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Kopf der Leidenschaft Herbert Marcuses Deutschlandanalysen
Оглавлениеvon Detlev Claussen
»Krieg den deutschen Zuständen! … Mit ihnen
im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft des
Kopfs, sie ist der Kopf der Leidenschaft.«
Karl Marx 1844
Mit welchen Augen man eine Flaschenpost liest, hängt vom Zeitpunkt ab, an dem die Flasche entkorkt wird. Lange Zeit waren die Studien zum Nationalsozialismus, die kritische Theoretiker im Exil unternommen hatten, verschwunden. Der Ende der vierziger Jahre nach Deutschland zurückgekehrte Max Horkheimer wollte die Botschaften, die einst in den USA aufgegeben worden waren, gar nicht mehr veröffentlicht wissen. Die nach Amerika gerettete »Zeitschrift für Sozialforschung« war verschwunden, die in Kalifornien entstandene »Dialektik der Aufklärung« kursierte in einer Handvoll xerografierter Exemplare unter deutschsprachigen Emigranten. Die 1947 in Amsterdam gedruckten Exemplare erreichten die neue westdeutsche Öffentlichkeit nicht mehr. An dieser philosophischen Gemeinschaftsarbeit hatte Herbert Marcuse zu Beginn der vierziger Jahre unbedingt mitarbeiten wollen; aber Zukunftssorgen und Geldnot bewegten Horkheimer und seinen engsten Freund Pollock, ihren Mitarbeiterstab radikal zu verkleinern. Auf Marcuses Manuskript »The New German Mentality« vom Juni 1942 ist als Anschrift Santa Monica, Calif. durchgestrichen und mit Hand ist c/o F. Neumann, 403 West 115, New York City hinzugefügt worden. Während Adorno und Horkheimer an der Pazifikküste –»Weit vom Schuß«, wie Adorno in den »Minima Moralia« schrieb – die »Dialektik der Aufklärung« formulierten, hatte sich Herbert Marcuse für den Dienst an der Ostküste im antifaschistischen Kampf entschieden. Wie sein Freund Franz Neumann trat er in den ersten US-amerikanischen Geheimdienst ein – in den OSS, der in Washington, D. C., seine Baracken aufgeschlagen hatte und an der Ostküste eine Reihe von Büros aufgemacht hatte.1 Die Wege der kritischen Theoretiker im Exil hatten sich getrennt: In Kalifornien aber wurden ebenso wie in Washington enorme intellektuelle Anstrengungen unternommen, um zu begreifen, was in Europa geschah und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien.
Die gemeinsame Wurzel der kalifornischen und der Washingtoner Aktivitäten liegt in der vorangegangenen Praxis des Instituts für Sozialforschung an der New Yorker Columbia Universität, in deren Rahmen auch die ersten Papiere Marcuses zum Nationalsozialismus entstanden sind. Das Überwintern der aus Deutschland geflohenen kritischen Theoretiker im US-amerikanischen Exil ist schon immer geheimnis-, wenn nicht geheimdienstumwittert gewesen. Der Name Kritische Theorie läßt sich sinnvoll auf Max Horkheimer als ihren Begründer zurückführen. Sein auf die deutschsprachige Emigration programmatisch wirkender Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« erschien 1937 in der im Exil fortgeführten »Zeitschrift für Sozialforschung«. Konstitutiv für die Kritische Theorie ist die Erfahrung einer gescheiterten Revolution. Das gilt nicht erst für die weltgeschichtliche Zäsur, die mit den »Moskauer Prozessen« von 1936 gekommen war.
Von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung vernachlässigt wurde das Scheitern der Revolution als entscheidender Impuls kritischer Theoriebildung schon zu Zeiten der Weimarer Republik. Das Gründungsjahr des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1923 fällt definitiv mit dem Ende der revolutionären Kämpfe in Deutschland zusammen. Ohne die zielstrebige Initiative von Max Horkheimer und seinem Freunde Friedrich Pollock, die auch mit Felix Weil den entscheidenden Geldgeber fanden, wäre es nie zur Institutsgründung gekommen. Nicht die Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende Revolution motivierte sie, sondern eben die Erfahrung des Scheiterns machte ein neues Nachdenken über die Revolution notwendig. Erst die Distanz zur Alltagspraxis der politischen Bewegungen ermöglichte Kritische Theorie. Max Horkheimer wird dieser Zusammenhang erst später im Exil wirklich bewußt und erst dort erfindet er auch den Namen Kritische Theorie. Horkheimers genuine politische Leistung besteht in der bewußten organisatorischen Trennung der Theorie von der Macht. Das unterscheidet ihn von bedeutenden intellektuellen Köpfen zur Zeit der Weimarer Republik – Ernst Bloch, Georg Lukács und Karl Korsch, die alle in schier endlose Beziehungsgeschichten mit der Kommunistischen Partei verstrickt blieben.
Horkheimer und Pollock verstanden es vor 1933 geschickt, den Einfluß der Sozialdemokratie vor allem in Preußen zu nutzen, ohne deren Programm zu teilen. Skeptisch standen die Frankfurter lange vor 1933 beiden Strömungen der Arbeiterbewegung gegenüber, die nicht nur den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland nicht hatten verhindern können. Die Erfahrungen der Novemberrevolution 1918, die nach den Worten des Revolutionärs Karl Retzlaff treffender als Novembersturz des Hauses Hohenzollern zu bezeichnen ist, gaben nachdenklichen Menschen ebensowenig Anlaß zu Hoffnungen auf eine neue tiefgreifendere Revolution wie die erschreckenden Nachrichten aus dem nachrevolutionären Rußland. Vom neu gegründeten Institut unternommene soziologische Untersuchungen machten auf die Diskrepanz zwischen alltäglichen Einstellungen von Arbeitern und Angestellten und ihren politischen Konfessionen aufmerksam. Die Entdeckung der »Authoritarian Personality«, des Autoritären Charakters, fällt schon in die Weimarer Zeit und wurde später am US-amerikanischen Material bestätigt. Er wurde gerade nicht – wie in späteren Verballhornungen – auf einen angeblichen deutschen »Volkscharakter« zurückgeführt. Horkheimer machte Autorität als Dreh- und Angelpunkt einer Vermittlung von Gesellschaftstheorie und psychoanalytisch reflektierter Sozialpsychologie zum zentralen Forschungsgegenstand des Instituts.
Herbert Marcuse kam erst nach 1933 zum Institut.2 Seine Erfahrungen mit der Novemberrevolution von 1918 waren, wie er auch noch im Alter hervorhob, praktischer Art. Marcuse hatte die Praxis der Sozialdemokratie in Berlin am eigenen Leib als Teilnehmer der Rätebewegung erfahren. Er gab der SPD eine Mitschuld an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Das Auseinanderfallen von politischer Rhetorik und konkreter individueller Existenz veranlaßte Marcuse, nach neuen philosophischen Begriffen zu suchen. Marcuses ernsthaftes Studium von Heideggers Philosophie belegt ihre Aktualität nach dem Zusammenbruch der neoidealistischen Renaissancen. Noch in seinem Skript über »Deutsche Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert« (1940) erscheint Heidegger weder nur als großer Philosoph noch als bloßer Nazi. Marcuse ist wirklich einer »neuen deutschen Mentalität« auf der Spur. Seine lebensgeschichtliche Erfahrung mit der Kriegs- und Nachkriegsgeneration im Deutschland nach 1914 brachte Marcuse auf eine richtige Fährte. Der Nationalsozialismus wird in seinen Analysen weniger aus der deutschen nationalkulturellen Kontinuität begründet, sondern eher aus dem Bruch mit der Tradition.
Die aus dem Nachlaß von Peter-Erwin Jansen zusammengestellten Schriften zeigen keinen ganz anderen Marcuse, sondern den vergessenen, den der sozialen Amnesie Anheimgefallenen. Mit dem allgemeinen Affekt gegen »68« ist auch Marcuse auf den Kehrichthaufen der Feuilletons geworfen worden. Über seine Rolle in den USA und Deutschland um 1968 existieren mehr oder weniger falsche Gerüchte, die sogar Eingang in die Werke renommierter Intellektueller gefunden haben. Texte wie die hier edierten bringen wieder an den Tag, warum Herbert Marcuse unter jungen Intellektuellen in Deutschland Mitte der sechziger Jahre eine solche Verehrung genoß. 1964 hielt Herbert Marcuse auf dem 15. Deutschen Soziologentag in Heidelberg eine Rede über »Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers«, die ihn zum Geheimtip bei der jungen sozialwissenschaftlichen Intelligenz Deutschlands machte. In dieser Rede tauchen nahezu alle die kritischen Momente auf, die schon in Marcuses Arbeiten aus den dreißiger und vierziger Jahren zu finden sind. Herbert Marcuse trat gleichzeitig als Deutschlandkritiker und als Kritiker einer eindimensional verkürzten Moderne auf.
Sein 1964 auf englisch erschienenes Buch »Der eindimensionale Mensch« wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch in USA als Schlüsselbuch der sechziger Jahre angesehen. Nach dem Pariser Mai 1968 war das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach intellektuellen Vätern der weltweiten Revolte so groß, daß man in Marcuse den Kopf hinter den leidenschaftlichen Protestbewegungen zu erkennen glaubte. Der täuschende Schein, Herbert Marcuse habe mit seiner intellektuellen Arbeit die Revolte ausgelöst, konnte nur aufkommen, weil er über Jahrzehnte eben die Realitätsmomente herausgearbeitet hatte, die um 1968 in der gesamten westlichen Welt zum Stein des Anstoßes wurden. Mitte der sechziger Jahre kam – ausgelöst durch das Erschrecken über den Vietnamkrieg – unübersehbar ans Tageslicht, daß die antifaschistische Legitimation, von der die westliche Welt seit dem Kampf gegen Hitlerdeutschland gezehrt hatte, unglaubwürdig geworden war. Die Analysen Marcuses erinnerten wieder an den demokratischen Impuls, der dem American Way of Life nach 1945 seine politisch überzeugende Gestalt gegeben hatte. Die Kinder der Re-education erkannten in Marcuses Arbeiten die Sprache der Befreiung wieder. Deswegen wirkte er in Deutschland auf besondere Weise.3
In der Tat: An der Analyse Deutschlands hat Marcuse die Kategorien gewonnen, mit denen er den Übergang in ein nachliberalistisches Zeitalter beschreibt. Für einen Moment nämlich – von der Mitte der dreißiger bis Mitte der vierziger Jahre – stand Deutschland im Mittelpunkt der Weltgeschichte. Die politisch-intellektuellen Interessen des aus Deutschland vertriebenen »Instituts für Sozialforschung« und die Erkenntnisinteressen des amerikanischen Geheimdienstes trafen sich für einen kurzen Zeitraum. So kam es zu einer einmaligen Konstellation: Das demokratische Amerika, das sich in einem militärisch ausgefochtenen Existenzkampf mit Hitlerdeutschland befand, finanzierte raffinierte, von emigrierten Intellektuellen durchdachte Gesellschaftsanalysen des Feindeslandes, mit denen man hoffte, den Krieg siegreich führen und danach das besiegte Land sinnvoll umgestalten zu können. Später hat Herbert Marcuse nur noch abgewunken oder gelacht, wenn er darauf angesprochen wurde, welcher Gebrauch von seinen Analysen für die US-amerikanische Nachkriegspolitik in Deutschland gemacht wurde. Die »gesellschaftlichen Stützpfeiler« des Nationalsozialismus, von denen Marcuse in dem Memorandum von 1942 sprach – Großindustrie und Regierungsbürokratie, hat die amerikanische Militärverwaltung jedenfalls nicht eingerissen. Den Zwang, Deutschland als Bündnispartner im Kalten Krieg zu gewinnen, bekamen auch die antifaschistischen enemy aliens, die nach Auflösung des OSS ins State Department wechselten, bald zu spüren. Marcuses zeitweiliger Vorgesetzter H. Stuart Hughes meinte über seinen vom amerikanischen Staat bezahlten Gesellschaftsanalytiker, seit 1945 habe er einen »buoyant pessimism«4 an den Tag gelegt.
Die Weimarer Erfahrung einer gescheiterten Revolution wich im US-amerikanischen Exil der Gewißheit von der Unmöglichkeit der Revolution. Das Wissen um die Veränderungsbedürftigkeit der Welt wurde aber bei den kritischen Theoretikern nicht wie bei vielen desillusionierten Revolutionären unterdrückt, die verständlicherweise das Gefühl der Ohnmacht nicht ertragen wollten. Horkheimer und seine engsten Freunde verwandelten ihre widersprüchliche Erfahrung der Gegenwart in Theorie – in »eine Art Flaschenpost«, wie er im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt über Deutschland schrieb.5 Die Emphase, die von Horkheimer auf die Kritische Theorie als einer Praxisform sui generis gelegt wurde, ist von Marcuse, wie sein Briefwechsel zeigt, geteilt worden. Den Weg zum OSS ist Marcuse gegangen, weil er unter den schwierigen finanziellen und politischen Umständen der vierziger Jahre dort eine Möglichkeit sah, die gesellschaftskritischen Analysen des Instituts fortzuführen. Lieber wäre er bei Horkheimer in Kalifornien geblieben und hätte – finanziell unabhängig wie Adorno – an dem Dialektikprojekt der Kritischen Theorie gearbeitet.
Aber Marcuse wollte und sollte das Institut in der US-amerikanischen Öffentlichkeit repräsentieren. Nicht nur auf den Gängen des Geheimdienstes in Washington, sondern schon in den Hallen der Columbia University vertrat Marcuse kompetent und repräsentativ die Auffassungen des Instituts. Die Universitätsvorlesungen der Institutsmitarbeiter über Nationalsozialismus im Jahre 1941 leitete er ein. Deutschland wurde im Institut nicht als bizarres Modell eines Sonderwegs studiert, sondern als eine historisch spezifische Form des Endes der liberalkapitalistischen Ära. Die Präsentation einer an der Totalität der Gesellschaft orientierten Theorie mußte der Hörerschaft als europäische, wenn nicht gar deutsche Spezialität erscheinen; aber es ist keineswegs so, wie oft behauptet, daß die amerikanischen Sozialwissenschaften damals schon ein empiristisch gesichertes Selbstverständnis gefunden hätten, das jedem theoretischen Nachdenken über die Gesellschaft extrem feindlich gegenüberstand. Die Sozialwissenschaften erlebten in den USA mit Roosevelts New Deal, der einen Ausweg aus der Existenzkrise des Kapitalismus finden sollte, einen unerhörten Aufschwung, zu dem jedes europäische Know How willkommen war. Allen antiamerikanischen Vorurteilen zum Trotz haben auch die im Auftrag des US-Geheimdienstes gewonnenen Erkenntnisse zum Begreifen einer veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit beigetragen. Die Dialektik von instrumentell organisierter Wissenschaft und Möglichkeit kritischer Gesellschaftstheorie haben Horkheimer und Adorno als Dialektik der Aufklärung gefaßt – aber eben als Dialektik, nicht als abstrakten einfachen Gegensatz. Ohne Dialektik lassen sich die Einsichten der Kritischen Theorie in die Mechanismen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland überhaupt nicht verstehen. Man merkt es diesen Arbeiten Marcuses an, daß er vor der schwierigen Aufgabe stand, einer intellektuell anders geschulten Öffentlichkeit die theoretischen Anstrengungen des Instituts zu vermitteln. Das gibt der Lektüre über ein halbes Jahrhundert danach einen besonderen Reiz – in einer Welt, in der Dialektik im Alltagssprachgebrauch zu einer Art Schimpfwort geworden ist. Bei allen in diesem Buch versammelten Texten handelt es sich um die Analyse der Gegenwart, die zwar deren Genese berücksichtigt, aber sie nicht auf diese Entstehungsbedingungen reduziert. Was sich wie ein sozialwissenschaftlicher Gemeinplatz anhört, gehört keineswegs zur heute gängigen Diskussionspraxis. Das öffentliche Reden über den Nationalsozialismus ist in Deutschland seit dem Historikerstreit eher von einer Abwehr jeder gesellschaftstheoretischen Reflexion gekennzeichnet.
Marcuses Texte zum Nationalsozialismus betonen Einheit und Differenz von moderner Gesellschaft in Deutschland und der übrigen westlichen Welt. Die Naziideologie wird weder mit der Realität verwechselt noch wird sie mit den Mitteln der klassischen Ideologiekritik bearbeitet; es wird versucht, ihre soziale Funktion zu bestimmen. Deswegen sucht Marcuse auch nach neuen Kategorien: In einer Fußnote schlägt er »Haltung« als terminus für die neue Mentalität vor. Weder bringt der Nationalsozialismus ein theoretisches Bewußtsein hervor, das in Praxis umgesetzt wird, noch produziert er überhaupt ein an Wahrheit orientiertes Bewußtsein. Die Nationalsozialisten beabsichtigten gerade, das Bewußtsein von allen metaphysischen Relikten zu reinigen. Damit wurden sie aber auch unfähig, einen neuen Glauben zu erzeugen – sie kombinierten Pragmatismus und Mythologie. Der Pragmatismus bezieht sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die technologische Modernisierung der Gesellschaft; die Mythologie auf den Primat des Politischen in der Neuen Ordnung. Das Tausendjährige Reich legitimierte sich nicht durch die Vergangenheit, sondern durch den Kampf gegen die Vergangenheit: Ganz Gegenwartsgesellschaft, bricht der Nationalsozialismus mit der Tradition.
Zusammengehalten wird das nationalsozialistische Deutschland nicht durch den Glauben, sondern durch die Angst vor der Katastrophe. In dem Memorandum zur »New German Mentality« erscheinen schon die Eigenschaften der nachnationalsozialistischen Deutschen – die abgebrühte Tatsachengläubigkeit (matter-of-factness) und die »psychologische Neutralität«, der schon die Naziproganda Rechnung tragen mußte. Die post-festum Literatur über den Nationalsozialismus hat sozialwissenschaftliche Artefakte geschaffen, die durch die Marcusetexte wieder infragegestellt werden. Marcuses mit sublimierter Leidenschaft geschriebenen Gegenwartsanalysen des Nationalsozialismus wirken fünfzig Jahre danach unerwartet frisch, eben weil das Erschrecken über die Gegenwart noch nicht auf falsche Weise mit den Vorstellungen des Common Sense versöhnt worden ist. Schon damals mußte Marcuse sich mit verzerrt ideengeschichtlichen Begründungen des Nationalsozialismus aus der kulturellen Tradition des deutschen Sonderweges auseinandersetzen, die heute wieder beliebt sind. Diese Argumentationen werden weder dem besonderen Charakter des Nationalsozialismus noch der spezifischen Gestalt der deutschen Kultur gerecht, die im Nationalsozialismus untergeht.
Nicht im Zentrum der Deutschlandanalysen stehen die nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden. Sie gehören in die Planungen der Antisemitismusprojekte des Instituts, die damals parallel in Angriff genommen wurden. Die hier veröffentlichten Deutschlandanalysen Marcuses ergeben weder eine abgeschlossene Theorie des Nationalsozialismus noch tragen sie der Bedeutung von Auschwitz Rechnung.6 Deutlich benannt wird aber im Unterschied zu gängigen Faschismustheorien der Charakter des Nationalsozialismus: Im Zentrum des neuen Systems steht das Verbrechen, nicht der Profit. Dennoch besitzt der Nationalsozialismus eine eigene erkennbare Logik. Die Benennung größerer gesellschaftlicher Gruppen, die vom Verbrechen profitieren, geschieht in einer konkreten Analyse der deutschen Gestalt des Profitsystems und der es praktizierenden »Volksgemeinschaft«. Marcuse faßt die »Rationalisierung des Irrationalen« als die politische Technik nationalsozialistischer Herrschaft. Die rationalistischen Überzeugungen der deutschen Opposition vom »unterdrückten Volk« oder »unterdrückten Klasse«, die sich nur dem Terror beugt, müssen über Bord geworfen werden. Die Erkenntnis, daß viele Menschen sich von einer übermächtig empfundenen, technologisch verkleideten Herrschaft angezogen fühlen, wenn sie dazugehören dürfen, weist über den Nationalsozialismus hinaus in die Zukunft. »Sachzwang« und »Leistungsprinzip« lassen auch nicht mehr das rationale Verständnis von gefesselten Produktivkräften zu, die in Freiheit gesetzt werden müssen. Die Politik des Totalen Krieges hat den Produktionsapparat entfesselt – nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, sondern auch in den ihm feindlichen Ländern. Deshalb wird in der nachfaschistischen Ära die Tendenz zum Totalitarismus allgemein.7
Die unterschiedlichen Versuche der Institutsmitglieder Franz Neumann, Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Nationalsozialismus zu begreifen, fassen diese Gesellschaft dialektisch als eine Gesellschaft des Übergangs, die noch Kennzeichen des alten Liberalismus, aber auch Anzeichen des Neuen trägt. Die konkrete Wahrnehmung der ungeheuren Verbrechen des Nationalsozialismus verdeckt nicht die Beziehung dieser totalitären Gesellschaft zur modernen gesellschaftlichen Normalität. Manches, was Marcuse über den nationalsozialistischen Alltag sagt, klingt nicht nur wie die Vorwegnahme des »Eindimensionalen Menschen«, sondern sogar als Antizipation von Tendenzen, die erst jetzt Wirklichkeit werden. Ist die repressive Aufhebung von Tabus nicht ein Merkmal der Neuen Welt, in der wir als Zeitgenossen leben? Erscheint das Zerrbild einer befreiten Menschheit, in dem Sex und Kunst zu entgifteten stimuli einer konformistischen Ordnung geworden sind, nicht erst am Ende der Wohlstandsgesellschaft? Erst recht erinnert Marcuses Beschreibung einer Welt, in der die Emanzipation der Ökonomie die der Menschen ersetzt, an die Gegenwart der globalisierten Weltwirtschaft.
Bei Marcuses Arbeiten für das OSS handelt es sich keineswegs um vage Prophezeiungen, die auch gar nicht für eine Flaschenpost gedacht waren. Marcuse hatte noch am 11. November 1941 in einem Brief an Horkheimer8 kundgetan, daß er vom Flaschenpost-Konzept, nämlich einem »eingebildeten Zeugen« ein Zeugnis der Wahrheit zu überliefern, wie es dann in der »Dialektik der Aufklärung«9 heißen sollte, überzeugt war. Die veränderten Umstände verschoben die Akzente – auch bei Marcuse. Zu Beginn der vierziger Jahre glaubte er noch, eine politische Öffentlichkeit in den USA für ein antifaschistisches Engagement empfänglich machen zu können. Zwar scheute er den dienstlichen Charakter der Arbeit beim OSS, aber die praktischen Möglichkeiten, die sich aus seinen »Feindanalysen« ergaben, waren sein ganz persönlicher War Effort. Aus heutiger Sicht wird oft vergessen, daß zwischen der Welt des OSS und der 1947 gegründeten CIA ein radikaler Politikwechsel in den USA liegt, der die ehemaligen Rooseveltmitarbeiter nahezu unter Generalverdacht als Kommunismussympathisanten stellte. Die beiden Geheimdienste haben einen qualitativ völlig unterschiedlichen Charakter. Das Bild von einer konterrevolutionären CIA im Kalten Krieg überlagert das eines antifaschistischen und antimilitaristischen OSS. Der OSS sollte ein Kopf sein, angefüllt mit Wissen über den Feind, vor allem Deutschland und Japan, der die militärisch Handelnden berät. Die Leidenschaft brachten die Emigranten in diesen Dienst ein – eine Leidenschaft, die im beginnenden Kalten Krieg nicht mehr erwünscht war. Am 6. April 1946 berichtete Marcuse aus Washington, D. C., nach Pacific Palisades, daß seine Division kurz vor der Auflösung stünde und er sich mit einem neuen Buch befasse, das um »das Problem der ›ausgebliebenen Revolution‹ zentriert«10 sei. Politisch war Marcuse bei dem Ausgangspunkt angekommen, der ihn zum Kreis um Horkheimer gebracht hatte. Umso mehr suchte er wieder den Kontakt zu denen, die inzwischen an der Pazifikküste die Flaschenpost formuliert hatten.
Wer die »33 Thesen« in diesem Band genau liest, kann hinter allen Fehlprognosen – wie der eines 1947 aktuell bevorstehenden Krieges zwischen den zwei Blöcken und der zu erwartenden Faschisierung des Westens – die analytische Kraft sehen. Ausgehend von der Unmöglichkeit der Revolution werden die jeweiligen Gesellschaftsformationen als alternativlos begriffen. Die integrative Macht des jeweils Bestehenden vernichtet nicht nur die gesellschaftsverändernden Kollektivsubjekte, sondern droht auch der individuellen Subjektivität die Spontaneität und subversive Kraft zu entziehen. In These 13 taucht schon die Idee von Randgruppen auf, deren Leid und Elend die Harmonie der schönen Neuen Welt infrage stellen könnten. Der Theorie fällt die Aufgabe zu, die Unwahrheit des Wirklichen auszusprechen. Marcuse hat Horkheimer diese Thesen nach Pacific Palisades zugeschickt – der versprach im Dezember 1948, gemeinsam mit Adorno als Antwort eine »Art philosophischen Programms«11 Marcuse nach Washington, D. C., zuzusenden. Auch von einem neuen Deutschlandprojekt war in diesem Brief die Rede. Zu beidem ist es nie gekommen. Die Flaschenpost blieb gut verkorkt.