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Vorwort zur Neuausgabe
ОглавлениеHerbert Marcuses Feindanalysen. Über die Deutschen erschienen erstmals im Jahre 1998 anläßlich seines 100. Geburtstags. Zu diesem Zeitpunkt war die Publikation einer thematischen Auswahl der Nachlaßschriften zwar schon geplant. Da aber die Vorbereitungen für die Nachlaßausgabe noch nicht weit genug gediehen waren, entschieden sich der Herausgeber, der Inhaber der Rechte, Peter Marcuse, und der Verlag zu einer vorgezogenen Publikation der Analysen, die Marcuse während seiner Tätigkeit für das Office of Strategic Services und für andere Abteilungen des State Department zwischen 1942 und 1951 erstellt hatte. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung der Feindanalysen fand zur angemessenen Würdigung des 100. Geburtstags in den Räumen der Stadt- und Universitätsbibliothek in Frankfurt eine Ausstellung mit Materialien und Dokumenten aus dem Marcuse Archiv statt. Sowohl Buch als auch Ausstellung stießen auf ein überraschend breites Echo in der Öffentlichkeit.1
Die Fundstelle der gesammelten Deutschland-Analysen für den amerikanischen Geheimdienst war Marcuses akademischer Nachlaß in Frankfurt. Dokumente und Manuskripte dieser Sammlung bilden auch den Fundus der Nachgelassenen Schriften, mit deren Veröffentlichung im Jahre 1999 begonnen wurde.2 Eine Neuausgabe der Feindanalysen im Rahmen der Nachlaßausgabe war schon damals beabsichtigt.
Die jetzt vorliegende Neuausgabe wurde durch den Text State and Individual under Nationalsocialism ergänzt.3 Gründe dafür sind der zeitnahe Entstehungszusammenhang und die inhaltlichen Parallelen zu den Arbeiten für das OSS. Marcuse untersucht hier die Differenzen zwischen nationalsozialistischer und bürgerlicher Gesellschaft, indem er die Beziehungen zwischen den vier wichtigsten Machtzentren analysiert: Industrie, Armee, Bürokratie und nationalsozialistische Partei. Ohne Zweifel geht dieser ausführliche Text Marcuses auf den Einfluß von Franz Neumann zurück, der gerade seine umfangreiche und am Institut kontrovers diskutierte Untersuchung über die nationalsozialistischen Strukturen in Ökonomie und Politik fertiggestellt hatte. Die Studie erschien 1942 unter dem Titel Behemoth4 erstmals in den Vereinigten Staaten. Mit der zweiten Auflage im Jahre 1944 gelang Neumann im amerikanischen Exil der akademische Durchbruch.
Mit Neumanns Unterstützung gelangte Marcuse in den Kreis der europäischen Emigranten, die in der Abteilung »Europa«, Unterabteilung »Germany/Austria« für das OSS tätig waren. Aus dem Kreis des Instituts für Sozialforschung gehörten neben Neumann und Marcuse noch Otto Kirchheimer, Friedrich Pollock und Arcadius Gurland zu dieser Gruppe. Leo Löwenthal arbeitete im Office of War Information und analysierte dort Propagandamaterial der Nationalsozialisten. Der amerikanische Historiker Carl. E. Schorske, ebenfalls Mitarbeiter der Abteilung »Europa« im OSS, erinnerte sich lebhaft an die »europäischen Theoretiker, mit ihrer Abneigung gegenüber dem amerikanischen Pragmatismus.«5 Zwischen Neumann und Marcuse, so weiß Schorske weiter zu berichten, fand in diesen Jahren ein reger intellektueller Austausch statt. In den darauffolgenden Jahren diskutierten die deutschen OSS-Mitarbeiter in Washington gemeinsame Projekte und verfaßten gemeinsame Manuskripte über die Situation und die Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland.
Auf eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen OSS-Mitarbeitern schon vor ihrer Zeit in Washington, also in den Jahren 1936 - 1942 in New York, deuten zwei Manuskripte hin, die eine gemeinsame Autorenschaft von Neumann und Marcuse aufweisen: A History of the Doctrine of Social Change und Theories of Social Change.6 Beide Manuskripte befinden sich im Marcuse Archiv und wurden von Douglas Kellner in dem Band Herbert Marcuse. Technology, War and Fascism publiziert. Es ist allerdings nicht eindeutig geklärt, wann und in welchem Zusammenhang diese Arbeiten erstellt wurden. Kellner äußert die Vermutung, sie seien Ende der dreißiger oder zu Beginn der vierziger Jahre entstanden. Darauf deutet auch der unter den Namen angefügte Adressenvermerk »Institute of Social Research (Columbia University), 429 West 117th Street« hin.
Auch Staat und Individuum im Nationalsozialismus verdankt sich daher sehr wahrscheinlich diesem Arbeitszusammenhang. Doch für welchen Kontext erarbeitete Marcuse den Text? Rolf Wiggershaus verweist auf eine Vorlesungsreihe des Instituts an der Columbia University im Oktober 1941. »Auf die Aufforderung von Pollock hin beteiligte er (Marcuse, P.E.J.) sich mit einem Vortrag über State and Individual under National Socialism an der Vorlesungsreihe des Instituts in der Extension-Abteilung der Columbia University«.7 Neben Marcuse waren noch Gurland, Pollock, Neumann und Kirchheimer an den Vorlesungen beteiligt. Eine geplante Buchveröffentlichung der Beiträge scheiterte. Wir möchten die Veröffentlichung von Marcuses Vortrag in deutscher Sprache hiermit nachholen, obwohl es keine direkte Analyse für das OSS war. Die nun zahlreich vorliegenden Veröffentlichungen aus dem Bestand des OSS hat die Erkenntnisse über das angesammelte und gleichzeitig »verstoßene Wissen« der europäischen Exilanten während des Zweiten Weltkriegs erweitert.8 Detlev Claussen hat seine Einleitung überarbeitet und diskutiert diese Neuerscheinungen und die öffentlichen Reaktionen darauf. Ihm danke ich besonders für seine erneute Mitarbeit.
Zum Konzept der Nachlaßausgabe gehört es, gelegentlich Schriftstücke aus dem Archiv zu faksimilieren oder Fotos abzudrucken. Leider befinden sich so gut wie keine Bilder im Marcuse Archiv. Umso erfreulicher ist es, daß nach einigen Recherchen der Bildbestand etwas vergrößert werden konnte. Dazu gehören auch Kinderfotos von Herbert Marcuse und seiner Schwester Erna, die hier erstmals abgedruckt werden. Nicht nur für dieses großzügige Entgegenkommen möchte ich mich bei Peter Marcuse und seiner Familie bedanken.
Peter-Erwin Jansen
im April 2007