Читать книгу Die Bayernaffäre - Herbert Knopp - Страница 4

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Wie jedes Jahr fuhr Studienrat Rieger mit seiner Klasse zum Oktoberfest, immer am letzten Freitag, wenn Wandertag angesetzt war. Diesmal hätte er es fast vergessen, aber er war von seinen Schülern daran erinnert worden. „Vaterfreuden – Wiesn meiden?“ hatte an der Tafel gestanden. Also hatte er sich aufgerafft, obwohl er lieber in der Nähe von Charlotte geblieben wäre und stand nun mit der Hälfte der Klasse an der Achterbahn. Die andere Hälfte saß in den Wagen und kreischte vor Vergnügen, wenn es steil nach unten ging.

Ludwig merkte, dass sein Handy vibrierte. Das Klingeln hatte er nicht gehört, der Lärm ringsum war zu groß. Die Nummer, die auf dem Display stand, kannte er nicht. Dennoch meldete er sich. „Spreche ich mit Herrn Ludwig Rieger?“ fragte eine weibliche Stimme. Sie klang hart, ein wenig von oben herab. „Ja“, antwortete Ludwig, „der bin ich“. „Meinen Glückwunsch“, sagte die weibliche Stimme, nicht mehr ganz so hart. „Ihre Frau hat eine Tochter entbunden.“ Ludwig wusste nicht, warum, aber er glaubte dieser Stimme nicht. Sie machte einen Scherz, wollte ihm einen Streich spielen. Der Termin der Geburt war erst in einer Woche, sonst wäre er nicht auf das Oktoberfest gefahren. „Wer sind Sie?“ fragte er. „Doktor Hanisch“, antwortete die Stimme. „Wir kennen uns.“ „Entschuldigung“, sagte Ludwig. „Ich habe Sie nicht erkannt. Wie geht es meiner Frau?“ „Sie ist wohlauf“, antwortete Frau Doktor Hanisch. Sie lässt Sie grüßen.“ „Vielen Dank, Frau Doktor“, sagte Ludwig und wollte sich nach dem Baby erkundigen, aber die Frau Doktor kam ihm zuvor. „Viertausendzweihundertfünfzig Gramm“, sagte sie, „fünfundfünfzig Zentimeter.“ Ludwig schossen die Tränen in die Augen. Er nickte, brachte kein Wort heraus. Viertausendzweihundertfünfzig Gramm, fünfundfünfzig Zentimeter, jetzt war das Baby Realität für ihn - sein Baby, seine Tochter.

„Hallo?“ fragte Frau Doktor Hanisch. „Sind Sie noch da?“ „Ja, Ja“, antwortete Ludwig schnell. „Ich kann Sie nicht verstehen“, sagte Frau Doktor Hanisch. „Es ist zu viel Lärm. Wo sind Sie?“ „Auf dem Oktoberfest“, antwortete Ludwig. „In München.“ „Wo?“ rief Frau Doktor Hanisch ungläubig, obwohl sie es verstanden zu haben schien, denn es war auch Empörung in ihrer Stimme und Unverständnis. Ludwig antwortete nicht. „Dann noch viel Vergnügen“, sagte Frau Doktor Hanisch verächtlich und legte auf. Sie hat Recht, dachte Ludwig. Seine Frau lag in der Klinik und bekam ein Kind, unter Schmerzen, und er trieb sich auf dem Oktoberfest herum. Aber Charlotte selbst hatte ihn dazu ermuntert, ja gedrängt, denn Sally hatte sie mit ihrer Großmutter besucht und davon geschwärmt, wie schön es gewesen wäre im letzten Jahr auf der Wies´n.

Als Ludwig das Handy wieder in die Tasche steckte und sich seinem schlechten Gewissen hingeben wollte, standen plötzlich alle seine Schüler um ihn herum. Er hatte gar nicht bemerkt, dass die Fahrt der Achterbahn zu Ende gegangen war. „Und jetzt?“ fragte Sally. „Zur Geisterbahn“, antwortete einer der Schüler. Ludwig spürte, dass ihm schlecht wurde. War mit Charlotte wirklich alles in Ordnung? War das Neugeborene wirklich gesund? War es überhaupt auf der Welt? Vielleicht verheimlichte man ihm etwas, vielleicht war bei der Geburt etwas schiefgegangen und Charlotte verblutete, oder das Baby war bei der Geburt gestorben. Ihm wurde schwindelig. Er wankte, wollte sich irgendwo festhalten, griff ins Leere. Sally hielt ihn fest. „Ist Ihnen nicht gut?“ fragte sie. Ludwig schüttelte den Kopf, zu mehr war er nicht fähig. Er war blass im Gesicht, fast weiß. „Wirklich?“ fragte Sally. „Im Gegenteil“, antwortete Ludwig. Er hatte es mit lauter, fester Stimme sagen wollen, aber es war bloß ein Flüstern herausgekommen. Sally sah ihn ein paar Augenblicke an, erstaunt, sorgenvoll, die anderen auch. Dann schien Sally zu verstehen. Sie sah ihre Mitschüler an, lächelte, grinste, aber ihre Mitschüler schienen nicht zu verstehen, warum sie das tat, wo es doch dem Studienrat, ihrem Lieblingslehrer, so schlecht ging. Dann fasste Sally Ludwig noch fester an und fragte: „Ein Bub?“ Ludwig schüttelte den Kopf. In sein Gesicht war die Farbe zurückgekehrt, auch war ihm nicht mehr schwindelig. Sally merkte, dass sie ihn nicht mehr stützen musste und ließ ihn los.

Ludwig atmete die frische Abendluft ein, genoss sie, obwohl es nach Bratwurst roch, nach Bier und nach gebrannten Mandeln. Er merkte, wie die Angst und die Panik allmählich verschwanden und wie er ruhiger, ja fröhlicher wurde. Warum hätte die Ärztin ihn auch belügen sollen? Sie schien nicht zu den Ärzten zu gehören, die mit der Wahrheit hinter dem Berg hielten und sich hinter medizinischen Floskeln versteckten. Charlotte ging es gut, das Kind war gesund, alles an ihm war da, wo es hingehörte. Am liebsten hätte er seine Freude herausgeschrieen: „Ich bin Vater! Vater einer Tochter!“, aber die vielen Menschen, die sich an ihm vorbeidrängten, den meisten sah man an, dass sie ein paar Maß zu viel getrunken hatten, würden ihn ebenfalls für betrunken halten, den Kopf schütteln, belustigt oder würden sich belästigt fühlen und eine Bemerkung machen – na und, Vater einer Tochter, das bin ich auch, das sind viele.

„Wie soll’s heißen?“ fragte eine Schülerin. „Sophie!“ rief Sally. „Oder Marie!“ Ludwig griff in die Innentasche seines Jacketts, zog seinen Geldbeutel heraus, wo der Zettel mit den Namen steckte, säuberlich zusammengefaltet. Der Zettel war nicht da. Er hatte ihn vor einigen Tagen herausgenommen und Charlotte gegeben hatte, fiel ihm ein, denn sie hatte noch einige Namen, die ihr eingefallen oder die ihr im Heim genannt worden waren, hinzufügen wollen. Er steckte den Geldbeutel in die Tasche zurück, versuchte, sich an die Namen zu erinnern, die auf dem Zettel gestanden hatten, aber kein einziger fiel ihm ein.

„Was Bayerisches!“ rief ein Schüler. „Floriane!“ Er selbst hieß Florian. Alle lachten. „Liesel!“ rief eine Schülerin. Wieder lachten alle. „Wenn, dann Agnes“, sagte Sally. „So heißt meine Großmutter. „Und meine heißt Vroni!“ rief eine andere Schülerin. Alle sahen Ludwig an, er musste etwas sagen, musste sich für einen Namen entscheiden. Aber welchen? Wenn er einen nannte, dann musste die Kleine auch so heißen, sonst machte er sich vor der Klasse lächerlich. Immer noch fiel ihm keiner der Namen ein, die auf der rechten Seite gestanden hatten. Auf der linken hatte Louis gestanden und Anton und Moritz und Oskar. Er sah sich um, in die Gesichter seiner Schülerinnen und der Frauen, die vorbeigingen, achtlos, nicht ahnend, in welchem Konflikt dieser Mann war, der mitten auf der Theresienwiese stand, umringt von fast zwei Dutzend Jungen und Mädchen, sich hilflos umsah und hoffte, dass seine Schüler seine Ratlosigkeit bemerken und sich einem anderen Thema zuwenden würden, der Geisterbahn zum Beispiel. Aber sie taten ihm nicht den Gefallen, sie standen da und sahen ihn an, erwartungsvoll. Er musste einen Namen nennen, ob er wollte oder nicht.

Er wandte sich ab, um nicht in die fordernden Gesichter blicken zu müssen und überlegte, ob ihm wieder schlecht werden sollte. Er sah über Hunderte von Köpfen hinweg, die sich hin und her, auf und ab bewegten, blonde Haare, braune Haare, kurze Haare, lange Haare, grüne Hüte, graue Hüte, aus Stoff und Filz und schwarze Mützen. Und über all diesen Köpfen schwebte eine Statue, groß, erhaben, erleuchtet – die Bavaria. Plötzlich wurde diese Bavaria lebendig, schien sich mit ihm zu freuen, lächelte ihm zu und schien ihm sagen zu wollen: Was suchst du nach einem Namen, ich schenk dir einen – meinen. Er wandte sich wieder an seine Schüler und hörte sich sagen: “Bavaria. Sie heißt Bavaria.“

Ein paar Stunden später sah ein gewisser Max Breitenstein ebenfalls zu der Bavaria-Statue auf und sagte: „Achtzehn Meter hoch, wiegt eintausendfünfhundertsechzig Zentner, in sechs Teilen gegossen, ein Glanzstück Münchner Erzgießerei aus Ferdinand von Millers und Johann Baptist Stiglmeiers Werkstatt.“ Er sagte das nicht zu seinen beiden Kindern, sondern zu einer Gruppe von neugierig und staunend auf die Statue schauenden Herren, die teils Anzüge und Krawatten, teils lange weiße Gewänder und die dazu passenden Kopfbedeckungen trugen. Es waren Regierungsvertreter aus Abu Dhabi, die sich nach Gesprächen mit leitenden Herren aus verschiedenen ortsansässigen Firmen beziehungsweise Konzernen vor ihrer Rückkehr ein wenig bilden und amüsieren wollten. Eder hatte Breitenstein gebeten, die Herren zunächst auf das Oktoberfest und dann in den Gasteig zu führen, wo die Münchner Philharmoniker ein Konzert gaben, Beethoven, Brahms, Debussy.

Presse, Hörfunk und Fernsehen waren von der Presseabteilung der Partei informiert worden, dass der Generalsekretär Breitenstein mit Regierungsvertretern aus Abu Dhabi einen Wiesnbummel machen würde, im Interesse der bayerischen Wirtschaft, denn die Herren seien an Produkten der bayerischen Industrie, nicht nur der Automobilindustrie, sehr interessiert. Alle waren gekommen, begleiteten den Generalsekretär und seine Gäste, machten Fotos, Filmaufnahmen und Interviews. Breitenstein war blendender Laune. Alles lief so, wie er sich das vorgestellt hatte. Morgen würde er in seinem bayerischen Outfit zu sehen sein, in den Zeitungen und in den Regionalnachrichten des Fernsehens, Max Breitenstein, der sich für die bayerische Industrie einsetzt, weltgewandt und trotzdem erdverbunden.

Der Generalsekretär und seine ausländischen Gäste schlenderten über die Theresienwiese zum Ausgang, wo die schwarzen Limousinen warteten. Die meisten Menschen erkannten ihn, blieben stehen, sahen ihm und den für einen Wiesnbesuch unpassend gekleideten Männern nach. Einige grüßten, Breitenstein grüßte zurück, schüttelte sogar Hände, auch wenn sie ihm gar nicht entgegenstreckt wurden, vor allem dann, wenn die Kameras auf ihn gerichtet waren.

Von einem Konzertbesuch waren die ausländischen Gäste allerdings nicht besonders angetan. Sie wollten den Abend beziehungsweise die Nacht lieber in einer Bar verbringen, einer intimen, damit sie nicht beobachtet werden konnten, selbstverständlich ohne Fotografen, ohne Presse. Breitenstein glaubte zu verstehen und fragte augenzwinkernd, welche Damen denn bevorzugt würden, aber die Herren winkten ab, führten die Hände zu den Mündern und taten so, als ob sie trinken würden. Breitenstein verstand. Er ließ in einer bekannten Münchner Bar ein Nebenzimmer reservieren und verbrachte dort mit seinen ausländischen Gästen zunächst den Abend, dann die halbe, schließlich die ganze Nacht. Die Herren Regierungsvertreter nutzten die Liberalitas Bavariae weidlich aus und betranken sich, auf Kosten des Etats des bayerischen Ministerpräsidenten natürlich, also auf Kosten der bayerischen Bevölkerung. Gegen vier Uhr morgens verfrachtete Breitenstein sie in drei Taxis, die sie zu ihrem Hotel brachten. Er selbst hatte nur Wasser getrunken. Das machte er immer, wenn die anderen sich betranken.

Ludwig kam an diesem Abend zwar früher als Breitenstein nach Hause, aber es war zu spät, um Charlotte im Krankenhaus zu besuchen und seine Tochter, die Bavaria heißen sollte, zu bewundern. Er schlief schlecht in dieser Nacht. Immer wieder stand er auf, wanderte in der Wohnung herum, die ihm ohne Charlotte leer vorkam. Am Morgen, es war ein Samstag, stand er vor dem Blumenladen und wartete ungeduldig, dass er geöffnet wurde. Endlich war es so weit. Er kaufte sämtliche rote Rosen, die es gab, auch wenn sie vom Vortag waren.

Eine Stunde später stand er im Fahrstuhl des Städtischen Krankenhauses Sankt Elisabeth. In der einen Hand hielt er einen riesigen Strauß roter Rosen, in dessen Mitte eine weiße steckte, stolz und selbstbewusst, in der anderen hielt er eine ebenfalls riesige Schachtel Pralinen, belgische, die besten, hatte die Verkäuferin gesagt. Er überlegte, wie er Charlotte beibringen konnte, dass ihre Tochter weder Therese noch Sophie, weder Paula noch Anna heißen würde, sondern Bavaria. Ein besonderes Kind braucht einen besonderen Namen, würde er sagen und hoffen, dass sie ihn zwar erstaunt und nicht gerade beigeistert ansehen, dann aber lächeln und zustimmend mit dem Kopf nicken würde.

Im zweiten Stock hielt der Fahrstuhl an. Ludwig stieg aus, warf einen kurzen Blick in die dem Fahrstuhl gegenüberliegende Fensterscheibe, stellte fest, dass seine Frisur und auch sonst alles in Ordnung war, ging den Gang hinunter und hielt vor dem Zimmer Nummer zweihundertsieben an.

Er klopfte und betrat das Zimmer. Charlotte saß auf dem Bett, mit entblößter Brust. Sie sah kurz auf, lächelte, hielt einem kleinen schwarzhaarigen Baby mit zerknittertem Gesicht ihre Brust hin und sagte zu dem Baby: „Na los. Du tust mir nicht weh.“ Dann sah sie zu Ludwig und sagte: „Deine Tochter ist wie du – sie traut sich nicht.“ Ludwig trat näher. „Gefällt sie dir?“ fragte Charlotte. Endlich hatte die Kleine die Brustwarze gefunden und begann zu saugen. Sie schmatzte und stöhnte dabei vor Anstrengung. Ludwig stand da und betrachtete das Baby. Deine Tochter, sagte er sich, das ist sie, deine Tochter. Er sagte es sich immer wieder, damit er es endlich glaubte. Bisher war es eine Wölbung von Charlottes Bauch gewesen, jetzt lag da ein lebendiges menschliches Wesen, das aussah wie Charlotte, wie er, wie andere Menschen, ein Wunder. Hilflos lag es da, dieses kleine Wesen, angewiesen auf Hilfe und Fürsorge, angewiesen auf seine Eltern, auf Charlotte und ihn. Er empfand etwas, das er bislang nicht gekannt hatte. Er wusste nicht, was das war. Vielleicht war es Verantwortung.

Charlotte spitzte ihren Mund, und Ludwig gab ihr einen Kuss. Ihre Lippen waren weich. Sie sah gesund aus und glücklich. Und das war sie auch. Die Geburt war unkompliziert gewesen und hatte nur sechs Stunden gedauert. Danach hatte sie geschlafen, zehn Stunden. Als sie aufgewacht war, lag neben ihr ein Baby, ihr Baby, Ludwigs Baby. Jetzt stand er da, der Vater, einen Rosenstrauß in der einen und eine Schachtel Pralinen in der anderen Hand, starrte auf das Baby und war unfähig, etwas zu sagen. Sie bemerkte die weiße Rose und lächelte. Sie liebte ihn, diesen bescheidenen, unsicheren, klugen Mann, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet war und seit gestern eine Tochter hatte, die jetzt an ihrer Brust lag und vor Erschöpfung eingeschlafen war.

Ludwig blieb zwei Stunden. Er redete wenig. Charlotte brauchte lange, bis sie ihn überredet hatte, das Baby auf den Arm zu nehmen. Er hatte Angst, etwas falsch zu machen, dem Baby weh zu tun, es aufzuwecken. Als er es dann endlich im Arm hielt und den kleinen, warmen Körper spürte, weinte er. Am Fahrstuhl fiel ihm ein, dass er mit Charlotte nicht über den Namen Bavaria geredet hatte. Beim nächsten mal, dachte er, das hat Zeit.

Das nächste mal war am nächsten Tag, einem Sonntag. Als Ludwig das Zimmer betrat, schliefen Mutter und Kind. Er setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand und betrachtete seine Frau und seine kleine Tochter. Charlottes Brust hob und senkte sich und mit ihr das Köpfchen des Babys. Jetzt sind wir zu Dritt, dachte er.

Nach einer halben Stunde machte Charlotte die Augen auf. Als sie Ludwig sah, streckte sie die Hand nach ihm aus. Ludwig nahm sie, drückte sie fest und sagte: „Ich liebe dich.“ Sie machte die Augen kurz zu, nickte, legte das Baby vorsichtig und langsam zur Seite, um es nicht aufzuwecken, nahm Ludwigs Kopf in beide Hände, küsste ihn auf den Mund und sagte: „Ich dich auch.“

Die beiden merkten nicht, dass die Tür geöffnet wurde, langsam und zögerlich und dass eine Frau das Zimmer betrat, die einen Blumenstrauß in der Hand hielt, Astern, Rosen, Phlox und dass hinter ihr ein Mann stand, der laut „Grüß Gott!“ sagte. Die Stimme kam Ludwig bekannt vor. Er löste sich von Charlotte. Es war die Stimme seines Vaters. Und die Frau mit dem Blumenstrauß war seine Mutter. Auch sie sagte „Grüß Gott“, nur etwas leiser. Dass seine Eltern hier auftauchten, damit hatte Ludwig nicht gerechnet. Er hatte sie zwar angerufen, gestern Abend, ziemlich spät war es ihm eingefallen, seine Mutter war bereits zu Bett gegangen, aber sein Vater hatte so mürrisch reagiert, dass er das Gespräch abrupt beendet und beschlossen hatte, seine Tochter nun doch nicht taufen zu lassen.

Maria und Alois schüttelten ihm nacheinander die Hand, ohne ein Wort zu sagen. Charlotte und das Baby beachteten sie nicht. Nach einer Weile sagte Ludwig: „Das ist sie“ und deutete auf das Baby, das immer noch schlief. „Ein Bub?“ fragte Alois und sah Charlotte an. Ludwig ärgerte sich über die Frage, denn er hatte ihm am Telefon gesagt, dass sie ein Mädchen bekommen hätten. Charlotte schüttelte den Kopf. Alois schien es nicht bemerkt zu haben oder ihr nicht zu glauben, denn er sah Ludwig an und fragte: „Hm?“ „Ein Mädchen“, antwortete Ludwig. „Macht nix“, sagte Maria. Sie streckte den Blumenstrauß Charlotte hin und sagte: „Für dich.“ „Danke“, sagte Charlotte, ohne den Strauß zu nehmen. Ludwig sah sich nach einer Vase um. „Im Schrank“, sagte Charlotte. Ludwig holte aus dem Schrank eine Vase.

Die Tür ging auf, ein Rollstuhl wurde ins Zimmer geschoben, von Sally. In dem Rollstuhl saß Agnes. „Hallo“, sagte sie, und Sally sagte ebenfalls „Hallo“. Sie machte die Tür zu und schob den Rollstuhl an Charlottes Bett. Agnes nahm Ludwigs Hand und drückte sie, erstaunlich fest, fand er, für eine Frau von neunzig. Sally nahm aus dem Netz, das an der Rückseite des Rollstuhls befestigt war, einen Blumenstrauß, Nelken, Margeriten, gelbe Rosen und legte ihn auf das Bett.

Das Baby machte die Augen auf, verzog den Mund. Es sah aus wie ein Lächeln. „Süß“, sagte Sally und streichelte dem Baby über den Kopf. „Darf ich?“ fragte sie. Charlotte nickte. Sally hob das Baby auf, wiegte es hin und her und summte eine Melodie. „Hast noch ein paar Jahre Zeit“, sagte Agnes. Maria legte ihren Blumenstrauß ebenfalls auf das Bett, stellte sich vor Sally hin und breitete die Arme aus. Sally zögerte, sah Charlotte an, die nickte, dann legte sie das Baby Maria in die Arme.

Maria hielt das Baby im Arm, ohne es zu wiegen, betrachtete es und sagte: „Eine Riegerin“. Dann gab sie es an Ludwig weiter. Der fasste es unter den Achseln, zögerte, wollte es ins Bett zurücklegen, doch dann legte er es in die Armbeuge, so wie Sally es getan hatte, wiegte es und machte ein schmatzendes Geräusch. Ein kleiner Mensch, dachte er, ins Leben geworfen, ausgeliefert an zwei Menschen, die seine Eltern sein sollen, einfach so. Er spürte den kleinen Körper, der sich an ihn schmiegte, als ob er Schutz suchte vor den Menschen, vor der Welt, spürte das Vertrauen, das ihn zum Vater machte. Er legte Charlotte das Baby auf den Bauch. Am liebsten hätte er sich neben die beiden ins Bett gelegt.

„Wie soll es heißen?“ fragte Agnes. Ludwig schwieg. „Bavaria“, sagte Sally. “Wie?” fragte Alois. „Bavaria“, antwortete Ludwig. „Beschluss der Klasse“, fügte Sally hinzu. Ludwig vermied es, Charlotte anzusehen. „Bavaria?“ hörte er sie fragen. Sie hielt es für einen Scherz, für ein abgekartetes Spiel zwischen Lehrer und Schülerin. „Wir werden sie Therese nennen“, sagte sie. Sally sah Ludwig an. Der wich ihrem Blick aus. Dann heißt sie halt Bavaria Therese, dachte er.

Ein paar Tage später saß Max Breitenstein in seinem Büro in der Staatskanzlei, er hatte auch ein zweites in der Parteizentrale, und blätterte die Pressemappe durch. Vor allem die Kommentare zu seinem Fernsehauftritt interessierten ihn. Es waren nicht viele, leider. Die meisten waren wohlwollend. Aber was die Zeitungsfritzen dachten und schrieben, war nicht entscheidend. Viel wichtiger war, wie er bei den Zuschauern angekommen war, und da war er gut, wenn nicht hervorragend angekommen, davon war er überzeugt. Er war am meisten zu Wort gekommen und hatte, wie er fand, eine gute Figur gemacht, hatte souverän und überlegen gewirkt und nebenbei auch noch die besseren Argumente gehabt.

Er verließ das Büro. Draußen war es warm, ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, Mitte Oktober, Föhn halt. Die Leute hatten draußen gesessen, wie er bei seinem kurzen Spaziergang am Mittag gesehen hatte, in den Cafés, den Biergärten, hatten in der Sonne gelegen, im Englischen Garten, an der Isar, hatten die Fenster ihrer Büros geöffnet, sofern das möglich war, hatten die samtene Luft eingeatmet und den Feierabend herbeigesehnt.

Er verließ die Staatskanzlei um achtzehn Uhr dreißig, außergewöhnlich früh. Der Ministerpräsident war auf Reisen, in Kasachstan, wo eine bayerische Firma sich um den Auftrag bewarb, die Verkehrbetriebe einer aufstrebenden Großstadt mit Straßen- und S-Bahnen zu beliefern. Breitenstein hatte seine Arbeit erledigt, hatte mit Possart telefoniert, dem Leiter der bayerischen Landesvertretung in Berlin und ihm aufgetragen, bei der Haushaltsdebatte mindestens einen Redner ins Gefecht zu schicken, am besten den Oberhofer, der würde authentisch wirken und geradeaus, obwohl er eigentlich das Gegenteil war, hatte er doch bei einer Veranstaltung der Bayerischen Jungbauernschaft die Frage, was die Vertreter der Partei in Sachen Milchpreis zu tun gedenken, so wortreich und nichtssagend beantwortet, dass alle das Gefühl hatten, und hier hatten Breitenstein und Possart gelacht, umfangreich und kompetent informiert worden zu sein.

Breitenstein atmete die laue Abendluft ein und verspürte den Drang, etwas zu unternehmen, nicht unbedingt mit seiner Frau, die ihm immer öfter auf die Nerven ging mit ihrer Frage, was er denn heute im Büro gemacht und welchen bedeutenden Menschen er getroffen hätte und spätestens um halbelf einschlief. Die Kinder waren zwar noch auf, aber auch auf die hatte er keine Lust und die auch nicht auf ihn, redete sich ein, lieber sahen sie sich eine DVD an oder hörten über Kopfhörer Musik, anstatt sich mit einem abgearbeiteten Vater über die Schule zu unterhalten oder sich von ihm anhören zu müssen, dass sie Ordnung in ihre Zimmer bringen und endlich eines der Bücher lesen sollten, die er ihnen geschenkt hatte, alles von Fachleuten empfohlene Bücher, die meisten Werbegeschenke der Verlage. Nein, Breitenstein wollte etwas Verrücktes unternehmen, etwas Unvernünftiges, über die Stränge schlagen, wie damals als Student. Er ließ den Wagen in der Tiefgarage stehen und ging ein paar Schritte zu Fuß.

Plötzlich sah er die Messerschmidt vor sich, enger Rock, festen Arsch, dralle Brüste, wulstige Lippen, raue Stimme, kehliges Lachen. Sie war Eders Sekretärin, seit etwa einem Jahr. Als er vorhin an Eders Vorzimmer vorbeigegangen war, hatte die Tür offen gestanden und sie hatte am Schreibtisch gesessen und den Lidstrich nachgezogen.

Breitenstein machte kehrt. Die Messerschmidt saß immer noch an ihrem Schreibtisch. Der PC war ausgeschaltet, sie telefonierte. Breitenstein blieb an der Tür stehen. Er hatte das Jackett ausgezogen und über die Schultern gehängt, hellbeige war es, wie die Hose. Sein Hemd war ebenfalls beige, nur ein paar Nuancen dunkler. Melanie entschied morgens, was er anziehen sollte, sie hatte den besseren Geschmack, jedenfalls was die Kleidung betraf. Eine Krawatte trug Breitenstein heute nicht. Er war der einzige auf der Chefetage, der sich das herausnahm. Wenn es offiziell wurde, band auch er sich eine Krawatte um, das heißt, Melanie machte das, er selbst war nicht imstande, den Knoten so zu binden, wie er es wollte, groß und locker, denn das suggerierte, wie er in einer sogenannten Männerzeitschrift gelesen hatte, dass der Träger der Krawatte weder engstirnig noch pedantisch war, sondern locker und großzügig, und als das wollte er natürlich gelten.

Als die Messerschmidt sah, dass Breitenstein in der geöffneten Tür stand, beendete sie das Gespräch. „Ich wurde angerufen“, sagte sie und errötete leicht. Breitenstein fand sie dadurch noch attraktiver. „Kein Problem“, sagte er und machte eine wegwerfenden Handbewegung. Seit der Dienstwagenaffäre vor einem Jahr, die Eder fast das Amt gekostet hatte, achtete er persönlich darauf, dass die Vorschriften eingehalten wurden, und private Gespräche waren von einem Dienstapparat streng verboten.

Die Messerschmidt stand auf, sah Breitenstein an, fragend, erwartete einen Auftrag. Er musste etwas sagen, einen Grund angeben, warum er zurückgekehrt war, denn sie hatte ihn vorhin weggehen sehen. „Ich hatte etwas vergessen“, sagte er. Die Messerschmidt nickte. Sie stand da und sah Breitenstein immer noch fragend an. „Schluss für heute“, sagte er. Die Messerschmidt nickte, ging zum Schrank, nahm ihre Jacke und eine Ledertasche heraus, hing sich die Jacke über die Schultern, so wie Breitenstein, und ging an ihm vorbei auf den Flur. Er spürte ihren Körper, ihren Geruch und entschloss sich, mit ihr zu schlafen, heute Abend, in ihrer Wohnung.

Ein paar Minuten später saßen sie in seinem Auto, und er bot ihr an, sie nach Hause zu fahren. Sie lächelte und sagte Ja, obwohl ihr eigenes Auto direkt neben dem von Breitenstein stand. Er startete den Motor und verließ die Tiefgarage. Niemand hatte sie gesehen. Breitenstein spürte, dass er immer erregter wurde, dass er alles andere auszublenden begann, Melanie und die Kinder, die Staatskanzlei, die Parteiarbeit, gestern und morgen und nur noch die Frau übrig blieb, die neben ihm saß, aufregend und anscheinend genauso begierig nach ihm wie er nach ihr.

Vier Stunden später schloss Breitenstein die Tür seines Hauses auf, so leise wie möglich, ging auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer, zog sich aus, bis auf die Unterhose und das Unterhemd, ging ins Bad, putzte sich die Zähne, wischte sich den Körper mit kaltem Wasser ab, um den Geruch der Messerschmidt loszuwerden, schlich ins Schlafzimmer und legte sich neben Melanie ins Bett.

„So spät?“ fragte sie, kroch zu ihm und schmiegte sich an ihn. „Eder ist nicht da“, sagte Breitenstein, „deshalb.“ Er erwiderte Melanies Umarmung nicht, wollte schlafen, nichts als schlafen. Die Messerschmidt hatte ihn ziemlich rangenommen, auf der Couch in ihrer Zweizimmerwohnung. Er sah sie vor sich, ihr Gesicht, schweißbedeckt, ihre geschlossenen Augen, spürte ihren weichen Körper, ihre Haut, sah die weißen Wände, an denen nicht ein einziges Bild hing, die weißen Möbel, keine Regale, keine Bücher. Breitenstein war überrascht gewesen, als er die Wohnung betrat, er hatte sie sich anders vorgestellt, unaufgeräumt, auf dem Boden, auf dem Tisch Frauenzeitschriften, Taschenbücher, leere Flaschen, viel zu viele Möbel, überall Kleinigkeiten, viel Kitsch darunter, bunte Tapete, ein wenig geschmacklos.

Er zwang sich, nicht mehr an die Messerschmidt zu denken, an ihr Gesicht, ihren Körper, ihre Wohnung und wie gut es ihm getan hatte, mit ihr zu schlafen. Er drehte sich von Melanie weg, machte die Augen zu und wartete auf den Schlaf. Melanie hielt ihn noch eine Weile umarmt, dann schien sie zu glauben, er sei eingeschlafen, rückte von ihm ab und kroch auf ihre Seite zurück.

Breitenstein gelang es nicht, einzuschlafen, obwohl er müde war. Er dachte daran, wie er morgen die Messerschmidt begrüßen würde und sie ihn, am besten wie immer, als ob nichts gewesen wäre. Sie würde mitspielen, und zwar perfekt, sie kannte solche Situationen, davon war er überzeugt, sie hatte ihn benutzt, so wie er sie, was ihn ein wenig kränkte. Wiederum zwang er sich, nicht mehr an sie zu denken, sondern an das, was er morgen erledigen musste: Neun Uhr ein Termin mit einem Landrat aus Niederbayern, sein Name fiel ihm nicht ein, der einen Zuschuss wollte für irgendetwas, auch das fiel Breitenstein nicht ein. Gegen Mittag würde Eder zurück sein, mit seinem Spezi, dem Wühr, der ihn nicht ausstehen konnte. Weiter kam Breitenstein nicht, er war eingeschlafen. Draußen begann es zu regnen.

Am Morgen regnete es immer noch, nicht nur in München, in ganz Bayern. Doch der Regen machte dem jungen Mann in dem dunkelblauen Anzug mit der rotweißen Krawatte nichts aus, der in der rechten Hand einen aufgespannten Regenschirm hielt, in der linken eine Plastiktüte trug und eine schmale Gasse in Loisach entlang ging, die zum Marktplatz führte. Der Mann war Ludwig Rieger. Er war auf dem Weg zum Standesamt, um die Geburt seiner Tochter Bavaria Therese anzuzeigen. Er hatte sich den ganzen Vormittag frei genommen, obwohl die Geschichte, wie der Direktor gesagt hatte, in einer halben Stunde erledigt sein würde. Aber es war ein besonderer Tag und den wollte er mit Charlotte und der kleinen Bavaria ein wenig feiern. Er überquerte den Marktplatz und überlegte, ob man mit einem Neugeborenen zum Essen in ein Restaurant gehen könnte und wenn ja, in welches. Charlotte würde es wissen. Sie hatte mit der Kleinen am Fenster gestanden und ihm gewunken. Jemand grüßte ihn, eine Frau, die in ein Auto stieg, Ludwig nahm sie nicht wahr, auch die anderen Menschen nicht, die an ihm vorbeigingen. Er hörte auch nicht den Regen, der auf seinen Schirm prasselte und den Streit zweier Autofahrer um einen Parkplatz. Erst als er vor der Tafel stand und nach der Zimmernummer suchte, wachte er aus seinen Gedanken auf.

Es war im ersten Stock. Während Ludwig die Treppe hinaufstieg, stellte er sich das erstaunte, dann zustimmende Gesicht des Standesbeamten vor, wenn er ihm den Namen seiner Tochter nannte. Er kannte den Mann. Es war der Bühler Franz aus Reitham. Er fuhr jeden Tag mit dem Zug in die Stadt, seit mindestens hundert Jahren. Bühler würde aufstehen, hinter seinem Schreitisch hervorkommen, Ludwig die Hand schütteln, ihm und seiner Frau gratulieren und sagen, dass Bavaria ein passender Name sei für ein gestandenes bayerisches Madl und er sich wundere, dass bisher noch niemand auf die Idee gekommen wäre, seiner Tochter diesen Namen zu geben.

Ludwig stand vor der Tür Zimmer einhundertsieben und klopfte. Niemand antwortete. Ludwig überlegte, ob er noch einmal klopfen oder einfach hineingehen sollte. Der Bühler Franz war nicht mehr der Jüngste, vielleicht hörte er nicht gut. Und auf der Bank, die neben der Tür stand, frisch lackiert, denn sie glänzte, saß niemand, also war er der einzige, der eine Geburt anzuzeigen hatte oder etwas anderes vom Bühler Franz wollte.

Ludwig klopfte ein zweites Mal, diesmal heftiger. Wieder war nichts zu hören. Er öffnete die Tür, trat ein und sagte: „Grüß Gott.“ Hinter dem Schreibtisch, der links von der Tür stand, saß jedoch nicht der Bühler Franz, sondern ein Mann, den Ludwig nicht kannte. Er sah abgemagert aus, hatte eine lange schmale Nase, trug eine dunkle Hornbrille und ein braunschwarzes Jackett, tippte auf einer Tastatur herum und starrte dabei auf einen Bildschirm, auf dem ein Text von zweieinhalb Zeilen zu sehen war, der gerade auf drei Zeilen anwuchs. Er drehte Ludwig den Rücken zu und sagte: „Draußen warten. Bisse dran sind.“

Ludwig machte die Tür hinter sich zu und sagte: „Ich möchte eine Geburt anzeigen.“ Er griff in die Plastiktüte, die ziemlich nass geworden war, zog ein Papier heraus, stellte fest, dass es trocken geblieben war, ging damit zu dem Schreibtisch, blieb davor stehen und sagte: „Die Geburtsbescheinigung“. Er hatte sie sich in der Klinik geben lassen, entgegen den Vorschriften, weil die Klinik und nicht der Vater die Geburt zu melden hatte. Der Mann mit der Hornbrille starrte auf den Bildschirm und schwieg. Ludwig legte das Papier auf den Schreibtisch. Der Mann tippte das Wort „demzufolge“, überlegte, löschte es wieder. Weder Ludwig noch das Papier nahm er zur Kenntnis.

Ludwig wartete. Der Mann presste den Mund zusammen, schnaufte durch die Nase. Er schien ein Problem zu haben, ein schweres Problem, das mit dem, was auf dem Monitor stand beziehungsweise noch nicht stand, zu tun hatte. Ludwig zwang sich, nicht mehr auf den Monitor zu schauen, der Mann würde es vielleicht als eine Indiskretion auffassen und ihn noch unfreundlicher behandeln. Irgendwann musste er einen Blick auf die Geburtsbescheinigung werfen, die amtliche Beurkundung einer neuen Bürgerin hinter sich bringen, Routine für ihn, um sich wieder dem Text, der ihm so große Probleme zu bereiten schien, widmen zu können.

„Ist der Bühler Franz nicht mehr da?“ fragte Ludwig. Endlich drehte sich der Mann um und sagte: „Pensioniert.“ Jetzt sah Ludwig, dass sich auf dem Schreibtisch ein kleiner Plastikständer befand, auf dem „Hier bedient Sie Herr Mende“ stand. „Grüß Gott, Herr Mende“, sagte er, deutete auf die Geburtsbescheinigung und fügte hinzu: „Unsere Tochter.“ Mende nahm die Geburtsbescheinigung in die Hand. „Bavaria?“ fragte er. „Wollen´se ne Firma uffmachen?“ „So heißt sie“, antwortete Ludwig. Er ärgerte sich zwar über diese Frage, ließ sich jedoch nichts anmerken. Er wollte den Tag genießen und sich nicht seine gute Laune verderben lassen, von einem unfreundlichen Standesbeamten, der einen eigenartigen Akzent hatte, den er nicht einordnen konnte, bayerisch war es jedenfalls nicht.

Mende legte die Geburtsbescheinigung auf den Schreibtisch zurück, schob sie Ludwig hin und sagte: „Der Name ist nicht zuläss´sch.“ Ludwigs Entschluss, sich den Tag nicht durch einen unfreundlichen Standesbeamten verderben zu lassen, schmolz allmählich dahin. „Wer sagt das?“ fragte er und war immer noch bemüht, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. „Ich“, antwortete Mende und starrte wieder auf den Monitor, „ich sage das“. Ludwig holte Luft, langsam und tief, was einen unmittelbar bevorstehenden Wutausbruch vermuten ließ, und genau diesen Eindruck wollte er erwecken. Er blies jedoch die Luft wieder aus, denn er wusste nicht, was er sagen sollte. Was er dachte, wusste er, behielt es allerdings für sich: Was bildet sich dieser Depp mit der altmodischen Hornbrille und dem hässliche Jackett ein? Er war Beamter und wurde von Steuergeldern bezahlt, also auch von dem, was man ihm jeden Monat von seinem Gehalt abzog. Als er sich eine Formulierung überlegte, die nicht beleidigend war, aber deutlich genug, um dem Herrn Standesbeamten klar zu machen, dass er sich eine solche Behandlung nicht gefallen lassen und das auch an höherer Stelle kundtun würde, sagte Mende, der Ludwigs Absicht zu erahnen schien und ihn nicht noch mehr verärgern wollte: „De Vorschriften.“ Aber es war zu spät, Ludwig war wütend und wollte seine Meinung loswerden, sie nicht einfach beiseite schieben und klein beigeben. „Und ich sage“, sagte er, „sie heißt Bavaria!“

Mende sah ihn an, zum erstenmal, nicht wütend oder zornig, eher erstaunt und neugierig. Dass jemand vor ihm stand, in seinem eigenen Büro, einem Hoheitsgebiet, und ihm widersprach, und dass dieser Jemand weder ein Kollege noch ein Vorgesetzter war, sondern ein Kunde, ein Bittsteller, einer von vielen Tausenden, ein ganz gewöhnlicher Mensch, nicht einer von denen, zu denen er aufsah und Ja sagte, auch wenn er im Recht war, der Widerspruch dieses unbedeutenden Menschen schien ihn eher zu amüsieren, als dass er ihn ernst nahm, wusste er doch, dass es noch nie jemand geschafft hatte und je schaffen würde, mit dem Kopf eines gewöhnlichen Bürgers durch die Wand einer Behörde zu gehen. Er reckte sich, zog aus einem Regal, das hinter ihm an der Wand stand, einen Ordner heraus, warf ihn auf den Schreibtisch, sagte „Da stehen genüschend Namen drin“ und wandte sich wieder dem Monitor zu.

„Sie heißt Bavaria!“ sagte Ludwig und merkte zu seiner Überraschung, dass er das mit lauter Stimme gesagt hatte. Er wurde selten laut, nicht einmal dann, wenn er sich in der Klasse Gehör verschaffen musste, wenn alle durcheinander redeten und niemand ihm zuhörte. Er blieb dann einfach stehen, sah zum Fenster hinaus oder vor sich hin, sagte kein Wort und wartete. Es dauerte nie lange, bis die Schüler sein Schweigen bemerkten, mit dem Reden aufhörten oder mit den Kritzeleien, den Briefchen, die sie schrieben oder mit den Gedanken an den Nachmittag, ihn ansahen, fragend, unsicher, manche mit schlechtem Gewissen und darauf wartend, dass der Unterricht weiterging.

Ludwig hatte erwartet, dass Mende empört reagieren, sich den Ton verbieten würde, aber er drehte sich von dem Monitor weg, warf einen kurzen Blick auf die Tür, die zum Nebenzimmer führte, deutete auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand und sagte: „Bitte.“ Es schien ihm unangenehm, ja peinlich zu sein, das es in seinem Büro laut geworden war. Ludwig setzte sich. Mende beugte sich zu ihm und sagte leise: „Bei uns in Dräsdn würde keener uff die Idee kumm, seine Tochter Saxonia z´nenn´ oder in Berlin Borussia oder in Hamburg Hammonia.“. Endlich wusste Ludwig, was für einen Dialekt Mende sprach – sächsisch. „Wollen Sie es sich nicht noch eemal überlesch´n, guter Mann?“ fragte Mende. Er lächelte, wie man jemand anlächelt, den man nicht ernst nimmt und loswerden will.

Eigentlich hatte Ludwig aufstehen und nach Hause gehen wollen, um noch einmal mit Charlotte darüber zu reden, und vielleicht hätte er sich für einen anderen Namen entschieden, wenn da nicht dieses Lächeln gewesen wäre und dieses „guter Mann“. Und als er sah, dass Mende anfing, sich die Fingernägel zu reinigen, mit einer Schere, war die Wut wieder da. Es ging hier nicht um irgendetwas, wie lange ein Reisepass dauert oder um die Aushändigung eines Formulars, sondern darum, mit welchem Namen seine Tochter, seine einzigartige Tochter durch ihr ganzes wunderschönes Leben gehen würde, und dieser sogenannte Beamte, der, aus welchem Grund auch immer, es für nötig befunden hatte, von Dresden nach Loisach überzusiedeln, dieser Kerl machte sich einen Spaß daraus, ihm, dem Vater, zu zeigen, wie gleichgültig ihm der Name, die Identität, die Existenz dieses wunderbaren und kostbaren neuen Menschen war.

Ludwig blieb sitzen und sagte, so beherrscht wie möglich „Wir sind hier in Loisach, und meine Tochter wird Bavaria heißen!“ Erneut schob er Mende die Geburtsbescheinigung hin. Endlich geruhte der Standesbeamte, einen Blick darauf zu werfen, einen widerwilligen. Ludwig war gespannt – würde er den Namen immer noch ablehnen oder würde er nachgeben, unter Protest und vorbehaltlich der Zustimmung seines Vorgesetzten, sich sogar zu einem Lächeln bequemen und zugeben, dass es gar keine Bestimmung gäbe, die den Namen Bavaria verbiete, dass er den Namen weder schön und passend fände und seine eigene Tochter niemals so nennen würde, und dass seines Wissens bislang auch niemand auf die Idee gekommen wäre, seine Tochter so zu nennen, dass es jedoch den Eltern freistehe, ihr Kind so zu nennen wie sie es für richtig hielten und Ludwig noch einmal darauf hinweisen, dass seine Tochter ihr Leben lang mit diesem Etikett herumlaufen müsste, zumindest so lange, bis sie sich einen anderen Namen zulegen könne, Anne oder Antonia oder Paula?

„Von der heilsch´n Bavaria?“ fragte Mende und verzog spöttisch den Mund. Er schob die Geburtsbescheinigung zurück und sagte laut und ohne sich die Mühe zu machen, seine Verärgerung zu verbergen: „Sach´n se ihr, wir sind hier in Deutschland, guter Mann, und dass keene bayerische Extrawürste gebrot´n wer´n, Sagen se das der heilschen Bavaria.“

Ludwig stand auf, so heftig, dass der Stuhl umgefallen wäre, wenn er ihn nicht im letzten Moment festgehalten hätte. Mende zuckte zusammen und beugte den Oberkörper ein Stück zurück, als ob er befürchtete, geschlagen zu werden. Ludwig sah aus dem Fenster. Es regnete immer noch. Er nahm die Geburtsbescheinigung, steckte sie in die Plastiktüte und verließ das Zimmer, ohne Mende eines Blickes zu würdigen oder sich zu verabschieden. Die Tür machte er heftiger zu als bei seinem Eintreten.

Es regnete nur noch wenig, dann hörte es auf. Ludwig stand auf dem Marktplatz und überlegte, was er jetzt tun sollte. Eigentlich hatte er etwas für die kleine Bavaria kaufen wollen, zur Feier des Tages, wo sie doch jetzt einen Namen hatte, einen Teddy, um dessen Hals eine Schnur mit einem kleinen Schild hing, auf dem Bavaria stand. Aber ihre Tochter hatte noch keinen Namen, hatte noch keine Identität, jedenfalls keine offizielle, war noch keine Loisacher Bürgerin, sondern nur ein anonymes menschliches Lebewesen. Er hätte einen anderen Namen angeben sollen, Therese eben. Warum hatte er sich bloß auf den Namen Bavaria versteift? Nur um vor der Klasse nicht als Umfaller da zu stehen? Es ging um seine Tochter, nicht um ihn und sein Prestige als Lehrer. Vielleicht hätte er auch nachgegeben, wenn ihm dieser Mende anders gekommen wäre, ned so ausgschamd, wenn er ihn höflich gebeten hätte, die Entscheidung noch einmal zu überdenken, gemeinsam mit seiner Frau.

Er setzte sich auf die Bank, die unter dem Denkmal für die in den beiden Weltkriegen gefallenen Loisacher stand, ein Soldat aus Bronze, vermutlich niederer Dienstgrad, der eine im Wind flatternde Fahne in der Hand hielt und grimmig nach vorne blickte, dem Feind entgegen, entschlossen, für das Vaterland sein Leben zu lassen, im Felde der Ehre, wie auf dem Postament stand, darunter etwa fünfzig Namen. Er zog die Geburtsbescheinigung aus der Plastiktüte und legte sie auf seine Knie. Sollte er Bavaria durchstreichen und stattdessen Therese in die betreffende Rubrik einsetzen, ins Standesamt zurückkehren und die Angelegenheit endlich hinter sich bringen? Charlotte würde, gelinde gesagt, ihm nicht böse sein, wenn er das täte. Der kleinen Bavaria wäre es egal, sie würde es nie erfahren, dass sie nicht Therese, sondern Bavaria hätte heißen sollen. Er sah die Kleine vor sich, im Schlaf lächelnd, dann plötzlich den Mund verziehend, vor Hunger vermutlich – seine Tochter Bavaria. Nein, dieser Name gehörte zu ihr, sie war mit ihm zur Welt gekommen, er war ein Teil von ihr, wie der Nachname Rieger, sie hatte ein Recht darauf, so genannt zu werden.

Er kaufte sich beim Metzger eine Bratwurst, aß sie im Stehen, trank ein Bier dazu und war mit sich im Reinen. Seine gute Laune war zurückgekehrt. Er würde Charlotte zunächst nichts von den Schwierigkeiten, in die er hineingeraten war, sagen, sie würde ihn nicht verstehen. Erst wenn er sich durchgesetzt und der Standesbeamte, dessen Name er nicht mehr wusste, klein beigegeben hatte, auf Druck von oben, erst dann würde er es Charlotte erzählen, sie würde den Kopf schütteln, und dann würden sie gemeinsam lachen. Das Büro dieses Herrn mit dem seltsamen Dialekt würde er nicht mehr betreten, sondern gleich zu seinem Vorgesetzten gehen, am besten zum Bürgermeister. Der würde ihn nicht nur verstehen, sondern ihm anerkennend auf die Schulter klopfen und seinem sächsischen Standesbeamten einen Rüffel erteilen, denn er war ein Bayer, sogar ein Loisacher.

Am Nachmittag besuchte er Charlotte im Krankenhaus. Sie saß auf der Bettkante und hatte ihre Kleider an. Neben ihr stand der Rollkoffer. Das Baby lag in einer Tragetasche und schlief. „Wo bleibst du so lange?“ fragte sie. Ludwig antwortete nicht. Er hatte vergessen, dass Charlotte und die Kleine heute entlassen werden sollten, einen Tag früher als geplant. Er gab Charlotte einen Kuss, nahm die Tragetasche, legte den anderen Arm um Charlottes Hüfte, dann verließen sie das Zimmer und kurz darauf das Krankenhaus.

Die kleine Bavaria schlief auch noch, als sie die Wohnung betraten und er sie in den Stubenwagen legte, langsam und vorsichtig. Noch lange blieb er vor dem Wagen stehen und betrachtete seine Tochter, ihren Mund, den sie im Schlaf spitzte, als ob sie an Charlottes Brust liegen und ihre Milch saugen würde. Er streichelte ihren Kopf, der feucht war, spürte die pulsierende Fontanelle, küsste sie auf die kleine Stirn und flüsterte: „Bavaria, sonst passt nix.“

„Hast du Probleme gehabt?“ fragte Charlotte. Sie hatte die ganze Zeit hinter ihm gestanden. Ludwig richtete sich auf und schüttelte den Kopf. Er vermied es, sie anzusehen. „Wegen Bavaria?“ fragte sie. Ludwig nickte und begann, den Stubenwagen leicht hin und her zu schaukeln. Gleich würde sie sagen, dass sie sich das gedacht hätte und dass er halt Therese hätte angeben sollen, nur Therese. „Sie ist gar nicht angemeldet?“ fragte Charlotte. Ludwig nickte. Er ließ den Stubenwagen los, sah sie endlich an und sagte: „Wenn er mir anders gekommen wär´ - verstehst?“ Charlotte verstand ihn nicht, natürlich nicht. Sie sah ihn bloß an, wartete darauf, dass er es ihr erklärte. Ludwig schwieg. Wie sollte er erklären, dass er stur gewesen war und auf dem Namen Bavaria bestanden hatte? So ein Zirkus, würde sie sagen, wegen eines Namens, der gar keiner ist. „Bavaria ist ein Name“, sagte er nur und behielt seinen Entschluss, zum Bürgermeister zu gehen und auf den Tisch zu hauen, für sich. In diesem Augenblick machte die Kleine ihre Augen auf und gab einen quiekenden Laut von sich. „Schau“, sagte Ludwig, „sie ist einverstanden – mit ihrem Namen!“

Melanie Breitenstein verließ das Zimmer ihrer Tochter Elisabeth. Vorher hatte sie bei Johannes nachgesehen. Beide Kinder schliefen. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo der Fernseher lief, ein italienischer Spielfilm. Davor hatte es eine Talkshow gegeben. Ihr Mann hatte am runden Tisch gesessen und, wie sie fand, eine gute Figur abgegeben, wieder einmal. Worüber gesprochen wurde, hatte sie vergessen. Max hatte seinen blauen Anzug getragen, im Fernsehen hatte er heller gewirkt, dazu ein dunkelblaues Hemd mit dezent gestreifter Krawatte. Sie selbst hatte das für ihn ausgesucht, am Nachmittag, als er für eine halbe Stunde nach Hause gekommen war, sich geduscht und ein wenig Gel in die Haare geschmiert hatte. Als er vor dem Spiegel gestanden hatte und sich mit den Fingerspitzen noch einmal durch die Haare gefahren war, da war ihr warm geworden - mit diesem gut aussehenden, intelligenten, erfolgreichen Mann war sie verheiratet, Melanie Breitenstein, früher Melanie Niederegger, Verkäuferin in einer Modeboutique, Melanie Niederegger, die nicht einmal Abitur hatte, nur Realschulabschluss, die hin und wieder als Model genommen wurde, für Kaufhauskataloge oder Werbebroschüren, deren Vater Busfahrer gewesen war, zunächst bei Reiseunternehmen und dann bei der Stadt und deren Bruder auf dem Bau arbeitete. Sie war stolz auf diesen Mann, den Vater ihrer Kinder, der es weit gebracht hatte und es noch weiter bringen wollte, obwohl er sich als Generalsekretär und rechte Hand des Ministerpräsidenten ihrer Meinung nach mit dem Erreichten zufrieden geben und sich den anderen Dingen des Lebens widmen sollte, der Familie zum Beispiel und den Kindern. Aber das behielt sie für sich.

Seit dem Ende der Talkshow waren zwei Stunden vergangen. Max müsste längst zu Haus sein, vom Studio bis zu ihrem Haus war es nicht mehr als eine halbe Stunde, um diese Zeit jedenfalls. Melanie sah im Kühlschrank nach. Mehrere Flaschen Bier lagen dort und auch zwei Flaschen Champagner. Wenn Max am Abend oder in der Nacht nach Hause kam, müde, ausgelaugt und genervt von der Arbeit und den Menschen, mit denen er sich abgeben musste, Ignoranten die meisten, wie er sagte, trank er meistens Bier. Aber heute war ein besonderer Tag, zu dem Champagner besser als Bier passte – ihr Hochzeitstag, der zehnte. Auch diesmal würde Max ihn vergessen haben, obwohl sie ihn selbst in seinen Terminkalender eingetragen und es nicht der Sekretärin überlassen hatte, der blonden, hübschen, drallen, deren Name Melanie grundsätzlich vergaß.

Sie trat ans Fenster und sah hinaus auf die Straße. Sie war leer, bis auf ein einziges Auto, einen Sportwagen, der vor dem Nebenhaus parkte, dem größten und teuersten in der Straße. Er gehörte dem Sohn, Erbe einer Fleischereikette mit Filialen nicht nur in München, sondern in ganz Bayern, ein Student angeblich. Ein Auto näherte sich, aber es fuhr vorbei.

Melanie sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Wahrscheinlich saß Max mit seinen Kontrahenten, denen er in der Talkrunde so vehement widersprochen, die er so wirkungsvoll fertiggemacht hatte, irgendwo zusammen, trank ein Bier mit ihnen, und alle klopften sich gegenseitig auf die Schultern und beglückwünschten sich zu dem prima Schauspiel, das sie dem nichtsahnenden Publikum wieder einmal geboten hatten. Vielleicht trieb er sich auch in einer Bar herum, aus beruflichen Gründen natürlich.

Sie ging vom Fenster weg und machte es sich auf der Couch bequem. Der Fernseher lief immer noch. Es gab Nachrichten, Überschwemmungen, irgendwo in Asien. Die Haustür wurde aufgeschlossen. Melanie wachte auf. Sie war eingeschlafen, merkte sie. Im Fernsehen umarmten sich zwei Männer, küssten sich. Sie schaltete den Apparat aus, setzte sich aufrecht, blätterte in der Zeitschrift, die auf dem Tisch lag, ein Wochenmagazin, und bemühte sich, nicht verschlafen zu wirken.

„Du bist noch wach?“ fragte Breitenstein. Melanie sah auf die Uhr. Es war halb drei. „Ich habe auf dich gewartet“, sagte sie. Auf dem Tisch standen rote Rosen, genau zehn, in einer chinesischen Vase. Max hatte die Vase von einer Dienstreise mitgebracht. Er gähnte, bemerkte die Rosen nicht. „Ich muss nach Berlin“, sagte er. Melanie stand auf, ging zu ihm, küsste ihn auf den Mund und sagte: „Weißt du, was heute für ein Tag ist?“ Er roch nach Alkohol und Zigaretten, obwohl er gar nicht rauchte und nach einem Parfüm, das Melanie nicht kannte. „Nein“, sagte er, „ich weiß es nicht.“ Melanie nahm die Blumen aus der Vase, hielt sie Breitenstein hin und sagte: „Alles Gute zum Hochzeitstag!“ Wasser tropfte von den Stängeln auf den kleinen hellen Perserteppich, der an dieser Stelle auf dem Parkettboden lag und hinterließ dunkle Flecken. Breitenstein nahm den Strauß und steckte ihn wieder in die Vase. „Tut mir leid, Liebes“, sagte er. „Ich hatte viel um die Ohren.“ Dann gab er Melanie einen Kuss auf die Stirn und fügte hinzu: „Danke, dass du es so lange mit mir ausgehalten hast.“ Melanie überlegte, ob sie ihn nach dem fremden Parfüm fragen sollte und warum er so spät nach Hause gekommen war, ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag, der in seinem Kalender gestanden hatte, aber sie entschied sich, darüber hinwegzusehen. Vermutlich steckte gar nichts dahinter, er hatte nach der Sendung mit den Leuten vom Fernsehen zusammengesessen und Anfragen von Zuschauern beantwortet und danach in der Redaktion noch etwas getrunken und neben jemand gesessen, der geraucht und nach diesem Parfüm gerochen hatte, der Maskenbildnerin zum Beispiel, die sich an den prominenten Politiker herangeschmissen und nicht gemerkt hatte, dass sie dem ziemlich lästig war. „Lass uns schlafen gehen“, sagte sie. Den Champagner würden sie ein anderes mal trinken, und das Andere, das sie sich für heute Nacht vorgenommen hatte, wie damals, vor zehn Jahren, in dem kleinen Hotel am Tegernsee, das würden sie ein anderes mal machen, morgen oder übermorgen.

Die Bayernaffäre

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