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Von Frankfurt nach Hamburg

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»Also«, so redet mich Roland an, »ich habe ein kleines Problem, bei dem du mir eventuell helfen könntest.«

»Warum fragst du so höflich?«

»Wie meinst du das?«, fragt mein Gegenüber zurück.

»Nun, wir kennen uns schon ein paar Tage, so meine ich das!«

Heute ist der 21. Mai 2015. Das Wetter ist eher im April angesiedelt, denn es zeigt verschiedene Facetten wie Sonne, Regen, Wind, buchstäblich wie auch das Gesicht meines Freundes und Gegenübers. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, worauf ich mich einlassen würde, besser ich hätte ich die Tür nicht geöffnet oder dringende Termine vorschieben sollen. So aber nicke ich meinen Freund herein und der Schlamassel kann seinen Lauf nehmen. Doch dazu komme ich im weiteren Verlauf noch.

Bevor ich auf Roland, meinen „Fall-zu-Fall-Ex-Kollegen“, ausführlich zu sprechen komme, stelle ich mich zuerst vor (auch wenn es unhöflich erscheinen mag!). Ich heiße Finn, lebe in Hamburg und bin 42 Jahre alt. Finn bedeutet blond, weiß, hell. Jetzt besitzen sie in etwa eine Vorstellung von mir. Was noch fehlt: schlank, sportlich, 190 cm groß, Schuhgröße 45, langes schmales Gesicht, Augenfarbe graugrün. Vor einigen Jahren bin ich aus dem Kriminaldienst ausgeschieden, nachdem ich im Lotto eine achtstellige Summe gewonnen habe.

Sofort könnten Vorurteile geweckt werden wie: Ach, wieder so ein verkorkster Typ, der sicherlich Porsche fährt und obendrein in Eppendorf wohnt (ein Stadtteil mit hohem Singleanteil und Einkommensstruktur) und selbstverständlich ledig ist. Nein, nein! Das ist zu kurz gedacht und passt nicht zu dieser Geschichte und auch nicht zu mir. Nein, ich empfinde mich selbst als eher genügsam. Ich fahre einen Morgan + 8, bin geschieden und wohne in St. Georg. Mein Auto ist mehr als 16 Jahre alt, bretthart und bei Regen immer undicht und „obsolet“ obendrein. Wenn sie den Ausdruck in diesem Zusammenhang nicht verstehen, reihen sie sich in die Menge der Gaffer ein. Wer fertigt noch ein Auto teilweise aus Eschenholz an? Morgan macht es verdammt gut. Zusammengefasst ist es das, was ich an ihm (ihr) liebe. Auch trägt es einen sehr klassischen Namen: Maria! Den Namen meiner Exfrau. Als das Auto damals zum ersten Mal vor unserer Tür stand, schrieb sie mit einem knallroten Lippenstift ihren Namen, den sie schwungvoll zu einem Herzen ausformte, auf den linken Kotflügel direkt neben den Scheinwerfer. Auch lachte sie umwerfend dabei. Obgleich ich einige Einwände dagegen vortrug, ließ ich mich davon anstecken und amüsierte mich gemeinsam mit ihr. Seither trägt es ihren Namen, denn ich ließ den Lippenstift mit Klarlack überspritzen und damit für das gesamte Autoleben konservieren. Immer wenn ich um meine weiße Maria herumlaufe, glänzt mir die Verzierung leuchtend rot entgegen. In der letzten Zeit etwas wehmütig, wie ich festgestellt habe. Es ist jetzt bereits einige Jahre her, dass mich meine Frau verlassen hat. Ich war ihr zu langweilig geworden. Künstlerdenke von ihr eben! Aber als maschineller Trost blieb ja die fahrende Maria im Haus!

Nun aber endlich zu meinem Freund Roland, Kriminalkommissar aus Frankfurt am Main, der mir gegenüber sitzt und heute irgendwie angespannt wirkt (und gar nicht locker wie gewohnt wirkt!). Stets muss er sich von mir anhören, zum „Kretschmerschen- Pykniker-Typen“ zugehörig zu sein. Wesentliche Merkmale: mittelgroß (knapp 180 cm), Neigung zu Fettansatz, insgesamt stämmig mit kräftigem Knochenbau, Temperament behäbig, gemütlich, gutherzig, gesellig, heiter, teilweise auch still und weich. (Gut, dass er diese stille gedankliche Aufzählung nicht mitbekommt, denn er hat immer Erklärungen gegen die Neigung zu Fettansatz vorzubringen, in dem er mir stets erzählt, die Arbeitsessen im Büro seien Schuld an dem einem oder anderem überzähligen Kilo (stimmt aber so nicht: Roland ist Genussmensch!)). Ich denke, es reicht erst einmal für den ersten Eindruck, denn, wie heißt es so schön Neuhochdeutsch: Die inneren Werte zählen! und die sind sehr ausgewogen und abgestimmt, nach innen wie auch nach außen. Doch augenblicklich steht ihm sein Anliegen ganz dick auf die Stirn geschrieben: Mord!

»Weißt du«, so fragt er ganz ruhig, nachdem ich ihm eine Flasche Holsten als nachdrücklichen Willkommensgruß vor die Nase gestellt habe, »was das ist?«, und er hält mir ein längliches Stück Papier unter die Augen.

»Eine ICE-Fahrkarte für den heutigen Tag Frankfurt - Hamburg. Sieht ein wenig verwässert aus. Musstest du spontan vor Freude weinen, dass du mich heute wiedersehen würdest? Oder leidest du bereits an Alters-Wehleidigkeit?«

»Übertreibt nicht, Finn! Die schwamm zusammen mit einem Chinesen im Main herum!«

»Soll übel zugerichtet worden sein, der Typ. Konnte man jedenfalls lesen! Und nun hast du diese bereitwillig genutzt, um mich wiederzusehen. Richtig?«, und ich grinse Roland breit ins Angesicht.

»Nicht so ganz. Ich habe für mich eine Fahrkarte gekauft. Du bist schon einige Zeit außer Dienst. Das wäre Vorteilsnahme im Amt, solltest du dich noch daran erinnern können?«

»Hmmmm, also hast du zwei Fahrkarten? Eine verwässerte ungenutzte und deine, wenn ich dich richtig verstanden habe. Das bedeutet eigentlich eine zu viel, außer«, und mein Grinsen wird noch breiter und provokanter, »wenn du dein Problem gleich mitgebracht hättest!«

»Ich habe eher daran gedacht, dass du dich ein wenig umhörst, ob ein Chinamann erwartet würde? Soll ja eine Menge davon bei euch hier in Hamburg geben!«, antwortet er humorlos.

»Jetzt offensichtlich einen weniger!«, erwidere ich ebenso trocken. »Aber das können wir gemeinsam erledigen. Ich lade dich zum Essen ein!«

»Chinesisch habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Klingt irgendwie verführerisch!«

»Dann können wir in aller Ruhe quatschen. Du übernachtest selbstverständlich bei mir. Aber ich warne dich: Die Nacht könnte lang werden! Schließlich haben wir uns schon ewig nicht mehr gesehen! Oder wäre das auch Vorteilsnahme im Amt?«

»Deinen Humor habe ich irgendwie vermisst. Tut aber gut!«, und er schlägt mir auf die Schulter. »Oh, ich sehe, du hast ja immer noch deine Piranhas? Nette Tierchen!«

»Erinnere dich! Seit Maria fort ist, esse ich fleischlos. Seitdem fühle ich mich insgesamt besser, wenn ich Fleisch verfüttern und dabei den Tierchen einen Schmaus und Freude bereiten kann. Aber für dich mache ich heute Abend gern eine Ausnahme: wegen deines Chop Suey-Mannes! Haha!«

»Oder wegen Maria!? Haha!«

Als wir unten auf der Straße stehen, ruft mir ein Mädchen zu: »Finn, du solltest dein Auto dichtmachen, soll bald wieder zu regnen anfangen!«

»Danke, ich will Maria gerade in die Garage fahren!«, und ich lächele vertraut zurück.

»Ist das dein Freund? Ist ja ein richtig schnuckeliger Typ!«, und sie deutet mit dem Finger auf Roland, grinst auf eindeutige Weise und wackelt mit dem Po dazu. »Hat er ein bisschen Zeit? Oder ist er schon vergeben?«

»Herzchen, das ist mindestens eine Frage zu viel. Heute Abend jedenfalls an mich!«

»Wooooow! Na dann mal viel Spaß zu zweit, ihr Süßen!«

Als Roland und ich bereits im Auto sitzen, der Motor des Morgan ruhig brummelt, kommt die Kleine zu uns an das Auto, legt ihre schlanken Arme auf die Tür und gibt ein längeres Küsschen in die Luft. Bereits im nächsten Augenblick dreht sie sich um, zieht den knappen Stretchrock hoch, der ihren kleinen zarten Hintern freilegt, um sich, ohne noch einmal umzuwenden, zurück zu ihrem Platz zu begeben. Von ringsherum brandet Gelächter auf, während sich meine Maria langsam in Bewegung setzt.

»Verdammt jun…..«, weiter kommt Roland nicht.

»Ich weiß, was du sagen willst: Sweet little sixteen!«

»Ein Song von Little Richard!«

»Wenn ich dich verbessern darf«, antworte ich ihm, »von Chuck Berry, 1958. Hat es bis auf Platz zwei der Charts geschafft. War auch bei uns ein großer Hit!«, und ich grinse meinen Freund an. »Sie ist erst sechzehn Jahre alt und schon knapp zwei Jahre dabei! Wenn du noch ein paar Tage hierbleibst, wirst du sie besser kennenlernen!«

Wenig später im chinesischen Restaurant bei Jim.

»Hi, Finn, dein Tisch ist frei. Kommt mit! Was macht Maria?«

»Welche meinst du?«

»Deinen Holzbock natürlich! Deine Ex speist nicht bei mir. Ist zu fein geworden! Ich habe sie neulich in der Stadt getroffen. Sie kam gerade aus dem „Tempel“

(eine Edel-Boutique in der Innenstadt) vollgepackt mit etlichen Einkaufstaschen heraus. Sie hat mich nur flüchtig im Vorbeigehen gegrüßt!«

»Nimm‘s ihr nicht übel? Frauen und shoppen! Und vermutlich klebte ihr Smartphone am Ohr?«

»Genau! Haha!«

»Das ist mein alter Kumpel, Roland. Ist ein Bulle!«, und ich deute mit dem Finger auf ihn.

»Hättest du mir nicht zu sagen brauchen. Ich habe es sofort gerochen!«, und er zieht noch einmal die Luft laut hörbar durch die Nasenflügel ein. Postwendend stellt sich auch Jim, der Wirt, vor. »Alle nennen mich Jim. Denen ist mein richtiger Name Lian-Ying zu kompliziert. Kannst mich selbstverständlich auch Jim nennen, Roland.«

»Mach ich gern!«

»Wisst ihr schon, was ihr wollt?«

»Zur Feier des Tages Reiswein und Chop Suey. Und danach deinen Spezialtee!«

Jim verlässt uns beide kurz, gibt den Auftrag an die Küche weiter, und setzt sich zu uns an den Tisch zurück.

»Ihr habt Fragen an mich!«, das sehe ich deinem Kumpel jedenfalls an.

»Weißt du, Jim. Genau das habe ich auch zu ihm gesagt, als er heute Morgen unerwartet vor der Haustür stand.«

Roland schaut wie überführt in die Runde, hält sich noch merklich zurück.

»Finn, dir habe ich es früher auch immer sofort angesehen, als du noch Bulle warst. Dann trugst du immer so ein dickes Fragezeichen auf der Stirn mit dir herum«, bemerkt Jim treffend.

»Habe ich offensichtlich an ihn weitergereicht«, unterbreche ich Jim lässig.

»Nachdem du deinen Dienst quittiert hast, bist du locker geworden. Naja, kannst ja jetzt auch deine viele Kohle verplempern. Dann schießt mal los, was ihr auf dem Herzen habt«, betont Jim weiter.

Ich stoße Roland an. »Erzähl ihm, was dich quält?«

»Also«, so fängt mein Freund an, »wir haben in Frankfurt ein Problem mit einem Chinesen, den wir übel zugerichtet aus dem Main gefischt haben.«

»Hab davon gehört. Konnte man in der Zeitung lesen!«, meint Jim unbeeindruckt.

»Er hatte eine Fahrkarte nach Hamburg in der Tasche, datiert auf heute«, melde ich mich dazwischen.

»Soll ja häufiger vorkommen, dass Leute nach Hamburg fahren!«, antwortet Jim trocken.

»War aber kein normaler Fahrgast«, fahre ich wieder dazwischen. »Könnte mit einer Organisation zusammenhängen? Ist dir was darüber bekannt, Jim?«

Sein Gesicht verändert sich zum ernsten hin. »Ich will nicht sagen ja oder nein! Es gibt so ein Gemunkel, kein klares Bild. In China sagt man: „Móu shì zài rén, chéng shì zài tiān“ oder für euch: „Dinge zu planen, liegt beim Menschen. Dinge zu vollenden, liegt beim Himmel“«

»Willst du damit andeuten, es ist eine schwierige Kiste?«, hake ich nach.

»Eine alte, so spricht man jedenfalls.«

»Schiet! Ich habe es bereits geahnt, als Roland in der Tür stand. In Deutschland sagt man:„Gut Ding will Weile haben! Hier passt besser: Schiet Ding muss zu stinken aufhören!“«

»Kommt morgen wieder vorbei, dann ist mein Großvater hier. Vielleicht hat er was zu erzählen? Nun erst einmal Guten Appetit, Jungs! Den Tee serviere ich euch nachher!«, und schwupps ist Jim schwungvoll davongeeilt.

Die letzten Stunden des Abends tragen zwei begehrliche Namen: St. Pauli und zum Abschluss St. Georg. Insgesamt, so kann man sagen, ist es ein runder Abend gewesen, weil wir beide uns lange nicht mehr gesehen haben. Und genau aus diesem Grund haben wir aus dem Vollen der Erinnerungen schöpfen können. Zumeist klang das so wie „Weißt du noch oder kannst du dich noch daran erinnern?“ und das konnte jeder von uns sehr genau.

Rückblende:

Kennengelernt haben wir uns vor rund zehn Jahren: Der Frankfurter Roland und der Hamburger Finn! Wir beide fummelten damals an einem sehr merkwürdigen wie komplizierten Fall herum. „Mord oder nicht?“, stellte sich seinerzeit als Frage?

»Das war wirklich eine schwierige Kiste, findest du nicht auch?«, unterbricht Roland mich in meiner Ausführung.

»Sei doch froh darüber, mein Bester!«

»Du meinst, sonst hätten wir vermutlich keine Freundschaft geschlossen?«

»Genauso meine ich es! Vermutlich wären wir nur Kollegen geblieben. Klasse Aktion von dir, dass du mich damals unter einem Vorwand nach Österreich geschleppt hast!«

»Kleiner Trick von mir und meinem Bauchgefühl zu verdanken!«, setzt Roland nach.

»Du mit deinem Bauchgefühl! Mal sehen, ob du das diesmal wieder gebrauchen wirst?«

»Keine Bange, mein Freund! Es wird sich schon melden, wenn es brenzlig wird. Vertrau darauf!«, und Roland fasst sich vergnüglich an seine kleine, kaum vorhandene Rundung (weil er gerade die Luft anhält!).

Doch zurück zum damaligen Fall:

Eine Frau war tot in ihrem Bett aufgefunden worden. Ihr Ehemann erzählte unter Heulen und Schluchzen, dass er sie nach seiner Rückkehr leblos liegend dort entdeckt habe. Daraufhin habe er sofort die Polizei benachrichtigt und Wiederbelebungsmaßnahmen in Form von Atemspenden und Herzdruckmassagen selber an ihr durchgeführt. Das alles habe aber keine Wirkung erzielt. Auch die herbeigeeilte Feuerwehr hatte seine Frau nicht mehr ins Leben zurückholen können, so stand es später im Protokoll zu lesen. Nun wäre der Fall normalerweise abgeschlossen gewesen, wenn ein Totenschein des zuständigen Krankenhausarztes ausgestellt worden wäre. Wurde es aber nicht, denn dafür gab es einen Grund. Nur wenige Stunden später ging bei der Polizei in Hamburg eine Anzeige der Eltern der Toten ein, in der der Ehemann des Mordes bezichtigt wurde. Wie war es dazu gekommen?

Das Paar, so jedenfalls nach Aussagen der Nachbarn, lebte glücklich in Frankfurt zusammen. Sie arbeitete als Sekretärin bei einem großen Chemieunternehmen und er als Krankenpfleger in einer Klinik für Senioren. Die Frau stammte aus Hamburg, wo auch ihre Eltern lebten, und war dann zu ihrem Mann nachgezogen. Ihre Eltern, so gaben sie damals bei ihrer Anzeige an, haben den Ehemann immer abgelehnt. Sie waren auch ihm gegenüber stets sehr skeptisch geblieben und zusätzlich möglicherweise bedingt durch sehr viele Zeitungmeldungen über sogenannte „Pflegeunfälle“ alarmiert. Auch gaben die Eltern zu bedenken, dass ihre Tochter zum Zeitpunkt des Todes erst knapp dreißig Jahre alt und ihres Wissens nach stets gesund gewesen ist. Insofern trafen in ihren Augen etliche Bedingungen zusammen, die sie zu der Anzeige und Verdacht unverzüglich ermutigt hatte.

Zuerst wurden wir, Roland und ich, telefonisch durch diesen Fall zusammengeführt. In der Folge trafen wir uns einige Male, woraus sich langsam eine Freundschaft entwickelte. Es stimmte die Chemie zwischen uns, wie man so schön ausdrückt. Darüber hinaus sind wir fast gleichalterig, sportlich und besitzen offensichtlich einen ähnlichen Geschmack was Frauen angeht. Roland fand meine Exfrau Maria immer toll und zeigte eigentlich mehr Verständnis für ihre „spleenigen Anwandlungen“, jedenfalls mehr als ich selber seinerzeit. Naja, zu seiner Entschuldigung sei angemerkt, er musste sie ja auch nicht ständig miterleben und ertragen! Roland seinerseits war zwar fortlaufend mit verschiedenen Frauen zusammen, bezeichnete diese immer mit „Übergangserlebnissen“. Was er damit genau meinte, hat er mir bis heute nicht so recht begreiflich machen können. Ich hätte das vermutlich eher mit „zbvB oder zeitlich-begrenztem-vögeln-Beziehung“ bezeichnet. Er aber winkte stets ab und sagte „Nein, nein!“ dazu. Also einigten wir uns beide auf den Begriff „Nein-Nein-Beziehung!“ (jetzt gerade, wo er wieder davon hört, schüttelt er heftig den Kopf! Unterschiedliche Wahrnehmung offensichtlich!).

Aber zurück zum Fall. Der aufnehmende Polizeibeamte konnte den Eltern nur wenige Standardfragen stellen, denn bei seinen Berufserfahrungen spielten sich die Anschuldigungen der Eltern verständlicherweise eher im Raum der Spekulationen, Phantasien oder Unterstellungen ab. Als Folge landete daraufhin einige Tage später der Fall bei mir auf dem Schreibtisch und nur wenige Stunden später nahm ich Kontakt zu Roland auf. Ich ließ mir von ihm den Tathergang, das Protokoll des Arztes und auch die Aussage des Ehemanns vorlesen. Der Arzt hatte keine Anomalien bei der Toten festgestellt. Dennoch wurde eine Obduktion der Leiche angeordnet. Dabei wurden keinerlei Hinweise auf eine Gewaltanwendung oder Fremdeinwirkung gefunden. Die Frau war im Großen und Ganzen gesund, litt jedoch an einer schleichenden Diabetes, die seit einiger Zeit mit Insulin behandelt werden musste. Zusammenfassend war aus kriminalistischer Sicht insgesamt nichts Ungewöhnliches oder Auffälliges zu finden. Ich hätte den so genannten Mordfall gern vom Tisch gehabt, doch kam mir Roland dabei zum ersten Mal mit seinem „merkwürdigen Bauchgefühl“ in die Quere. Zwar konnte er mir keine Argumente liefern, eben weil nur ein ungutes Bauchgrummeln in ihm steckte. Als Folge dessen wurde die Frau ein zweites Mal untersucht, wobei ein anderer Pathologe einige kaum wahrnehmbare Einspritzungsmerkmale im Gesäßbereich erkannte, welche beim ersten Male offensichtlich übersehen worden waren. Diese Spritzen, so der untersuchende Arzt, hätte sich die Frau nur schwerlich selbst setzen können. Verwirrend daran: Es bestand von ihrer Seite kein Grund für diesen eher ungewöhnlichen Ort der Einstiche. Nunmehr wurde eine Hypoglykämie als Todesursache als Folge einer überdosierten Insulineinspritzung diagnostiziert, die die Frau zuerst hatte ins Koma fallen lassen und die anschließend zu ihrem Tod geführt hatte. Der Ehemann wurde daraufhin von Roland und Kollegen „in die Mangel“ genommen. Er schwieg beharrlich und blieb fest bei seiner ersten Aussage, dass er an diesem Abend mit Kollegen „einen Trinken gegangen war“, was auch von seinen benannten Zeugen glaubhaft bestätigt wurde. Doch das Bauchgefühl von Roland beruhigte sich keineswegs, sondern meldete sich ständig hartnäckig weiter ( bei Gelegenheit muss ich ihn fragen, wie man damit im täglichen Leben umgeht?). Allein es fehlten gesicherte Indizien, die zu einer Verhaftung des Ehemannes hätten ausreichen können. Fatal daran: Da die Ärzte mit nicht an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen konnten, dass sich die Frau die Spritzen nicht selbst hätte setzen können, konnte keine Anklage gegen den Ehemann erhoben werden. Damit war das Bauchgefühl von Roland zu diesem Zeitpunkt per Untersuchungsbericht samt Diagnose abgeschaltet und der Fall ad acta gelegt.

Gleichwohl beharrte Roland auf seinen Bauch und sein Gefühl weiterhin und sagte wiederholt zu mir: „Das Schwein schnappe ich irgendwann!

(unprofessionelle Aussage!)“, worauf ich ihm stets entgegnet habe: „schließlich habe er mich (als Freund) gewonnen und das Schwein wird solange warten können, bis es irgendwann schlachtreif geworden ist!“.

Dass Roland mit seinen Gedanken daran nicht nachgelassen hatte, bekam ich zuerst gar nicht mit, sondern erst, nachdem wir uns zu einem gemeinsamen Urlaub in Österreich aufhielten. Dort führte er mich in eine Apotheke und simulierte gegenüber dem Apotheker sehr geschickt einen so genannten Diabetes-Notfall, und dass er sein Insulin als Schutz dagegen vergessen habe. Jedenfalls ließ sich der Apotheker tatsächlich breitschlagen, ihm ohne Rezept Insulin auszuhändigen, allerdings mit der Maßgabe: „er müsse aber unbedingt das Rezept kurzfristig nachreichen“, was Roland vertrauensvoll versprach (selbstverständlich bekam der Apotheker nur wenig später das Medikament zurück!).

»Na, na!«, wirft Roland ein, nachdem ich nochmals meine Einwände gegen sein Verhalten von damals vorbringe.

»Der Beruf geht „immer“ vor!«, bleibt er hart.

»Lieber Roland!«, entgegne ich ihm, »ich denke, Freundschaft ist wichtiger als jegliche Taten und Täter. Die sollen in ihrer Schuld doch gern etwas länger schmoren, bevor wir sie zur Strecke bringen!«

Aber weiter: Was wir, eigentlich Roland, also bereits geahnt hatten, traf offensichtlich zu. Insulin war durch einen kleinen Trick ohne Rezept zu besorgen. Und was uns gelungen war, sollte dem Ehemann auch gelungen sein, zumindest mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit oder mit einer großen Portion Hartnäckigkeit. Als wir wieder aus dem Urlaub zurück und im Dienst waren, begannen wir den potentiellen Täter auf Auslandsreisen zu durchleuchten. Und tatsächlich war er zu Kurzurlauben in Österreich, Slowakei und auch Ungarn gewesen. Um an die Information zu gelangen, hatte Roland ihn dazu nochmals zu sich ins Büro unter dem Vorwand „er müsse noch aus formalen Gründen ein paar Unterschriften leisten, die zuvor leider vergessen worden waren“ gelockt. Dabei verwickelte er ihn geschickt in ein belangloses Urlaubsgespräch wie in etwa: „Ach, letztes Jahr habe ich eine Donaureise auf einem Arosaschiff unternommen und bin von Wien aus über Bratislava bis nach Budapest gefahren….. das war ganz toll (Bla, Bla) und so weiter….“. Erstaunlicherweise erzählte unser Mann ganz unbedarft, dass er in Neusiedel am See, Bratislava und auch einen Abstecher mit dem Boot nach Budapest unternommen habe. Na, Klasse! Also hatten wir zumindest mehrere Anhaltspunkte gefunden. Sofort veranlasste Roland einige Kollegen aus den drei Ländern um Amtshilfe, schickte Bilder von dem Mann raus und ließ die Kriminalisten dort die Apotheken abklappern.

»Das war nicht einfach und auch sehr zeitaufwendig!«, wirft Roland ein.

»Das kann ich wohl erinnern. Es hat einige Monate in Anspruch genommen, aber letztlich auch zum Erfolg geführt!«, bestätige ich ihm.

»Sag ich doch: Bauchgefühl, mein Bester!«, und Roland reibt sich zum zweiten Mal kreisförmig mit der Hand über seine kleine Wölbung und grinst mich zufrieden an.

»Jo, das gilt aber für dich! Ich habe solch Gefühl immer nur, wenn ich von meinen Eltern zuvor ausgiebig gefüttert worden bin! Haha!«

Neusiedel am See hieß das Ermittlungs-Zauberwort. Denn dort konnte sich eine Apothekerin an unseren Verdächtigen erinnern, der mit genau dem Trick, den Roland zuvor angewandt hatte, sich Insulin erschlichen hatte. Später kam noch eine weitere Apotheke in Bratislava hinzu. Ein weiteres Indiz in der Kette zu unserem Anfangsverdacht fügte sich hinzu. Daraufhin wurden die Ermittlungen gegen den Verdächtigen wieder verstärkt in Angriff genommen. Als dann auch noch seine Computer-ID in einem so genannten „Insulin-Chat“ ermittelt werden konnte, hatte sich der Indizienkreis fest um ihn geschlossen. Was fehlte, war ein Geständnis beziehungsweise eine zielführende Beweisführung in dem Prozess gegen ihn.

»Leider ist der Staatsanwaltschaft beides nicht gelungen, wie du weißt, Finn.«

»Ja, leider! Der Mann wurde mangels Beweisen freigesprochen!«

»Er hatte einen findigen Anwalt!«

»Und ein fehlendes Motiv für die Tat, sprach für ihn!«, füge ich an. »Ich denke, der Typ war krank und somnophil veranlagt. Roland, du kennst meine Meinung dazu. Der kriegte nur einen hoch, wenn er seine Frau ungestört im Schlaf beobachten beziehungsweise seine sexuellen Phantasien an ihr ausleben konnte. Um ungestört seine Handlungen vorzunehmen, hat er ihr zusätzlich Insulin verabreicht, woran sie letztlich gestorben ist.«

»Ist unbewiesen geblieben!«, fügt Roland betrübt an. »Aber der Typ hat, wie du weißt, vor ein paar Jahren Suizid begangen. Aus welchen Gründen auch immer! Und damit ist die Sache ad acta gelegt worden!«

»Ja, leider! Ich hätte ihn nur zu gern überführt!«

»Wem sagst du es, Finn! Allein schon aus dem Grund, die hässliche Fratze des überführten Mörders zu sehen!«

»Weißt du, Roland! Ist irgendwie schön und grausam zugleich, unter welchen Umständen wir uns damals kennengelernt und darüber eine feste Freundschaft geschlossen haben!«, überkommt es mich emotional.

»Und eine gute dazu«, erwidert Roland.

»Das stimmt, ja! Und eine gute Freundschaft kann nur entstehen, wenn jeder den anderen sehr respektiert, eigentlich sogar mehr als sich selbst. Das aber reicht noch nicht aus: Ein Schuss Intimität gehört immer auch dazu!«, behaupte ich nachdrücklich und ernst.

»Du meinst damit, dass man sich immer offen über „alles und jedes“ austauschen kann!«

»Sogar ein wenig mehr!«

»Bedenke«, fügt Roland an, »wenn man Bulle ist, kann man sich die Fälle oder Täter nicht aussuchen. Die kommen, wie sie kommen, und gehen, wohin wir sie bringen. So läuft das bei uns!«

»Die Freunde genauso wenig! Weißt du, Roland! Und genau deshalb bin ich froh, nicht mehr dabei sein zu müssen«, antworte ich ihm erleichtert.

»Dann lass uns noch ein Bierchen schlürfen und morgen geht es mit dem Chinamann weiter. Ist bereits richtig spät geworden!«

»Eher früh! Na denn: Prost!«

»Jo, Prost und Abfahrt!«


Chop Suey pikant!

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