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Um der Hoffnungslosen willen

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Marcuses kritische Theorie der Praxis

Roger Behrens

»Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang.«

Walter Benjamin, Einbahnstraße (1928, S. 148)

Für Martin Jay

– und in Erinnerung an Leo Löwenthal (1900–1993)

Paralyse der Kritik

»Das es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.«

Walter Benjamin, Das Passagen-Werk (1991, S. 592)

Selbstverständlich wird heute vom »Globalen Kapitalismus« gesprochen, von seiner Allgegenwart ebenso wie von seinem – nahenden, wenn nicht absehbar bevorstehenden – Ende.1 Allein, den Kapitalismus als Kapitalismus zu benennen – noch zu Beginn unseres Jahrhunderts eine geschmähte Vokabel, die auszusprechen einer (an Marx orientierten) Kritik der Politischen Ökonomie vorbehalten blieb –, gehört längst zum guten Ton öffentlicher Debatten über den Zustand der Welt:2 ohne Weiteres ist von Krise beziehungsweise Krisen die Rede, zahllose Bücher, Reportagen und Berichte dokumentieren das Elend, die Not, die Ungerechtigkeit und Ungleichheit, den Terror, dokumentieren ebenso das moralische, rechtliche, politische und wirtschaftliche Versagen der »westlichen«, »wohlhabenden« und »reichen« Gesellschaften,3 schließlich den Rechtsruck, die populistische Reaktion und die autoritäre Revolte.4 – Wie schon im vergangenen Jahrhundert ist das Inhumane die politische und ökonomische Signatur auch des 21. Jahrhunderts; schon vor zehn Jahren warnte der ansonsten mit geschichtlichen Prognosen zurückhaltende Physiker Stephen Hawking, dass die Menschheit die nächsten einhundert Jahre auf diesem Planeten nicht überleben werde.5

Gleichwohl: Im Angesicht der Katastrophe wird eben diese Katastrophe doch allenthalben – mal mehr, mal weniger luzide, mal mehr, mal weniger radikal – kritisiert. Von einer »Paralyse der Kritik«, die Herbert Marcuse vor einem halben Jahrhundert einleitend in seinem Eindimensionalen Menschen (1964, dt. Übersetzung von Alfred Schmidt 1967) diagnostizierte, kann also augenscheinlich gar keine Rede sein. Widerspricht das insofern Marcuses Analyse von einem »korporativen Kapitalismus«6, der eine Gesellschaft durchherrscht, in der die Menschen auf allen Ebenen in einer Logik der Eindimensionalität derart verfangen sind, dass sie eben diese Logik beständig stützen, reproduzieren und sogar optimieren? Marcuse deutete die »Paralyse der Kritik« nicht nur als Mangel oder Schwäche einer kritischen Theorie, sondern als (politisches) Problem der Praxis: Anfang der sechziger Jahre sprach Marcuse konsequent, zumal im Spiegel der konsumkapitalistischen Verhältnisse in den USA, von einer »Gesellschaft ohne Opposition«. Demgegenüber ist jede Kritik wie paralysiert.

Neue Sensibilität

Doch bereits als der One-Dimensional Man 1964 bei Beacon Press in Bosten erschien, zeichnete sich eben jene »Übersetzung« ab,7 die Marcuse als notwendig für die Einrichtung einer menschlichen Gesellschaft, also die Befreiung und Befriedung des Daseins herausstellte: Es konstituierten sich politische Bewegungen, es politisierten sich kulturelle Bewegungen – die bisher Ausgegrenzten und Marginalisierten, die Diskriminierten und Erniedrigten, die von Rassismus, Sexismus, politischer (also staatlicher) Willkür Betroffenen rebellierten, revoltierten, fingen an, sich zur Wehr zu setzen. Und sie erprobten dies mit bis dahin unbekannten, völlig neuen Formen wie Inhalten des Protests. Es war ein Protest nicht nur gegen Ausbeutung und Unterdrückung, gegen den Krieg (ab 1964: Vietnam-Krieg) und Diktatur (ebenfalls ab 1964: Militärregierung in Brasilien), gegen Hunger und Elend (1967 ff.: Biafra-Konflikt), sondern es war auch ein Protest für, nämlich für ein besseres Leben, für ein schönes Leben, für ein richtiges und gutes Leben, und überdies ein Protest für alle. Was dann in Paris im Mai 1968 seinen Höhepunkt fand, war zugleich die menschheitsgeschichtlich erste Situation (die, überschattet vom Franco-Faschismus, im »kurzen Sommer der Anarchie« in Katalonien 1936 einen Vor-Schein hatte)8, in der eine Revolution sich nicht als äußerste Verzweiflungstat ergab,9 sondern als möglicher Schritt von der Vorgeschichte in die wirkliche, von Menschen für Menschen unter menschlichen Bedingungen gemachte, selbst bestimmte Geschichte.10

Die Revolte, die revolutionäre Protestbewegung, der Pariser Mai 68, hatte freigesetzt, für einen historischen Moment wenigstens, was Marcuse mit dem Begriff der »neuen Sensibilität« umschrieb: »Die neue Sensibilität ist zum politischen Faktor geworden … Die neue Sensibilität, die den Sieg der Lebenstriebe über Aggressivität und Schuld ausdrückt, würde im gesellschaftlichen Maßstab das vitale Bedürfnis nach Abschaffung von Ungerechtigkeit und Not fördern … Die neue Sensibilität ist eben deswegen Praxis geworden; sie entsteht gegen Gewalt und Ausbeutung, in einem Kampf für wesentlich neue Weisen und Formen des Lebens; sie impliziert die Negation des gesamten Establishments, seiner Moral, seiner Kultur; die Behauptung des Rechts, eine Gesellschaft zu erreichten, in der die Abschaffung von Armut und Elend Wirklichkeit wird und das Sinnliche, das Spielerische, die Muße Existenzformen und damit zur Form der Gesellschaft selbst werden.«11

Zwei einander widersprechende Hypothesen

»Bis heute realisieren die Utopien sich bloß, um den Menschen die Utopie auszutreiben und um sie aufs Bestehende und aufs Verhängnis desto gründlicher zu vereidigen.«

Adorno (1953, S. 517)

Doch auch diese Revolution scheiterte, die Revolte wurde niedergeschlagen, hatte – trotz ihrer weltweiten Aktionen – mit ihrem Antiautoritarismus keine Kraft gegen die Gewalt des herrschenden Autoritarismus. Und mehr noch: Die vitalen Bedürfnisse der Revolte konnten soweit entschärft werden, dass sie halfen, die gesellschaftliche Ordnung zu sichern, statt sie emanzipatorisch zu verwandeln. Die gesellschaftliche Entwicklung, die daraus folgte, haben Luc Boltanski und Ève Chiapello als den »Neuen Geist des Kapitalismus« ausgemacht: dass der Kapitalismus alle menschlichen Kräfte, auch und gerade diejenigen, die gegen ihn – in destruktiver wie emanzipatorischer Absicht – gerichtet sind, integrieren kann, und zwar so, dass diese Kräfte nicht einfach entschärft werden, sondern sogar zur Stabilisierung und »Verbesserung« der kapitalistischen Gesellschaft »funktionalisiert« werden können; kurzum: Antikapitalistische Kräfte werden in Kräfte des Kapitalismus verwandelt. Dass sich derart ein regelrecht neuer Geist des Kapitalismus verfestigt, verorten Boltanski und Chiapello in den 1970er Jahren: Hier wird – um es diskursanalytisch zu sagen – ein Dispositiv der »Sozialkritik« (definiert durch die Verteidigung von Gleichheit und Solidarität) durch ein Dispositiv der »Künstlerkritik« (definiert durch die Forderung nach Selbstbestimmung und Authentizität) abgelöst; es etablieren sich Protestformen, die als Kritik am Kapitalismus gleichzeitig zum Engagement für den Kapitalismus werden.12

Dass Marcuse in seinen Pariser Vorlesungen das dynamische Verhältnis von »Kapitalismus und Opposition« in ähnlicher Weise beschreibt, ist mehr als bloß eine zeitliche Koinzidenz; zentrale Aspekte der Analyse von Boltanski und Chiapello antizipiert Marcuse, wenn er 1974 sagt, »dass diese Integration, diese verbreitete Unterstützung« der Menschen für ein ihren objektiven Interessen – Überleben, und dies womöglich auch angenehm, erfüllt, glücklich – widersprechendes System »auf einer breiten materiellen und kulturellen Basis begründet ist. Anders gesagt handelt es sich sicherlich nicht nur um ein rein ideologisches Phänomen. Sie hat […] eine starke materielle Basis.«13

In den 1970ern bewegt sich Marcuse weiterhin zwischen den Optionen, die durch »zwei einander widersprechenden Hypothesen« markiert sind, die er bereits im Eindimensionalen Menschen skizzierte:

»1. dass die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden;

2. dass Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können.

Ich glaube nicht, dass eine klare Antwort gegeben werden kann. Beide Tendenzen bestehen nebeneinander – und sogar die eine in der anderen. Die erste Tendenz ist die herrschende, und alle Vorbedingungen eines Umschwungs, die es geben mag, werden benutzt, ihn zu verhindern. Vielleicht kann ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, das Bewusstsein und Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht einmal eine Katastrophe die Änderung herbeiführen.«14

Noch 1974 – also zehn Jahre nach dem Eindimensionalen Menschen – war nicht entschieden, ob eine Große Weigerung sich Bahn bricht, oder »uns« die Hoffnung »nur um der Hoffnungslosen willen« gegeben ist. Es ist – gerade im Versuch der Aktualisierung15 – noch keineswegs ausgemacht, welche »Tendenzen« sich durchsetzen werden. Dies als praktische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Emanzipation zu begreifen, ist Aufklärung als kritische Theorie der Gesellschaft, von der Marcuse handelt.

Theorie und Praxis

»Alles, was dem Leben, besonders dem glücklichen Leben, dient, ist gut. Reduktion der repressiven Erlebens- und Lebensbedingungen ist schließlich das Ziel der erotischen Instinkte […] Das Kriterium ist das, was lebensbejahend ist, was der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten, menschlichen Glücks und Friedens dient.«

Marcuse (1971, S. 428 und S. 436)

»Ich verstehe unter ›Theorie‹ die Marxsche Theorie und unter ›Praxis‹ die (im Sinne der elften Feuerbach-These) weltverändernde Praxis«,16 definiert Marcuse 1974 in einem Vortrag über Theorie und Praxis. Die letzte der elf sogenannten Thesen über Feuerbach ist berühmt wie berüchtigt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.«17 Philosophische Interpretation muss zur politischen Veränderung werden,18 weil die Welt notwendig verändert werden muss, soll sie nicht untergehen; und das ist nicht nur Aufgabe »der Philosophen«, sondern Beruf aller Menschen, um der Menschheit willen. In dieser Notwendigkeit wird verändernde Praxis zur Signatur der kritischen Theorie; denn solche kritische Theorie ist ein soziales Verhältnis, das über diese soziale Verhältnismäßigkeit sich reflexiv und radikal aufzuklären versucht, und insofern ihrem theoretisch emphatischen Begriff von Kritik nach immer schon praktisch ist.19 Gerade Marcuse hat das in seinem Begriff einer kritischen Theorie hervorgehoben.

Kritische Theorie ist kritische Theorie der Gesellschaft; ihre Grundlegung ist die Kritik der politischen Ökonomie. Kants Begriff der Aufklärung und Kritizismus, Hegels Logik und Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, Marx’ historischer Materialismus und Freuds Psychoanalyse sind die Fundamente der kritischen Theorie, wie Max Horkheimer sie 1937 begrifflich bestimmte: die kritische Theorie steht einer traditionellen Theorie gegenüber, die sie zugleich, in ihrem kritischen Potenzial, das in ihr idealistisch verfangen bleibt, in der materialistischen Verwirklichung der idealistischen Begriffe aufhebt und eben als kritische Theorie fortsetzt.20 Diese an die Theorie rückgekoppelte Dialektik von Aufhebung und Verwirklichung21 begründet kritische Theorie als ein gesellschaftliches Verhalten.22 Horkheimer und Marcuse haben das in ihrem zweiteiligen Essay Philosophie und kritische Theorie ausgeführt (jeder zeichnet für einen Teil verantwortlich),23 inwiefern sich damit der Begriff und der Status von Theorie selbst verändert: indem kritische Theorie einerseits die »idealistischen« Abstraktionen der Theorie als konkrete Praxis beziehungsweise praktische Konkretion begreift, indem sie andererseits die Theorieproduktion als vergesellschaftete und gesellschaftliche Wissenschaft und Wissenschaft als vergesellschaftete und gesellschaftliche Theorieproduktion fasst.24

Diese Spannung, dass die kritische Theorie der Gesellschaft mit ihrer gesellschaftlichen Gebundenheit vermittelt zu begreifen ist und deshalb notwendig auf ihre Bedingungen der Möglichkeit von Kritik reflektieren muss, hat Marcuse im Eindimensionalen Menschen zeitgemäß vergegenwärtigt:

»Von Anbeginn steht damit jede kritische Theorie der Gesellschaft dem Problem historischer Objektivität gegenüber, einem Problem, das an den beiden Stellen aufkommt, an denen die Analyse Werturteile einschließt:

1. das Urteil, dass das menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht werden kann oder sollte. Dieses Urteil liegt aller geistigen Anstrengung zu Grunde; es ist das Apriori der Gesellschaftstheorie, und seine Ablehnung (die durchaus logisch ist) lehnt die Theorie selbst ab;

2. das Urteil, dass in einer gegebenen Gesellschaft spezifische Möglichkeiten zur Verbesserung des menschlichen Lebens bestehen sowie spezifische Mittel und Wege, diese Möglichkeiten zu verwirklichen. Die kritische Analyse hat die objektive Gültigkeit dieser Urteile zu beweisen, und der Beweis muss auf empirischem Boden geführt werden. Der etablierten Gesellschaft steht eine nachweisbare Quantität und Qualität geistiger und materieller Ressourcen zur Verfügung. Wie können diese Ressourcen für die optimale Entwicklung und Befriedigung individueller Bedürfnisse und Anlagen bei einem Minimum an schwerer Arbeit und Elend ausgenutzt werden? Die Gesellschaftstheorie ist eine historische Theorie, und die Geschichte ist das Reich der Notwendigkeit. Daher ist zu fragen: welche unter den verschiedenen möglichen und wirklichen Weisen, die verfügbaren Ressourcen zu organisieren und nutzbar zu machen, bieten die größte Chance einer optimalen Entwicklung?«25

Diese Frage ist nicht positiv zu beantworten, sondern negativ: Dieselben Kräfte der technologischen Rationalität, die Herrschaft, Elend und Leid vermehren, können auch die Kräfte sein, die eine Befreiung und Befriedung des Daseins bedingen. Die Logik des Fortschritts, die daraus resultiert, ist fatal und pervers: Auschwitz und Hiroshima bedeuten einen grausamen Höhepunkt der Dialektik der Aufklärung; trotzdem ging das Morden weiter, hat es Genozid gegeben, nicht nur in Kambodscha und Ruanda, und ein Ende des Terrors ist – seit der IS wütet – nicht abzusehen. Und dennoch: Die Lebensverhältnisse im zwanzigsten Jahrhundert haben sich verbessert, nicht nur für die Bevölkerungen in den westlichen Industrienationen. Doch die Zahlen sind zynisch: In den 1980er Jahren starb alle zwei Sekunden ein Kind an Unterernährung; ist es nicht obszön, wenn es ein Fortschritt sein soll, dass heute »nur noch« alle zehn Sekunden ein Kind verreckt, weil ihm das Nötigste fehlt? Es sterben weniger Menschen in Kriegen als früher; aber es gibt Kriege, und das Töten, Morden, Verstümmeln, Vergewaltigen geht weiter. Naturkatastrophen – Erdbeben, Wirbelstürme, Überschwemmungen, Epidemien – sind heute immer auch soziale Katastrophen:26 Die internationale Gemeinschaft hilft, und dennoch bieten die Krisengebiete ein schreckliches Bild, geprägt von unterlassener Hilfeleistung. Die ökologische Zerstörung wird eingedämmt, gleichwohl: Die Umwelt ist zerstört; regenerative Maßnahmen müssen nicht nur für die Zukunft wirksam sein, sondern jetzt sofort die Natur wiederherstellen.

Der rationale Charakter der Irrationalität

Die grausame, perfide, weil sowohl das gute Leben wie das elende Sterben bedingende, Logik der Geschichte ist zum Schicksal geronnen, »objektiv«. Es braucht ein historisches, ein revolutionäres Subjekt, um diese Logik aufzuklären, um dieses Schicksal zu bezwingen; solche Aufklärung ist notwendig Selbstaufklärung, und derart das Schicksal zu bezwingen, heißt, sich seine verhohlene Lebensgeschichte wieder anzueignen. Es geht ebenso um die Menschheitsgeschichte wie um die Individualgeschichte; dass vom Leben der Einzelnen das Leben aller abhängt, macht den besonderen Charakter der Revolution aus, die heute ins Auge gefasst werden muss, um die Gewalt des Zusammenhangs zu durchbrechen. Für die kritische Theorie der Praxis bedeutet das, dass kein historisches Subjekt sich unmittelbar aus den objektiven Strukturen ergibt – außer die Menschheit, der Mensch selbst.

Marcuse hat darauf hingewiesen:27 Zwar ist die Arbeiterklasse an sich das revolutionäre Subjekt, für sich ist sie es aber nicht; in ihren Interessen (»Klasseninteresse«) und Kämpfen (»Klassenkampf«) ist sie in die bestehende Ordnung längst integriert, dass es für sie – als Proletariat, also als Kollektiv – keinen Grund gibt, um einzelne Lebensverhältnisse zu verbessern, den Kapitalismus als Ganzes infrage zu stellen und die Welt zu verändern.28

»Die Transzendenz der bestehenden Bedingungen (von Denken und Handeln) setzt Transzendenz innerhalb dieser Bedingungen voraus.«29 Das historische Subjekt repräsentiert diese Transzendenz: Die Überschreitung der bestehenden Verhältnisse ist auch eine Selbstüberschreitung; das historische Subjekt konstituiert sich überhaupt erst in der (Selbst-) Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichte – und zugleich wird es damit geschichtlich handlungsfähig. Marx hat das benannt: »Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«30

Aber auch das unmittelbar notwendige historische Subjekt revolutionärer Praxis ist nicht notwendig revolutionär: Mensch und Menschheit sind auf ihre Geschichte zurückgeworfen, auf die sie insofern keinen Zugriff haben, als dass sie ihnen so abstrakt (»unwirklich«) erscheint wie sie selbst (»Was ist schon angesichts der Vielfalt menschlichen Lebens eine konkrete Bestimmung des Menschen?). Solche Abstraktion ist nicht nur falsche Abstraktion, sondern zugleich gesellschaftlich notwendige Abstraktion, um als Mensch niemals als Mensch in Aktion zu treten, sondern in den entsprechend sozialisierten Rollen (Konsument, Bürger, Frau, Mann, »Individuum« etc.); eine gesellschaftlich notwendige Abstraktion, die überdies viel, ja wesentlich notwendiger erscheint als die Notwendigkeit, die Erde vor der menschengemachten Vernichtung zu bewahren und so die Menschheit selbst zu retten. Dass das naiv klingt, obwohl es das dringlichste wäre, verweist auf einen »der beunruhigendsten Aspekte der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation […]: de[n] rationalen Charakter ihrer Irrationalität.«31

Es geht ums Ganze

»Dies ist die Ausprägung des Widerspruchs im 20. Jahrhundert. Auf der einen Seite die steigende Produktion von Gütern, die ein Reich der Freiheit, Freude und kreativer Betätigung schaffen könnte. Auf der anderen Seite die Aufrechterhaltung der Mühen und entfremdeter Arbeit, um diese Güter zu erwerben und zu verkaufen und in Freiheit zu genießen.«

Marcuse, Pariser Vorlesungen, S. 92

Das Verhältnis von »Kapitalismus und radikaler Opposition« ist ein dialektisches Verhältnis, das Marcuse in seinen Pariser Vorträgen in Begriffen des historischen Materialismus expliziert. 1974 ist Marcuse an der Universität Vincennes, zehn Jahre zuvor erscheint Der eindimensionale Mensch: Die in diesem Buch anvisierten historischen Möglichkeiten bestimmen die gegenwärtige Wirklichkeit dieser zehn Jahre von Mitte 1960er bis Mitte 1970er – eine Wendezeit, die beides war: eine revolutionäre Situation und eine »Kette von Begebenheiten«.32 Wie Marx mit seinen Pariser Manuskripten – den sogenannten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 (auf die ja im Übrigen Marcuse 1932 als einer der ersten rezipierend reagiert, was nicht nur seine eigenen Schriften nachhaltig bestimmt)33 –, bezeichnet auch Marcuse mit seinen Vortragsüberlegungen zum Verhältnis von Kapitalismus und radikaler Opposition eine geschichtliche, um nicht zu sagen: weltgeschichtliche Kulmination.

Die zehn Jahre von 1964 bis 1974 sind die grausamen Jahre des Vietnamkriegs, es sind die unheilvollen Jahre der chinesischen Kulturrevolution; es sind die Jahre, in denen in Argentinien, Chile, Brasilien der Militär-Terror herrscht; in Europa regiert in Spanien noch immer Franco (ökonomisch das Land für den Massen- und Pauschaltourismus öffnend); der sozialökonomische Wandel vom Fordismus zum Postfordismus charakterisiert die fortgeschrittene Industriegesellschaft, die durch Automatisierung und Rationalisierung der Produktion gekennzeichnet ist, schließlich auch durch Computerisierung und Digitalisierung – mithin eine Informationslogik, die mehr und mehr auch in das Alltags- und Freizeitleben eindringt (Elektronik und Mikroelektronik bestimmen zunehmend die Apparate und Gadgets der Unterhaltung).

In seinen Pariser Vorlesungen wendet sich Marcuse gegen Konzepte wie das der »postindustriellen Gesellschaft« (bekannt geworden vor allem durch Daniel Bell; fünf Jahre nach Marcuse, 1979, hat allerdings Jean-François Lyotard diesen soziologischen Befund aufgenommen und mit ihm den gesellschaftskritischen Begriff der Postmoderne geprägt).34

Marcuse kann seinerzeit, inmitten der noch offenen »Dialektik der Befreiung«35 und trotz der »Konterrevolution«, noch auf die Möglichkeit der Revolte hoffen, die wenigstens die Idee einer Welt jenseits des Kapitalismus lebendig hält. Gerade die Postmoderne, die als allgemeine Ideologie seit den späten 1970ern das soziale Lagebewusstsein – wenn auch diffus – bestimmt, bringt hier einen gravierenden Einschnitt: Fredric Jameson hatte darauf in den 1980ern hingewiesen, Slavoj Žižek hat es später wieder aufgegriffen – und Mark Fisher hat daran erinnert: »Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.« Der Kapitalismus erscheine nunmehr als »das einzig gültige politische und ökonomische System«; es sei, so Fisher, »mittlerweile fast unmöglich geworden […], sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen.«36 Der Kapitalismus habe sich endgültig als »Realismus« erwiesen: ein Realismus ohne Alternative; anders gesagt: Der Kapitalismus sei eine Wirklichkeit, die keine Möglichkeit mehr kennt.

Richtig daran ist, dass der Kapitalismus eine Wirklichkeit darstellt, die alle verfügbaren Möglichkeiten, alle Alternativen also, als immanentes Angebot liefert; es ist überhaupt nicht nötig, sich eine Welt jenseits der Prinzipien von Verwertungslogik, Lohnarbeit (und ohnehin sinnloser und überdies krankmachender Arbeit), als »frei« verkaufter Marktungleichheit, Leistungszwang und dergleichen vorzustellen, weil die Vorstellungen von »Alternativen« und »Möglichkeiten« innerhalb des Kapitalismus vollends – und das meint auch: allein schon als Vorstellung – befriedigend sind. Mit anderen Worten: Es gibt offenbar kein vitales Bedürfnis nach einem Leben jenseits der bestehenden Verhältnisse.37 Marcuse hatte darauf schon 1964 hingewiesen: »Was heute geschieht, ist nicht die Herabsetzung der höheren Kultur zur Massenkultur, sondern die Widerlegung dieser Kultur durch die Wirklichkeit. Diese übertrifft ihre Kultur.«38

Eine Vorstellung vom Ende des Kapitalismus, die eine Gesellschaft entwirft, die, einmal über den Kapitalismus hinaus entwickelt, dem menschlichen Leben und Zusammenhalt, eine gänzlich neue Qualität verleiht, weil Mensch und Menschheit in ihrem Bewusstsein der Freiheit sich in konkreter Weise neu erfinden können, – eine solche Vorstellung ist, angesichts selbst der gegenwärtigen Virulenz ökonomischer und sozialer Krisen, die strukturell mit dem Kapitalismus zu tun haben, schlichtweg unsinnig.

Die Situation ist paradox: Die Kritik am Kapitalismus füllt Regalmeter um Regalmeter in den Buchhandlungen, in öffentlichen Debatten wird allenthalben über das Ende des Kapitalismus diskutiert (zumindest ist die Formel vom Ende des Kapitalismus freimütig im Umlauf), aber nicht mit der Konsequenz, dass die Kritik zugleich über diesen Kapitalismus hinausweisen muss. So werden sämtliche Gegensätze (»Widersprüche«), die eigentlich die revolutionären Tendenzen des Systems bezeugen könnten, soweit identifiziert (also: »gleichgemacht«), dass überhaupt kein Außen gedacht werden kann. »Die moderne Industriegesellschaft ist die durchgehende Identität dieser Gegensätze – es geht ums Ganze. Zugleich kann die Stellung der Theorie nicht eine bloße Spekulation sein. Sie muss insofern eine historische Stellung sein, als sie in den Fähigkeiten der gegebenen Gesellschaft begründet sein muss.«39

Die Fantasie an die Macht

»L’imagination au pouvoir!«

Parole der Pariser Studenten, Mai 196840

»Lieber Herr Adorno, in Paris ist die physische Luft verpestet, die intellektuelle Luft aber ist reiner denn je. Man lebt in einer Art Rauschzustand […] Die Situationisten sind ins Théatre de France am Odeon eingedrungen. Dort flattern jetzt eine schwarze und eine rote Fahne. ›L’imagination a pris le pouvoir‹ erklären sie. Barrault musste abtreten. Stattdessen diskutieren dort Schauspieler, Neugierige und Studenten die kulturelle Revolution […] Ach, wenn doch die ›attraction‹ endlich auch einmal den Seelenhaushalt der ordnungsliebenden Deutschen durcheinanderbrächte!«

Elisabeth Lenk, Brief an Theodor W. Adorno, Paris, den 15. Mai 196841

Die Fantasie an die Macht – eine radikale gesellschaftliche Opposition kann nur an solche Motive und Parolen anknüpfen, und zwar immer nur im kritischen Rekurs auf die – eigene – Geschichte des Scheiterns menschlicher Emanzipation. Dies bringt zwei Motive hervor, die augenscheinlich soweit gegeneinanderstehen, dass das eine nur als Luxus in Anbetracht des anderen erscheinen muss.

Das eine Motiv folgt einem Satz von Jean Ziegler: »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.«42

Das andere Motiv ist von Marcuse: »Schönheit und Vollkommenheit […] Kraft dieser Qualitäten kann die ästhetische Dimension als eine Art Eichmaß für eine freie Gesellschaft dienen. Eine Welt menschlicher Verhältnisse, die nicht mehr durch den Markt vermittelt sind, nicht mehr auf wettbewerblicher Ausbeutung oder Terror beruhen, erheischt eine Sensitivität […], die für jene Formen und Eigenschaften der Wirklichkeit empfänglich ist, die bislang nur mittels ästhetischer Phantasie entworfen wurden.«43

Diese beiden Motive sind von jeder radikalen Opposition in der politischen Praxis wach zu halten, und sollten auch schon heute das Zusammenleben der Menschen bestimmen. In entscheidender Weise wirkt das auf die radikale Opposition zurück. Die radikale Opposition ist nicht identisch mit ihrer Organisation; sie kann nur aus lebendigen Subjekten bestehen (und eben nicht aus Parteien, Vereinen und Verbänden, Volk und Völkern etc., letzthin auch nicht aus Gruppen oder Klassen, schließlich ebenso wenig aus der unbestimmten Masse oder irgendeiner noch unbestimmteren Menge, Multitude). Die radikale Opposition wird gebildet aus und von einzelnen Menschen, aus und von Frauen, Männern und allen möglichen Geschlechtern; sie wird gebildet aus veränderungswilligen, interessierten Individuen, die, aufgeklärt für Emanzipation streitend, »den abstrakten Staatsbürger in sich zurück[zunehmen]«44 bereit sind (oder freilich das mindeste, was staatsbürgerlich noch zugestanden wird, schlechterdings aufzugeben).

Die radikale Opposition sind die Wenigen, die sich dem realen Humanismus verpflichtet sehen. Es ist eine radikale Opposition im Sinne der Großen Weigerung – bestrebt, nicht Schadensbegrenzung zu betreiben und notdürftig die Mängel des kapitalistischen Systems auszubessern, sondern wirklich die Welt zu reparieren, sie in Ordnung zu bringen, und zwar in menschliche Ordnung. Und im Sinne solcher Großen Weigerung ist die Opposition deshalb radikal, weil sie – nach Marx’ bündigem Hinweis – an die Wurzel geht; indes: »Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.« Die radikale Opposition demonstriert also »ad hominem […], dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei,« und demonstriert dies »mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«45

Die radikale Opposition zehrt weiterhin von der »Hoffnung um der Hoffnungslosen willen«, wie es Walter Benjamin 1924 am Vorabend des Nationalsozialismus schrieb, wie Marcuse es 1964 als Beschluss vom Eindimensionalen Menschen zitierte, und wie es heute, 2017, noch immer gültig ist; eine zynische Gültigkeit, wenn die eigene Hoffnung sich von den Hoffnungslosen nährt, von Hoffnungslosen nämlich, deren Elend in der jüngeren Geschichte mitnichten gelindert, geschweige denn beseitigt wurde. Dieses Elend nicht länger zu beschweigen, ist der Ausgang der radikalen Opposition. Sie hat nicht nur die Abschaffung des Schlimmsten ins Auge zu fassen, sondern auch den Anbruch des Schönsten. Für die Hoffnung um der Hoffnungslosen willen bedarf es der Fantasie: Der Mensch selbst muss mit Fantasie begriffen werden; und die Parole »Die Phantasie an die Macht!« meint insofern nichts anderes als die Losung: Die Menschen an die Macht, – um die Macht so menschlich zu machen, dass sie endlich nichts mehr macht.



Herbert Marcuse während einer seiner Vorträge in Vincennes 1974

© Ulf Andersen


Links neben Herbert Marcuse: Rainer Lettau (1929–1996), Literaturwissenschaftler, geboren in Karlsruhe. Er studierte u. a. in Heidelberg und Harvard. Lettau nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an und folgte 1968 einem Ruf an die Universität von Kalifornien in San Diego. Marcuse und Lettau waren lange Jahre freundschaftlich verbunden und arbeiteten an vielen gemeinsamen Projekten. Das Foto zeigt Marcuse auf dem Gelände der Universität Vincennes. Unter dem Titel Pape de la contestation. Marcuse est prof à Vincennes erschien das Foto mit einem kurzen Text zum ersten Vortrag im April 1974 in »Le Gens«. Die Identität der Frau konnte nicht ermittelt werden.

© Marcuse-Archiv, Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt/Main


Löwenthal an Marcuse vom 27. März 1964

Herbert Marcuse und Leo Löwenthal waren beide eng mit Paul Baran (1910–1964) befreundet. Geboren wurde Baran in der Ukraine. Er zog nach Berlin und studierte dort marxistisch orientierte Wirtschaftswissenschaften. Löwenthal kannte Baran schon aus Frankfurt, wo er für das Institut für Sozialforschung tätig war, Marcuse kannte ihn flüchtig aus dessen Studienzeiten in Berlin. Baran emigrierte 1939 in die USA. Marcuse und Baran lernten sich näher kennen, als beide in den 1940er Jahren für das OSS arbeiteten. Nach einer Lehrtätigkeit in Harvard folgte er einem Ruf an die Universität von Kalifornien in Stanford. Dort blieb der enge Kontakt weiter bestehen. Marcuse schrieb zum Tode von Paul Baran: »The union of intelligence and hope, of uncompromising indictment and tenderness, made him one of the most lovable human beings I ever met […].« (Marcuse, Herbert: A Tribute to Paul A. Baran, in: »Monthly Review«, 16, 11, New York, März 1965). Das in Löwenthals Brief erwähnte Buch war der gerade erschienene Band One-Dimensional Man.

© Löwenthal-Archiv der Universitätsbibliothek Frankfurt/Main


Herbert Marcuse mit seinen Kollegen an der Universität von Kalifornien in San Diego um 1964. Von links: Richard Popkin (1923–2005) war »Chair of the Philosophy Department« der Universität von Kalifornien. Popkin war einer derjenigen, die Marcuses Wechsel von Brandeis nach San Diego massiv unterstützten und sich mit Marcuse solidarisierten, als dieser von konservativen Kräften in San Diego angegriffen und aufgefordert wurde, seine Professur niederzulegen. Die Person rechts neben Herbert Marcuse konnte nicht ermittelt werden. Vierter von links: Stanley Malinovich, dann Rudolf Makkreel und Roland Kirkby. Die Person ganz rechts konnte nicht ermittelt werden. Malinovich, Makkreel und Kirkby waren »Assistant Professors« im Department of Philosophy und arbeiteten mit Marcuse zusammen.

© Universität von Kalifornien, San Diego/Marcuse-Archiv

Kapitalismus und Opposition

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