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Der Riss in der Mauer

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Der Bauer ruderte. Über den Fluss hinüberzurudern, war ihm nichts Ungewohntes. Als Flussbauer war er natürlich auch Fischer. Einträglich war die Fischerei nicht. Dazu lagen die Städte mit ihren Märkten als Abnehmer zu weit. Doch für den eigenen Tisch hatte er schon manchen schönen Fisch aus dem Fluss geholt. An seinem Ufer hatte er ja auch die Berechtigung dazu. Die Berechtigung galt bis zur Mitte des Flusses.

Aber auf einem so breiten, noch dazu strömenden Wasser, konnte man da wohl immer vom Boot aus genau bestimmen, wo die Mitte sei? Und war denn das auch wichtig? So ein Hecht, wie man ihn gerne fing, der war ja kein angebundenes Haustier, das seinen Stall kennt. Der schwamm her und hin, wie es ihm gerade einfiel. Da nahm er vielleicht den Köder auf der Wezrumbaschen Seite an und zog mit der Schnur auf die Seite des Staates hinüber. Oder er machte es umgekehrt. Dem Hecht war das einerlei und dem fischenden Bauern auch. Und darum hatte er sich schon manchesmal unvermerkt und sachte bis zum anderen Ufer hinübergefischt, war dort wohl auch ans Land gestiegen, um auf dem Trockenen seine Schnüre zu ordnen. Zur Burgruine war er dann aber nicht gegangen. Wozu sich den steilen Hang hinaufbemühen, wenn man dort oben doch nichts zu suchen hatte! — Jetzt aber hatte er dort etwas zu suchen, vielmehr er wollte sich’s ansehen, wie das mit den Steinen wäre, dass man sie sich im Winter holen könnte.

Während des Ruderns, das seine Aufmerksamkeit weiter nicht in Anspruch nahm, überkam ihn eine Kindheitserinnerung. Sie drängte sich ihm ungerufen auf. — Wie ja so manchesmal eine Erinnerung uns plötzlich wieder wach und lebendig wird, ohne dass wir müssten woher und warum gerade in dem Augenblick. — Er sah sich als kleinen Jungen zu Füssen der Grossmutter sitzen, die ihm Märchen erzählte. Aber für die Erzählerin selbst waren es keine Märchen, sondern lauter wahre Geschichten. So hatte sie ihm auch die Sage vom grauen Reiter erzählt und war fest überzeugt davon gewesen, dass alles sich genau so zugetragen habe, wie sie es von ihrer Grossmutter, und die wohl auch schon von der ihren hatte erzählen hören.

„Er ist grau wie der Nebel“, hatte die Grossmutter gesagt, wie der Nebel, wenn er so dick über dem Fluss liegt, dass man das andere Ufer nicht sieht. Auch das Pferd ist grau. Man kann ihm auch auf dem Fluss begegnen, aber natürlich nur im Winter, auf dem Eise. Öfters zeigt er sich oben bei der Burg. Er ist einer von den Rittern gewesen, die dort gewohnt haben. Im Fluss ist er ertrunken. Er ist grau wie der Nebel, auch das Pferd ist grau. Nur das Gesicht und die Hände sind weiss.“

Die Grossmutter hatte dann noch eine lange Geschichte von dem Ritter erzählt. Der Bauer erinnerte sich der Einzelheiten nicht mehr genau. Der Ritter war vor etwas gewarnt worden. War es, dass er die Burg zu einer bestimmten Zeit nicht hätte verlassen dürfen oder, nachdem er daraus fortgeritten, nicht zu ihr hätte zurückkehren sollen? Oder war er im Frühjahr über das Eis geritten, als es schon unsicher war? Oder war nicht auch von einem Liebchen die Rede gewesen, das der Ritter nicht hätte zu sich nehmen sollen, und er hatte sie doch auf die Burg gebracht? Wonach denn ein grosses Unglück entstanden war, nicht nur für ihn und für das Liebchen, sondern für alle seine Leute und für das ganze Land. — Die Grossmutter hatte viele Märchen und Sagen erzählt, und der Bauer brachte sie in der Erinnerung durcheinander. Nur dessen entsann er sich noch genau, dass die Grossmutter gesagt hatte: „Er ist ein Warner. Wer etwas vor hat, und ihm erscheint der graue Reiter, der soll von seinem Vorhaben lassen. Er hat selber nicht auf Warnungen gehört. Nun warnt er andere. Er sagt nichts, er ruft nichts, er winkt nur mit der Hand. Dann weiss man schon, was es bedeutet.“ Und sie hatte Beispiele berichtet von solchen, denen der graue Reiter erschienen war, und sie hatten auf seine Warnung gehört, und von anderen, die hatten nicht darauf gehört, und dann war jedesmal ein grosses Unglück daraus entstanden, für sie selber und auch für andere.

Der kleine Junge hatte es der Grossmutter nicht geglaubt. Er hatte sie ausgelacht. Bei der nächsten Gelegenheit aber, als der Vater ihn wieder zum Angeln mitnahm, war er doch noch einmal zur Ruine hinaufgelaufen und hatte gewartet, ob ihm der graue Reiter erscheinen wollte. Er hatte, da nichts kam, zu rufen angefangen: „Grauer Reiter! Grauer Reiter!“ Der war ihm aber nicht erschienen. Da hatte er nachher der Grossmutter gesagt, dass sie lügt. Die Grossmutter hatte dazu nur milde mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: „Ich weiss, was ich weiss. Du bist ein Dickkopf und hörst schon jetzt auf keine Warnungen. Ich habe dich vor der Katze gewarnt, als sie Junge hatte, und sie hat dich doch gekratzt, weil du sie nicht in Ruhe liessest. Möge also der graue Reiter dir nie erscheinen, denn du würdest auch auf seine Warnungen nicht hören. — Geh und hole mir die Milch aus dem Keller!“ — Das hatte er folgsam getan. Denn die Milch war ja auch für ihn.

Der Erinnerung nachlächelnd, hatte der Bauer nicht bemerkt, wie er sich von der Strömung hatte abtreiben lassen. Er musste mit dem Rudern tüchtig aufholen, um nicht zu weit unterhalb der Burg zu landen. An geeigneter Stelle liess er das Boot im Flachen auflaufen und befestigte es im Schilf, dass es nicht mit der Strömung davonschwamm. Er stieg an Land und suchte nach dem Pfade, der zur Burg hinaufführte. Am ebenen Uferstreifen unterhalb des steilen Hangs lagen Steine. Sie mussten von der Burg herabgekollert sein. So weit wirkte sich ihr Verfall aus, bis ans Wasser. Der Pfad war als solcher kaum mehr zu erkennen, so sehr war er zugewachsen. Einstmals mochte es ein, wenn auch steiler, doch gangbarer Weg von der Burg herab zum Fluss gewesen sein. Aber längst hatten Strauch und Kraut und Baumgeäst sich über ihm geschlossen. Auch war wohl schon lange niemand mehr hier gegangen. Im Gras und auf dem Sande des Ufers zeigte sich nichts, das der Spur eines Menschen geglichen hätte. Nur ein Reh hatte den feinen Spalthuf im feuchten Schlamm abgedrückt.

Der Bauer fand den Pfad. Er klomm durch das Dickicht aufwärts. Oben angelangt, brauchte er eine Weile, um sich zurechtzufinden. So anders sah alles aus, als er es in der Erinnerung hatte. Früher hatten um die Burg nur wenige alte Bäume gestanden, zwischen ihren Stämmen den Blick nach allen Seiten freigebend. Jetzt war alles rundherum zugewachsen von jungem Baumvolk, das keck bis in das Innere der Burg vorgedrungen war. Selbst vor den noch aufrecht stehenden Resten des alten Baus hatte das junge Wachstum nicht Halt gemacht. Einzelne Bäumchen hatten kühn begonnen, Turm und Wand zu erklimmen, als sei das Mauerwerk auch nichts anderes als ein Stück Erde, darauf sich’s wachsen liess. Es lagen auch nirgends mehr Steinhaufen offen zutage. Gras und Disteln deckten sie zu, rankige, stachliche Sträucher hatten sie übersponnen. Schon lange schien niemand mehr Steine von hier geholt zu haben.

„Da müsste man ja erst ein Stück Wald roden, um an die Steine heranzukommen“, sagte sich der Bauer. Es war eine Mühe, mit der er nicht gerechnet hatte. Er trat dicht an die aufrechtstehende Mauer heran, dass er von unten an ihr hinaufsah. Ja, er erkannte sie wieder, nur dass seitlich ein Stück von ihr fehlte, mit dem vierten Fenster darin. An den drei noch vorhandenen hatte sich nichts geändert. Sie schlossen sich jedes nach oben in dem spitzen Bogen, der an die Fenster einer Kirche denken liess. In der Kirche, die der Bauer kannte, hing über dem Altar ein Bild, darauf war eine Frau dargestellt, die ihre Hände betend zusammenhielt. Wie sich ihre Fingerspitzen berührten, das machte denselben spitzgerundeten Bogen wie die Fenster mit ihrem Abschluss nach oben. — „Betende Fenster“, dachte der Bauer.

An der geringeren Verwitterung des Gesteins war die jüngste Abbruchstelle noch deutlich zu erkennen. Sie verlief fast senkrecht. Sonst nicht wahrnehmbare Verlagerungen oder Senkungen des Grundes, auf dem die Burg stand, mochten Ursache dafür gewesen sein, dass der Abbruch in dieser Weise erfolgt war. Das Mauerstück war nach innen gefallen, wie sich an dem gleichfalls schon überwucherten Steinhaufen feststellen liess, der dort lag. Überhaupt hatte sich der Einsturz der Ruine bisher in der Weise vollzogen, dass das meiste davon nach innen gefallen oder in sich zusammengesunken war. Anders, verhielt es sich mit den Steinen, die unten am Fluss lagen. Die waren nach aussen gefallen und den steilen Hang hinuntergerollt. Da lagen sie nun am Wasser, wo das Ufer unter dem Hang eben und flach war. Hochwasser und Eisgang konnten über sie hingehen. Hochwasser und Eisgang hatten auch an dem Hang geschürft und ihn unterhöhlt. Aber wenn kein Hochwasser war, lagen die Steine frei.

„Es ist sehr schade“, dachte der Bauer, „dass das Mauerstück nicht nach aussen gefallen ist. Dann läge der ganze Steinhaufe unten, wo es für mich am bequemsten wäre, mir das Nötige davon zu holen. Es wüchse dort auch nicht so viel Gestrüpp darauf infolge des Hochwassers. In jedem Fall wird es mühevoll sein, die Steine erst an den Fluss hinunterzuschaffen. Hier oben ist es unbequem, an sie anzukommen.“

Er betastete die Wand. Dabei entdeckte er einen Riss. Der Riss zog sich, unten dünn beginnend und sich nach oben ein wenig verbreiternd, in nicht gerader, aber im ganzen senkrechter Richtung die Mauer hinauf bis unter die Mitte eines der drei Fenster. Es war, so von innen gesehen, das Fenster rechts. Ob der Riss sich auch darüber noch bis zum oberen Rande der Wand fortsetzte, liess sich von unten her nicht erkennen. Dazu befand sich das Fenster zu hoch. Auch behinderte ein Bäumchen, das aus dem Spalt wuchs, die Sicht.

Der Riss gab zu denken. Offenbar war wieder ein Stück der Mauer im Begriff, sich aus seinem Verbande zu lösen und wegzubrechen. Tat es das und stürzte es gar nach aussen, nun, dann trat ja eben das ein, was der Bauer sich wünschte. Er wünschte es sehr.

Ursprünglich hatte es nicht in seiner Absicht gelegen, dem alten Gemäuer, soweit es noch aufrecht stand, zu Leibe zu gehen. Seinen Kalender, sein Wetterglas, seine Stundenuhr und den gewohnten Anblick, den die Ruine ihm bot, hätte er nach Möglichkeit gerne geschont. Man vergreift sich nicht unnötig an Sachen, die eine gewisse Ehrwürdigkeit haben, wie solche Fenster, die an betende Hände erinnern. Wenn es nun aber mit dem Steineholen so viel umständlicher war, als er es sich vorgestellt hatte, und wenn doch der Riss schon da war, wenn also das Werk einer weiteren Vernichtung der Ruine schon von selber im Gange war — — — sollte man da nicht darüber nachdenken dürfen, ob und wie sich dieser Vorgang vielleicht auf eine vorsätzliche Art beschleunigen liesse? — Je länger er hinsah, desto deutlicher erkannte er: „Ein Stück der Mauer, ein beträchtliches, bricht weg. Aber wann geschieht das? An der Zerstörung arbeiten die Nässe, der Frost und auch die Pflanzen. Wurzeln haben sprengende Kraft. Da wächst ein Stück unterhalb des Fensters ein Ebereschenbäumchen aus dem Spalt. Knollig zwängt sich der Ansatz des Stammes daraus hervor. Es arbeitet am Riss. Aber das sind langsame Arbeiter. Es kann ein Jahr, es können Jahre darüber vergehen, bis der Riss sich merklich verbreitert. Eine senkrecht geplatzte Mauer kann noch lange stehen.“

Ein Mensch, der bauen will, lässt sich nicht gern auf lange Geduld ein. „Das Vieh braucht den neuen Stall“, sagte er sich. „Länger als einen Winter noch kann es nicht darauf warten. Und ich kann auch nicht warten. Also — was ist zu tun, damit das Manerstück, das fallen will, schneller fällt?

„Es sind gewaltig dicke Mauern. So ein Stück davon gibt mehr her, als man zu einem Stall braucht. Die Ritter haben kräftig gebaut, das muss man sagen.

„Freilich, es hat ihnen, auf die Dauer gesehen, auch nichts genützt. Die Burg ist verfallen. Aber natürlich, wenn man die Sachen verwahrlosen lässt, dann gehen sie zugrunde. Eines steht jedenfalls fest: Stein hält länger als Holz, und wer daraus baut, der kann dabei weiter denken als nur an Kind und Kindeskind. Man sieht es ja an den Grabsteinen auf dem Friedhof. Wie schnell verfaulen die Holzkreuze und fallen um. Uber so ein Stein mit seiner Inschrift, der hält, man sollte fast meinen, bis zum Jüngsten Tage.“

In der Stadt, in die der Bauer selten kam, standen merkwürdige Figuren: Männer aus Erz auf Sockeln aus Stein. Man hatte ihm gesagt, dass das Denkmäler seien, und ihm auch die Namen der erzenen Männer genannt. Nun, ein Denkmal wollte auch er sich setzen, er sich bei Lebzeiten. Und da sollte auch sein Name darauf angebracht sein, in Stein gehauen, wenigstens die Anfangsbuchstaben: K.W.

So sollte es über der mittleren der drei Türen des neuen Stalles, der wie der alte in Schuppen, Pferde- und Viehstall geteilt sein würde, zu lesen sein. So hatten es auch zu ihrer Zeit die Barone gemacht, wenn sie bauten. — Wer baut, der setzt sich damit ein Denkmal.

„Ansis wird den Hof erben“, dachte der Bauer weiter. „Und wenn Ansis Herr des Hofes sein wird, und wenn er Kinder haben wird, darunter einen Ältesten, und der wieder Kinder, und so fort, dann wird das immer noch der Stall sein, den ich, Karlis Wezrumba, aus den Steinen der Ruine gebaut habe, mit Ansis zusammen. So etwas vergisst sich nicht in Generationen. Das wird das Denkmal sein, das ich mir setze, unzerstörbar, soweit etwas auf Erden unzerstörbar ist, und mein Name wird unvergessen sein, solange die Wezrumbas auf dem Hofe leben werden, und das werden sie voraussichtlich bis zum Jüngsten Tage!“

Der Bauer untersuchte den Riss. Er dachte an Schiesspulver. Irgendwann einmal hatte er zugesehen, wie man Steine mit Pulver sprengte. Aber das hatte seine Bedenken: „Pulver ist eine gefährliche Sache, und man muss die Kenntnisse haben, richtig damit umzugehen. Auch macht es Lärm. Bei so vielen Dingen im Leben ist es besser, sie gehen ohne Lärm vor sich.

„Aber gibt es nicht noch anderes, das sprengende Kraft hat, ausser der Nässe, dem Frost und den Pflanzen, diesen langsamen Arbeitern?

„Holz, dieser vergängliche Baustoff, Holz hat sprengende Kraft, lebendes Holz hat es, totes auch. Wenn es nass wird, quillt es. Ein Holzkeil hat sprengende Kraft. Wenn er nass wird, vermehrt sich die.“

Das war ein grosser, ein ersinderischer Gedanke. Da sah man es, von woher Attis, der zweite, seine Erfindungsgabe hatte. Mochte Attis, der künftige Tischler, es sein Leben lang mit Holz zu tun haben, er, der Vater, würde es mit Stein zu tun haben, aber das Holz musste helfen, die Steinmauer auseinanderzusprengen.

Er sah an der Mauer in die Höhe. Das Ebereschenbäumchen, das aus dem Spalt wuchs, verhinderte ihn daran, festzustellen, in welcher Weise der Riss nach oben verlief. Er änderte seinen Standpunkt, aber dann standen wieder die Sträucher vor. Man hätte, um sich über die Beschaffenheit des Risses Klarheit zu verschaffen, an der Wand hinaufklettern müssen. Und dabei konnte vielleicht noch eine sehr wichtige Feststellung zu treffen sein: Zeigte die Mauer vielleicht schon die Neigung, ob sie nach aussen oder nach innen fallen wollte? An einer solchen Neigung würde sich kaum etwas ändern lassen. Immerhin war es nicht gleichgültig, in welcher Weise man dem Einsturz nachhalf. Holzkeile, wenn man solche verwandte, konnten in den Spalt von innen oder von aussen getrieben werden. Von aussen wäre es schwieriger gewesen, an der Mauer hinaufzugelangen. In jedem Falle brauchte man dazu eine lange Leiter. Glücklicherweise war er im Besitz einer solchen. Sie hing auf dem Hof an der Hauswand.

Aber ging es nicht auch ohne Leiter? Der Bauer erinnerte sich, wie er als grosser Junge, fast schon Mann, ganz unnützerweise an eben dieser Wand hinaufgeklettert war. War es nicht gar dasselbe Fenster, zu dem der Riss hinaufverlief? Was damals möglich gewesen war, sollte es heute unmöglich sein? War er schwächer geworden? Oder war der Mann weniger mutig, als der Jüngling gewesen war? Ja, damals war es wohl Übermut. Aber jetzt hatte es einen Sinn.

Die Wand war nicht glatt. Längst waren aller Putz und alle Glättung von ihr abgefallen. Sie hatte Vorsprünge und Löcher. Deutlich zeichneten sich noch die Stellen ab, an denen die Holzteile des Baues ihre Verbindung mit der Mauer gehabt hatten. Wer gut Klettern konnte, der kam wohl, wenn auch nicht ohne Mühe und Gefahr, an der Wand hoch, wenigstens ein Stück weit.

Da war das Ebereschenbäumchen. An dieses konnte man sich halten. An seinem Ansatz hatte der Stamm etwa die Dicke eines Handgelenks. Er strebte mit einer Biegung nach oben und trug ein buschiges Krönchen aus Laub, daran die Beeren noch nicht reif waren. Wenn sie sich röteten, würden die Vögel kommen, sich den Leckerbissen holen. Man konnte sich wundern, wie aus so sprödem Boden die Pflanze die Kraft zu so stattlichem Wuchse zog.

Bis zum Ansatz des Stammes liess es sich wohl ohne Gefahr klettern. Nachher half der Stamm weiter. Wie es darüber hinaus weitergehen würde, war nicht ersichtlich. Die Fenster gehörten zu einem oberen Stockwerk. Man sah in der Mauer noch die Ansätze der Balkenlage. Auch schien etwas wie ein Kamin hinaufgeführt zu haben. Sonst wäre der Bauer wohl auch als Junge nicht hinaufgelangt. Damals war er’s. Also — warum nicht auch jetzt?

Es ist ja zuweilen so, dass der Mensch sich selber etwas beweisen möchte, was ihm niemand bestreitet, wenn er’s nicht selber tut. Der Bauer spuckte in die Hände und fing an zu Klettern.

Es war ihm dabei zu Mut, als warne ihn etwas. Aber das war wohl nichts als eine kleine Angst, und die war ja gerade das, was er sich nicht zugestehen wollte.

Bis zum Ebereschenbäumchen ging’s gut und auch noch höher, so weit das Stämmchen Stütze und Halt bot. Die Zweige kamen dafür nicht in Betracht. Der Bauer Wezrumba war ein schwerer Mann, und ein solcher kann sich nicht auf dünne Zweige setzen wie ein Vogel. Das Ebereschenbäumchen konnte ihm nicht weiter helfen. Er musste es, wollte er höher hinauf, loslassen. Und hier nun trat für den Kletternden der Augenblick des Zagens ein. Jeder, der sich auf ein gewagtes Unternehmen eingelassen hat, kennt diesen Augenblick. In der Schlacht kennt ihn der Feldherr so gut wie der einfache Soldat. Es kennt ihn der Bergsteiger. Es kennt ihn sogar auch der Denker, dieser müssige Mensch, der sich auf den Weg eines gewagten Gedankens begeben hat. Es kennt ihn der Künstler bei seinem Werk.

Der Augenblick des Zagens rät zur Umkehr. Der Mensch verwünscht sein Vorhaben. — Welcher Teufel hat mich geplagt?“ — denkt der Mensch. Und: „Kann ich überhaupt noch zurück?“

Aber das ist gerade der Punkt, an welchem sich die Geister scheiden. Der eine kehrt um, wenn er’s noch kann. Der andere sagt sich: „Vorwärts!“ Es ist ein herrliches Wort. Es gibt nur wenige so gute.

„Vorwärts!“ sagte sich der Bauer. Er liess die als Halt schon zu dünne Spitze des Bäumchens los, und wirklich ging es noch ein Stück weiter in die Höhe, nur dass dabei mit jedem klammernden Griff der Hände, mit jedem tastenden Suchen der Füsse an Vorsprung und Loch der Mauer die Höhe nach unten hin zunahm.

Aber dann war es doch aus. Die Hände fanden keinen Griff, die Füsse keinen Halt mehr. Wär’s eine Treppe gewesen, so hätten bis zur unteren Kante des Fensters nur noch wenige Stufen gefehlt.

Ein vernünftiger Mensch sieht eine Unmöglichkeit ein. — „Ich hätte es doch nicht ohne die lange Leiter versuchen sollen“, sagte sich der Bauer. —

Ehe er an Umkehr dachte, nahm er seinen erhöhten Standpunkt wahr, um sich den Riss bis oben genauer anzusehen. Seine Vermutung bestätigte sich: Der Riss setzte sich über dem Fenster fort. Die Spitze des Bogens klaffte ein wenig. Die betenden Hände hatten sich aus der Berührung der Fingerspitzen gelöst. Auch erschienen sie gegeneinander verschoben, und zwar so, dass der Bauer daraus mit freudigem Schreck die Gewissheit gewann: Die Wand fällt nach aussen!

Also konnte er auch befriedigt umkehren. Aber das war ja nun nicht so ganz einfach. Abwärts ist es ja oft schwerer als aufwärts. Die Füsse sehen nicht, wohin sie treten. Aufwärts haben die Augen für die Füsse gedacht, abwärts sollen die Füsse selber klug sein. Der Bauer schaute unter sich. Es kam ihm vor, als sei die Mauer, während er an ihr klebte, gewachsen. Das Gefühl des Schwindels kannte er nicht. Sein Kopf blieb Klar, sein Blick sicher. Er redete sich selber Mut zu. „Falle ich“, sagte er sich, „so braucht es auch nicht gleich das Genick und das Leben zu kosten. Vielleicht breche ich ein Bein. Dann mag nachher die Frau sagen, es sei ein Glück, dass ich nicht beide Beine gebrochen habe. Vielleicht aber breche ich mir gar nichts. Wenn ich nur schon bis zum Ebereschenbäumchen gelangt wäre! Es würde mir auch abwärts gute Dienste leisten.“

An der Stelle unter ihm lagen die Steine, wie auch sonst rundherum, nicht nackt zutage. Sie waren mit Gras und Moos überdeckt. Dennoch musste es hart sein, auf sie hinabzustürzen. Der Schatten der Ruine breitete sich über den Platz. Wezrumba selber befand sich im Schatten. Vorsichtig liess er sich weiter hinab.

Glitt ihm die Hand ab oder der Fuss? Sass ein Stein, auf den er trat, locker? Hilflos griffen die Hände ins Leere. Die eine bekam etwas zu fassen. Es trug ihn nicht, aber es gab seinem Fall eine andere Richtung.

Ansis, der eben den Braunen, mit dem er geackert hatte, abschirrte, hörte einen Schrei, der von der anderen Seite des Flusses zu kommen schien. Da sich aber dort trotz genauen Hinsehens nichts bemerken liess, daraus sich die Herkunft des Schreies hätte erklären lassen, nahm Ansis ruhig dem Braunen das Kopfgeschirr ab, legte ihm den Zaum an und führte ihn in den Stall. Aber der Schrei wollte ihm nicht aus dem Sinn. Der Vater war drüben mit dem Boot. Ansis ging noch einmal zurück zum Fluss. Nichts zeigte sich.

In dem Augenblick, als Wezrumba den Halt verlor, sah er unter sich etwas vorüberhuschen. Es war wie ein Schatten. Aber da lag ja schon der Schatten der Ruine. Wie kann denn ein Schatten in den anderen fallen? Es hatte aber, wenn er es sich nachher vorstellte, genau so ausgesehen wie der Schatten eines Reiters im Sprung: Der Reiter nahm mit seinem Pferde ein Hindernis. Der Schatten davon war unter dem Abstürzenden vorübergehuscht, genau im Augenblick des Sturzes. — War dieser Schatten nicht grau gewesen?

Das Ebereschenbäumchen, als hätte es dem Stürzenden noch schnell einen Zweig hingereicht, sich daran zu klammern, hatte, biegsam die Richtung des Falles zur Seite ablenkend, den Bauern, wenn auch nicht eben sanft, so doch mit Schonung mitten in einen Strauch hinein abgesetzt. Es selber hing danach schräg herab.

Nachdem der Bauer zunächst einmal festgestellt hatte, dass er am Leben und bei Besinnung sei, richtete er sich in eine sitzende Stellung auf und befühlte seine Glieder. Stirn und Hände bluteten. Aber das kam wohl nur von den Sträuchern, durch deren dichtes Gezweig er durchgestürzt war. Gebrochen hatte er nichts.

,,Augenblendwerk!“ murmelte er. „Was man im Schreck nicht alles zu sehen glaubt! Wo sollte denn der Schatten eines Reiters hergekommen sein? Mein eigner Schatten ist es gewesen, den ich gesehen habe. Wie das bei dem Stande der Sonne möglich war, begreife ich nicht.“ — Er betrachtete seine blutenden Hände. — „Die Katze hat mich gekratzt“, dachte er. „Habe ich nicht im Fallen auch noch die Katze der Grossmutter gesehen?“ — Und so hinterher erst wurde er sich auch dessen bewusst, dass er im Sturz einen Schrei ausgestossen hatte. Es war ihm aber, als habe ein anderer für ihn geschrien. Er stand auf, überzeugte sich noch einmal davon, dass alle Glieder heil waren, und stieg langsam den Pfad abwärts zum Fluss.

Ehe er sich ins Boot begab, suchte er sich unter den Steinen, die am Ufer lagen, einen recht grossen, schweren aus. Den nahm er mit. Und während er sich mit dem Ruder vom Lande abstiess, dachte er noch: „Was man im Schreck nicht alles sieht!“ Aber den Stein mitzunehmen, wenn’s auch nur einer war, machte ihm Freude. Er lachte den Stein an und begann zu rudern.

„Es war mein eigener Schatten, nichts weiter“, sagte er sich noch einmal.

Der graue Reiter

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