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Zurück nach Paris1

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Vorwort

Die Anekdote, dass Herbert Marcuse ausgerechnet am 1. Mai 1968 in Paris eintraf und dann von dort am 12. Mai nach Berlin weiterreiste, ist bekannt und wurde immer wieder, vor allem in der bürgerlichen Presse jener Zeit, zu einer Art öffentlichem Geheimnis stilisiert.2 So, als ob die zufällige Anwesenheit des Theoretikers irgendwie die politischen Proteste und Barrikadenkämpfe des sogenannten Pariser Mai ausgelöst hätte, um dann weiterzureisen zu den Revoltierenden nach Berlin oder Berkeley.

Marcuse hat freilich die Besetzung der Universität Sorbonne am 3. Mai, die Barrikadenkämpfe am 10. Mai und die wilde Streikbewegung ab dem 14. Mai teilweise als Augenzeuge miterlebt und die weiteren Ereignisse durchaus kritisch zur Kenntnis genommen. Ein Jahr später schreibt er 1969 in seinem Versuch über die Befreiung über die soziale Kraft der Fantasie, wie sie sich in der Wandparole »Die Phantasie an die Macht« an der besetzten Sorbonne ausdrückte: »Die Phantasie solcher Männer und Frauen würde ihre Vernunft bilden und tendiert dazu, den Produktionsprozeß zu einem Schöpfungsprozeß zu machen. Dies ist die utopische Konzeption des Sozialismus. […] Sie war die großartige, reale transzendierende Kraft, die idee neuve bei der ersten machtvollen Rebellion gegen das Ganze der bestehenden Gesellschaft, der Rebellion für die totale Umwertung der Werte, für qualitativ andere Lebensweisen: der Mai-Rebellion in Frankreich.«3 Die letzten zehn Jahre seines Lebens, bis zu seinem Tod am 29. Juli 1979, wurde dieser Kampf um qualitativ andere Lebensweisen zum bestimmenden Thema seiner Philosophie und Veröffentlichungen. Gespeist von älteren Arbeiten, etwa seiner Studie zu Freud Triebstruktur und Gesellschaft (1955) oder seiner Kritik des Sowjetmarxismus (1958), entstanden die vielgelesenen Schriften über Repressive Toleranz (1970), Konterrevolution und Revolte (1972), Marxismus und Feminismus (1974) und das Scheitern der Neuen Linken? (1975). Das Buch jedoch, das in den sozialen Kämpfen dieser Zeit am stärksten wirkte und rezipiert wurde, war zweifellos Der eindimensionale Mensch von 1964.

Zehn Jahre nach dessen Erscheinen und sechs Jahre nach dem Pariser Mai kehrte Marcuse nach Paris zurück, um zwischen dem 10. April 1974 und dem 10. Mai 1974 insgesamt sieben Vorlesungen am Vincennes-Campus der Universität Sorbonne zu halten. Mitschriften dieser Vorlesungen, die Peter-Erwin Jansen, einer der fünf Direktoren der Internationalen Herbert-Marcuse-Gesellschaft (Sektion Europa), im Marcuse-Archiv entdeckt hat, werden hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht und damit der philosophischen und politischen Diskussion zugänglich gemacht. Jansen und sein amerikanischer Kollege Charles Reitz hatten diese Dokumente 2015 unter dem Titel Paris Lectures in den USA publiziert. Die Übersetzung ins Deutsche, die in diesem Band unter dem Titel Kapitalismus und Opposition – Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen vorliegt, besorgten Lisa Doppler und Alexander Neupert-Doppler. Von Lisa Doppler stammt außerdem die Übersetzung des Interviews aus dem Französischen, das Herbert Marcuse am 10. Mai 1974 der Zeitung »Le Monde« gegeben hat. Roger Behrens, ein ausgewiesener Experte der Kritischen Theorie im Allgemeinen und der Gesellschaftskritik Marcuses im Besonderen, leistet in seinem Beitrag eine erhellende Einordnung der Pariser Vorträge in den Kontext von Marcuses Gesamtwerk. Wir sind ihm dankbar für die Unterstützung des Projekts, über dessen Hintergründe und Bedeutung wir uns im Folgenden äußern. Für das Wissenschaftsmagazin »Science« des Österreichischen Rundfunks recherchierte Lukas Wieselberg die außergewöhnliche Geschichte der Reformuniversität Vincennes. Als Gegenentwurf zur Sorbonne, die schon nach einem Jahr der Pariser Mai-Revolte erneut in ein hochschulpolitisch konservatives Fahrwasser geriet, entstand in einem Wald am Stadtrand von Paris eine chaotisch organisierte, aber intellektuell äußerst bedeutende, alternative und kritische Bildungsinstitution. Wieselberg erklärte sich großzügig bereit, das Manuskript der Sendung für diese Ausgabe zu überarbeiten, wofür wir ihm herzlich danken. Anlass des hier abgedruckten Gesprächs zwischen Detlev Claussen und Peter-Erwin Jansen war das 50. Jahr des Erscheinens der amerikanischen und in diesem Jahr der deutschen Ausgabe von Der eindimensionale Mensch.

Die hier veröffentlichten Reden eignen sich als Einführung in Marcuses Theorie insgesamt und als Ergänzung zu Der eindimensionale Mensch. Es finden sich Argumente aus den 1960er und 1970er Jahren, die auch für die heutigen Diskussionen über Kapitalismus und Opposition Anknüpfungspunkte bieten. Die Titel der einzelnen Vorträge wurden von der Herausgeberin und den Herausgebern gewählt. Damit soll der weite Bogen angedeutet werden, den Marcuse 1974 in Paris gespannt hat. Ausgehend von seinen Beobachtungen zur Gesamtlage des Monopolkapitalismus (1) untersucht Marcuse die mögliche Bildung von kritischem Bewusstsein gegen die Ideologie der postindustriellen Gesellschaft (2) und gibt eine Definition dessen, was er die kapitalistische Integration der Massen nennt (3). Im Hinblick auf eine Revolution des 20. oder 21. Jahrhunderts und das Fehlen von Vaterfiguren in der Politik (4) fragt er nach der Bedeutung des Neoimperialismus (5), und nach den Kräften des Wandels im Konsumkapitalismus (6) der möglichen Opposition. Für seine kritische Haltung spricht, dass er weniger Prognosen zur Überwindung des kapitalistischen Systems abgibt, sondern auf einen für ihn grundlegenden Widerspruch hinweist und danach fragt, wie sich dieser in Bewusstsein und Revolte ausdrücken könnte (7).

»Die erweiterte Akkumulation erfordert Güter und Güterproduktion über die Reproduktion der Arbeitskraft hinaus, über die Lebensnotwendigkeiten hinaus. Das bedeutet Produktion für den Bereich der Freiheit und Vergnügung. Aber die Befriedigung dieser Bedürfnisse innerhalb des kapitalistischen Systems benötigt und bedingt lebenslänglich andauernde Arbeit, bedingt nicht nur die Aufrechterhaltung, sondern die Ausdehnung der Mühen entfremdeter Arbeit auf andere Bevölkerungsschichten, bedingt die Fortsetzung der Vollzeitausbeutung. Dies ist die Ausprägung des Widerspruchs im 20. Jahrhundert. Auf der einen Seite die steigende Produktion von Gütern, die ein Reich der Freiheit, Freude und kreativer Betätigung schaffen könnte. Auf der anderen Seite die Aufrechterhaltung der Mühen und entfremdeter Arbeit, um diese Güter zu erwerben und zu verkaufen und in Freiheit zu genießen.«4

Marcuses »Widerspruch des 20. Jahrhunderts«, die Zunahme des gesamt gesellschaftlichen Reichtums bei gleichzeitiger Vorenthaltung der gesamtgesellschaftlichen Verfügung, ist auch für das 21. Jahrhundert noch aktuell. Wenn die kritischen Analysen stimmen, wonach es sich bei der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 auch um eine Überakkumulationskrise handelt, verweist dies auf die Aktualität seiner Überlegungen. Dem mittlerweile globalisierten Weltkapital fehlen Verwertungsmöglichkeiten, die Weltgesellschaft ist demnach für den Kapitalismus zu reich geworden. Sowohl der Sozialabbau in den reichen Industrieländern als auch die fortwährende Verelendung und Verarmung im sogenannten globalen Süden stehen im Widerspruch zu den heute vorliegenden Möglichkeiten eines guten Lebens für alle. Gleichwohl gehört es zu den besonderen Verdiensten Marcuses, beständig zu betonen, dass nur die praktische Bewusstwerdung oppositioneller Subjekte in der Lage wäre, diesen objektiven Widerspruch zu lösen.

Auf dieser Denkleistung beruht das in den letzten Jahren wieder zunehmende Interesse an Marcuses Theorie. Zum 50. Jubiläum des Eindimensionalen Menschen gab es ungewöhnliche Formen der Erinnerung, zum Beispiel die durch zahlreiche deutschsprachige Städte tourende Bühnenshow Der eindimensionale Mensch wird 50. Nicht nur der Publizist Thomas Ebermann (Jahrgang 1951), sondern auch deutlich jüngere Akteure, wie der Schauspieler Robert Stadlober (Jahrgang 1982) und der Musiker Andreas Spechtl (Jahrgang 1984) traten vor einem durchaus auch jungen Publikum mit Texten und Songs zu Marcuses bekanntestem Werk auf. Sicherlich dürfen wir zudem gespannt sein, was uns 2018, zum 50. Jubiläum der Revolte von und nach 1968, bevorsteht. Einen Marcuse-Kongress im März 2018 in Berlin hat bereits die Gesellschaft für Psychologie unter dem Titel Die Paralyse der Kritik: Eine Gesellschaft ohne Opposition (Herbert Marcuse) angekündigt.

Unabhängig von solchen Jubiläen hat Peter-Erwin Jansen in den Jahren zwischen 1998 und 2009 bei zu Klampen insgesamt sechs Bände mit nachgelassenen Schriften herausgegeben. Zeitgenossen, einstige politische Aktivisten oder Experten des Werkes von Herbert Marcuse wie Oskar Negt, Gerhard Schweppenhäuser, Alfred Schmidt, Wolfgang Kraushaar, Detlev Claussen und Iring Fetscher, trugen dazu Einleitungen bei, die beständig um die Frage der Aktualität Marcuses für heute kreisen.

Die letzte populärere Einführung in das Werk Herbert Marcuses dürfte hingegen, abgesehen von Roger Behrens Band Übersetzungen – Studien zu Herbert Marcuse aus dem Jahre 2000, von Hauke Brunkhorst und Gertrud Koch aus dem Jahr 1987 stammen. Nachdem der letzte große akademische Kongress 2003 zur Aktualität der Philosophie Herbert Marcuses anlässlich der Bestattung seiner Asche auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat,5 war es in den folgenden Jahren bis 2010 publizistisch eher ruhig um Marcuse. Erst 2014, das Jubiläumsjahr der Erstveröffentlichung von Der eindimensionale Mensch, rückte Marcuse wieder stärker in die Öffentlichkeit. Die drei umfangreichen Analysen von Tim B. Müller, Rafele Laudani und Robert Zwarg eröffneten in den letzten Jahren erneut eine Diskussion einerseits über Marcuses Analyse-Tätigkeit im Office of Strategic Services6 und andererseits über den Einfluss Marcuses auf die Theorieproduktion in der amerikanischen scientific community.

Von der Situation in der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet sich die Rezeption in den USA, wo die Internationale Herbert-Marcuse-Gesellschaft seit 2005 alle zwei Jahre große, internationale Kongresse an renommierten amerikanischen und kanadischen Universitäten durchführt. Gerade die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Latein- und Südamerika weisen in ihren Beiträgen immer wieder auf die anhaltende Relevanz Kritischer Theorie für ihre Analysen des globalen Kapitalismus und dessen Auswirkungen auf die fortschreitenden Probleme in ihren Ländern hin. Das zeigt sich besonders an der regelmäßigen Teilnahme brasilianischer Kolleginnen und Kollegen. Insofern ist es kein Zufall, dass der Anstoß für die Zusammenarbeit an dem hier vorliegenden Projekt von der letzten Marcuse-Tagung an der Universität von Salisbury (Maryland, USA) ausging. Bereits im Vorfeld der US-amerikanischen Publikation der Paris Lectures korrespondierte Jansen mit Ulf Andersen, von dem Fotos der Pariser Vorlesungen von 1974 stammen.

Neben der Aufarbeitung der Geschichte Kritischer Theorie gehört zu den heute anstehenden Aufgaben auch, die Vermittlung zwischen der Zeitzeugengeneration und denen herzustellen, für die Marcuses Analysen richtungsweisend sein können. Zur publizistischen oder theoretischen Praxis kommt daher notwendig auch die lehrende Vermittlung hinzu.

Im Vorfeld der Marcuse-Konferenz 2015, auf der die USamerikanische Publikation der Paris Lectures vorgestellt wurde, kann in diesem Zusammenhang sowohl ein Seminar der Mitveranstalterin Sarah Surak – Creating the Impossible: Utopian Political Theory – als auch eine Kooperation zwischen Jansen und einem Seminar von Angela Siebold an der Universität Heidelberg genannt werden. Aus eigenen, gemeinsamen Seminaren zur Kritischen Theorie an der Universität Gießen können Doppler und Neupert-Doppler eine Erfahrung festhalten, die mit Marcuses Theorie in Verbindung gebracht werden kann: Niemand wird durch Kritische Theorie zum Rebellen, vielmehr ermöglicht Kritische Theorie den bereits kritisch Denkenden und politischen Aktivistinnen und Aktivisten eine Reflexion über den Sinn oder auch Unsinn ihres jeweiligen Protests und der darin enthaltenen Widersprüche. Ideologische Gewissheiten eines »linken« Fortschrittsglaubens sind längst obsolet. Neue Formen und Analysen radikaler politischer Opposition, die sich auch mit den sozialen Veränderungen durch die »Web 4.0-Gesellschaft« befassen, dringender denn je.

Dennoch sieht sich gerade die junge Generation in der Bundesrepublik zum einen mit einer zunehmenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, zum anderen mit bedrohlichen Abstiegsängsten konfrontiert. Im Sinne Marcuses könnte ein solches Unbehagen nur unter bestimmten Bedingungen in Protest umschlagen: »Es gibt keine Revolte und es gibt keine Revolution ohne qualitative Veränderungen im Bewusstsein, im Unbewussten, in den Trieben und Zielen der Menschen selbst. Aber das Bewusstsein und das Unbewusste, die Triebe, sind nicht ausreichend. Die objektiven Bedingungen müssen vorhanden sein, unter denen die subjektiven Tendenzen heranreifen und sich übersetzen können in organisierte und geleitete politische Praxis.«7

Dieser Fokus auf die objektiven Bedingungen verweist nicht nur auf den notwendigen gesellschaftlichen Reichtum, sondern auch auf die Krisenhaftigkeit einer Zeit. Aufgabe kritischen Bewusstseins bleibt es, nicht nur die multiplen Krisen der Gegenwart in den Blick zu nehmen, sondern sich auch aus dem subjektiven Konformismus herauszuarbeiten. Die Relevanz der utopischen Perspektive, die in Marcuses Schriften lebendig ist, hängt daher nicht ab von einem linearen Fortschrittsdenken, sondern von einem Bewusstsein für historische Gelegenheiten und politische Inventionsstrategien. Nicht eine bloß quantitative Vorstellung historischer Zeit, die im Altgriechischen mit dem Begriff des Chronos, unserer Chronologie, belegt ist, sondern ein Blick für qualitative Zeitmomente, was bei den alten Griechen mit dem Begriff des Kairos ausgedrückt wird, wäre hier philosophisch geboten. Marcuse ist sich dessen bewusst, wenn er gegen den Konformismus die Idee der Antizipation hochhält: »Während das Bewusstsein der konformistischen Mehrheit, verstanden als die Macht, den objektiven Bedingungen entspricht, eilt das radikale Bewusstsein diesen objektiven Bedingungen weit voraus. Es erkennt Potenzial in den objektiven Bedingungen. Es antizipiert noch nicht realisierte Möglichkeiten.«8

Wie ein solches Möglichkeitsdenken philosophisch geerdet werden kann, führt Marcuse in seinen Pariser Vorlesungen von 1974 vor. Auch er nutzte dafür eine besondere Gelegenheit. Nicht zufällig handelte es sich beim Vincennes-Campus um eine Reform-Universität im Rahmen der Sorbonne, die neben offiziell eingeschriebenen Studierenden ebenso der allgemeinen Pariser Bevölkerung offenstand. Wie Douglas Kellner in seinem Nachwort zur amerikanischen Ausgabe der Paris Lectures hervorhebt, stellen Marcuses Vorträge, die zum Teil bis zu drei Stunden dauerten und in denen er immer wieder Zwischenfragen beantwortete, Kernpunkte seiner Theoriebildung dar. »Die Pariser Vorlesungen präsentierten Marcuses Schlüsselideen einer Periode im Kontext der politischen Kämpfe der 1970er und verweisen sowohl auf Kontinuitäten als auch Brüche gegenüber seinen Schriften der 1960er, in denen er auftrat als radikaler Kritiker und Fürsprecher des revolutionären sozialen und politischen Wandels.«9

So sehr Marcuse seinen Fragestellungen aus den 1960er Jahren treu bleibt, so ist er zugleich in der Lage, seine Thesen den jeweils aktuellen Entwicklungen anzupassen. Bezogen auf die teilweise gängigen Vorurteile in der heutigen Kritischen Theorie, wonach Marcuse und Bloch in den 1960ern (und zum Teil 1970ern) die naiven Optimisten gegenüber dem Pessimismus von Adorno und Horkheimer gewesen wären, taugen Marcuses Pariser Vorlesungen als Gegenbeweis. Vor allem in den besonders langen letzten beiden Vorträgen bezieht er sich auch immer wieder auf empirisches wie statistisches Material, zum Beispiel zu dem, was er »Neue Arbeiterklasse« nennt, und führt methodisch vor, wie radikale Philosophie und qualitative Soziologie zusammengehen können. Er bemüht sich immer wieder darum, verbreitete Missverständnisse gegenüber seinen eigenen Texten auszuräumen. So kritisiert er durchaus nachdrücklich den revolutionären Voluntarismus der bereits zerfallenen Neuen Linken. Die neo- und alt-kommunistischen Varianten der zahlreichen K-Gruppen konnten mit Marcuses Kritik am klassischen marxistischen Determinismus längst nichts mehr anfangen. Sein Ausweg besteht immer wieder darin, den Zusammenhang von objektiven Gelegenheiten und subjektiver Sensibilität und rebellischer Subjektivität hervorzuheben. Die Präzision, mit der er stets auf diese Grundfrage seiner Philosophie zurückkommt, und zugleich die immense Bandbreite der behandelten Themen ist sicherlich durch die Situation einer Vortragsreihe ermöglicht, in der Marcuse die Gelegenheit nutzt, um auf Einwürfe zu reagieren, Aspekte assoziativ auszuführen und im besten Sinne öffentlich zu denken.

Sein Anspruch wird dabei besonders in der Ansprache an sein Publikum deutlich. Der Bogen wird gespannt von Marx und der Pariser Kommune über seine eigene Lebenszeit und den Pariser Mai hinaus in eine Zukunft, für die Marcuse eine sozialistische Revolution gerade nicht als Naherwartung zu behaupten wagt. »Ich denke, um wirklich global und erfolgreich zu sein, muss sie, wie Marx es vorhersah, im höchstentwickelten Industrieland der Welt auftreten, und zu ihrem Entstehen wird es einer Zeitspanne von 75 bis 150 Jahren bedürfen. Da haben Sie es. Wenn Sie diese Daten als optimistische Schätzung ansehen, zeigt es Ihnen nur, dass Sie noch einige Zeit haben, daran zu arbeiten, dass sie früher kommen wird. Einer Sache bin ich mir absolut sicher, dass, wenn Sie nicht jetzt dafür arbeiten, sie nicht in 75 Jahren kommen wird, sie nicht in 100 Jahren kommen wird, sie vielleicht überhaupt nicht kommen wird.«10

Indem Marcuse seine Zuhörenden als diejenigen anspricht, die bereits die Grundlagen für eine Veränderung legen sollen, die vielleicht erst gegen Mitte bis Ende des 21. Jahrhunderts kommen würde, spricht er sie als (welt-)historische Individuen an, denen er ein ungeheures, geradezu utopisches Geschichtsbewusstsein zu lehren versucht. Gerade in solchen direkten, persönlichen Äußerungen wird die Energie erahnbar, die seine Vorträge in ihrer Wirkung auf die unmittelbar Zuhörenden gehabt haben müssen. Aspekte, die er in schriftlichen Werken so vielleicht nicht formuliert hätte, auch wenn sie den Hintergrund seines Denkens ausmachen, werden hier öffentlich ausgesprochen.

Marcuse schreibt von Paris aus am 22. April an Leo Löwenthal: »My lectures here are a big success, but again much too large crowd.«11 Die besondere Qualität, die er hier selbst anspricht, macht seine Pariser Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen zu einer besonders wertvollen Quelle und zu einem sehr speziellen Lesevergnügen. Während sich der Text also, wie Kellner erwähnt, hervorragend für einen Einstieg in die Beschäftigung mit Marcuse eignet, da eine Vielzahl von Aspekten seines Werkes angesprochen werden, so waren für die Präsentation der Vorträge als lesbarer Text doch auch einige Eingriffe stilistischer Art notwendig. So wurden bestimmte Wendungen, wie sie für mündliche Rede typisch sind, geglättet, sodass sie dem Lesefluss nicht im Weg stehen. In der vorliegenden Form sind die Pariser Vorlesungen nicht zuletzt sowohl als Textgrundlage für akademische Seminare als auch für selbstorganisierte Lesekreise geeignet.

So sehr also die Form der Pariser Vorlesungen selbst der Beschäftigung mit Marcuse förderlich sein kann, so ist es doch in erster Linie die Aktualität ihrer Inhalte, die eine Auseinandersetzung mit ihnen motivieren soll. Was Marcuse teilweise erst als Tendenzen erkennen konnte, namentlich die Formen einer neoimperialistischen Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer, die autoritären Tendenzen in westlichen Demokratien, die bröckelnde Integration der Lohnabhängigen ins herrschende System, oder die Bedeutung der Frauenbewegung, sind heute angesichts der kapitalistischen Globalisierung, des autoritären Neo-Nationalismus, des Sozialabbaus und der Prekarisierung in den Industrieländern und des sexistischen Backslashs hoch aktuell. Grundsätzlich argumentiert Marcuse aus einer mehrdimensionalen und planetarischen Perspektive. Die behandelte Vielfalt der Widersprüche, etwa wenn er Naturverhältnisse oder rassistische Unterdrückung anspricht, stellt sich heute z. B. durch den Klimawandel und weltweite Migration, als Präsenz der Armut des globalen Südens im reichen Norden selbst, nur umso eindrücklicher dar. Was von Marcuse übernommen werden kann, ist seine Suche nach Verbindungen zwischen Krisen und Widersprüchen, Möglichkeiten und Akteurinnen und Akteuren.

Lisa Doppler, Peter-Erwin Jansen

und Alexander Neupert-Doppler

Kapitalismus und Opposition

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