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Das politische Umfeld I: Athen und die griechische Welt
ОглавлениеAlkibiades’ Entscheidung, sich einer politischen Laufbahn zu widmen, kann für niemanden seiner Umgebung eine Überraschung bedeutet haben, ganz im Gegenteil: In den Augen seiner Zeitgenossen wird seine Hinwendung zu Politik und Staatsgeschäften eher als eine Selbstverständlichkeit erschienen sein, als Erfüllung einer Erwartung, die das Volk von Athen allen begabten jungen Abkömmlingen seiner alteingesessenen Adelsgeschlechter gegenüber zu hegen gewohnt war.
Für einen jungen Mann seines Alters und seiner Herkunft war es eine Selbstverständlichkeit, sich mit ganzer Kraft für seine Polis zu engagieren, ebenso selbstverständlich aber war es für ihn wie für alle anderen Aristokraten, im Gegenzug den Anspruch auf über das Durchschnittsmaß hinausgehende soziale Anerkennung, auf die Bekleidung von Führungspositionen und auf vorrangigen Einfluss in politischen Entscheidungsprozessen zu erheben.
Die Haltung der athenischen Adelsherren ihrer Polis gegenüber war einerseits von den Traditionen ihrer jeweiligen Familien, vor allem aber auch von den allgemeinen geschichtlichen Überlieferungen Athens geprägt. Wir dürfen es für gewiss halten, dass der Perikleszögling Alkibiades von früher Kindheit an mit diesen historischen Traditionen seiner Heimatstadt vertraut gemacht worden ist.
Sehr früh schon wird er von den Großtaten gehört haben, die die Athener zwei Generationen zuvor im Kampf gegen die persischen Großkönige vollbracht hatten, von den Siegen bei Marathon und Salamis und dem darauf folgenden Vergeltungskrieg, in dessen Verlauf eine von Athen geführte Koalition griechischer Staaten die Persermacht aus der Ägäis vertrieben hatte. Athen hatte diesen Kriegen seinen Aufstieg zur Großmacht verdankt; im Jahre 477 hatte es den sogenannten Seebund gegründet, ein Bündnis, dem vor allem die Inselpoleis der Ägäis und die von der Perserherrschaft befreiten Griechenstädte Westkleinasiens angehörten. Es handelte sich formell um ein Waffenbündnis gleichberechtigter Mitglieder, dessen oberste Organe auf der Insel Delos ihren Sitz hatten, in der Praxis aber war klar, dass Athen die unbestrittene Führung innehatte. Im Laufe der Jahre war diese Führungsposition dermaßen intensiviert worden, dass der Seebund mehr und mehr die Züge eines autoritären Herrschaftssystems der Athener angenommen hatte.
Als die Athener im Jahre 449 aufgrund eines mit dem Großkönig geschlossenen Abkommens die Kampfhandlungen gegen das Perserreich einstellten, war ihre Vorherrschaft im Seebund so gefestigt, dass die Frage, ob mit dem Perserkrieg nicht auch die Notwendigkeit für das Weiterbestehen des Bündnisses weggefallen sei, gar nicht erst gestellt wurde. Athen hielt sein ägäisches Bündnissystem nicht nur aufrecht, sondern formte es noch deutlicher als zuvor zu einer auf Zwang und Gewalt beruhenden Autokratie um: Die Bundesstädte wurden durch Athens überlegene Flottenmacht bei der Stange gehalten, im Extremfall sogar mit athenischen Garnisonen belegt, ihre formal immer noch als Bundesbeiträge deklarierten Tributgelder ohne weiteres zur Finanzierung des imperialen Bauprogramms der Athener verwendet.24
Wir dürfen annehmen, dass dem jungen Alkibiades im Hause des Perikles die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit des athenischen Herrschaftsanspruches gegenüber den Bundesstädten eingeimpft worden ist; zugleich aber bot sich ihm dort Gelegenheit, mit den nach Athen kommenden Vertretern ebendieser Bundesgenossenstädte in persönlichen Kontakt zu treten, ihre Standpunkte kennen zu lernen und späterhin sogar als inoffizieller Ansprechpartner für ihre Anliegen zu fungieren. Auf diese Weise wurden zwischen dem athenischen Aristokratenspross und den politischen Führungsschichten der Seebundspoleis ganz zwanglos Kontakte geknüpft, die sich Alkibiades späterhin mehrmals zu Nutze machen konnte – nicht immer zum Vorteil Athens.25
Natürlich ist Alkibiades in jenen Jahren auch mit vielen Griechen aus nicht dem Seebund angehörenden Poleis in Kontakt gekommen. Wir dürfen es ihm zutrauen, dass er die dadurch gebotene Gelegenheit, sich über die politische Lage in der außerathenischen Griechenwelt kundig zu machen, eifrig genutzt hat. Das Bild, das sich dabei ergab, konnte aus athenischer Sicht zu Stolz, aber auch zur Besorgnis Anlass geben.
Das Persersiegerprestige und die Seebundsherrschaft hatten Athen eine Position verschafft, die jedem Vergleich mit der Macht der einstmals in Griechenland dominierenden Spartaner standhalten konnte. Die Spartaner hatten den Aufstieg Athens von Anfang an mit Unbehagen beäugt, in den ersten Jahren nach dem Perserkrieg zunächst aber eine Politik der freundschaftlichen Koexistenz betrieben. Etwa zehn Jahre vor Alkibiades’ Geburt war es dann jedoch zum offenen Bruch zwischen den beiden griechischen Großmächten gekommen: Die Athener kündigten den Spartanern die Freundschaft und begannen mit dem Bau der sogenannten ‚Langen Mauern‘, mit denen sie ihrer Stadt eine geschützte Verbindung zum Meer schufen. Die Vollendung dieser Befestigungsanlage machte Athen zu einer gewaltigen, für die Landmacht Sparta fast unangreifbaren Seefestung und gab den Athenern den Rückhalt für eine Expansionspolitik, die bald in einer Serie kriegerischer Auseinandersetzungen mit spartanischen Bundesgenossen, schließlich auch mit den Spartanern selbst eskalierte.
Die ‚Langen Mauern‘ und die athenische Seemacht erwiesen im Zuge dieser Kämpfe ihren Wert, doch auf der anderen Seite mussten die Athener bei ihren Vorstößen mehr als einmal verlustreiche Rückschläge hinnehmen, so die schon erwähnte Schlacht von Koroneia, in der Alkibiades’ Vater den Tod fand. Schließlich kam es dank der Bemühungen kompromissbereiter Kräfte auf beiden Seiten im Winter 446/45 zum Abschluss eines ‚dreißigjährigen Friedens‘, der zwar das Ende der athenischen Expansionsbestrebungen im Bereich des griechischen Mutterlandes bedeutete, den Athenern aber im Gegenzug die Anerkennung ihrer Seebundsherrschaft durch die Spartaner sicherte.26
Seither hatten sich die Athener einer Periode friedlicher Prosperität erfreuen können, doch fasst man die Gesamtlage in Griechenland ins Auge, wo Athens Seereich einem ebenso mächtigen Block von Sparta geführter Poleis gegenüberstand, so konnten skeptische Betrachter Gründe genug finden, der Stabilität des Friedens nicht zu trauen. Die Gefahr eines neuen Krieges mit Sparta schwebte auch während der glanzvollsten Zeiten der athenischen Prosperität stets als dunkle Wolke am athenischen Horizont.