Читать книгу Gewaltlosigkeit und Klassenkampf - Herbert Meißner - Страница 8
Оглавление2. Gewaltlosigkeit – wann?
Alle kapitalismuskritischen und antikapitalistischen Kräfte streben einen grundsätzlichen Politikwechsel und eine Veränderung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse an. Dazu gehören neben politischen Parteien auch soziale Netzwerke, Occupy, Verbände für Bürgerrechte und Menschenwürde, Friedensbewegung u.a.m. Die obige Unterscheidung von kapitalismuskritischen und antikapitalistischen Kräften ergibt sich daraus, dass die Kapitalismuskritik die Mängel, Fehlkonstruktionen, finanzpolitischen Auswüchse und sozialpolitischen Zerrüttungen der bestehenden Ordnung scharfer und qualifizierter Kritik unterwirft, aber »nur« für eine Beseitigung dieser Mängel und für eine Verbesserung des Charakters dieser Ordnung eintritt. Die Anführungszeichen bei »nur« sollen aussagen, dass dies natürlich von enormer politischer Bedeutung ist und dass in der gegenwärtigen Periode – und sicher noch für längere Zeit – dies eine Hauptstoßrichtung im politischen Kampf gegen die kapitalistische Herrschaft ist.
Die antikapitalistischen Kräfte sind in der gleichen Weise tätig, gehen aber in ihrer Zielstellung über die Forderung nach Verbesserung der Gesellschaft hinaus und streben die generelle Überwindung der bestehenden Ordnung an. Das beruht darauf, dass die entsprechenden Autoren die gegenwärtigen Übel stärker an den Wurzeln packen und daher nicht nur die Auswüchse beschneiden, sondern die Wurzeln ausreißen wollen.
Solange es »nur« darum geht, dem Herrschaftssystem möglichst viel Zugeständnisse abzutrotzen und seine Bewegungsmöglichkeiten einzuschränken, stehen alle als gemeinsame Verbündete in diesem Kampf und sollten sich auch so zueinander verhalten. Insofern ist die genannte Unterscheidung zunächst vorrangig theoretischen Charakters. Sie wird aber im Hinblick auf künftige Strategien durchaus praktische Bedeutung erhalten.
Dieser von allen fortschrittlichen Kräften geführte Kampf steht unter der von allen gemeinsam vertretenen Losung von Gewaltlosigkeit. Als Kampfmethoden werden die Erweiterung der parlamentarischen Demokratie durch direkte Demokratie gefordert, Volksentscheide angemahnt, politische Streiks organisiert, es wird auf Generalstreik orientiert und zu zivilem Ungehorsam aufgerufen. In den letzten Jahren haben diese Bewegungen viele neue Formen des Widerstands gegen die herrschende Ordnung entwickelt.
Dem steht jedoch entgegen, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten ihre Positionen zu erhalten und weiter zu festigen bemüht sind. Ihr Widerstand gegen demokratische und soziale Forderungen nimmt immer brutalere Züge an.
Unter allen linken Kräften, Sozialforen, Netzwerken, Gewerkschaften usw. gibt es keinerlei Zweifel darüber, dass der Kapitalismus eine Klassengesellschaft ist. Mit welch unterschiedlichen Schattierungen oder zusätzlichen Beinamen er von den verschiedenen antikapitalistischen oder kapitalismuskritischen Gruppierungen auch ausgestattet wird – für alle handelt es sich um eine Gesellschaft mit Klassencharakter, um eine Klassengesellschaft, um Klassenherrschaft!
Damit ist aber auch klar, dass die von den Lohnabhängigen und anderen sozial benachteiligten Schichten geführten Kämpfe gegen Sozialabbau, gegen Leiharbeit und Lohndumping, gegen Hartz IV und Rente mit 67, gegen Kinder- und Altersarmut, für flächendeckenden Mindestlohn u.a.m. eindeutig Klassenkämpfe sind – auch wenn dieser Begriff nicht ständig lautstark benutzt wird. Ob nun der Begriff »Klassenkampf« in den verschiedenen Dokumenten, Programmen, Verlautbarungen und Aufrufen verwendet wird oder nicht – er findet statt. Da bei alledem aber der Standpunkt aufrecht erhalten wird, dass Gewaltfreiheit beizubehalten ist, entsteht für alle die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Gewaltfreiheit und Klassenkampf oder nach der Führung des Klassenkampfes bei absoluter und konsequenter Gewaltlosigkeit. Ist das realistisch? Kann das funktionieren? Wenn ja – wie? Wenn nein – weshalb nicht und was dann?