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Paradies 3000

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Am zweihundertsiebenundzwanzigsten Tag des Jahres 3000 löste sich aus bisher ungeklärten Gründen eine Gondel der städtischen Schwebebahn aus der magnetischen Verankerung und stürzte hundert Meter tief ab. Glücklicherweise waren die Kabinen unbesetzt, sodass keine Toten zu beklagen sind. Lediglich zwei Passanten wurden leicht verletzt.

Ich habe meine Abendration nicht aufgegessen. Ich war beim Fernsehen unaufmerksam. Und was noch schlimmer ist: Ich habe keine Meldung gemacht. Die Essensreste warf ich in den Müllschlucker. Bei der Diskussion machte ich nur ein paar allgemeine Bemerkungen. Niemand ist das aufgefallen.

Das war ein böser Tag. Alles kam so plötzlich. Ich muss immer daran denken. »Frag nicht so viel«, habe ich selbst oft genug zu Sigi gesagt. Und nun möchte ich selbst Fragen stellen. Aber lieber nicht – die Psychos können so hartnäckig sein.

Noch zu Mittag, nach den Auflockerungsübungen, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass sich die Welt so rasch verändern kann. Die Stadt sah aus wie immer – saubere Straßen, grünes Kunststoffgras, fröhliche Nobüs auf den Rollbahnen, und darüber, kaum durch Dunst getrübt, der gelbe Schein unserer Regionalsonne. Gedämpfte Musik aus den Lautsprechern, das Summen der Luftreiniger.

Ich stand mit Sigi auf dem Platz vor der Datenbank, und wir schauten den wechselnden Bildern des letzten Jagdspiels zu. Sigi ist nett. Seit einigen Zehnteljahren bin ich mit ihm liiert. Wir standen eng beisammen. Ich hielt ihn bei der Hand.

Und dann geschah es. Etwas rauschte, und keine zwanzig Meter von uns entfernt schlug die Gondel auf. Sie zerschellte, Trümmer flogen auseinander, einige ganz nahe an uns vorbei.

Glücklicherweise war der Platz ziemlich leer. Nur ein Nobü war noch näher als wir an der Aufschlagstelle. Als es vorbei war, sah ich ihn stehen – er stand seltsam gekrümmt, seine Augen waren weit offen, er blickte erstaunt … Er presste eine Hand an die Hüfte, und dann sah ich etwas Rotes am Stoff seines Hemds. Es musste Blut sein.

Innerhalb einer Minute war der Platz voller Nobüs. Alle drängten sich um den Verletzten herum, starrten ihn an, entgeistert, schockiert. Der entsetzliche rote Fleck wurde langsam größer. Der Verletzte versuchte, sich davonzustehlen, aber die Menge bildete eine unüberwindliche Mauer.

Das Zischen eines Hovercrafts. Die Leute wichen zurück. Der blutende Mann stand in der Mitte. Das Boot landete, Polies sprangen heraus. Sie errichteten einen Paravent, der die Sicht versperrte. Dahinter geschäftiges Treiben. Dann wurden die Schirme zusammengeklappt. Man sah nur noch einige Polies, die die Straße mit einem Desinfektionsmittel besprühten.

Natürlich brachten sie ihn fort. Das Schwebeboot erhob sich in die Luft. Die Menge zerstreute sich. Nur die Trümmer der Gondel blieben als Zeichen des Unglücks. Aber schon kamen Robbies heran, um aufzuräumen.

»Wird er abberufen?«, fragte ich. »Er kann nicht viel älter als zwanzig sein.« Dann erst blickte ich Sigi ins Gesicht und bemerkte den Ausdruck unsagbaren Schreckens.

»Was ist mit dir?«, fragte ich.

»Mich hat es erwischt«, antwortete er. Er hob eine Hand, und ich sah einen klaffenden Schnitt am Daumenansatz. Ein Splitter hatte ihn getroffen. Zuerst hatte er es gar nicht gemerkt. Mir wurde schlecht.

Die Kommission setzte sich aus Vertretern mehrerer Dezernate zusammen – aus Ärzten und Psychologen, Lehrern und Pädagogen, Pfarrern und Ordensschwestern, Theater- und Fernsehleuten. Den meisten von ihnen war die Atmosphäre eines Labors fremd, und sie standen ein wenig unsicher zwischen den Aufbauten aus elektronischen Schaltungen und Glasbehältern herum, vermieden es ängstlich, auf die wirr am Boden liegenden Leitungen und Schläuche zu treten.

Der Leiter des Psychotechnikcenters, Roger Weiss, führte sie an eine Reihe von Kojen heran – abgetrennt durch Kunststoffwände, die Einsicht von vorne frei. In jeder Koje stand eine Liege, und auf jeder Liege sah man eine reglose Gestalt. An der Hinterwand waren Maschinerien aufgebaut, durch Leitungen mit Helmen verbunden, die über die Köpfe der Liegenden gestülpt waren.

»Unsere Versuchspersonen stehen direkt vor der Abberufung«, erklärte der Wissenschaftler, und er fügte, mit leicht spöttischem Blick an den Pater gewandt, hinzu: »Sie befinden sich jenseits von Gut und Böse.« Auf ein Zeichen hin legte sein Assistent einen Hebel um. In die Personen kam Leben, Arme und Beine zuckten, die Lippen bewegten sich, die zuvor starren Gesichter wurden lebendig, die Mienen drückten alles Mögliche aus: Freude, Lust, Seligkeit, bei einigen auch Furcht und Schrecken. »Diese Erfindung, meine Herren, kann unsere Kommunikationsmittel auf eine völlig neue Basis stellen. Es ist eine Anlage zum Einspielen von Informationen ins Bewusstsein. Kein Umweg mehr über Licht oder Schall – direkte Kommunikation. Ich brauche nichts mehr zu sagen – die Bedeutung können Sie selbst ermessen.«

Der Leiter des Dezernats für Bildungswesen trat vor. »Kann man auch Lehrinformation übertragen – sodass sie im Gedächtnis haftet?«

Der Psychotechniker nickte. »Das ist möglich.«

»Und wie steht es mit der Übermittlung von Unterhaltungsprogrammen?«, fragte der Konsulent der Fernsehanstalten.

»Sie brauchen keine Bildschirme mehr. Die Programme werden ohne Umweg ins Gehirn gespielt. Ja – noch mehr: Man kann die Sendung so gestalten, dass der Adressat zum Mitspieler wird, dass er das, was geschieht, selbst erlebt und erleidet.«

Allmählich erholten sich die Männer von ihrer Verblüffung, das Spiel der Fragen und Antworten wurde lebhafter. Es war der Pater, der sich als Erster für einen Test zur Verfügung stellte. Und was er nie für möglich gehalten hatte, geschah: Er war Jesse James, Tarzan, Frankenstein, Kapitän Nemo …

»Darf ich die Herren zum Essen bitten?«, fragte der Gastgeber. »Danach können wir uns über die Auswertung unterhalten.«

Lil hat sich großartig benommen. Bisher hat sie mich noch nicht gemeldet. Ich werde ihr meinen Taschenrekorder schenken, ich weiß, dass sie ihn gern haben möchte. Vielleicht schweigt sie auch weiterhin. Das ist das Wichtigste.

Die Wunde schmerzt mich kaum, aber sie fängt immer wieder zu bluten an. Ich habe ein Papiertaschentuch zerknüllt und halte es in der Faust. Beim Unterricht habe ich mich zu konzentrieren versucht … ein Test – das wäre das letzte, was ich brauche. Aber die Gymnastik macht mir Sorgen. Heute kann ich auf keinen Fall mitmachen. Irgendwie muss ich mich drücken. Vielleicht verbessert sich mein Zustand bis morgen – es gibt Gerüchte, wonach Verletzungen von selbst abheilen können. Doch Definitives weiß keiner. Niemand, der sich verletzt hat und abtransportiert wurde, ist zurückgekehrt. Ich glaube, sie alle werden abberufen. Wenn ich bis morgen durchhalte, ist schon viel gewonnen. Morgen haben wir Handarbeit, und ich komme an den Kitt heran. Es müsste doch möglich sein, den Schnitt zu verkleben. Hoffentlich dreht Lil nicht durch. Heute Abend haben wir unsere Gemeinschaftsstunde. Da ist sie meist sehr aktiv. Das mochte ich sonst immer gern, aber diesmal wäre es schlimm. Vielleicht lässt sie mich ausruhen, ich bin schrecklich müde. Ich werde sie darum bitten.

Ich bin noch so jung. Ich möchte noch nicht abberufen werden.

Sigi ist langweilig. Ich weiß nicht, was er hat. Soll er sich doch melden! Sie sagen, es wäre nicht schlimm, abberufen zu werden. Man fühlt nichts, man spürt nichts. Lange Zeit vergeht, aber man merkt nichts davon. Tausend Jahre wie ein Tag, eine Stunde. Es ist ein Warten auf etwas Schönes. Es ist nicht einmal sicher, ob man wieder so lebt wie jetzt, niemand weiß genau, wie es ist – nur dass es wunderbar ist, das steht fest …

Aber Sigi hat Angst. Er hat seine Wunde verklebt und behauptet, sie schmerzt ihn nicht mehr. Aber er spricht immer davon! Er denkt nach, er grübelt.

Freilich, ich möchte auch noch nicht abberufen werden. Ich bin neunzehn und habe noch elf Jahre Zeit. Ich bin ein guter Nobü und habe noch keine Fehlerpunkte. Ich habe die besten Chancen, dreißig Jahre zu werden. Die darf ich nicht verspielen. Ob ich Sigi nicht doch melde?

Eigentlich weiß ich nicht, warum ich es nicht tue. Einerseits bin ich wirklich verärgert. Andererseits … Ich hatte schon viele Partner, und an ihm ist nichts Besonderes. Oder doch? Ich empfinde irgendetwas für ihn, was ich noch nie gespürt habe, aber es ist mir erst jetzt bewusst geworden. Oder bilde ich mir das nur ein? Liegt es daran, dass mit Sigi jetzt einfach etwas geschehen ist, was noch kein anderer erlebt hat? Das macht ihn schwächer als die anderen, aber es bringt mich ihm auch näher. Heute, in unserer freien Stunde, sind wir mit der Schwebebahn bis an die Grenze gefahren. Sigi wollte nicht spazieren gehen – er ist matt, seine Wangen sind rot, und seine Augen trüb. Er saß in der Gondel, in sich zusammengesunken, und auf einmal hatte ich ein komisches Gefühl, als müsste ich ihn beschützen und betreuen – so wie ich das früher einmal mit Puppen gemacht habe, seinerzeit im Kinderland.

An der Endhaltestelle stiegen wir aus und sahen durch die Glaswand hinüber zu den Kühlhallen. Riesige Blöcke sind es, und sie erstrecken sich weit in die Ferne – einer hinter dem andern. Minus hundertvierzig Grad soll die Temperatur im Innern betragen, und etwas davon merkt man selbst auf diese Entfernung. Es liegt eine Art Nebel darüber, und um die Konturen herum flimmert die Luft. Röhren aus Mattglas führen zu den Gebäuden, in gleichmäßigen Abständen bewegen sich darin die dunklen Zylinder der Tunnelbahn.

»Wie lange bleiben sie dort?«, fragte Sigi. »Holt man sie wieder heraus? Glaubst du, dass man sie wirklich wieder herausholt?« Ich wusste gleich, wen er meinte: die Abberufenen. Bisher hatte ich nie an dem gezweifelt, was ich im Unterricht gelernt hatte, und ich hatte auch keinen Grund, daran zu zweifeln. Bisher hat alles gestimmt – der Stundenplan für den Unterricht, die angesagte Speisenfolge, das Programm des Fernsehens, der Fahrplan der Bahn. Bisher hat alles funktioniert – die Laufbänder, die Heizung, die Klimaanlage, die Lufterneuerer, die Atomsonnen. Man sagt etwas, und es geschieht. Man schützt uns, und wir sind in Sicherheit. Wir sind eine Gemeinschaft tüchtiger Nobüs, und wir sind glücklich.

In der entspannten Atmosphäre des Mittagessens waren sie aus sich herausgegangen, hatten sich fantastische Möglichkeiten ausgemalt und sich über skurrile Utopien amüsiert. Jetzt, als die Verhandlung begann, waren sie mit einem Schlag wieder sachlich, sich ihrer Verantwortung bewusst.

Roger Weiss stand auf. »Meine Herren, Sie haben sich davon überzeugt, dass unsere Anlagen funktionieren. Die Erfindung ist produktionsreif – sie steht Ihnen zur Verfügung. Es gibt viele Möglichkeiten des Einsatzes; bitte, entscheiden Sie sich!« Er setzte sich und angelte sich ein Glas. Er sah gleichgültig aus, als ginge ihn das Ganze nichts mehr an.

K. L. Mouritzen, der Leiter der Kommission, ergriff das Wort. »Was Sie sagen, leuchtet mir ein«, sagte er. »Trotzdem ist zu fragen, ob der Einsatz einer solchen Methode mit unseren Grundsätzen übereinstimmt.« Er nickte dem neben ihm sitzenden Staatssekretär zu. Dieser hob den Blick nicht von seinen Notizen: »Nur zur Erinnerung: Das Gesetz der Medizin verlangt, menschliches Leben unter allen Umständen zu erhalten. Das Gesetz der Religion ist schwieriger zu umschreiben – es ist in den Regeln der Glaubenslehre zusammengefasst. Es bedingt einige unserer wesentlichen Konzeptionen. Da es die Geburtenbeschränkung untersagt, müssen wir unsere materiellen und ideellen Mittel auf immer mehr Menschen aufteilen. Die Konsequenz daraus ist das Prinzip der Reduktion: Reduktion der Nahrung, des Wohnraums, der Lebensjahre, des Lernstoffs … Im Moment sind wir bei drei Quadratmeter Bodenfläche pro Person angelangt. Die aktive Lebenszeit liegt bei dreißig Jahren. Da wir Leben unter allen Umständen erhalten, werden Normalbürger über dreißig eingefroren …«

»… in der Hoffnung auf bessere Zeiten«, warf M. Jurubi vom Unterhaltungsdezernat süffisant ein.

»Es ist nicht unsere Aufgabe zu hoffen«, sagte der Staatssekretär, »sondern Leben zu erhalten. Und das geschieht …« Er hatte den Faden verloren und blätterte nervös in seinem Notizbuch.

»Genug!«, sagte Mouritzen. »Die Frage ist, ob sich die Direkteinspielung von Information mit unseren Grundsätzen verträgt. Bitte, Doktor Shi-Yin!«

Der bekannte Arzt schüttelte den Kopf. »Es liegt ein Gutachten vor. Keine gesundheitlichen Schäden zu befürchten.«

Pater Olfhus lächelte entschuldigend: »Was uns interessiert, ist die Art der übermittelten Information. Wenn keine ethischen oder moralischen Werte …«

Mouritzen unterbrach ihn. »Das lässt sich kontrollieren. Wenn sonst keine Bedenken bestehen, so wäre zweitens zu prüfen, wer als Interessent infrage kommt.« Er blickte Jurubi an.

»Neuen Methoden gegenüber sind wir stets aufgeschlossen. Fernsehprogramme direkt ins Bewusstsein senden … warum nicht? Damit bieten sich ganz neue Gestaltungsmittel an: gezielte Auslösung von Emotionen, gesteuerte Enthemmung …«

R. Papoussot, Dezernat Unterricht, nutzte ein Stocken in Jurubis Ausführungen aus: »Wozu Enthemmung? Viel wichtiger sind die Vorteile für Unterricht und Erziehung. Mit dem neuen Mittel gelänge uns die Übertragung des Lehrstoffes weitaus rascher als bisher. Wir könnten die Lernzeiten weiter reduzieren.«

Delgado, der Sozialstratege, schüttelte den Kopf. »Haben Sie die Kosten der Umstellung berechnet? Wir brauchen Millionen neuer Anlagen, die alten müssten verschrottet werden. Bedenken Sie weiter die sozialen Folgen, die eine solche Umstellung nach sich ziehen würde – alle Organisations- und Zeitpläne wären über den Haufen geworfen. Wir hätten mehr Freizeit, und Freizeit schafft Unruhe. Wir können uns keine Unruhe leisten.«

»Das sind zwei gewichtige Einwände«, sagte Mouritzen. »Zweifellos sind die Möglichkeiten, die die neue Methode bietet, faszinierend. Aber sie ist ihrer Zeit voraus. Vielleicht später … Ich glaube, vorläufig müssen wir auf den Einsatz verzichten. Ich danke Ihnen.«

Was soll ich tun? Während unserer Gemeinschaftsstunde lag Sigi auf der Couch und bewegte sich kaum. Er spricht selbst davon, sich zu melden, aber jetzt bin ich es, die ihm abrät. Jetzt, wo er mir eigentlich mehr Ärger macht als irgendjemand je zuvor, kann ich mir nicht mehr vorstellen, ihn zu verlieren. Mit einem Papiertaschentuch trockne ich seine Stirn, auf der sich immer wieder Schweiß ansammelt.

Unter dem Klebeverband hat sich die Wunde entzündet. Sie blutet nicht mehr, aber die Hand ist dick geschwollen. Sie muss ihm höllische Schmerzen bereiten. Ich habe fünf Dosen StimuCola in unsere Kabine geschmuggelt – aber was nützt das schon? Ich kann ihm nicht helfen.

Er hat mich an sich gezogen, wir liegen still beieinander. Seltsamerweise berührt mich das mehr als alles andere, was wir sonst gemacht haben.

Dabei arbeiten meine Gedanken: Soll ich ihn irgendwo verstecken? Gibt es jemand, der mir helfen kann? Doch gerade die, die helfen könnten, die Medis und die Psychos … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es ist, als stünden wir plötzlich auf der anderen Seite einer Mauer.

Sigi scheint ruhiger zu werden. Er schmiegt sich an mich. Ich liege ganz ruhig. Ich möchte weinen.

Die Gäste hatten sich verabschiedet und einen Saal voll schlechter Luft, leerer Gläser und zerknäulter Servietten zurückgelassen. Durch U-Bahn-Schächte und Tunnelrohre waren sie längst unterwegs zu den Wohnkuppeln ihrer Distrikte. Nur einer war zurückgeblieben – Pater Olfhus. Er und Roger Weiss waren alte Freunde – sie hatten gemeinsam studiert, und selbst ihre verschiedenen Berufe hatten sie nicht getrennt.

Über eine Wendeltreppe stiegen sie hinauf in die höchste Etage – einen Dachgarten von erlesener Pracht. Hier – unmittelbar unter dem Kuppeldach – gab es noch natürliches Licht, hier gediehen noch Agaven, lebende Steine, Ananasgewächse. Die Aussicht reichte weit über das Land – eine Ebene mit unzähligen Sammelbecken für Regenwasser, in denen Rotalgen schwammen.

»Sie haben dir deine Erfindung nicht abgenommen«, bemerkte Pater Olfhus. Sie standen an der Brüstung und blickten in den Dunst, der den Horizont verbarg.

»Ich habe auch nicht damit gerechnet«, antwortete Weiss. »Es war eine Formsache – sonst nichts.«

»Du hast von vornherein an uns gedacht«, stellte der Pater fest, »an uns – an die Kirche.«

»Ja«, bestätigte Weiss. Sie schwiegen eine Weile. Das Kunstglas der Kuppel ächzte im Ansturm des Winds.

»Warum gebt ihr es nicht auf?«, fragte Weiss. »Das Prinzip der Reduktion … wie lange soll das noch weitergehen? Zu wenig Nahrung, zu wenig Ärzte. Normalbürger über sechzehn nicht mehr behandlungswürdig. Das Erbgut längst verdorben – Allergien, Hämophilie, Degeneration des Immunsystems … weil ihr die Kontrolle untersagt – die der Geburten und der Gene.«

»Wir wollen die Freiheit erhalten«, sagte Pater Olfhus. »Nennst du das Freiheit? Sind die Normalbürger freie Menschen? Keine Bildung, keine Entwicklung. Kein Fortschritt. Das Prinzip der Reduktion. Demnächst werden wieder die Rationen gekürzt. Die Lebenszeit wird auf achtundzwanzig Jahre herabgesetzt. Was ist das für ein Leben?«

»Es ist ein Leben der Unschuld«, antwortete der Pater.

»Und der Lohn?«, fragte Weiss. »Der Lohn für ein unerfülltes irdisches Leben?«

Olfhus zuckte die Schultern. »Vielleicht die Hoffnung?«

»Wie könnt ihr Hoffnung erwecken, die sich nie erfüllt? Das Paradies versprechen – gegen besseres Wissen?«

»Eben«, sagte Pater Olfhus. »Das ist der Punkt.«

»Wir wollen es ihnen geben – das Paradies«, sagte Weiss. Es war eine Feststellung, keine Frage.

Der Pater nickte nur.

Nun ist es geschehen. Sie haben ihn geholt. Irgendjemand muss etwas bemerkt haben. Ich hoffe nur, dass er nicht glaubt, ich habe ihn angezeigt. Ich wollte hinlaufen, aber sie haben mich nicht zu ihm gelassen.

Ich habe es bisher erst vier- oder fünfmal erlebt: wenn die weißen Hovercrafts landen, die Polies ausschwärmen und einen aus der Menge herausholen – aus dem Unterricht, aus dem Gymnastikraum, vom Essen oder vom Fernsehen. Einen Moment lang denkt jeder: Bin ich es, den sie holen? Dann geht es schnell – sie laufen auf jemand zu, halten ihn fest, legen ihn auf die Bahre, die Bügel schließen sich, eine Decke entzieht ihn den Blicken. Im Laufschritt geht es fort. Nach einigen Sekunden ist alles vorbei. Es ist, als ob nichts gewesen wäre. Eine kleine Umordnung der Sitzverteilung – kein leerer Platz. Ein Schrank weniger in der Reihe, eine Koje neu zu vergeben. Die Registriernummer gelöscht, eine Akte geschlossen. Kein Grund, um bestürzt zu sein. Es ist nichts Böses geschehen, nur eine Maßnahme wurde getroffen. Keine Drohung, keine Strafe. Eine Operation an der Gemeinschaft. Der Betroffene wird es gut haben. Ihn erwartet eine bessere Welt. Sie haben uns viel erzählt – von dieser Welt – die hell ist und freundlich und klar. Und doch …

Seit es Sigi getroffen hat, kann ich nicht mehr so fröhlich sein wie früher. Ich habe einen neuen Freund und lasse mir nichts anmerken, aber ich muss immer an Sigi denken. Ich weiß, wo er sich befindet, und weiß doch nicht, was aus ihm geworden ist, was ihn erwartet. Es ist das, was uns alle erwartet. Ich hoffe, es ist nicht zu schlimm.

Ich spüre keine Schmerzen mehr. Nur zehn Sekunden lag ich unter dem Strahler – und schon war das Brennen in der Wunde vorbei – das pochende Gefühl in den Adern, der Druck im Kopf … So leicht ist das. Eine Minute lang glaubte ich, ich bin geheilt, doch dann hob ich meine Hand und sah sie an – die Wunde sah so bös aus wie zuvor.

Eine Minute lang hoffte ich, ich könnte wieder zurück in die Stadt, zu den Freunden, zu Lil. Aber jetzt weiß ich es besser. Ich habe Angst. Sie sagen, es tut nicht weh. Aber es ist keine Angst vor Schmerz – eher Angst vor der Leere.

Ich liege auf der Bahre. Sie haben mich in einen Tunnelgleiter gebracht. Über mir wandern die Stützen vorbei, die irgendwo über der Dunstglocke das Kuppeldach halten. Sie erscheinen mir als Schatten. Das matte Glas verhindert die Sicht.

Dunkel über mir … dann Lichtreihen … ein hell erleuchteter Saal. Meine Liegestatt gleitet über ein Laufband, eine Maschinerie, betäubender Geruch, Berührungen, Schwerelosigkeit … eine dunkle Öffnung … Kälte. Nichts. Und dann wieder Helligkeit, Klarheit – hellblau und weiß, Wolken, Gesang. Und jetzt eine Stimme, dröhnend und sanft zugleich: »Willkommen im Paradies!«

PARADIES 3000

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