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Charmante Freu(n)de 1
Оглавление22. Mai 2015.
Mein Blick auf die Uhr verrät: Es ist bereits 12.00. Da meldet sich die Türglocke mit ihrem nervigen Vogelgezwitscher, so als würde jemand darauf eingeschlafen sein oder dem Vogel beim Gesang lauschen wollen. Ich öffne, da wird die Tür bereits unbändig aufgedrückt und an mir vorbei rauscht eine schlanke Person mit wallendem, brünettem Haar.
»Ich muss nötig pinkeln, nun mach schon!«, ruft sie ungestüm aus. Bereits im nächsten Augenblick knallt die Klotür hinter der Ungeduld zu.
»Wer ist das denn?«, fragt Roland irritiert.
»Schätze Maria! Sie hat eine Pennälerblase. Plagte sie früher schon immer. Ständig mussten wir anhalten. Schlimm war es, wenn wir mit dem Auto im Stau standen! Hab ich dir häufiger erzählt!«
»Stimmt! Haha!«
»Ihr seht ja sehr verschlafen aus, Jungs. Habe ich euch etwa gestört?«, fragt Maria spöttisch und eindeutig grinsend.
»Hallo Maria! Nett dich wiederzusehen!«
»Der Bulle aus Frankfurt! Bist du schwul geworden oder wieder an so einem Scheißding dran? Finn ist nicht mehr bei eurem Verein, solltest du eigentlich bereits mitbekommen haben!«
»Komm runter, Ex, ist noch früh am Tag. Bleibst du zum Frühstück? Dann können wir zusammen quatschen. Roland würde sich freuen!«, mische ich mich deeskalierend ein, während Roland zustimmend nickt.
Tatsächlich, wie Jim es tags zuvor beschrieben hat, steht meine Ex mit leicht gespreizten Beinen vor uns. Sie ist jetzt Mitte dreißig und trügerisch scheinen die letzten Jahre an ihr spurlos vorbeigegangen zu sein, aber eben nur scheinbar. Tatsächlich bedarf es mittlerweile einiger zeitaufwendiger Nachhilfe
(was sie natürlich nie zugeben würde). Bezaubernd und gertenschlank dazu wirkt sie jedenfalls immer noch. Augenblicklich umwindet ein leichtes enganliegendes helles Kleid ihre verführerischen 175 cm (ohne die hohen Absätze). An Selbstvertrauen hat es ihr bereits während unserer Ehe nicht ermangelt, scheint aber in den letzten Monaten eher zugenommen zu haben. Und mit ihrer Pose rechtfertigt sie bildhaft ihr Verhalten gegenüber Roland und mir. Nicht mehr jungendlich frisch und noch nicht alt, irgendwo dazwischen angesiedelt, und wie sie meint bestens verführerisch positioniert, was zweifellos auch an ihrer augenblicklichen Verbindung mit einem Schönheits-Doktor liegen könnte.
»Du scheinst obenrum etwas zugelegt zu haben? Naja, dein Freund ist ja auch Chirurg!«, kommentiere ich ihre neue Oberweite.
»Sieht man es?«
»Nur wer dich kennt. Bei mir warst du noch flach wie Norddeutschland, bedauerlicherweise!«, dabei grinse ich sie wenig despektierlich an.
»Du hast keinen Wert darauf gelegt und mir sogar Komplimente deswegen gemacht. Hast ja jetzt einen Kerl zuhause, der hat ja auch obenrum nichts. Findest du offensichtlich besser!«, kontert sie spontan und spricht weiter:
»Ja, wir können im „The George“ (ein Luxushotel in St. Georg) frühstücken. Ich lass mich gerne einladen von dir! Danke! Aber zieht euch erst einmal an. So wie ihr ausseht, gehe ich nicht mit!«
»Hast dich nicht geändert, Maria«, bemerkt Roland treffend, während ich die gleichen Gedanken in mir führe.
»Warum sollte ich? Dafür wurde ich immer allerseits geliebt!«, unterstreicht sie selbstbewusst.
Und genau das lassen wir mal so ohne Widerrede im Raum langsam verklingen, obgleich? Gab es damals nicht einen Trennungsgrund? (gehen meine Gedanken!)
Der Weg zum Hotel ist nicht weit. Nur ein paar Fußminuten entfernt liegt das neue Gebäude. Und weil das Wetter mitspielt, gibt es auch keine Einwände von Maria, dorthin zu gehen. Vor dem Haus steht Candy. Die süße 16-Jährige. Als sie uns sieht, wirft sie uns einen Kussmund zu und stiftet zumindest damit bei Maria Verwirrung. Maria, in der Mitte von uns platziert, zieht erst meinen und dann Rolands Arm zu sich heran. Schon platzt sie heraus: »Nette Gemeinschaft bildet ihr! Der eine von euch ist schwul, der andere pädophil. Ich denke, ich sollte besser auf euch aufpassen, Jungs!«, und sie wirft ihren ganzen sprühenden Charme und ihre Borniertheit gegenüber Candy in ihr Lächeln.
»Weißt du, Maria, es ist eine Menge seit deinem Weggang passiert.«
»Konnte ich gerade beobachten!«, antwortet sie angriffslustig.
»Nicht so, wie du es meinst. Wenn ich für mich spreche, Roland lass bitte außen vor, bin ich mit meiner Situation mehr als zufrieden. Deine Verrücktheit war auf der einen Seite belustigend, auf der anderen auch sehr anstrengend. Scheint so, dass wir uns jetzt richtig positioniert haben.«
»Hab ich gerade mitbekommen: Schwul und pädophil!«, wiederholt sie frech fraulich.
Darüber haben wir das Hotel erreicht. Direkt an der Straße gelegen und für Menschen, die sich beim Genuss mit alkoholischen Getränken überschätzen, liegt das Hotel nur wenige Meter vom Krankenhaus entfernt wohlplatziert. Obgleich für den Neubau ein Gründerzeitgebäude weichen musste, nur die Fassade zur Alster hin blieb erhalten, gehört das Hotel zu den beliebtesten in Hamburg und ist für seinen „Schwulen, Hippen, Schrägen“-Stil mit der Bar DaCaio weit über die Landesgrenzen bekannt. Fünf Sterne gibt es obendrauf. Natürlich ist auch augenblicklich dort gerade viel los.
Dennoch: An diesem Ort gibt es Zeit zuhauf. Andere würden dazu dekadent sagen. Aber in einem Viertel, in der Maler, Schauspieler, Schreiberlinge und Freiberufler wohnen und arbeiten, zumeist Singles oder gleichgeschlechtliche Paare, scheint Zeit nicht zu existieren. Überhaupt verhält es sich dort mit der Zeit irgendwie seltsam. Es gibt sie und es gibt sie auch nicht. Stets ist sie an etwas gebunden: Handlungen! Faulenzen ist eine Handlung. Ist es nicht herrlich, nach Stunden der Ungezwungenheit vom Nebenmann mitzubekommen: „Ach, es ist schon Nachmittag geworden. Hab ich mich wieder verquatscht! Nun muss ich aber eilen!“
Ich gestehe, ich gehe sehr gern ins „The George“, auch um Leute zu beobachten. Und wenn ich mit meiner fahrenden Maria auftauche und sie provokant vor die Tür platziere, sind mir Blicke gewiss. Ach, ich liebe es, Blicke zu erheischen! Ich liebe es, dekadent zu sein (für den Augenblick!). Roland verhält sich dagegen eher wie Sperrgut. Ist eben ein Bulle. Über die schicke Maria brauche ich kein Wort verlieren. Sie liebt(e) stets den Mittelpunkt, mit neuem Busen oder alter Flachheit! Auch jetzt wieder! Sofort hat sie irgendjemanden entdeckt oder verhält es diesmal anders herum? Und sie winkt der Person zu. Im nächsten Moment ist sie uns bereits für eine unbestimmte Zeit entschwebt.
»Das nennt sich offensichtlich Frühstücken und Quatschen zu dritt!«, bemerke ich spöttisch.
»Kenn ich! Aber wir lassen uns nicht davon stören. Darüber sollten wir den Besuch beim Chinesen nicht versäumen?«, erinnert mich Roland an den Termin.
»Hat er gestern nicht nachmittags gesagt?«
»Ja, aber?«
»Dann haben wir noch genug Zeit. Bleib locker! Was denkst du, was der Alte uns erzählen könnte?«
»Keine Ahnung, aber Jim deutete etwas „von früher“ an.«
»Von viel früher«, korrigiere ich meinen Freund, um fortzufahren: »Vor langer Zeit gab es so etwas wie ein Chinesenviertel in Hamburg. Vielleicht ist das gemeint? Aber wir werden es bald erfahren! Nebenbei: Wann musst du eigentlich wieder zurück aufs Revier?«
»Bereits morgen Abend schon! Außer….«
»Was außer?«
»Würden sich neue sachdienliche Erkenntnisse ergeben!«
»So förmlich?«
»Ich meine ja nur….«
»Oder hast du seit kurzem einen Papagei zuhause, den du füttern musst, Roland?«
»Quatsch! An meiner Situation hat sich nichts geändert. Ich wohne allein!«
»Und ruhig dazu, zu ruhig! Ich könnte dir ja Maria für ein paar Tage vorbeischicken! Haha!«
»Bloß nicht! Zu nervig! Wo ist sie eigentlich?«
»Keine Ahnung! Das weiß man bei ihr eigentlich nie, außer du siehst hier irgendwo eine Traube von Leuten stehen! Lass mich zahlen und uns dann langsam zum Chinamann schlendern.«
Kurz darauf stehen wir auf der Straße und laufen zurück. Auf dem Weg klingelt mein Nokia. Ein Blick verrät: Maria!
»Wo seid ihr?«, fragt sie ungestüm, wie es eben ihre liebenswerte Art ist.
»Auf dem Weg zu unserer Verabredung. Ist aber ein Geheimtreffen!«
»Heißt es: Schwul und pädophil?«
»Lass den Quatsch!«
»Und was ist mit meiner Rechnung, Ex?«
»Bezahlt! Bis später, Schatz! Wir haben jetzt zu tun!«
Wenig später bei Jim.
»Großvater kommt gleich. Setzt euch erst einmal hin und trinkt Tee.«
»Sind wir denn zu früh?«, frage ich höflich nach.
Jim setzt sein unergründliches Gesicht auf und antwortet: »Nein! Aber habe ich euch gestern schon erzählt: „Móu shì zài rén, chéng shì zài tiān (Dinge zu planen, liegt beim Menschen. Dinge zu vollenden, liegt beim Himmel)“. Großvater ist ein prächtiger Mann von über 90 Jahren, da ist Zeit ohne Bedeutung. Folgt mir ins Hinterzimmer!«
Dort erwarten uns drei Frauen, die uns höflich zunicken, als wir den Raum betreten. Vielleicht erwarten sie uns auch nicht? Ihre Gesichtsausdrücke sind jedenfalls unergründlich und für uns nicht zu deuten. Als wir Platz genommen haben, versuche ich sie anzusprechen. Jedoch keine Reaktion erfolgt, so als würden sie mich nicht verstehen oder verstehen wollen. Für uns Europäer ist es eher schwierig, das Alter dieser Menschen einzuschätzen. Ich denke, es beruht auf „kultureller Gegensätzlichkeit“. Während sie für uns zumeist ausdruckslose Kreisgesichter besitzen, sind wir für sie bedeutungslose Langnasen. Die jüngste ist bestimmt bereits fünfzig Jahre und die älteste befindet sich in einem biblischen, falsch, konfuzianischen Alter.
Freundlich wird uns Tee gereicht. So sitzen wir und schauen ein wenig gelangweilt in die stumme Runde. Trotz der Ruhe scheint von den Damen „alles“ wahrgenommen zu werden. Geht der Tee bei uns zuneige, wird sofort nachgeschenkt. Kochend heißer dampfender Tee. Zungenverbrennertee! Roland und ich sitzen schweigend, schließlich wollen wir die herrliche Stille nicht unterbrechen. Keiner von uns traut sich, auf die Uhr zu schauen. Der sechste Tee wird serviert. Langsam aber stetig kriecht der Schatten der Sonne über die Wand. Was Roland denkt, weiß ich nicht. Er sieht teilnahmslos dem eher beschaulichen Treiben zu. Oder schläft er etwa mit geöffneten Augen? Die Wandtapete besitzt ein typisches asiatisches Vogelmotiv, welches mit dezenten goldfarbigen Längsstreifen unterlegt ist. Gerade überlege ich mir, ob wohl zwei oder eher doch drei Streifen eine Sonnenstunde bedeuten, wenn sich wie augenblicklich ihr Schatten darüber quält. Der siebte Becher Tee! Wieder mit einer freundlichen Geste gereicht. So langsam denke ich an Maria und ihre Pennälerblase. Sofort unterdrücke ich die Gedanken, denn aufstehen ist ja unhöflich. Doch: Will man hier unsere europäischen Blasen testen? Der achte Becher Tee! Rolands Gesicht ist noch ausdrucksloser geworden, vermutlich steht ihm der Tee bereits an der Kante der Unterlippe. Da von uns keiner eine Bewegung macht, kann man nicht einmal das Gegluckste des chinesischen Leibgetränks im Magen vernehmen. Bloß nicht bewegen, die Blase! Marias Pennälerblase! Das ist nicht komisch!! Gerade wieder wird Tee nachgefüllt: der Neunte! Gibt es nicht eine weltberühmte Sinfonie von Beethoven mit Text von Schiller? Schon stimme ich an: „Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken…, äh „teetrunken“…“. Der zehnte Becher Tee! Sofort sind Melodie und Text aus dem Kopf. Hat Beethoven auch eine „Zehnte“ komponiert? Nein, ist mir nicht bekannt. Roland neben mir ist langsam rätselhaft bleich geworden. Unterkante Lippe oder bereits darüber hinweg? Bloß jetzt nicht den Mund öffnen, sonst schwappt der Tee hinaus! Jetzt wird’s bei mir langsam eng mit der Blase und ich fange an, leicht unruhig zu werden. Der elfte Becher Tee wird gerade sehr freundlich mit einem aufschlussreichen Grinsen serviert. Ist das echt gemeint oder doch ein Auslachen, weil noch nie zwei Leute so viel Tee, ohne pinkeln zu müssen, getrunken haben? Selbstverständlich grinsen wir freundlich zurück, schließlich wollen wir uns keiner Blöße hingeben. Ein Becher hat bei mir noch Platz, dann platze ich oder besser meine Blase. Der zwölfte Becher………….. und es geht bedächtig die Tür auf und ein sehr alter Herr, der sich aufrecht zu gehen müht, betritt den Raum. Endlich! Der alte Herr nimmt uns gegenüber Platz und lächelt freundlich nach allen Seiten. Sofort wird Tee nachgereicht. Der dreizehnte! Ich weiß, Mozart hat noch mehr komponiert als Beethoven! Das kann ja heiter werden. Hatte der keine Blase? Naja, seine Werke hat er auch nicht, trotz seines Genies, in wenigen Teestunden geschaffen! Wäre ich Amerikaner würde ich jetzt unter Triskaidekaphobie leiden. So bettel ich nicht um den vierzehnten Becher Tee.
»Ääääääääääääääääääääääääääääääääääääääääääää«, mit diesem brummähnlichen langgezogenen Laut fängt Großvater an:
»Äääääääääääääääääääääääääääääääää…… als Kind bin ich mit meinen Eltern nach Hamburg gekommen. Es kommt mir vor, als wär‘s wie gestern.
( wie sagte Jim vorhin: „Zeit sei ohne Bedeutung!“. Liegen ja auch erst circa neunzig Jahre seit seiner Ankunft zurück. Und auch ist eigentlich nichts Bedeutendes seither passiert: Weltkriege, Atombombe, Düsenjets, Weltraumfahrt, Flug zum Mond, Deutschlands Teilung und Wiedervereinigung, Deutschlands vierter Fußballweltmeistertitel…. und eigentlich könnte die Liste nahezu beängstigend fortgesetzt werden; wie gesagt: fast nichts passiert oder doch eben eher Betrachtungsweise?).
Roland und ich nicken ihm freundlich zu. Roland ist noch blasser geworden. Der braucht bestimmt noch einen Becher Tee, damit er wieder an Farbe gewinnt, behaupte ich still! Da ist er ja schon: der vierzehnte! Bin ich hier beim Kaiser eingeladen, wo niemand vor ihm die Tafel verlassen darf? Ich springe auf und spurte aus dem Zimmer zur Toilette. Roland folgt mir augenblicklich. Auf dem Flur treffen wir Jim. Ich rufe ihm noch zu: »Die Blase platzt gleich! Entschuldige uns beim Großvater! Wir sind sofort wieder da! Vierzehn Becher Tee quälen raus!«
Auf dem Rückweg von der Toilette treffen wir wieder auf Jim.
»Hast du uns entschuldigt?«
»Ja! Ich habe Großvater gesagt, Europäer sind sehr komische Menschen. Es kommt häufiger vor, dass sie manchmal ohne Grund aus dem Raum rennen. Ist nicht unhöflich gemeint!«
»Blödmann! Ohne Grund?«, rufe ich ihm kopfschüttelnd nach.
Nachdem wir wieder im Hinterzimmer Platz genommen haben, kichern die vier zusammen. Der Alte spricht, ohne eine Miene zu verziehen: »Chūmén wènlù, rùxiāng wèn sú (Gehst du zur Tür hinaus, frag nach dem Weg; kommst du in ein Dorf, frage nach den Sitten!)«, dann fährt er fast unbeweglich fort, während die Frauen hinter vorgehaltener Hand weiterkichern.
»Ääääääääääääääääääääääääääääääääääääääääääää…. meine Eltern sind unserem Onkel gefolgt. Alle Chinesen haben sich damals in St. Pauli angesiedelt wie eine große Familie. Keiner von uns beherrschte die deutsche Sprache. Die brauchte auch keiner. Verständigung heißt Handel und Gaststätte. Wir sind fleißige Menschen. Seht euch meine Familie an. Alle fleißig!«, seine Hand schwenkt einmal durch den Raum. Roland und ich nicken ihm einsichtsvoll zu, was auch die Frauen zu einem Lächeln animiert und möglicherweise sofort als Aufforderung gedeutet wird, denn sofort gibt es wieder kochenden Tee. Abermals nicken wir lächelnd als „Dankeschön“ in die Runde. Die 15. Runde!
»Nach ein paar Jahren waren wir einige tausende Landsleute. Das hat natürlich auch zu Streit geführt. Menschen kommen und gehen, so ist das im Leben, aber Verträge bestehen für ewig!« Dann spricht er mindestens eine weitere Stunde weiter, genehmigt sich immer wieder lange Pausen, weil das Sprechen auch für diesen zähen, knorrigen und kiefernartigen Mann nach einiger Zeit sehr anstrengend wird. Er spricht von der guten alten Zeit und wie sich vieles verändert hat, wie glücklich sie sich hier fühlen, wie stolz er auf seine Kinder und Enkel ist und und und… ( natürlich alles sehr zäh und ohne Zeit! ).
Für Roland und mich wird selbstverständlich noch einmal Tee zum Abschied serviert, nachdem Jim von seinem Großvater zuvor liebevoll in den Arm genommen worden ist und alle sehr herzlich gelächelt haben. Bald schon stehen wir auf der Straße und gehen wohlgefüllt und Teeglucksend nachhause.
»Weißt du«, so fängt Roland zu mir auf dem Rückweg zu sprechen an, »eigentlich habe ich nichts von dem verstanden, was der Alte gesagt oder besser gemeint hat. Wir sitzen da stundenlang, weil wir uns etwas Wichtiges anhören sollen. Und was bekommen wir zu hören? Geschichten über schöne Reisfelder, sich wunderbar schlängelnde Wege und Straßen, über das herrlich angenehme Wetter, wie toll die Familie ist und so weiter und so fort.«
»Ist doch schön!«, antworte ich ihm. »Ich wäre auch gern stolz auf eine Familie und Kinder! Was hast du dagegen einzuwenden?«
»Gar nichts! Aber was bringt mir das, wenn ich einen Mord aufklären soll?«
»Vielleicht eine Menge!«, behaupte ich diesmal grinsend.
»Wieso? Versteh ich nicht?«
»Du weißt, ich bin seit über zwanzig Jahren mit Japanern befreundet. Ja, ich höre deinen Einwand, Japaner sind keine Chinesen. Die Freunde von mir betonen zwar auch immer, dass sie die Chinesen nicht verstehen, stimmt aber so nicht. Beide Nationen sind sehr alten Traditionen verhaftet, das verbindet sie, trotz der grausamen Kriege, die sie gegeneinander geführt haben. Sprachlich verstehen sie sich nicht! Das ist richtig. Und dennoch habe ich sie, ohne ihre Sprache zu sprechen, gefühlsmäßig verstehen gelernt. Und ich sage dir: Der Alte hat etwas „durch die Blume“ gesagt, was du so gar nicht wahrgenommen hast. Ich aber!«, und ich grinse stolz ihn an.
»Und was behauptest du, hat er soooo Wichtiges gesagt?«
»Das verrate ich dir jetzt noch nicht. Meine Sinne sind für asiatische Sprechart geschärft. Ich sage dir nur eines. Ruf deine Dienststelle an und verlängere deinen Aufenthalt um einige Tage hier bei mir!«
»Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Bist du zu einem japanischen Chinesen mutiert?«
»Nein, nein! Aber wir Europäer können eine Menge von diesen Menschen und ihrer Kultur lernen. Wir denken hier in Deutschland zeitlich viel zu kurz. Glaub mir! Und noch etwas: In spätestens zwei Tagen wirst du verstehen! Frage: Habt ihr bei dem Chinamann außer der gültigen ICE-Karte noch etwas gefunden? Papiere oder so was?«
»Persönliche Gegenstände wie Uhr, etwas Schmuck, Kamera, ein paar Euro,
chinesisches Gekritzel. Alles Gegenstände ohne großen Wert!«
»Dann weiß ich ja Bescheid: Alles ohne Wert! Nur eine Bemerkung: Wert ist immer relativ! Was für dich ohne Wert ist, kann für einen anderen Menschen hohen Wert besitzen!«
»Konfuzius?«
»Nein, ein echter Finn!«
Mittlerweile stehen wir vor meiner Haustür. Es ist früher Abend, sonnig und sehr hell. Als ich meine Tür aufschließe und die ersten Schritte gehe, drehe ich mich zu Roland um, lege den Finger auf den Mund und flüstere ihm zu: »Wir sind nicht allein! Pssst!«
Rolands Hand fährt automatisch in die Jackentasche, doch ich winke sofort ab. Auf leisen Sohlen schleichen wir zu meinem Schlafzimmer. Fast lautlos öffne ich die Tür. Roland hält noch immer die Hand an der Jacke. Zusammengefaltet wie ein Fötus liegt Candy bei mir im Bett und sendet ruhige, entspannte und natürlich ungefährliche Atemzüge aus.
»Ist sie nicht süß?«, frage ich Roland, schließe die Tür und ziehe ihn geräuschlos zurück.
»Wie kommt sie denn hier rein?«
»Mit ihrem Hausschlüssel!«
»Heute ist wohl ein gebrauchter Tag für mich!«, kopfschüttelnd geht er aufs Klo, denn die letzten Becher Tee drängen bereits wieder. Als er wiederkommt, sage ich zu ihm: »Nicht alles verhält sich so, wie man meint. Die Sinne können trügen!«
»Konfuzius?«
»Nein, wieder ein echter Finn. Ruf deine Dienststelle an. Danach erzähl ich dir eine Geschichte. Und später können wir zusammen essen gehen, zu dritt! Nach dem vielen Tee brauche ich etwas Festes im Magen. Wir gehen heute Japanisch essen und nicht Chinesisch! Haha! Kannst schon mal mit diesen Stäbchen üben!«, und ich deute auf die zwei kunstvoll gestalteten Stäbchen, die auf dem Tisch platziert vor ihm liegen.
»Übrigens Candy ist achtzehn Jahre alt.«
»Vorhin war sie noch sechszehn!«
»Ist sie ja auch, aber für deine Kollegen von der Sitte ist sie achtzehn! Heute heißt das bei euch viel feiner: Milieukriminalität und ist eine Abteilung des Landeskriminalamts (LKA). Ich hab ihr ein paar Papiere besorgt, sonst würde man sie bei jeder Kontrolle von der Straße fischen!«
»Hä! Weißt du, wie man das nennt?«
»Urkundenfälschung! Möchtest du den Paragraphen dazu wissen?«
»Kenne den! Sag mal, seid ihr hier alle durchgeknallt?«
»Ne, ne, Roland! So ist das pralle Leben! Aber lass mich erklären. Also«, diesmal fange ich so an, »es liegt ungefähr zwei Jahre zurück, da kam eine gute Bekannte völlig aufgelöst zu mir.
„Finn, du musst mir helfen!“, sagte sie zu mir und sah völlig verheult und fertig aus.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich zurück.
„Meine kleine Schwester ist verschwunden und ich habe riesige Angst um sie. Kannst du dir unsere Eltern vorstellen? Die sind so fertig. Ich denke, die sterben bald! Ich glaube, sie ist hier in St. Georg in die Drogenszene abgerutscht. Ich spüre es!“
In etwa so verlief sinngemäß dieser Notruf an mich.« Und weiter: »Damals hatte ich bereits den Dienst quittiert, aber meine Verbindungen standen noch genauso wie heute. Also habe ich ein paar Ex-Kollegen angerufen und nachgefragt und ihnen ein Bild von der Kleinen gezeigt. Ein paar Tage später rief mich ein Ex-Kollege zurück und sagte: „Ich glaube, ich hab da was für dich!“
„Die Kleine?“
„Wen sonst“, antwortete er leidlich mitfühlend. Ich zu ihm: „Ich komme sofort vorbei!“. Also schnappte ich mir meine Bekannte und wir fuhren zu der Dienststelle. Als die beiden Schwestern sich sahen, ging das herrlichste Gezeter los. Die schrien sich an, sowas hab ich vorher noch nicht gehört. Das konntest du hundert Meter weiter noch auf der Straße hören! Wir mussten sie zu dritt voneinander trennen! Haha!«
»Und das fandest du lustig?«, spricht eine völlig verschlafene Stimme von hinten.
»Candy! Haben wir dich geweckt?«
»Gääähnnnnn!«
»Entschuldige bitte, war nicht unsere Absicht!«, und liebevoll schaue ich auf die Kleine.
»Bin ja jetzt wach!«, dann kommt sie zu Roland und mir und gibt jedem jeweils ein Küsschen auf die Wange.
»Zieh dich um! Wir gehen bald japanisch essen!«
Roland meldet sich irritiert zu Wort. »Ist wirklich nicht mein Tag, heute!«
»So ging es mir damals auch! Völlig irritiert und hilflos stand ich vor der Situation! Das kannst du mir glauben!«
»Aber«, so fahre ich fort, »es kam noch schlimmer. Ich will mich kurz fassen. Candy war an den Armen und Beinen zerstochen von den vielen Spritzen. Grauenvoll anzusehen! Ihre Schwester ist fast umgekippt, als sie das alles realisierte. Dann wurde sie auf Entzug gesetzt und….. Aber nun kommt’s. Steht doch eines Abends so ein Hartgeld-Lude vor meinem Haus und quatscht mich wegen Geld voll. Ich kenne diese Typen! Die sind zwar gefährlich, aber man kann sich durchaus arrangieren. Ich war damals noch gut im Training! Ich hab dem Typen eine gedrückt. Sowas hatte er nicht erwartet. Der lag flach vor mir. Meinen Fuß stellte ich in seinen Nacken und drückte seine Fresse in den Dreck! Dann hielt ich ihm meine „Marke“ unter die Augen und fragte ihn, ob er noch etwas von mir wolle? Das Signal war jedenfalls bei ihm angekommen. Ich hatte ihm wohl für einen Augenblick lichte Momente in seinen dämlichen Schädel gerüttelt.«
»Finn macht sich wieder zum Superhelden!«, kommt es aus der Ecke. Halbnackt schlendert Candy an uns vorbei zum Bad.
»Dann erzähl doch selber, wie es war, wenn du es besser weißt!«
»Ist schon Ok so, Papa!«, und ein freches Grinsen huscht über ihr Gesicht.
»Außerdem zieh dir etwas an! Wir haben einen Gast im Haus!«
»Meinst du etwa, ich kenne euch Kerle nicht? Ihr seid doch immer geil!«, ihr Grinsen wird noch frecher, doch zu schnell ist sie vorbeigehuscht und knallt die Badezimmertür hinter sich zu. Irritiert schüttelt Roland den Kopf.
»Ist wirklich heute nicht mein Tag?«
»Ist das jetzt eine Weisheit von dir oder Frankfurter Philosophieschule?«, frage ich bei meinem Freund nach. Als Antwort ernte ich ein Kopfschütteln.
»Also weiter«, sage ich, »so wird man den Typen nicht los, das wusste ich. Der macht dann ein wenig später „Hausbesuch mit Freunden“ bei einem und dann kann’s wirklich unlustig werden. Also hab ich die Sache mit Kohle geregelt. Ihr Typ wollte eine sechsstellige Summe für sie haben: „weil das Huhn noch so jung sei“ und „es könne noch viele Eier legen“, sagte er damals zu mir.
„Und du im Knast um deine Eier betteln“, erwiderte ich ihm unbeeindruckt, „Und meine Kollegen können sich dort sehr speziell um dich kümmern!“
Also haben wir uns auf eine fünfstellige Summe geeinigt und schon war der Vertrag geschlossen. Da Candy irgendwie abhängig von ihm war, diese Typen haben es echt drauf, ist sie zwischenzeitlich immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Entwöhnung dauert eben ein wenig länger. Aber: durch den Vertrag hatte ich Candy „adoptiert“. Heute steht sie noch ein bisschen für ihn, damit er nicht zum Sozialamt muss, aber „Knallen“ darf sie keiner!«
»Keiner?«, vergewissert sich Roland.
»Keiner!«, wiederhole ich noch einmal nachdrücklich. »Und in ein paar Wochen ist sie frei!«
»Und dann schickst du mich auf die Schule, Papa!«, unterbricht die Kleine frech.
»Richtig! Dann gehst du auf die Abendschule hier und holst einen Abschluss nach! Und fertig, Tochter! So sind Väter eben! Sie bestimmen!«
»Ist ja gut! Reg dich nicht so auf und denk an dein Herz. Bist ja schließlich auch nicht mehr der Jüngste!«
»Darf ich vorstellen: Kyra! Das bedeutet so viel wie: Herrin, Sonne oder auch Göttliche! Wobei Freche wohl treffender wäre!«, sage zu meinem Freund Roland.
Mit einem Knicks setzt sie sich zu uns. Jetzt sieht sie wirklich bezaubernd jugendlich und frisch aus. Sie hat ihre falschen Haare herausgenommen, die überzogene Schminke abgewaschen und sich in ein weißes mit Blumen- und Schmetterlingsmustern bedrucktes und viel zu kurzes Kleid eingewickelt. Die Metamorphose einer Gewerberaupe ist zu einem schönen Schmetterling erwacht! Das flachliegende Wesen hat sich aufgerappelt und mit ein paar leichten Armbewegungen in die reale Luft aufgeschwungen!
»Ich bin fertig! Wir können zum Japaner gehen!«, drängelt sie mit ihrem kindlich verführerischen Lächeln.
»Auf zu Mazumi?«
»Jaaaaaaaaaaa!«
»Weißt du, Kyra, unser Freund braucht Nachhilfe in „asiatischer Ess-Kultur!“ Haha! Ich baue auf dich, ihn zu unterrichten. Lektion eins: Stäbchen halten! Lektion zwei: Mit Stäbchen essen! Darüber darf es nicht zu spät werden, denn du musst ins Bett. Du bist ja erst sechszehn!«
»Bald siebzehn!«
Dass der Abend länger als erwartet wird, muss ich vermutlich nicht speziell erwähnen. Freitags ist dort bei Mazumi immer die Hölle los. Einen Platz an der Theke zu ergattern, bedeutet mindestens einen Fünfer im Lotto zu angeln. Dass die Kleine, ich meine Kyra, der süße Schmetterling, Mittelpunkt ist, spricht sowieso für sich. Immer wenn wir dort zusammen sind, beglückwünschen mich viele Bekannte für diese so herzliche und wohlerzogene Tochter und ich sonne mich im Mitleid als alleinerziehender Vater. Manchmal denke ich: Wenn ihr wüsstet, welch Widerspruch da vor oder zwischen euch sitzt! Wenn ihr wüsstet, wie spießerhaft und heuchlerisch ihr reagieren würdet! Wüsstet ihr nur? Das kleine Schulmädchen! So weit so gut! Roland mit seiner Stäbchenlehrerin hält sich ganz wacker. Zwar hüpft das eine oder andere Sushi wie wild geworden im Raum umher, aber Sake regelt dieses kleine Missgeschick sofort.
Kampei!