsitzende der Konfliktkommission hast du die Angelegenheit mit den Beteiligten zu besprechen und das Fehlverhalten der Ehebrecherin und das des undankbaren Poppich zu rügen. Poppich bekommt einen Vermerk wegen seines Fehlverhaltens in seine Personalakte, ohne dass Namen genannt werden. Und alles muss sofort erfolgen, bevor die Sache unter den Kollegen bekannt wird. Uns steht die nächste Staatsjagd ins Haus, und da können wir keinen Ärger gebrauchen. Ach, und noch etwas: Poppich darf nicht erfahren, welche Stellung unser gehörnter Ehemann hier im Hause hat. Verstanden, Genossin Markgraf?“

Frau Markgraf verstand alles und antwortete: „Wird sofort erledigt, Genosse Chef!“

Frau Markgraf rief die Aussprache für den Nachmittag um 15 Uhr ein. Herr Markgraf und das „magische Auge“ wussten allerdings nicht, dass Frau Markgraf mit Bärbel befreundet war. Auch die anderen Bediensteten wussten davon nichts. Warum sollten die Frauen zweier Stasioffiziere auch ihre persönlichen Kontakte an die große Glocke hängen? Das hätte nur Ärger gegeben und viele Aussprachen. Solche Freundschaften waren nicht üblich und im Ministerium auch nicht gern gesehen und wurden von Berlin aus unterbunden.

Um 15 Uhr fanden sich im Büro der Frau Markgraf folgende Personen zur Verhandlung ein:

Frau Markgraf als Vorsitzende der Konfliktkommission, Bärbel Winkler, Herr Winkler und Paul Thiele, genannt Poppich. Auf dem Protokollbogen wurden zunächst der Gerichtsort und das Datum Freitag, der 15. April 1966, notiert. Es begann die „offizielle Verhandlung".

„Herr Thiele, ist es zutreffend, dass sie mit der hier anwesenden Bärbel Winkler eine außereheliche Beziehung unterhalten haben?", fragte die Vorsitzende.

„Ja“, antwortete Paul Thiele.

Bärbel stockte der Atem.

„Wie kam es zu dieser Beziehung?“

„Ich traf Frau Winkler zufällig in einem Café. Wir tranken eine Flasche Wein. Sie hatte etwas zu viel getrunken, sodass ich sie in mein Appartement, statt zu sich nach Hause brachte. Ich habe den Zustand der Frau Winkler ausgenutzt, und so hat alles angefangen. Ich will auch gleich sagen, dass mir das alles leidtut und ich die Eheleute Winkler bitte, mein Fehlverhalten zu entschuldigen."

Bärbel schaute und hörte wie gelähmt zu. Typisch Poppich, dachte sie.

Den gleichen Gedanken hatte offenbar auch die Vorsitzende Markgraf, als sie Bärbel fragte: „War es so, Frau Winkler?“

Bärbel antwortete unter Tränen: „Ja, so war es. Ich kann heute nicht verstehen, wie ich auf so einen jungen Mann hereingefallen bin.“

Zu ihrem Ehemann gewandt, sagte sie noch: „Bitte, verzeih mir meinen Fehltritt.“

„Und wie soll es weitergehen?", fragte Frau Markgraf.

Paul ergriff als Erster das Wort.

„Wie ich sehe, hat Frau Winkler das alles mitgenommen. Frau Vorsitzende darf ich einen Vorschlag zur Wiedergutmachung für mein Fehlverhalten machen?“

„Bitte, was schlagen sie vor?“

Das „magische Auge“ sagte nur: „Da bin ich aber gespannt.“

Paul begann: „Wie alle sehen, ist Frau Winkler mehr als urlaubsreif. Meine Familie besitzt in der Nähe von Dresden ein kleines, bescheidenes Wochenendhaus, das auch für mehrere Personen urlaubsgeeignet ist. Ich würde dafür sorgen, dass die Eheleute Winkler dort kostenlos zwei Wochen Urlaub machen können. Da haben sie Gelegenheit, sich auszusprechen und wieder zusammenzufinden.“

„Was halten die Eheleute Winkler von diesem Vorschlag?", fragte die Vorsitzende.

Bärbel Winkler nickte leicht, sah aber nicht so glücklich aus.

Das „magische Auge“ fand den Vorschlag annehmbar, sagte aber, dass er in diesem Jahr leider keinen Urlaub mehr machen könne.

Jetzt ritt Paul erneut sein berühmter Teufel, und er schlug vor, Frau Winkler solle doch allein, vielleicht mit einer Freundin, den Urlaub dort verbringen.

„Darüber kann man nachdenken“, sagte das „magische Auge".

Er ergänzte noch: „Aber meine Frau hat keine Freundin, die mit ihr den Urlaub machen könnte.“

„Das ist schlecht“, bemerkte Paul.

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Bärbel, Verzeihung, Frau Winkler, sie kennen doch meine Bekannte Gerda aus dem Café. Gerda wollte schon immer einmal solch einen Urlaub machen. Wollen sie vielleicht zusammen mit Gerda in das Wochenendhaus fahren? Ich würde meine Bekannte auch selbst fragen, wenn sie es möchten.“

Bärbel Winkler und selbst Frau Markgraf erstarrte fast das Blut in den Adern bei dieser Unverfrorenheit des Paul Thiele.

Frau Markgraf fand als Erste wieder Worte und meinte, dass sie diesen Vorschlag für gangbar halte. Wenn alle einverstanden seien, solle der Herr Thiele alles regeln und organisieren.

Da die übrigen zustimmend nickten, schloss Frau Markgraf schnell die Sitzung und verpflichtete alle Anwesenden zum Stillschweigen, damit noch mehr Ärger und Gerede von der Familie Winkler abgehalten werde.

Es vergingen einige Tage, ohne dass die Affäre bekannt wurde. Nach einer Woche kam auch die offizielle Bestätigung, dass Paul für ein halbes Jahr nach Bulgarien abgeordnet sei.

Er wurde aufgefordert, am darauffolgenden Donnerstag nach Berlin in das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in der Luisenstraße zu kommen, um dort seinen Reisepass abzuholen.

Jetzt, wo alles offiziell war, wurde Paul innerlich ruhig. Er sagte Herrn Weser Bescheid, dass er am Donnerstag nach Berlin bestellt worden sei, und bat darum, seinen freien Tag auf diesen Donnerstag zu legen.

Mit dem ersten Zug fuhr er von Magdeburg bis zum Hauptbahnhof in Berlin. Bevor der Zug Berlin erreichte, wurde er zweimal polizeilich kontrolliert und gefragt, ob er eine Genehmigung habe, nach Berlin zu fahren. Das Schreiben des Auswärtigen Amtes bewirkte, dass er ohne Schwierigkeiten in Berlin den Hauptbahnhof erreichte.

Paul war das erste Mal in Berlin. Er hatte vieles über Berlin gehört. Doch was er heute sah, entsprach nicht seinen Erwartungen. Vom Hauptbahnhof bis zum Ministerium in der Luisenstraße war es nicht weit, und er hatte noch mehr als fünf Stunden Zeit, bis er seinen Pass abholen konnte.

Der „Luxus“, den er hier sah, konnte nicht mit dem Leben im Interhotel in Magdeburg konkurrieren. Er wollte nicht unbedingt zum Alex. Irgendwie zog es ihn dorthin, wo er die Mauer sehen konnte. Wie oft hatte er sich vorgestellt, dass man diesen antifaschistischen Schutzwall irgendwie überwinden können muss, um in den anderen Teil Berlins zu gelangen.

Was hatte sein Vater von Westberlin erzählt?

„Da kann man bei Nacht auf der Straße die Zeitung lesen. So hell ist die Reklame.“

Anfang der fünfziger Jahre wollte er unbedingt mit der Familie in den Westen umziehen. Doch Mutter hatte Bedenken, alles stehen und liegen zu lassen und im Westen neu anzufangen. Ich glaube, Vater hat der Mutter bis zu seinem Tod wegen dieser Haltung heimlich Vorhaltungen gemacht, überlegte er.

Jetzt stand er in einer Sackgasse vor einer fast fünf Meter hohen Mauer und war gedankenversunken, als ein alter Mann zu ihm sagte: „Junge, dahinter ist erst die richtige Grenze. Das schafft man nicht mehr."

Paul wurde traurig und zugleich zornig. Hatte denn nicht Anna Seghers in ihrem Roman „Transit“ geschrieben: „Welchen Zweck soll das haben, Menschen zurückzuhalten, die doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben.“

Auf dieses Zitat hatte Paul einmal in der Schule hingewiesen, als die Pflichtlektüre „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers anstand.

Mein Gott, was gab das für Ärger und Diskussionen, bis er schließlich zugab, dieses Zitat missverstanden zu haben!

Jetzt stand er vor dem „Schutzwall der Antifaschisten“ und hatte plötzlich keinen sehnlicheren Wunsch, als die DDR zu verlassen.

In einer anderen Straße stand er wieder vor der Mauer und erinnerte sich, wie er davon geträumt hatte, mit einem Sprungbrett hinüberzuspringen. Jetzt sah er, dass das ein illusionärer Jugendtraum war. Aber man konnte mit niemandem über seine Ideen, die Mauer zu überwinden, sprechen.

Vater war tot, Mutter wäre gleich in Panik geraten. Nur mit einem Freund seiner Schwester hatte er einmal über eine Flucht gesprochen. Der hatte Verständnis, sagte aber, dass es im Westen bestimmt auch nicht besser wäre. So blieb Paul mit seinen Träumen allein. Je älter er wurde, desto weniger Leute waren aus Angst bereit, über dieses Thema zu sprechen. Die Stasi hörte immer mit, und schnell war man in Bautzen, wenn bekannt wurde, dass man Fluchtpläne hätte.

Paul hatte keine Ahnung, wie es im Westen ist. Er wusste nur, dass man dort frei sei. Und von Monat zu Monat fühlte er, wie es enger um seinen Hals wurde und er kaum noch atmen konnte.

Jetzt stand wenigstens Bulgarien an. Ein anderes Land, andere Menschen und ein anderes Leben! Egal, ob besser oder schlechter: Hauptsache raus aus diesem Staatsgefängnis! Und dabei ging es ihm in der Welt des Interhotels noch tausendmal besser als den anderen „Dederonanzügen".

Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten war in einem alten, schönen Haus untergebracht.

Gegen 16 Uhr war es so weit. Paul betrat das Ministerium und wurde in den Keller in eine Art Speisesaal geführt. Hier saßen noch fünf andere „Bulgarienkandidaten“, und er staunte nicht schlecht, als er unter ihnen einen Koch aus dem Magdeburger Interhotel sah. Ein Referent erschien mit sechs blauen DDR-Pässen und begrüßte die Anwesenden als „künftige Repräsentanten der DDR im Ausland“. Man konnte es spüren, dass der Rede kaum einer der zukünftigen Repräsentanten zuhörte.

Paul war mit seinen Gedanken schon auf der Fahrt nach Bulgarien, wurde aber plötzlich hellwach, als der Referent erklärte, dass man sich keinen Illusionen hinzugeben brauche. Eine Flucht aus Bulgarien sei genauso wenig möglich, wie die DDR illegal zu verlassen.

Halt mal, warum sagt er so etwas? Also muss es möglich sein, von Bulgarien aus in den Westen zu gelangen, überlegte er.

Ab jetzt stand für ihn fest, dass er die Flucht versuchen würde.

Die Rückfahrt nach Magdeburg unternahm er gemeinsam mit dem Koch, und es stellte sich schnell heraus, dass beide aufgefordert worden waren, mit anderen Kollegen nicht über die Abordnung nach Bulgarien zu sprechen.

Es dauerte nicht lange, bis der Koch fragte: „Ich dachte immer, sie heißen Paul Poppich. Im Ministerium hat man sie aber Paul Thiele genannt.“

Paul war weniger über die Frage, als über die Anrede mit dem „Sie“ irritiert.

„Warum sagst du plötzlich sie zu mir?", fragte er zurück, ohne eine Antwort zu erhalten.

Er schilderte die Angelegenheit mit seinem Namen Poppich.

„Die Sache mit dem Namen ist einfach. Als ich im Interhotel anfing, wohnte ich zunächst im Personalblock mit anderen Kollegen. Gleich am ersten Tag hatte ich einen Räucheraal bekommen. Woher und warum, weiß ich nicht mehr. Auf dem Nachhauseweg war der Aal in Papier eingepackt und wurde an der Stelle, wo ich ihn mit der Hand gefasst hatte, weich. Als ich das bemerkte, habe ich auf Sächsisch gesagt, dass der Aal ‚babbich‘ sei. Alle lachten laut, und ab diesem Moment hieß ich nur noch Poppich. Der Name hat sich so eingebürgert, dass kaum noch jemand meinen richtigen kennt. Sogar auf den Dienstplänen werde ich unter dem Namen Poppich geführt."

„Na dann“, antwortete der Koch kurz und zeigte kein größeres Interesse an einer weiteren Unterhaltung.

So ein Idiot, das kann eine unterhaltsame Zeit in Bulgarien werden, dachte Paul und überlegte, was mit seinem schönen Appartement würde, wenn ihm die Flucht glückte.

Als der Zug in Magdeburg hielt und beide ausgestiegen waren, entfernte sich der Koch schnell. Paul ging in sein nahe gelegenes Appartement und war in Gedanken schon bei den Reisevorbereitungen.

Am nächsten Tag hatte er Spätschicht. Am Vormittag kaufte er sich im Buchladen alles, was er über Bulgarien finden konnte. Die Verkäuferin fragte ihn, ob er einen Ferienplatz in Bulgarien bekommen habe. Paul bejahte die Frage und verließ den Buchladen, weil er keine Lust auf eine Unterhaltung mit der Verkäuferin hatte.

In der DDR wurde eine solche Verhaltensweise schon lange nicht mehr als Unhöflichkeit angesehen. Wer nicht mit Fremden sprechen wollte, hatte entweder Angst oder einen Grund.

Paul ging anschließend in das Café und hoffte, Gerda zu sehen. Er hatte Glück. Gerda war im Dienst und hatte auch Zeit für ein kleines Schwätzchen.

„Gerda, würden sie in der Zeit, in der ich in Bulgarien bin, auf meine Wohnung aufpassen und regelmäßig die Blumen gießen?“

Die Angesprochene stutzte einen kurzen Moment, weil es in seinem Appartement gar keine Blumen gab. Sie verstand und sagte: „Klar, Paul, machen sie sich keine Gedanken. Ich passe auf, und wenn ich mal verhindert sein sollte, wird sich sicherlich Bärbel um ihre Blumen kümmern."

Paul war mit sich und der Welt zufrieden. In vierzehn Tagen ging es nach Bulgarien. Zu regeln gab es nicht mehr viel.

Als er an diesem Tag im Interhotel ankam, war alles anders als sonst. Die Kollegen begrüßten ihn nicht wie üblich mit „Hallo, Poppich“, sondern sagten leise und nebenbei: „Guten Tag, Herr Thiele." Ein anderer Kollege sagte sogar: „Guten Tag, Genosse Thiele."

Paul begriff nicht, was jetzt und hier passierte. Zwar gingen bei ihm alle Alarmglocken an, doch er nahm sich vor, erst einmal abzuwarten. Doch es wurde immer unerträglicher. Der Hass gegen ihn ging sogar so weit, dass ihm ein Bein gestellt wurde. Er stolperte und verlor dabei die zu servierenden Speisen.

„Was ist hier los?", fragte er einen Kollegen, mit dem er befreundet war.

„Irgendwann kommt alles ans Tageslicht“, antwortete dieser nur kurz und ließ ihn stehen.

Paul konnte sich keinen Reim auf alles machen.

Herr Weser tauchte im Kellnergang auf und sagte mit für ihn ungewöhnlich lauter Stimme: „Herr Thiele, bis zu ihrer Abreise nach Bulgarien sind sie vom Dienst beurlaubt. Sie haben ihren restlichen Jahresurlaub zu nehmen - und das ab sofort. Frau Markgraf wird alles Schriftliche regeln. Gehen sie sofort hoch in ihr Büro, ich werde Bescheid sagen.“

Paul war sprachlos und hörte im Weggehen den leisen, aber deutlichen Beifall der Kollegen.

Herr Weser begleitete ihn bis zum Fahrstuhl und sagte, als es kein anderer mehr hören konnte: „Paul, das war die einzige Möglichkeit, sie zu retten. Der Koch hat erzählt, er habe, als er seinen Pass in Berlin abholte, im Ministerium erfahren, dass sie ein Doppelleben als Stasimann hier im Hotel führen. Wenn sie aus Bulgarien zurückkommen, wird sich alles aufgeklärt haben. Mehr kann ich im Moment nicht für sie tun.“

Noch bevor er etwas sagen konnte, war Herr Weser gegangen.

Frau Markgraf war allein in ihrem Büro. Sie war blass, und er befürchtete, dass sie sich gleich übergeben müsste.

„Paul, bitte verlassen sie sofort das Hotel, bevor noch etwas passiert. Ich mache ihre Papiere fertig, und wir treffen uns morgen gegen fünf Uhr am Elbufer nahe dem Pavillon. Bis dahin habe ich alles fertig, mit meinem Mann gesprochen und übergebe ihnen, was sie für die Bulgarienreise brauchen."

Er verstand noch immer nichts und wollte gerade etwas sagen, als Frau Markgraf bestimmend sagt: „Paul, bitte!“

Mit wem sollte er jetzt sprechen? Es gab offenbar niemanden mehr, der noch mit ihm sprechen wollte. Was war denn nur passiert?

Jetzt fiel ihm das Verhalten des Kochs im Zug wieder ein. Der muss alles missverstanden haben. Die beiden Namen und sein Desinteresse an den Ausführungen des Referenten im Ministerium. Nur so kann er zu der Auffassung gelangt sein, dass ich ein Genosse und Stasimann sein müsse, resümierte Paul.

Gut, ich bin weder ein Genosse noch ein Stasimann. Aber wie müssen sich die fühlen, die es tatsächlich sind und von denen es herauskommt, fragte sich Paul und beschloss, nach dem Treffen mit Frau Markgraf nach Hause zu seiner Mutter zu fahren, um weit von allem entfernt zu sein.

Paul war schon eine Stunde vor dem Treffen am Elbufer. So richtig hatte er noch immer nicht begriffen, was vorgefallen war.

Frau Markgraf war pünktlich. Beide setzten sich auf eine Bank, und er erhielt ein Kuvert mit seinen Papieren.

Etwas geistesabwesend wollte er von Frau Markgraf wissen, was gestern eigentlich passiert sei.

Nach einem langen Schweigen antwortete Frau Markgraf: „Lieber Paul, ich habe ihr Ehrenwort und gehe davon aus, dass auch dieses Gespräch unter uns bleiben wird.

Schon vor ihrem gestrigen Schichtbeginn ist im Hotel die Hölle los gewesen. Poppich sei eine ‚Stasisau‘, wurde erzählt. Auch meinem Mann ist der Aufruhr nicht verborgen geblieben. Er hat sofort mit dem MfS telefoniert. Dort wusste man schon Bescheid und hatte alle verfügbaren Stasimitarbeiter aktiviert. Meinem Mann wurde versichert, dass sie kein Mitarbeiter sind und dass auch keinerlei Vorgang über sie existiert. Das mit dem Vorgang über sie kann man glauben oder nicht. Mein Mann jedenfalls wurde sofort mit ihrer Personalakte nach Berlin beordert, sodass ich jetzt hier mit ihnen in Ruhe sitzen kann."

Paul verstand nur den berühmten ‚Bahnhof‘ und sagte: „Und jetzt ist es aus mit Bulgarien, oder?“

Frau Markgraf fuhr fort: „Da brauchen sie keine Angst zu haben. Es gibt mindestens drei wichtige Personen, die schützend ihre Hände über sie halten."

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:

„Lieber Paul, was ich ihnen jetzt sage, ist sicherlich etwas schwarz-weiß gemalt und vereinfacht. Ich könnte ihre Mutter sein. Und irgendwie betrachtete ich sie auch wie einen Sohn. Mein Vater war im Dritten Reich Widerstandskämpfer und hat im KZ gesessen. Nach Gründung der DDR war er nicht mehr gefragt. Er kannte Walter Ulbricht persönlich und war offenbar bei ihm in Ungnade gefallen. Schon 1950 hat er zu mir gesagt, dass es die Kommunisten genauso machen würden wie die Faschisten, es gebe fast keinen Unterschied. Ich solle mich besonders vor dem neuen Geheimdienst in Acht nehmen. Nach dem Tod meines Vaters lernte ich meinen Mann kennen. Er war schon ein hoch dekorierter Offizier beim MfS und saß im Büro in Berlin. Nach unserer Heirat wurde er nach Magdeburg versetzt, und er begriff schnell, dass dies ein Schleudersitz ist. Er ist mit Herz und Seele dabei und weiß doch, dass ihn hier im Interhotel keiner richtig ernst nimmt. Sie glauben gar nicht, wie er darunter leidet. Dabei geht es uns besser als allen anderen. Wir verdienen genug Geld, können in den Geschäften des Interhotels mit Ausnahme des Intershops einkaufen und kommen so an Waren, die für andere DDR-Bürger nicht zugänglich sind. Doch mit der Zeit habe ich gemerkt, dass wir Außenseiter sind. Außer Bärbel Winkler habe ich keine Freundin, mit der ich etwas Persönliches besprechen kann. Jeder ist zwar nett zu mir, doch keiner vertraut mir. Wenn ich außerhalb des Interhotels einkaufe, spüre ich das Getuschel der Leute. Früher habe ich immer ‚Bückware‘ gekauft und war stolz auf meine Sonderstellung. Das mache ich aber schon lange nicht mehr, weil ich mich dafür schäme. Obwohl ich mit meinem Mann darüber nicht sprechen kann, ist mir bald klargeworden, wie es in unserer DDR läuft. Schon mein Vater hat gesagt, dass es in der DDR verschiedene Genossen gibt.“

Paul hatte wie versteinert zugehört, unterbrach jetzt aber Frau Markgraf mit den Worten: „Hören sie auf so zu reden!“

„Nein, mein lieber Paul. In ihnen habe ich trotz ihres jungen Alters einen Menschen gefunden, bei dem ich reden kann, ohne Angst vor den Folgen zu haben. Ich muss es einmal loswerden.

In der sogenannten Verhandlung wegen Bärbels Fehltritt haben sie mir dermaßen imponiert, worauf mir klar wurde, dass wir aus Angst alle ohne innere Überzeugung so daherreden und fremdbestimmt sozialistisch leben. Und da waren sie Sonnyboy und haben eine Schuld auf sich genommen und noch einen Vorschlag zur Aussöhnung gemacht, die einem Kommunisten oder Sozialisten nicht einmal im Traum eingefallen wäre. Und da wurde mir klar, dass sie viel fester mit beiden Beinen im wahren Leben stehen als alle Genossen zusammen."

Paul fasste die Hand von Frau Markgraf, was ihr sichtlich guttat.

„Bitte nicht zu viel Lob, Frau Markgraf."

Doch jetzt sprudelte es förmlich aus ihr heraus:

„Zurück zu den Genossen. Zunächst gibt es die führenden Politiker im ZK, die nach dem Motto regieren, dass man die Menschen nicht überzeugen, sondern zu ihrem Glück zwingen muss. Dabei bestimmen allein diese alten Männer, was Glück ist. Die Schlimmsten sind die Überzeugten. Obwohl sie zur Intelligenz gehören, schalten sie ihren Verstand aus und betrachten alles, was von oben kommt, heiliger als die Worte des Heiligen Geistes. Sie leben nach dem Motto ‚Die Partei hat immer recht‘. Diese Genossen richten in unserem Staat den größten Schaden an, ohne es zu merken. Und es gibt noch die einfachen Parteimitglieder, die gedankenlos mitmachen oder sich einen persönlichen Vorteil versprechen.“

Jetzt bekam Paul richtige Angst. „Frau Markgraf, hören sie auf so zu reden. Das bringt sie nach Hohenschönhausen und mich nach Bautzen."

„Ach, Paul, es hat doch keiner gehört. Und mir geht es jetzt besser. Nur eine Sache muss ich noch loswerden, die mich erschüttert hat. Eine Genossin wurde für ihr vorbildliches Verhalten gelobt, weil sie bei der SED-Kreisleitung angezeigt hat, dass sie ein kurzes Stück im Auto ihres Bruders, der aus dem Westen zu Besuch war, mitgefahren sei. Mein Mann hat mir das lachend, kopfschüttelnd und den berühmten Vogel zeigend erzählt, und ich habe mir gedacht: Wie pervertiert sind wir schon."

Beide saßen erneut schweigend auf der Bank.

„So, Paul, jetzt verschwinden sie aus meinem Leben. Ich bin dankbar, sie kennengelernt zu haben. Außerdem spüre ich, dass sie aus Bulgarien nicht mehr zurückkommen. Die Grenzen dort sind nicht so streng bewacht wie hier, hat mir mein Mann erzählt."

„Und wenn ich doch zurückkomme?“

„Dann geht alles von vorn los, wenn mein Mann noch nicht strafversetzt sein sollte“, antwortete Frau Markgraf, stand auf und ging weg.

Paul schaute ihr nach und stellte fest, dass sie für ihr Alter noch eine recht gute Figur hat. Altersbedingte Verwerfungen waren kaum sichtbar. Aber welche seelischen Qualen erleidet diese tolle Frau!

Am nächsten Vormittag brachte er seinen Wohnungsschlüssel zu Gerda und verabschiedete sich ohne viele Worte. Seine Bekannte verstand ihn und fragte auch nicht nach. Sie wollte nur wissen, wohin eventuelle Post zu schicken sei.

„Zu meiner Mutter“, sagte Paul und gab ihr die Adresse.

Jetzt stand ihm nur noch der Spießrutenlauf im Hotel bevor, weil er noch einmal zu seinem Schrank musste.

Als er in den Kellnergang trat, verstummten alle Gespräche, auch die des Küchenpersonals.

Paul ging schweigend zu seinem Schrank, öffnete ihn und entnahm einige Kleinigkeiten.

In diesem Moment kam Heini Schneidewind, der Koch, der mit ihm nach Bulgarien fährt, laut rufend den Kellnergang heruntergelaufen.

„Poppich entschuldige, ich habe dir Unrecht getan. Es hat sich alles aufgeklärt. Du bist doch einer von uns."

Der Chefkoch unterbrach Heini Schneidewind heftig und sagte leise zu ihm: „Blödmann, willst du in den Bau? Wie kannst du sagen, dass Poppich doch einer von uns ist?“

Heini verstand seinen verbalen Fehltritt, der den Genossen oder der Stasi sauer aufstoßen konnte.

Paul sagte zu dem Koch: „Ich steige in Dresden zu.“

Danach ging er ohne weitere Worte aus dem Interhotel.

Frau Markgraf hat doch recht, wenn sie sagt, dass alle schon pervertiert seien, dachte Paul. Er schlenderte zum nahe gelegenen Bahnhof, stieg in den Zug nach Dresden und verließ Magdeburg.

Poppichs Flucht

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