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Оглавление„Kerzen? Zum Frühstück?“, fragte Ludwig. „Und warum zehn?“ Sonst aßen sie im Stehen in der Küche, Charlotte trank ihren Tee, Ludwig seinen Kaffee, beide aßen ein Brot, Ludwig mit Honig, Charlotte mit Quark, und Kerzen brannten schon gar nicht, die gab es nur zu Weihnachten. Also musste heute ein besonderer Tag sein.
Das war es auch, und Ludwig wusste es. Er tat so, als ob er überrascht wäre, wollte es genießen, Charlottes Gesicht, ihren fragenden Blick, ein wenig ungläubig, dann enttäuscht, weil Ludwig sich tatsächlich nicht daran zu erinnern schien, was heute für ein Tag war. Dann würde er hervorholen, was er ausgesucht hatte, mit großer Sorgfalt und es ihr überreichen. Charlotte würde erleichtert sein, versöhnt, würde kurz die Verärgerte spielen, weil er sie aufs Glatteis geführt hatte und sie darauf hereingefallen war.
Heute war der zehnte Hochzeitstag der beiden. Charlotte hatte damals ein blaues Kostüm getragen, Ludwig erinnerte sich genau, sie hatten es beide ausgesucht, im gleichen Modehaus in München, in dem er auch seinen Anzug gekauft hatte, ebenfalls dunkelblau, mit Nadelstreifen. Er hatte den Anzug heute noch, benutzte ihn allerdings selten, das letzte mal bei der Beerdigung seines Onkels Edmund, der an Leberzirrhose gestorben war, totgesoffen, wie seine Schwester Maria, Ludwigs Mutter, gesagt hatte.
Die Hochzeitsfeier von Charlotte und Ludwig hatte im Hinterzimmer des „Goldenen Schwan“ stattgefunden, der teuersten Gastwirtschaft in Loisach, einer kleinen Stadt in Oberbayern, wo Charlotte und Ludwig auch heute noch wohnten. Seine Eltern waren damals nicht erschienen, für sie zählte nur eine Heirat in der Kirche, mit allem Drum und Dran. Die wurde ein paar Wochen später nachgeholt, nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen Ludwig und Charlotte, die zwar ebenfalls katholisch war, der jedoch der Glaube an das, was man ihr im Religionsunterricht beigebracht, was sie von der Kanzel gehört und im Katechismus und anderen Büchern gelesen hatte, abhanden gekommen war, nicht von heute auf morgen, sondern er war langsam versickert.
Sie hatte der Zeremonie unter der Bedingung zugestimmt, dass ihre gemeinsamen Kinder nicht getauft werden würden, vorerst nicht. Heute ist heute und morgen ist morgen, hatte Ludwig gedacht, Hauptsache, die Trauung fand statt, in der Dorfkirche von Reitham. Dort war er getauft worden, vor siebenunddreißig Jahren, und dort war er als Bub am Sonntag um Neun zur Messe und einmal im Monat zur Beichte gegangen. Hauptsache auch, dass seine Eltern sich mit Charlotte abgefunden hatten und mit der Tatsache, dass er den Hof nicht übernehmen, keine Frau aus dem Dorf oder der Umgebung heiraten und sie nicht als stolze Großeltern von zahlreichen Enkeln, die allesamt in Reitham lebten, ihren Lebensabend verbringen würden. Sie hatten zwar Enkelkinder, ein Bub und ein Mädchen, von ihrer Tochter, die zwei Jahre jünger war als Ludwig, aber die lebte am Ende der Welt, irgendwo in Norddeutschland.
Ludwig und Charlotte hatten keine Kinder, noch nicht, sagte Ludwig, wenn er danach gefragt wurde, anfangs häufig, in den letzten Jahren immer seltener. Sie galten als kinderloses Ehepaar, obwohl sie das gar nicht sein wollten. Schon vor der Hochzeit hatten sie sich Gedanken darüber gemacht, wie viele Kinder sie haben wollten, drei sollten es sein, und ob sie eine große Wohnung in der Stadt oder ein Haus auf dem Land kaufen sollten, aber das kam nicht infrage, dazu hätten Ludwigs Eltern ihren Hof verkaufen und ihm sein Erbteil auszahlen müssen, was sie nie und nimmer getan hätten, und Ludwig hätte es auch nicht gewollt. Charlotte hatte von ihren Eltern nichts zu erwarten, die lebten seit der Pensionierung ihres Vaters, eines Beamten mittlerer Laufbahn, in Spanien.
„Irgendwann klappt es“, sagte Charlottes Arzt jedes mal, wenn sie sich untersuchen ließ, zweimal im Jahr und er feststellte, dass nichts dem Kinderkriegen entgegenstand oder es erschwerte. Bei Ludwig war es genauso. „Es muss andere Gründe geben“, hatte sein Arzt gesagt. „Vielleicht wollen Sie gar keine Kinder, unbewusst, meine ich. Vielleicht stimmt etwas nicht in der Beziehung zu Ihrer Frau.“ Ludwig hatte, nach anfänglichem Kopfschütteln, lange darüber nachgedacht, über sein Unbewusstes und war zu keinem anderen Ergebnis gekommen als zu dem, was sein Bewusstes ihm auf diese Frage antwortete: Du liebst Charlotte und willst mit ihr Kinder haben.
An einem Winterabend vor zwei Jahren, als sie nach einem Abendessen bei einem französischen Rotwein zusammensaßen, er war aus dem Roussillon, Ludwig erinnerte sich genau an das Etikett und daran, dass es Boeflamotte, sein Lieblingsessen, gegeben hatte, war er, so nebenbei wie möglich, auf Charlottes Unbewusstes zu sprechen gekommen, hatte von Verdrängung geredet, von Abwehr und Neurose. Das hatte er ein paar Tage vorher in einem Buch gelesen, das ihm ein Kollege empfohlen hatte, der sich mit so etwas beschäftigte. Charlotte hatte ihm zugehört, ohne ihn zu unterbrechen, hin und wieder den Kopf geschüttelt und als er fertig war, nur gesagt, das sei alles Unsinn. Dann hatte sie ihm einen Kuss gegeben und die Teller abgeräumt.
Ludwig sah, dass Charlotte hinter ihrem Rücken etwas versteckt hielt, genauso wie er. Sie machte gar kein enttäuschtes Gesicht, sondern öffnete den Mund, holte tief Luft, um etwas zu sagen. Doch sie machte den Mund wieder zu, lächelte und zog einen Blumenstrauß hervor, Rosen, zehn rote und eine weiße.
„Alles Gute zum Hochzeitstag“, sagte sie. Ludwig tat überrascht und machte ein Gesicht, als ob er ein schlechtes Gewissen hätte, doch dann zog auch er hinter seinem Rücken einen Blumenstrauß hervor, ebenfalls rote Rosen, genau zehn, und sagte ebenfalls: „Alles Gute zum Hochzeitstag.“ Sie küssten sich. Dann nahm Charlotte Ludwigs Strauß, packte ihn mit ihrem zusammen, ging zur Vitrine, dunkelbraunes Holz mit Glastüren, ein Erbstück ihrer Großmutter, nahm eine Vase heraus und stellte die Rosen hinein. „Da hat sich eine dazwischen gemogelt, die da nicht hingehört“, sagte er und deutete auf die weiße Rose. Genau auf diesen Satz schien Charlotte gewartet zu haben. „Nicht gemogelt“, sagte sie sofort. „Sie gehört dazu, in sechs Monaten“ und sah ihn erwartungsvoll an.
Ludwig hatte zwar gehört, was Charlotte gesagt hatte und spürte auch, dass Charlotte auf eine Reaktion wartete, aber er schwieg und dachte nach. Bedeutete die weiße Rose, umgeben von zwanzig roten, die sie zu beschützen schienen, dass Charlotte schwanger war, dass in sechs Monaten ein Kind zur Welt kommen würde, ihr Kind, endlich, nach all den Jahren, in denen auf die Hoffnung stets die Enttäuschung gefolgt war? Vielleicht bedeutete die weiße Rose etwas ganz anderes, eine Beförderung zum Beispiel. Charlotte arbeitete als Altenpflegerin in einem Heim, das sich Seniorenresidenz Waldfrieden nannte, obwohl gar kein Wald in der Nähe war. Vielleicht hatte sie auch eine neue Stelle gefunden, würde in sechs Monaten dort anfangen und mehr verdienen als bisher, erheblich mehr, so dass sie sich eine eigene Wohnung leisten konnten oder eine Reise nach Brasilien, wo eine Cousine von Charlotte lebte oder sogar ein Haus in der Altstadt, klein, verwinkelt, das man umgestalten konnte, Charlottes Traum. Das wird es sein, dachte Ludwig, eine neue Stelle. Er zwang sich, das und nichts anderes zu vermuten – nicht schon wieder eine Enttäuschung!
„Du bist - …?“ fragte er dennoch. Es war, als ob ein anderer die Frage gestellt hätte, ein Ludwig, der mutiger war und keine Angst vor der Antwort hatte. Endlich traute er sich, Charlotte anzusehen. Sie lächelte, dann nickte sie, mehrere male. Jetzt wusste Ludwig, dass es stimmte – sie war schwanger!
Ihm wurde heiß, seine Beine zitterten. Er setzte sich. Er musste etwas sagen, etwas tun, sie umarmen, küssen, vor Freude weinen, Charlotte wartete darauf. Aber er saß auf dem Stuhl und rührte sich nicht. Er hätte schreien können vor Freude, aber er tat es nicht, er konnte es nicht. Stattdessen beobachtete er, wie Charlotte sich verhielt, beobachtete sich selbst und wartete, dass ihm gesagt würde, was er tun solle, von einer inneren Stimme, dass plötzlich ein Gedanke da war, ein Einfall. Er rieb an seinen Augen herum, glaubte, da sei etwas hineingeflogen, eine Mücke, ein Staubkorn. Seine Finger waren feucht.
„Das werden harte Monate für dich“, sagte Charlotte. Sie saß auf seinem Schoß, nahm seine Hände von den Augen, fasste seinen Kopf und zwang ihn, sie anzusehen. Er fühlte sich entblößt, sah nach unten. Sie tupfte ihm die Tränen weg. Jetzt sah er sie an. Ihre Augen waren wie zwei Türen, die aufgingen, nur für ihn. Er sagte: „Ich liebe dich.“ Dann frühstückten sie.
Der Kaffee schmeckte heute besonders gut, auch der Honig und die Marmelade. Der Honig war aus Reithamonig und die Marmelade. HGonig , vom Nachbarhof, die Marmelade ebenfalls, von Ludwigs Mutter, die es nicht über sich brachte, die Brombeeren an der Hecke verfaulen zu lassen und die Pflaumen und Pfirsiche ebenfalls. Zu Weihnachten packte sie Ludwig die Gläser in den Kofferraum, nachdem der die leeren vom letzten Jahr abgeliefert hatte, sorgfältig gereinigt, darauf legte Charlotte Wert.
Nach dem Frühstück gingen beide zu ihrer Arbeit. Vor der Haustür umarmten und küssten sie sich, was von der Nachbarin mit Erstaunen registriert wurde, denn sonst gaben sich die beiden vor der Haustür nur einen flüchtigen Kuss. Ludwig bestieg sein Fahrrad und winkte Charlotte zu, die das Auto aufschloss und davon fuhr. Das Heim, in dem sie arbeitete, lag am Stadtrand. Ludwigs Schule war in der Nähe, in der Stadtmitte.
Er fuhr einen Umweg, wollte Zeit gewinnen, nicht gleich vor die Klasse treten, wollte nachdenken, das Glück genießen. Er dachte an seine Eltern, die jetzt endlich die Hoffnung aufgeben würden, dass ihr Sohn sich an seine Pflicht und Schuldigkeit erinnern, nach der Trennung von seiner Frau, die nicht in Bayern, sondern im Rheinland aufgewachsen war, nach Reitham zurückkehren und den Hof, der seit Generationen im Besitz der Familie war, übernehmen und weiterführen würde. Ludwig hatte nicht für die Landwirtschaft getaugt, weil er Angst hatte vor den Tieren, den Kühen, wenn sie ihn anglotzten, dem Hahn, der ihn zu bedrohen schien, wenn er die Eier einsammelte, erst recht vor den Ratten im Stall und den Fledermäusen in der Scheune. Er konnte den Geruch nicht ertragen, den die Kühe absonderten, den Gestank von Schweiß und Jauche und Fäulnis, das Gegacker der Hühner ging ihm auf die Nerven, das Grunzen der Schweine und das Blöken der beiden Ziegen, die Lieblinge seiner Mutter, die zu nichts nutze waren, denn sie gaben längst keine Milch mehr.
Das einzige, was Ludwig gemocht hatte, war der Geruch, der über den Feldern lag, wenn das Heu gemäht wurde und der Anblick der Felder, wenn der Raps in Blüte stand. Aber das geschah nur an wenigen Wochen im Jahr, und den Raps gab es nur auf den Feldern der anderen Bauern, denn sein Vater Alois weigerte sich, ihn anzubauen, weil daraus Treibstoff und nichts Essbares gemacht wurde. Und was er von seinem einzigen Sohn hielt, der vor dem Vieh Angst hatte, sich vor ihm ekelte und lieber auf dem Dachboden Bücher las, das ließ er ihn oft genug wissen. Er setzte seine Hoffnungen auf Gertrud, Ludwigs jüngere Schwester, die alles hatte, was Ludwig nicht hatte und alles konnte, was er nicht konnte und was für ihn zählte. Sie war der Liebling ihrer Eltern, Ludwig hatte sich damit abgefunden. Er besuchte das Gymnasium in Loisach und ging nach dem Abitur nach München, um dort zu studieren, Deutsch und Geschichte, er wollte Lehrer werden. „Das passt zu dir“, hatte sein Vater gesagt. Gertrud bestand die Meisterprüfung als Landwirtin mit Auszeichnung, besuchte danach die Höhere Landbauschule und war danach Staatlich geprüfte Agrarbetriebswirtin.
Nach der Zeit als Referendar bekam Ludwig eine Anstellung an seiner alten Schule, dem Städtischen Gymnasium in Loisach, als Studienrat, Beamter auf Lebenszeit. Er war zufrieden, hatte erreicht, was er hatte erreichen wollen, war weder besonders beliebt noch besonders unbeliebt, sowohl bei den Kollegen, als auch bei den Schülern. Er fiel nicht auf, tat sich nicht hervor, außer dass er eine Theatergruppe gegründet hatte, aber das erwartete man von einem Deutschlehrer, wie ihm der neue Direktor zu verstehen gegeben hatte. In dreißig Jahren würde er in Pension gehen.
Die Hoffnungen, die Ludwigs Eltern in ihre Tochter gesetzt hatten, erfüllten sich nicht. Bei einem Ausflug des Bayerischen Bauernverbands in das Münsterland lernte sie einen Christian kennen, verliebte sich in ihn, zwei Wochen später war er in Reitham aufgetaucht und hatte sich mit Gertrud verlobt. Kurz darauf war sie schwanger, heiratete ihren Christian und ging mit ihm nach Norddeutschland, wo er den väterlichen Hof übernahm, der dreimal so groß wie der Riegerhof war. Alois und Maria hatten Jahre gebraucht, bis zur Geburt des zweiten Enkelkinds, einem Mädchen, bis sie sich aufrafften, ihre Tochter, ihren Schwiegersohn und ihre beiden Enkelkinder zu besuchen. Sie hatten sich damit abgefunden, dass der Riegerhof nach ihrem Tod verkauft werden würde, vielleicht sogar früher, weil Alois die Arbeit auf dem Hof immer schwerer fiel.
Auch Charlotte ließ sich auf der Fahrt zur Arbeit Zeit. Am liebsten hätte sie angehalten, sich an den Fluss gesetzt und das Leben genossen. Heute war ihr Hochzeitstag, und seit heute wusste auch Ludwig, dass sie bald zu Dritt sein würden, eine richtige Familie. Dieses Glücksgefühl würde den ganzen Tag anhalten, auch morgen noch und übermorgen, die nächsten Wochen und Monate, bis zur Geburt, danach sowieso. Sie würde sich nicht ärgern, wenn die Chefin ihr vorwarf, dass sie den pensionierten Professor nur mit seinem Namen und nicht mit seinem Titel anredete, würde weghören, wenn die dürre Ziege mit den teuren Klamotten, die immer nach einem süßlichen Parfüm roch, sich wieder einmal über das einfallslose Essen beschwerte, würde dem geilen Bock, der sie zu befingern versuchte, ein Sexmagazin schenken und der kleinen Zerknitterten, die sich über jedes Staubkorn beschwerte, das sie in einer Ecke, unter dem Schrank oder auf einem Bilderrahmen gefunden und mit boshaftem Triumph wie eine Trophäe präsentierte, wortlos einen Putzlappen in die Hand drücken und einen Staubwedel dazu.
Eigentlich hatte Charlotte Jura studiert, ein paar Semester, um Richterin zu werden oder Staatsanwältin, das hätte ihrem Vater imponiert, einem Justizangestellten. Doch irgendwann hatte sie keine Lust mehr gehabt und hingeschmissen, von heute auf morgen. Es war in der Bibliothek gewesen, sie hatte sich mit dem Thema Erbrecht beschäftigt, am nächsten Tag sollte es eine Klausur geben, als ihr plötzlich klar geworden war, dass sie das nicht wollte, sich ihr ganzes Leben mit so etwas beschäftigen, mit Erbrecht, Mietrecht, Vertragsrecht, Familienrecht, Strafrecht, Urheberrecht, mit Paragrafen, Präzedenzfällen, Urteilen, Revisionen, Gutachten, Kommentaren und Instanzen. Sie war aufgestanden, hatte ihre Sachen gepackt, war nach Hause gegangen, auf ihr Zimmer in der Wohngemeinschaft, zu der auch Ludwig gehörte, hatte alles, was zum Studium der Rechtswissenschaft gehörte, Bücher, Papiere, Notizen, Exzerpte, in den Papiercontainer geworfen, hatte sich eine Flasche Wein gekauft, an die Isar gesetzt, es war ein warmer Sommertag gewesen, die Flasche auf den Mund gestülpt und frei gefühlt. Eine ältere Frau hatte sich ihr genähert und gesagt, sie wolle nicht aufdringlich erscheinen, aber Charlotte habe anscheinend Probleme, ob sie ihr helfen könne. „Im Gegenteil“, hatte Charlotte gesagt und ihr, schon ein wenig betrunken, von ihrem Entschluss erzählt, das Studium hinzuschmeißen. Die Frau, sie hieß Agnes, wohnte in einer Seniorenresidenz, wie sie spöttisch sagte, drückte Charlottes Hand, nahm einen Schluck und dann noch einen. Als die Flasche leer war, wusste Charlotte, dass sie Altenpflegerin werden würde. Sie besuchte Agnes oft, und als Ludwig und sie nach Loisach zogen, ließ sich Agnes auf die Warteliste setzen und wechselte nach einem halben Jahr in das Altersheim, in dem Charlotte arbeitete.
Agnes lag noch im Bett, als Charlotte das Zimmer betrat. Sonst war sie um diese Zeit im Bad und wartete darauf, dass Charlotte ihr beim Duschen, beim Haarewaschen und beim Anziehen half. Vor zwei Jahren hatte sie einen Schlaganfall erlitten. Seitdem konnte sie sich ohne Hilfe nicht mehr duschen und anziehen und benötigte beim Gehen ein Stock, was sie besonders ärgerte. Nachdem sie vor drei Wochen gestürzt war, auf dem Weg zum Casino, wie der Raum genannt wurde, in dem es Essen gab, war sie an den Rollstuhl gefesselt, wie sie es nannte. Sie war jetzt neunzig Jahre alt.
„Hallo Agnes“, sagte Charlotte, zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster. Jetzt war das Plätschern des Brunnens zu hören, der sich in einem kleinen Park befand, umgeben von weiß lackierten Bänken, an denen die Farbe abblätterte und auf denen in wenigen Stunden die alten Menschen sitzen würden, immer die gleichen auf immer den gleichen Plätzen und über immer das Gleiche redend, über Krankheiten, Todesfälle, das Essen, das Wetter, das Fernsehprogramm, die Enkelkinder und die früheren Zeiten, in denen alles besser war als heute.
Agnes antwortete nicht. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Charlotte zog die Decke ein Stück nach unten und sagte: „Ein neuer Tag, Agnes. Ein schöner Tag.“ Agnes schüttelte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen. „Für mich schon“, sagte Charlotte. Agnes machte die Augen auf und sah Charlotte an. „Ich war beim Arzt“, sagte Charlotte. Agnes zog die Augenbrauen zusammen. Sie sah besorgt aus. „Ich bekomme ein Kind“, fuhr Charlotte fort. Agnes richtete sich auf, fasste Charlotte an den Schläfen, zog ihren Kopf zu sich herunter, küsste sie auf die Stirn und sagte: „Endlich.“
Zur gleichen Zeit betrat Studienrat Rieger das Klassenzimmer der elften Klasse des Städtischen Luitpold-Gymnasiums in Loisach. Geschichte stand auf dem Stundenplan. Ludwig hatte eine Mappe unter dem Arm, in der sich zweiundzwanzig Blätter befanden, genauer gesagt, gefaltete Doppelblätter, die alle beschrieben waren, manche mehr, manche weniger, mit unterschiedlichen Handschriften, ordentlichen oder kaum lesbaren. Ludwig ging zu dem Tisch, der vorne stand, Palisanderimitation, Beine aus Aluminium, legte die Mappe darauf, setzte sich auf den Stuhl, sah in die Klasse, öffnete die Mappe und sagte: „Die Räterepublik.“ Zwanzig Augenpaare sahen ihn an, elf weibliche und neun männliche, erwartungsvoll, einige ängstlich. „Schnitt zweikommasechs“, fügte Ludwig hinzu, was bei den meisten ein erleichtertes Aufatmen zur Folge hatte.
Er nahm die Blätter heraus. Am liebsten hätte er der Klasse gesagt, dass er bald Vater werden, aus diesem Anlass heute kein Unterricht stattfinden und er alle zu einem Eis, einem Cheeseburger, einer Bratwurst oder sonst was einladen würde, aber das ging natürlich nicht. Er bemühte sich, ein Gesicht zu machen, das keine besondere Regung verriet und versuchte, sich auf die Blätter, die er in den Händen hielt, zu konzentrieren. Es war in dem Test um die Abdankung des bayerischen Königs im November 1918 gegangen und um die Monate danach, um den ersten bayerischen Ministerpräsidenten Eisner und um die Wahl im Januar 1919 und die nachfolgende Räterepublik.
Ludwig nahm das erste Blatt in die Hand und sagte: „Sally.“ Ein Mädchen drehte sich ruckartig um, wie ertappt. Es saß an einem Tisch am Fenster und hatte einem schwarzen Vogel zugeschaut, der auf dem Fensterbrett aufgeregt hin und her hüpfte, verzweifelt klingende Laute von sich gab und dabei zu einer Linde hinsah, die mitten auf dem Schulhof stand. „Sie will nichts von dir wissen, die Amsel“, sagte Ludwig. Einige in der Klasse lachten. „Ihr Freund hat sie verlassen“, sagte Sally. „Sie will, dass er zu ihr zurückkehrt.“ „Sie schaut sich nach einem Neuen um“, sagte ein Junge. „Typisch“, sagte Sally und sah den Jungen verächtlich an.
Ludwig mochte Sally. Ihre Großmutter lebte in dem Heim, in dem Charlotte arbeitete. Sally besuchte sie oft, ging mit ihr spazieren, kümmerte sich um ihre Kleider und spielte mit ihr Karten. In siebzehn Jahren würde sein Sohn oder seine Tochter genauso alt sein wie Sally, vielleicht in dieser Klasse sitzen, einem Vogel zuschauen, einen Test schreiben oder zurückbekommen, wieder einmal über die Räterepublik, vielleicht würde er der Lehrer sein, Mitte fünfzig und sich über die gute Note seines Sohnes oder seiner Tochter freuen. „Eins minus“, sagte Ludwig und gab Sally das Blatt.
Agnes hatte sich das Mittagessen auf ihr Zimmer bringen lassen. Jetzt saß sie im Rollstuhl und schlief. Sie trug einen blauen, etwas zerschlissenen Bademantel. Als Charlotte hereinkam, schreckte sie auf. „Gleich kommt ihre Enkelin und geht mit Ihnen spazieren“, sagte sie, ging zum Schrank, nahm eine helle Hose und eine bunte Bluse heraus und begann, Agnes den Bademantel auszuziehen. „Viel zu grell für mich“, sagte Agnes und deutete auf die Bluse. „Papperlapapp!“, sagte Charlotte. Zehn Minuten später schob sie den Rollstuhl vor den großen Spiegel, der an der Schranktür angebracht war und fragte: „Und?“ Agnes trug jetzt die helle Hose, die bunte Bluse und war sogar ein wenig geschminkt. „Eine alte Frau“, antwortete Agnes. Dann nahm sie Charlottes Hand, deutete auf ihr Spiegelbild und sagte: „Schau genau hin, junge Frau. Vergiss niemals, wie glücklich du warst.“ Charlotte drehte sich weg und wischte mit dem Handrücken über ihre Augen.
„Hallo Oma!“ rief jemand an der Tür. Es war Sally. „Hallo, Frau Rieger“, fügte sie hinzu. „Ist sie fertig?“ Charlotte nickte. Sally gab Agnes einen Kuss, sagte „Ich hab eine Eins in Geschichte!“ und schob den Rollstuhl in Richtung Tür. „Halt!“ rief Agnes. Sally erschrak, blieb stehen. „Hol den Cognac“, sagte Agnes zu Sally und deutete auf die Vitrine. Sally sah Charlotte an, hob fragend die Schultern. Agnes durfte keinen Alkohol trinken, der Arzt hatte es verboten. Das wusste Charlotte, und Sally wusste es auch. Charlotte tat so, als ob sie Sallys fragenden Blick nicht bemerkt hätte und machte sich an dem Bett zu schaffen. Sie ahnte, was Agnes mit dem Cognac vorhatte. Sollte sie einer alten Frau von neunzig Jahren verbieten, einen kleinen Schluck zu trinken, auf das Wohl einer Frau, die sich seit vielen Jahren um sie kümmerte und endlich schwanger war und die natürlich den Cognac entdeckt und darüber geschwiegen hatte?
„Nein“, sagte Sally. „Nicht wegen einer Eins.“ „Und drei Gläser“, sagte Agnes. „Mach schon!“ Sally rührte sich nicht. Agnes rollte zu der Vitrine, öffnete die Tür, nahm eine halbleere Cognacflasche heraus und ließ sich erschöpft in den Rollstuhl zurückfallen. „Die Gläser“, sagte sie und deutete auf den oberen Teil der Vitrine, wo hinter Glastüren Gläser standen. Sally zögerte, sah wiederum Charlotte an. Diesmal nickte Charlotte, und Sally nahm aus dem Vitrinenschrank drei Gläser. Agnes schraubte den Verschluss der Flasche auf, goss die Gläser halbvoll, hob ihr Glas, deutete auf Charlottes Bauch und sagte: „Auf das da!“ Sally verstand sofort und rief: „Wau!“ Dann stieß sie zuerst mit Charlotte, dann mit ihrer Großmutter an. Sie nahm nur einen kleinen Schluck, Charlotte ebenfalls, schließlich musste sie noch einige Stunden arbeiten. Nur Agnes nahm einen größeren Schluck und schmatzte genießerisch. Doch plötzlich machte sie ein besorgtes Gesicht. „Was ist?“ fragte Sally. „Dann wird sie uns fehlen“, antwortete Agnes und trank ihr Glas leer. Charlotte sagte: „Noch ist es nicht so weit“ und nahm doch noch einen Schluck. „Ganz schön egoistisch von mir“, sagte Agnes und fasste Charlotte am Arm. „Drum war er heute so gut drauf“, sagte Sally. „Ich bin ja nicht aus der Welt“, sagte Charlotte. Agnes nickte, nahm ihre Hand weg, stellte das leere Glas auf die Vitrine und sagte zu Sally: „Auf geht´s!“
Ludwig packte seine Sachen zusammen. Er sah auf die Uhr, die im Lehrerzimmer hing, zwischen den beiden Fenstern, die zum Schulhof hinaus gingen. Es war kurz vor zwei. Ludwig hatte Hunger. Er würde sich an dem Kiosk, der neben der Schule war, eine Bratwurst kaufen, mit viel Senf.
Warum so gut gelaunt?“ fragte Rauch, der an dem großen Tisch saß und Hefte korrigierte. Er unterrichtete Französisch und hatte am Nachmittag einen Aufbaukurs. Erst jetzt bemerkte Ludwig, dass er vor sich hin pfiff, irgendeine Melodie, die ihm gerade einfiel. „Warum nicht?“ antwortete Ludwig mit einer Gegenfrage. Er mochte Rauch nicht. Er verbreitete stets eine schlechte Stimmung, hatte an allem etwas auszusetzen, an der Schule, den Schülern, seinem zu niedrigem Gehalt, dem Wetter. Er wäre gerne Direktor geworden oder zumindest sein Stellvertreter, aber man hatte ihn übergangen, aus politischen Gründen, wie er sagte, Was er damit meinte, hatte Ludwig nicht verstanden und ihn einmal danach gefragt. Rauch hatte geantwortet, er gehöre keiner Partei an, jedenfalls nicht der richtigen. Jetzt war Rauch Mitte fünfzig und hatte die Hoffnung auf eine Beförderung aufgegeben. Sommer, der seit zwei Jahren Direktor war, gehörte auch keiner Partei an, jedenfalls sagte er das bei jeder passenden oder auch unpassenden Gelegenheit, und auch der Landrat hatte das bei seiner Ernennung betont. Rauch hatte darüber nur gelacht.
Eine junge Frau betrat das Lehrerzimmer - Edith Vogel, Mitte vierzig, Englisch und Geografie, schlank und gepflegt, sportlicher Typ, Tennis, Reiten, Skifahren. „Schaun´n Sie sich den Rieger an, verehrte Kollegin“, sagte Rauch zu ihr. Die Vogel stellte ihre Aktentasche auf einen Stuhl und sah Ludwig an. „Was ist mit ihm?“, fragte sie. „Eine Rarität“, antwortete Rauch. „Ein gut gelaunter Lehrer.“ „Na und?“, fragte die Vogel und nahm eine Banane aus ihrer Tasche. „Und warum ist er so gut gelaunt?“ fragte Rauch. „Weil er nach Hause kann“, antwortete die Vogel und begann, die Banane zu schälen. Ludwig ging zu Tür. „Also Rieger“, fragte Rauch, „raus damit – warum sind Sie so unverschämt gut gelaunt?“ „Ich bin befördert worden“, antwortete Ludwig. Die Vogel wollte gerade in die Banane beißen, hielt jedoch inne, mit geöffnetem Mund, und Rauch war aufgesprungen, starrte Ludwig an und sagte: „Da schau her.“ „Zum Vater“, sagte Ludwig und verließ das Lehrerzimmer. Er wollte sich nicht über Rauch ärgern, der erleichtert war, dass Ludwig nicht an seiner Stelle Karriere machte, das nächste Heft nahm, anstatt den zukünftigen Vater zu beglückwünschen und ihn zu fragen, wie es Charlotte gehe, ob sie sich ein Mädchen wünschten oder einen Jungen. Der Vogel schien das egal zu sein, ob Ludwig Karriere machte oder nicht, ob er Vater werden würde oder nicht. Sie mochte keine Kinder, es sei denn, sie waren ihre Schüler, Objekte ihres pädagogischen Eros, wie sie es nannte, Hohlköpfe, die mit Wissen zu füllen sie sich berufen fühlte.
Der Kiosk war geschlossen. Ludwig hatte vergessen, dass heute Mittwoch war. Also keine Bratwurst, dachte er und entschloss sich, überhaupt nichts zu essen, sondern bis zum Abend zu warten. Er würde Charlotte einladen, in den „Weißen Schwan“, wo sie nicht nur ihre Hochzeit gefeiert hatten, sondern auch seine Anstellung als Beamter auf Lebenszeit, mit einem Fünfgängemenü und australischem Rotwein. Das Gleiche würden sie sich heute gönnen. Er würde Charlotte von der Arbeit abholen, sie würde sich umziehen wollen, er würde dagegen sein, weil er befürchtete, dass sie, müde von der Arbeit, das Haus gar nicht mehr verlassen wollte. Bis dahin würde er ein wenig in der Stadt herumlaufen, sich nach einem Geschenk für Charlotte umsehen, auf einer Bank am Fluss die Sonne genießen, die Zeitung lesen und einem Kind zuschauen, das Steine ins Wasser warf oder die Enten fütterte. In ein, zwei Jahren würde er seiner eigenen Tochter zuschauen, wie sie auf wackeligen Beinen am Ufer stand und sich daran ergötzte, wie der von ihrem Vater geworfene Stein ins Wasser plumpste oder mehrere Male über die Wasserfläche hüpfte, bevor er versank.
Er wünschte sich also eine Tochter, stellet Ludwig fest. Das alte Klischee, dachte er, Vater will Tochter, Mutter will Sohn. Also stellte er sich einfach nur ein Baby vor, weder weiblich noch männlich, das er in einem Kinderwagen durch die Stadt fuhr, dem er auf der Bank am Fluss die Flasche gab und später beim Einschlafen eine Gutenachtlied sang. Ein Liederbuch musste er kaufen, Kinderlieder. Seine Eltern hatten ihm nie ein Schlaflied gesungen. Der einzige Ort, wo gesungen wurde, war die Kirche. Bei der Fronleichnamsprozession wurde auch gesungen und in der Gastwirtschaft, wenn alle betrunken waren.
Er stand vor dem „Weißen Schwan“, der jetzt „Tassilo“ hieß. Ein Sternekoch hatte das Lokal übernommen und es zu einer Topadresse gemacht, zu einem Geheimtipp, wie im „Loisacher Boten“ gestanden hatte. Ludwig sah auf die Speisekarte, die neben der Eingangstür hing und erschrak. So viel Geld hatte er noch nie für ein Essen bezahlt. Egal, dachte er, ein besonderes Ereignis erfordert ein besonderes Essen.
Als sie später vor dem „Tassilo“ standen, schüttelte Charlotte den Kopf und sagte, dass sie gar nicht ausgehen, sondern lieber zuhause bleiben und es sich gemütlich machen wolle. Sie wären bald zu Dritt und müssten jeden Euro zusammenhalten. Außerdem passte das „Tassilo“ nicht zu ihnen. Ludwig war der gleichen Meinung. Auch ihm bedeutete es nichts, inmitten von Leuten zu sitzen, die nur deswegen hier waren, weil das Essen dreimal so teuer, aber nur ein bisschen besser war als anderswo und die sich selbst und anderen zeigen wollten, dass sie es sich leisten konnten.
Sie gingen also nach Hause, aßen eine Kleinigkeit, Bratkartoffeln mit Spiegelei, und überlegten, was in der Wohnung zu verändern war. Ludwig würde sein Arbeitszimmer aufgeben, um für das Kinderbett, die Wickelkommode und die Spielsachen Platz zu machen. Sein Schreibtisch würde ins Wohnzimmer gestellt, und für die Bücher würde ein neues Regal gekauft werden. Irgendwann würden sie sowieso in eine größere Wohnung umziehen. Dann redeten sie über den Namen, den sie ihrem Kind geben würden und machten eine Liste, links die männliche, rechts die weiblichen Vornamen. Es war eine lange Liste.
Im „Tassilo“ hätten sie gar keinen Platz bekommen. Das ganze Lokal war reserviert, für den Bürgermeister und diejenigen Mitglieder des Stadtrats, die in der gleichen Partei waren wie er, ebenso für den Landrat und einige ausgesuchte Mitglieder des Kreistags, Vertreter der gleichen Partei. Ehrengast war Max Breitenstein, Generalsekretär eben dieser Partei, die auch das Land regierte und rechte oder linke Hand des Ministerpräsidenten, ein wichtiger Mann also.
Es gab etwas zu feiern, das fünfzigjährige Bestehen des Ortsvereins Loisach, der seit dieser Zeit ununterbrochen den Bürgermeister stellte. Es hatte eine offizielle Feier gegeben, im kleinen Rathaussaal. Man hatte extra den kleinen und nicht den großen gewählt, um der Opposition keinen Vorwand zu geben, dem Bürgermeister und seiner Partei wieder einmal vorzuwerfen zu können, sie verstehe sich als Staatspartei und vermenge die Interessen des Gemeinwesens mit den Interessen der Partei beziehungsweise ordne die Interessen des Gemeinwesens den Interessen der Partei unter.
Breitenstein hatte die Grüße und Glückwünsche des Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden übermittelt, hatte dann jedoch nicht, wie erwartet, seinen Dienstwagen bestiegen, um in die Landespolitik, die immer auch Bundespolitik war, zurückzukehren, sondern hatte sich geduldig die eineinhalbstündige Rede des Bürgermeisters Kleinmayer angehört, der seit einundzwanzig Jahren im Amt war, eine Rede, die mehr oder weniger die Aufzählung seiner eigenen Verdienste unter kurzer Erwähnung der Verdienste seiner Vorgänger war und saß nun mit dem Bürgermeister und den Parteifreunden aus dem Stadtrat und dem Kreistag im „Tassilo“ und ließ sich von dem Sternekoch verwöhnen, wie der Bürgermeister zum Schluss seiner Rede gesagt hatte.
Man war gerade beim Nachtisch, als Breitenstein auf die Uhr sah. Es war zehn Minuten nach elf. „Vielen Dank für die Einladung“, sagte er, putzte sich den Mund mit der Serviette ab, weißes Leinen mit einem goldenen “T“, erhob sich, gab dem Bürgermeister die Hand, sagte „Es war schön bei euch“, was gelogen war, denn er hatte sich gelangweilt, stieg in seinen Dienstwagen, einen schwarzen BMW, Dienstwagen, und fuhr nach München zurück. Er fuhr selbst, denn der Fahrer hatte Urlaub.
Er war froh, die Veranstaltung hinter sich gebracht zu haben. Lieber wäre er in München geblieben, hätte sich auf seine Reise nach Berlin vorbereitet, wo er die Landesvertretung und die drei Minister in der Regierung auf den Kurs bringen sollte, den sein Chef, der bayerischen Ministerpräsident Eder, vorgegeben hatte. Einige der Damen und Herren, deren Aufgabe es war, ihre Stimme für Bayern zu erheben, und zwar unüberhörbar und Bayerns Eigenständigkeit zu demonstrieren, und zwar unübersehbar, waren augenscheinlich von dem Berliner Bazillus befallen worden, wie Eder sagte, kamen den Positionen der Regierungskoalition gefährlich nahe und hielten das Banner Bayerns inzwischen so niedrig, dass es kaum noch neben dem der schwesterlichen Regierungspartei und der unverschämt großen Fahne des Koalitionspartners zu erkennen war. Selbst die drei bayerischen Minister brauchten dringend eine Impfung, die sie gegen den Bazillus immunisierte. Aber Eder hatte Breitenstein gezwungen, nach Loisach zu fahren, hinaus aufs Land, „wo unsere Wurzeln sind“. Das stimmte nur für ihn selbst und einige wenige aus der Parteispitze. Die meisten kamen aus den Städten, wie Breitenstein aus München, aus Nürnberg, Augsburg, Würzburg, Ingolstadt, Landshut, Deggendorf, Fürth, Rosenheim, Bayreuth, Bamberg, Regensburg oder Passau. Eder stammte aus Niederbayern, einem kleinen Ort, war der Sohn eines Landwirts und zufällig in die Politik geraten, wie er selbst sagte, vom Bauernverband zum Dorfbürgermeister, vom Landrat zum Abgeordneten, vom Fraktionsvorsitzenden zum Ministerpräsidenten.
Breitenstein hatte einen anderen Weg genommen. Schon früh hatte er den Entschluss gefasst, in die Politik zu gehen, in der Öffentlichkeit zu stehen, bekannt zu sein, Einfluss zu haben und Macht. Schon als Kind hatte er davon geträumt, dass die Menschen ihm zujubelten auf dem Marienplatz - er stand auf dem Rathausbalkon, wie die Fußballer vom F.C. Bayern, die wieder einmal Meister geworden waren und winkte den Massen zu, wurde von den bedeutendsten Männern der Welt begrüßt und handelte mit ihnen Verträge aus, zum Wohle Bayerns, machte im Parlament seine Gegner fertig und wurde im Fernsehen interviewt. Das Gefühl, das sich bei diesen Fantasien einstellte, dieses Kribbeln und diesen Wonneschauer wollte er später auch in der Wirklichkeit erleben, das Gefühl, etwas Besonders zu sein, über den anderen zu stehen.
Nach dem Abitur hatte er gegen den Willen seines Vaters, Gynäkologe, Universitätsprofessor und Chefarzt einer Münchner Klinik, der aus ihm ebenfalls einen Arzt machen wollte, Politik und Wirtschaft studiert, in München, London und Boston, hatte sofort eine Stelle im bayerischen Wirtschaftsministerium bekommen, auf Vermittlung seines Vaters, eines Rotariers. Dank seiner Fähigkeit, immer und überall auf sich aufmerksam zu machen, war er schon nach drei Jahren Ressortleiter, der jüngste überhaupt, und nach weiteren drei Jahren machte Eder ihn zu seinem Generalsekretär.
Nach dem Studium hatte Breitenstein überlegt, Schauspieler zu werden, denn Schauspieler waren noch bekannter als Politiker und öfter im Fernsehen zu sehen, die Stars jedenfalls. Er hatte sich heimlich bei einer Agentur beworben. Das wusste niemand, nicht einmal seine Mutter, eine stille, bescheidene Frau, die sich stets im Hintergrund hielt und ihr einziges Kind wie eine Kostbarkeit behandelte. Er hatte eine Szene aus „Don Carlos“ einstudiert. Bei seinem Vortrag hatte er bemerkt, dass sich die beiden Frauen, die ihn zu beurteilen hatten langweilten und miteinander flüsterten. Daraufhin hatte er beschlossen, die Schauspielerei aufzugeben. Er würde in diesem Beruf nur mittelmäßig sein können, und das hasste er. Mittelmaß war für ihn wie Fleckfieber oder Ausschlag, hässlich und unansehnlich, Millionen waren davon befallen, eine riesige Menge, die zu einem eigenschaftslosen Brei verschmolz. Da blieb er lieber bei seinem Entschluss, in die Politik zu gehen. Schauspieler und Politiker hatten schließlich etwas gemeinsam, beide spielten Rollen. Im Augenblick spielte Max Breitenstein die Rolle des jungen, aufstrebenden, dynamischen, eleganten und gebildeten Hoffnungsträgers der Partei, dem die Zukunft gehörte. Er war siebenunddreißig, verheiratet, hatte zwei Kinder, ein Haus in Solln mit einem großen Garten und peilte den nächsten Karrieresprung an, ein Ministerposten, mindestens.
„Wann sagst du es endlich deinen Eltern?“ fragte Charlotte. Drei Wochen waren inzwischen vergangen seit dem zehnten Hochzeitstag. „Was ist mit deinen?“ fragte Ludwig zurück. „Die wissen es seit einer Woche“, antwortete Charlotte. „Ich habe es Ihnen auf die Mailbox gesprochen“. „Und?“ fragte Ludwig. „Nichts“, antwortete Charlotte. „Siehst du“, sagte Ludwig. „Was soll ich sehen?“, fragte Charlotte.
Ludwig antwortete nicht. Charlottes Eltern schien es egal zu sein, dass sie Großeltern würden, zum ersten mal, denn Charlotte war ihre einzige Tochter. Vielleicht waren sie sogar verärgert, dass sie zu Oma und Opa gemacht werden sollten, denn sie weigerten sich, als alt zu gelten, obwohl sie beide um die siebzig waren. Es gab keine Faltencreme, die Charlottes Mutter nicht schon ausprobiert hätte, und ihr Vater war stolz darauf, dass er noch manchen jungen Kerl, wie er sagte, im Tennis besiegte. Ludwig hatte Angst davor, dass seine Eltern ähnlich reagieren würden, wenn auch aus anderen Gründen, dass sie es bestenfalls zur Kenntnis nehmen und danach von etwas anderem reden würden, Dorfklatsch oder den Futtermittelpreisen. Er wollte sich die Enttäuschung ersparen, wusste jedoch, dass das nicht möglich war und zögerte es, so lang es ging, hinaus.
Dennoch stieg er an einem Tag in den Sommerferien in sein Auto und fuhr nach Reitham. Es war, genauer gesagt, Charlottes Auto, denn sie hatte es gekauft, noch vor der Hochzeit, vor elf Jahren, ein Golf, nicht ganz rostfrei inzwischen, zerschlissene Sitze, aber immer noch dem TÜV trotzend und zuverlässig, auch wenn man das Geräusch, das der Motor machte, mit dem eines Traktors verwechseln könnte und die Stoßdämpfer diesen Namen schon lange nicht mehr verdienten. Sie würden das Auto fahren, bis es auseinander fiel. Lieber sparten sie das Geld für eine eigene Wohnung.
Es war eine halbe Stunde Fahrt, mehr nicht, vorbei an grasenden Kühen, an Höfen mit Solaranlagen auf den Dächern und Misthaufen vor den Ställen, vorbei an einem kleinen See, an dessen Ufer früher Schilf wuchs und Angler saßen, wo jetzt jedoch Menschen herumlagen, zur Sonne gewandt, wo es einen Kiosk gab und einen Steg, der in den See hinausführte, auf dem ebenfalls Menschen lagen, ebenfalls zur Sonne gewandt, regungslos und wo einige wenige das Wasser durchpflügten oder am Ufer planschten, Kinder meistens, schreiend, kreischend, vergnügt.
Am Ortsschild „Reitham“ fuhr Ludwig langsamer. Auf der Hauptstraße sah er sich um, vielleicht sah er jemand, den er von früher kannte. Immerhin hatte er bis zu seinem Abitur hier gelebt, wenn auch die letzten neun Jahre tagsüber nur am Wochenende und das auch nur manchmal. Er fuhr mit dem Bus um siebenuhrfünf und war um achtzehnuhrdreißig zurück. Auch samstags trieb er sich lieber in der Stadt herum, als seinem Vater im Stall oder auf dem Feld zu helfen, was anfangs Prügel und später Streit und noch später demonstrative Verachtung nach sich gezogen hatte. Die Hauptstraße war leer, bis auf eine Frau auf einem Fahrrad, die er nicht kannte.
„Warum hast du nicht Bescheid gesagt?“ fragte seine Mutter. „Ich hätt´ Schweinshaxn gemacht.“ Ludwig saß in der Küche des Riegerhofs und löffelte eine Kartoffelsuppe. Sie war mit Zwiebeln und Speck angemacht und schmeckte ihm vorzüglich, besser als eine Schweinshaxe. Er hatte vor Jahren die Schweinshaxe gelobt, die seine Mutter zu seinem Geburtstag gemacht hatte, und seitdem galt in ihren Augen Schweinshaxe als sein Leibgericht. Dabei mochte er lieber Suppen und Italienisches, brachte es aber nicht über sich, seiner Mutter die Illusion zu zerstören. Er gab sich jedes Mal große Mühe, als Genießer ihrer Schweinshaxn zu überzeugen, was ihm auch anscheinend gelungen war, bis zum heutigen Tag.
Er sah sich um. In der Küche war alles noch genauso wie früher – die kleinen Fenster mit den karierten Vorhängen, die nur wenig Licht hereinließen, das Kreuz mit dem Palmzweig an der Wand, die Eckbank, der riesige Tisch, die Stühle, alles aus Eichenholz und ziemlich abgenutzt, der Küchenschrank, die Regale, auf denen Töpfe, Krüge standen und an denen Pfannen und Küchengeräte hingen, das Foto von dem alten Rieger und seiner Frau, seine Urgroßeltern, die den Hof gebaut hatten, die Uhr an der Wand mit den römischen Ziffern, die so laut tickte und die Madonna auf der Fensterbank, die seine Mutter von einer Wallfahrt nach Altötting mitgebracht hatte. Nur den alten Herd gab es nicht mehr, der mit Kohle beheizt wurde und auf dem immer etwas vor sich hin kochte oder brutzelte und dessen Platte Ludwig oder seine Schwester jeden Tag säubern und polieren mussten. Irgendwann wurde der Herd durch einen Elektroherd ersetzt, und Gertrud hatte zu ihrem Bruder gesagt: „Unsere Mutter ist in der Gegenwart angekommen.“ Maria hatte sich lange gegen den Elektroherd gesträubt, mehr noch als gegen den Fernsehapparat, vor dem sie und ihr Mann die Abende verbrachten, meistens schlafend.
„Ich wollte euch überraschen“, sagte Ludwig. „Und deine Frau?“, fragte Maria, „Warum ist sie nicht mitgekommen?“ Die Frage überraschte Ludwig. Charlotte war bei seinen Besuchen nie dabei, außer zu Weihnachten. War das ein versteckter Vorwurf oder deutete sich eine Wende an? „Ihr iss ned guad“, antwortete Ludwig im bayerischen Dialekt, obwohl er nach seinem Auszug, erst recht nach seiner Hochzeit mit seinen Eltern meistens hochdeutsch redete und die auch mit ihm, jedenfalls versuchten sie es. Damit Charlotte sie besser verstehen könnte, hatten sie gesagt, aber Ludwig vermutete, dass sie auf diese Weise ihre Distanz zu ihrer Schwiegertochter zum Ausdruck bringen wollten.
Nun war Ludwig in den Reithamer Dialekt zurückgefallen, weil er die alte Vertrautheit und Nähe zu seinen Eltern wieder herstellen wollte, die Vertrautheit und Nähe von früher, nicht wegen sich, sondern wegen seines Kindes, das mit Großeltern aufwachsen und die Möglichkeit haben sollte, ein Wochenende und ein paar Ferientage auf dem Bauernhof zu verbringen. Der Bub oder das Mädel würde es genießen, im Gegensatz zu seinem oder ihrem Vater, im Stall beim Ausmisten zu helfen, bei der Heuernte auf dem Traktor zu sitzen und am Lenkrad zu drehen, bei der Rübenernte dabei zu sein und dem Großvater beim Schützenfest die Daumen zu drücken.
„So, ihr ist nicht gut“, sagte Maria. Ihr Hochdeutsch klang bemüht und gekünstelt und es war zu spüren, dass sie Ludwigs Begründung nicht glaubte. Ludwig löffelte seine Suppe und schwieg. Er hatte keine Lust, über Charlotte zu reden, ohne die Schwangerschaft zu erwähnen. Das wollte er erst, wenn sein Vater anwesend war. „Wo is der Papa?“ fragte er. „In der Wirtschaft“, antwortete Maria. „Wie geht´s ihm?“, fragte Ludwig. „Er macht´s nimmer lang“, antwortete Maria. „Wird er halt verkauft, der Hof“.
„Mei“, sagte Ludwig. Gleich würde seine Mutter von früher reden, als er noch ihr kleiner lieber Bub war, der sich später so verändert hatte und nichts mehr wissen wollte von seinen alten, einfachen Eltern, der Herr Studienrat, und Ludwig wollte aufstehen und nach draußen gehen, aber als er sie auf ihrem Stuhl sitzen sah, in sich zusammengesunken, die Hände im Schoß, eine alte, traurige, vom Leben enttäuschte Frau, blieb er sitzen, schwieg und nahm sich noch eine Portion Kartoffelsuppe. Er schwieg auch, als seine Mutter seufzend aufstand und sagte, sie müsse den Stall ausmisten, wenn der Alois in der Wirtschaft umeinand hocke und sich besaufe, was er immer häufiger täte in letzter Zeit. Als Ludwig überlegte, ob er sich überwinden und der Mutter beim Ausmisten helfen sollte, stand sein Vater in der Tür und sagte: „Da schau her, der Herr Sohn!“ Er trug seine Schützenuniform, schwankte leicht. „Grüß dich, Papa“, sagte Ludwig. „Ein´ Kaffee“, sagte Alois zu seiner Frau, „ein´ extra starken.“ Danach saßen Vater und Sohn nebeneinander auf der Bank, die neben dem Hauseingang stand und sahen auf die Felder, den Wald, die Berge. Auf einem kleinen, verwitterten Holztisch standen zwei Kaffeetassen und eine Thermoskanne. Die Tassen waren groß und bunt bemalt, mit Blumen und Vögeln. So lange sich Ludwig erinnern konnte, wurde aus ihnen der Kaffee getrunken, mit viel Milch, aus eigener Produktion, manchmal war sie noch warm.
„Die Gertrud, die iss öfter da heroben, als du“, sagte Alois, nahm einen Schluck, laut schlürfend und fügte hinzu: „Mit ihre zwoa Plag´n. Aus Bielefeld.“ Ludwig schwieg. Er wollte keinen Streit, heute nicht. „Druckt dich was?“ fragte sein Vater. Ludwig schüttelte den Kopf. Warum sagst du es ihnen nicht endlich, dachte er, dass sie bald Großeltern werden würden, zum dritten mal, und dass sie es diesmal nicht weit hätten zu ihrem Enkel? „Warum sagst nix?“ fragte Alois. „Ich wart´ auf die Mama“, antwortete Ludwig. Er wollte es den beiden gemeinsam sagen, in aller Ruhe.
Als Maria um die Hausecke kam, sie trug jetzt ein Kopftuch, eine blaue Leinenhose, Gummistiefel und eine ebenfalls blaue Schürze, deren Enden sie hochhielt, denn in der Schürze lagen etwa zwei Dutzend Eier, überwand Ludwig seine Angst, wieder einmal enttäuscht zu werden und sagte: „Ich hab euch was zu sagen.“ Maria wollte die Eier, die sie nicht selbst verbrauchten, in den Korb legen, der neben der Eingangstür stand, wo sie von einem Nachbar abgeholt und in der Stadt verkauft wurden. Sie blieb jedoch stehen und fragte: „Is was passiert?“ Ihre Stimme zitterte ein wenig, nicht ängstlich, schien es Ludwig, eher voller Neugierde. „Setz dich“, sagte er. Seine Mutter blieb stehen. „Bist rausgeflogen?“ fragte Alois. Ludwig schüttelte den Kopf. „Brauchst Geld?“ fragte Maria. „Charlotte ist schwanger“, sagte Ludwig.
„Jessas!“ rief Maria und setzte sich auf die Kante der Bank. Die Eier in ihrer Schürze stießen aneinander, einige schienen zu Bruch gegangen zu sein. Alois stand auf und ging ins Haus. Ludwig wollte ihm hinterher rufen, er solle bleiben, aber als er den Mund aufmachte, war sein Vater schon im Haus verschwunden. Jetzt stand auch er auf. Er würde irgendetwas zu seiner Mutter sagen, etwas Bissiges, Verletzendes, zu seinem Auto gehen, einsteigen und wegfahren, ohne sich von seinem Vater zu verabschieden. Es würde lange dauern, bis er sich wieder blicken ließ, sehr lange, irgendwann würde er mit dem Kind vorbeischauen, wenn es laufen und die fremden alten Leute begrüßen konnte.
„Wann ist es so weit?“ fragte Maria und hielt Ludwig am Ärmel fest. Die Eier lagen in ihrem Schoß. Kein einziges war zu Bruch gegangen. „Im Oktober“, antwortete Ludwig. „Und das sagst erst jetzt?“ fragte sie. Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Ludwig setzte sich wieder hin und dachte sich eine Ausrede aus – dass alles bis vor kurzem noch auf der Kippe gestanden oder dass Charlotte es ihm selbst verheimlicht hätte, bis sie absolut sicher gewesen wäre und nichts mehr hätte schief gehen können, schließlich sei eine Frau Ende dreißig keine junge Mutter mehr, doch dann kehrte Alois zurück. Er hatte eine Flasche und drei Schnapsgläser in der Hand, stellte die Gläser auf den Tisch, füllte sie, gab Ludwig und Maria ein Glas, hob seins in die Höhe , sah Ludwig an und sagte: „Alles Gute, Bub! Und auch deiner Frau!“ Ludwig stieß mit ihm an und nahm einen Schluck. Es war Obstler, selbstgebrannt. „Die Eier nimmst mit“, sagte Maria. „Die sind gut für sie, grad jetzt.“ Sie ging mit den Eiern ins Haus. Ludwig war erleichtert. Er hatte es hinter sich gebracht. Vielleicht war das der Anfang einer besseren Beziehung zwischen ihm und seinen Eltern, zwischen der alten und der neuen Riegerfamilie.
Als Ludwig in seinem Auto saß und seinen Eltern winkte, die am Eingang standen und zurückwinkten, lief seine Mutter plötzlich los. Fast wäre sie über eine der Milchkannen gestolpert, die sie selbst füllte und die jeden Morgen um halbsechs abgeholt wurden. Ehe Ludwig das Seitenfenster herunterkurbeln konnte, hatte sie die Tür aufgerissen. Sie wollte etwas sagen, war aber so außer Atem, dass sie kein Wort herausbrachte. Dann sagte sie, immer noch keuchend: „Gell, ihr lasst das Kind taufen, hier bei uns in der Kirch´?“ Ludwig nickte, startete den Motor, machte die Tür zu und fuhr los, so heftig, dass der Korb, in dem die Eier waren, jedes einzeln in Zeitungspapier eingewickelt, sich zur Seite neigte und umzukippen drohte, sich jedoch im letzten Moment auf seinen zerbrechlichen Inhalt zu besinnen schien und stehen blieb. Im Rückspiegel sah Ludwig, dass seine Mutter immer noch an der gleichen Stelle stand und ihm nachsah. Der Vater war im Haus verschwunden.
Charlotte lag im Bett, schon seit dem frühen Abend. Ihr war übel gewesen, den ganzen Tag über. Draußen fuhr ein Auto vor. Es war ihr Auto, sie erkannte es am Geräusch des Motors. Dann wurde der Motor abgestellt und kurz darauf die Wohnungstür aufgeschlossen. Jemand hantierte in der Küche, ging in der Wohnung umher, rief leise ihren Namen und öffnete dann die Schlafzimmertür.
„Wie war´s?“ fragte Charlotte. Sie schlug die Bettdecke zurück. „Ist dir nicht gut?“ fragte Ludwig. Charlotte hatte noch ihre Kleider an. Sie schüttelte den Kopf und antwortete: „Nur ein bisschen ausgeruht“. Wenn sie gesagt hätte, dass es ihr nicht gut ging, dass ihr übel wäre und schwindelig, hätte Ludwig eine Affäre daraus gemacht, hätte sie in Watte gepackt und ihr Medikamente aufgenötigt.
Sie stand auf. Unter der Bluse wölbte sich ihr Bauch. In einigen Wochen würde es so weit sein. „Also“ fragte sie erneut, „wie war´s?“ Ludwig verließ das Schlafzimmer, ging in sein Arbeitszimmer, das bald ein Kinderzimmer sein würde. Der Schreibtisch, zu groß für das Wohnzimmer, stand im Keller und hatte einem Kinderbett Platz gemacht. Daneben stand ein Stubenwagen, in dem ein kleines Stofftier lag, ein brauner Hund mit langen Ohren. Ludwig deutete auf die Wickelkommode und sagte: „Wir brauchen eine neue Wohnung, eine größere.“
Charlotte wusste zwar, dass er Recht hatte, dass es keine Lösung auf Dauer war, wenn er am Küchentisch Hefte korrigierte, sich auf den Unterricht vorbereitete, Texte für Mitteilungen verfasste oder Beurteilungen für Zeugnisse und dass es noch enger werden würde, wenn das Baby da war, aber darüber wollte sie nicht reden, jetzt nicht. Sie spürte, dass Ludwig einer Antwort ausweichen wollte und fragte ein drittes Mal, diesmal lauter: „Wie war´s?“
Immer noch antwortete Ludwig nicht. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss und ging ins Wohnzimmer. Charlotte folgte ihm. Er nahm eine Flasche und ein Glas aus der Vitrine, schenkte sich ein und nahm einen Schluck. Charlotte sah, dass es Cognac war. Das trank er selten, eigentlich nie. Die Flasche war so gut wie voll und stand schon sehr lange in der Vitrine. Es musste also etwas vorgefallen sein bei seinen Eltern.
Charlotte blieb an der Tür stehen und sah Ludwig an. Er spürte ihren Blick, trank sein Glas leer und sagte: „Halt so. Hättest mitkommen sollen.“ Er stellte die Flasche in die Vitrine zurück und ging mit dem leeren Glas in die Küche. Auch hierhin folgte Charlotte ihm. Allmählich wurde sie wütend. Auch ihr lag daran, dass ihr Kind Großeltern hatte, die es kannte, die ihm von früher erzählten, eine Geschichte vorlasen, mit ihm auf den Spielplatz gingen und sich freuten, wenn ihr Enkelkind ein paar Trage bei ihnen verbrachte und die Hühner füttern, die Kühe streicheln und auf dem Heuboden herumtoben konnte. Großeltern waren wichtig, das wusste sie von sich selbst, zu ihrem Großvater hatte sie mehr Vertrauen gehabt als zu ihren Eltern, die von ihr das wollten, was sie für richtig hielten, in ihrem eigenen Interesse und nicht im Interesse ihrer Tochter. Augenscheinlich hatte es zwischen Ludwig und seinen Eltern Streit gegeben, oder es war sogar zu einem Bruch gekommen.
„Was haben sie gesagt, als sie es erfahren haben?“ fragte Charlotte und versuchte, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen. „Oder hast du es ihnen gar nicht gesagt?“ „Gefreut haben sie sich“, antwortete Ludwig, öffnete die Spülmaschine und stellte das Glas hinein. Charlotte spürte, dass Ludwig nicht die Wahrheit sagte. Er hatte er sich davor gedrückt, seinen Eltern zu sagen, dass seine Frau schwanger war, weil er fürchtete, sie würden sich keinesfalls darüber freuen, sondern es als Unglück ansehen, und nun traute er sich nicht, das zuzugeben. Charlotte wurde wütend. Sonst ertrug sie Ludwigs Ausweichen vor Konflikten mit einem Lächeln, aber heute ging es um ihr Kind.
Als Ludwig die Spülmaschine wieder zuklappte und die Küche verlassen wollte, stellte sie sich ihm in den Weg und sagte: „Red nicht drum herum. Sag, was war.“ Ludwig spürte, dass er nicht länger ausweichen konnte, wenn er Charlotte nicht ernsthaft verärgern wollte. „Wir sollen es taufen lassen“, sagte er. „Und was hast du ihnen gesagt?“ fragte sie. „Nichts“, antwortete Ludwig. „Unser Kind wird nicht getauft!“, sagte Charlotte. Ludwig wich ihrem Blick aus. „Ich bin müde“, sagte er und wollte sich an ihr vorbeidrängen, aber Charlotte hielt ihn am Arm fest und sagte:„Das war abgemacht!“ „Reg dich nicht auf“, sagte Ludwig. „Ist doch nichts dabei.“ „Nein!“ sagte Charlotte laut, ließ Ludwig los und verließ die Küche. „Sie sind nun mal meine Eltern“, sagte Ludwig, aber so leise, dass Charlotte es nicht mehr hören konnte.
Als sie im Bett lagen, nebeneinander, mit offenen Augen, kroch Charlotte zu ihm und sagte: „Schau´n mer mal.“ Ludwig lächelte. Es rührte ihn jedes mal, wenn Charlotte versuchte, bayerisch zu reden. Er drückte sie an sich, behutsam, um dem Baby in ihrem Bauch keinen Schaden zuzufügen. Immer noch wussten sie nicht, ob es ein Junge oder ein werden würde. Das Baby hatte bei den Aufnahmen immer so gelegen, dass sein Geschlecht verdeckt war. „Es will uns überraschen“, hatte Charlotte gesagt. „Wir müssen das respektieren.“ Auf dem Zettel, den Ludwig immer bei sich trug, standen drei weibliche und drei männliche Namen.
In den Wochen danach wurde nicht mehr über die Taufe geredet. Ludwig musste sich auf das neue Schuljahr vorbereiten, und Charlotte ließ ihn in Ruhe. Sie war jeden Tag für ein paar Stunden im Altersheim, an der Rezeption, aushilfsweise, und als die Ferien vorbei waren, war Ludwig froh, dass der Unterricht ihn für eine Weile daran hinderte, sich vorzustellen, was bei der Geburt alles schief gehen könnte.
Dem Generalsekretär Breitenstein waren vor der Geburt seiner beiden Kinder solche Ängste fremd gewesen. Angst war ein Gefühl, das er nicht kannte, sich nicht leisten konnte in seinem Beruf, Gefühle überhaupt. Wenn man sie zuließ, war man ihnen ausgeliefert, und das schwächte, machte die Waffen stumpf im politischen Kampf. Außerdem lenkten sie vom Wesentlichen ab, dem zielgerichteten Handeln, vernebelten das Gehirn und waren schlechte Ratgeber, wenn es darum ging, Menschen zu beurteilen, ihre Winkelzüge und wahren Absichten zu durchschauen und die Fäden in der Hand zu behalten.
„Wie war es auf der Wies´n?“, fragte Breitenstein. Er stand in der Wohnzimmertür und bemühte sich, ein interessiertes Gesicht zu machen. Melanie schaltete den Fernsehapparat aus. Sie lag auf der Couch und antwortete, ohne ihren Mann anzusehen „Schön war´s.“ Sie sah auf die Uhr. Es war halb zehn. Breitenstein zog das Jackett aus, das dunkle, denn heute war Sitzung des Parteipräsidiums gewesen und warf es über eine Stuhllehne. „Bald sagen deine Kinder Onkel zu dir“, sagte Melanie und setzte sich aufrecht. Breitenstein zog die Krawatte aus, warf sie ebenfalls über die Stuhllehne und sagte: „Nicht schon wieder, bitte.“
Er ging in die Küche, holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier, öffnete sie, stülpte sie auf den Mund, nahm ein paar Schluck, schmatzte genüsslich und setzte sich an den Küchentisch. Er hatte keine Lust, sich wieder einmal den Vorwurf anzuhören, dass er sich zu wenig um die Kinder kümmere. Johannes war gerade in die Schule gekommen, ein robuster, selbstbewusster Bub von sechs Jahren, der seinen Weg gehen würde, ohne dass sein Vater ihn jeden Abend ins Bett brachte und ihm irgendein Schlaflied vorträllerte. Und Elisabeth ging jetzt schon ihre eigenen Wege, um sie brauchte man sich keine Sorgen zu machen. Sie war auf das Gymnasium gewechselt, das gleiche, auf dem er selbst gewesen war, ein humanistisches selbstverständlich, wenig Schüler, aus den besten Familien. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, brachte nur die besten Noten nach Hause, spielte Klavier vom Blatt, las viel, eckte nirgends an und machte sich nichts aus Designerklamotten und Popmusik, im Unterschied zu den anderen Mädchen in ihrer Klasse. Wenn sie zu Hause war, verbrachte sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Sie war eine Einzelgängerin. Sie hatte keine Freundin, brauchte auch keine, wie sie selbst sagte, und Breitenstein war sicher, dass sie auch keinen Vater brauchte, der ihre Hausaufgaben kontrollierte, ihr Klavierspiel bewunderte und bei jeder guten Note in Begeisterung ausbrach. Auch sie würde ihren Weg gehen, auch um sie brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Es gab also keinen Grund, ihm immer und immer wieder vorzuwerfen, dass er selten zu Hause war und sich nicht mit den Kindern beschäftigte. Melanie hatte nun einmal einen Politiker geheiratet, die Kinder hatten nun einmal einen Politiker zum Vater, und zwar einen, der an vorderster Front stand, endlich, wenn auch nicht in der ersten Reihe, noch nicht.
Breitenstein kehrte ins Wohnzimmer zurück, eine zweite Flasche Bier in der Hand und ein Glas, denn Melanie mochte nicht, dass er Bier aus der Flasche trank. Sie saß immer noch auf der Couch, immer noch an der gleichen Stelle und in der gleichen Haltung. Der Fernseher lief. Es gab Nachrichten. Eder, sein Chef, Parteivorsitzender und Ministerpräsident, war im Bild. Er sagte etwas über die Sitzung des Parteipräsidiums, dass es um die Haltung der Partei in Sachen Steuerreform gegangen sei und um die Umsetzung der aktuellen EU-Richtlinien. Er redete von Harmonie und Einstimmigkeit und von sozialen Aspekten, die wie immer im Vordergrund gestanden hätten, dabei hatte es heftige Diskussionen gegeben. Eder, der Pragmatiker, hatte einen wirtschafts- und EU-freundlichen Kurs durchgesetzt, mit knapper Mehrheit, nicht, wie er gesagt hatte, aus innerer Überzeugung, sondern aus Einsicht in die wahren Machtverhältnisse.
Breitenstein hatte keine Lust, sich das Gesülze anzuhören, wollte das Wohnzimmer wieder verlassen, als Melanie den Fernsehapparat ausschaltete. Also blieb er und setzte sich in einen Sessel, Melanie gegenüber. „Wie war es auf der Wies´n?“ fragte er noch einmal. „Schön“, antwortete Melanie. „Ziemlich viel Betrieb. Die Kinder mussten überall anstehen.“ Immer noch machte sie ein beleidigtes Gesicht. „Gut so“, sagte Breitenstein. „Bringt Geld in die Kassen. Gut für die Stadt, gut für das Land.“ „Kannst du nicht wenigstens zu Hause aufhören den Politiker zu spielen?“ fragte Melanie. „Ich spiele nicht den Politiker“, antwortete Breitenstein, „weder zu Hause, noch sonst wo, ich bin es.“ Politik war für ihn kein Job, sondern sein Leben, seine Welt. Melanie und die Kinder, die Nachbarn, die Leute auf der Straße, das war eine andere Welt. Er brauchte die Politik, ohne sie würde er die Welt der Leute auf der Straße, ihre Alltäglichkeit, ihre Banalität, nicht ertragen.
„Am Wochenende gehe ich mit den Kindern auf die Wies´n“, sagte er und wusste sofort, das er das nicht tun würde, nicht, weil er keine Zeit hätte, sondern weil er dort angestarrt, erkannt und immer wieder angesprochen werden würde. Er hatte es zwar gerne, wenn er erkannt wurde, wenn die Leute auf ihn deuteten und miteinander tuschelten, auf der Straße, beim Einkaufen, beim Spaziergang, im Restaurant, aber er hasste es, wenn sie ihn ansprachen, ihn sogar duzten und glaubten, er sei Einer von ihnen, ihr Vertrauter. Politik war Politik, hatte mit dem Alltag der Leute nichts zu tun, hier herrschten andere Gesetze und Spielregeln. Nur alle vier Jahre berührten sich die beiden Welten, wenn auch nur für kurze Zeit. Dann wurde gewählt, war Tag der offenen Tür, war die Bühne der Politik freigegeben für alle, die zur Wahl gingen. Dann wurden die Kulissen beiseite geschoben, die Scheinwerfer ausgeschaltet, und die Menschen konnten sich einbilden, mitzuspielen in dem Stück, das Politik hieß. Am nächsten Tag wurde der Vorhang wieder zugezogen, wurden die Kulissen wieder aufgestellt, die Rollen und die dazugehörigen Texte verteilt, und die Zuschauer nahmen wieder ihre Plätze ein und konnten applaudieren oder Buh rufen, je nachdem. Breitenstein liebte dieses Spiel, genoss es, von der hell erleuchteten Bühne herab in den Zuschauerraum zu blicken, der im Dunkeln lag und wo die Menschen zu einer meist grauen, manchmal folkloristisch bunten Menge verschmolzen und nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren.
„Wenn du mit den Kindern auf die Wies´n willst“, sagte Melanie, „dann musst du dich beeilen. Am Sonntag ist Schluss.“ „Okay“, sagte Breitenstein, „ich freu mich drauf“, obwohl er wusste, dass er am Sonntag keine Zeit hatte. Man hatte ihn eingeladen, zu einer Gesprächsrunde im Fernsehen, die wöchentliche Stammtischrunde, und Auftritte im Fernsehen ließ er nie aus. Damit konnte man mehr punkten als mit jeder politischen Aktion. Diesmal würde es um Bayern gehen, um den Mittelstand, das Bildungssystem, den Erhalt der Theater. Er würde den Janker anziehen, den dunkelgrünen und sich staatsmännisch geben, ausgleichend, nicht kämpferisch und die Konfrontation suchend. Lange genug hatte er für Eder den bissigen Terrier abgegeben. Dass es also in diesem Jahr wieder nichts werden würde mit den Kindern und der Wies´n, damit würde er später herausrücken und so tun, als ob die Einladung zu dem Auftritt im Fernsehen überraschend und kurz vor dem Sonntag gekommen wäre.