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Kapitel 1
ОглавлениеDas atlantische Tief über Schottland schaufelte kalte Polarluft mit klirrender Kälte in die Region. Nicht atypisch für die Gegend, jedoch selten. Weihnachten im Selfkant ist fast immer eine grüne Angelegenheit. Doch dieses Mal trug die Luft Schnee. Das Dorf liegt im westlichsten Zipfel der Bundesrepublik. Die Senke, in der die Häuser stehen, wird von einer Durchgangsstraße zerschnitten. Im oberen Drittel der Straße liegt das Oberdorf mit dem katholischen Friedhof, der heute interkonfessionell ist, und im Unterdorf die evangelischen Begräbnisstätten. Das letzte Geschäft schloss vor fast zwanzig Jahren. Lediglich die Dorfkneipe blieb. Wer weiß, wie lange noch?
Mit dem ersten Glockenschlag des Einladungsläutens zur Weihnachtsmesse hörte Hubert den Ruf. Leise, aber eindringlich. Er ignorierte ihn, obwohl es ihn juckte nachzusehen. Er tat es als Spinnerei ab und schlenderte stattdessen zum Backsteinhäuschen am Hügel. Es stand dort, schon lange bevor das Dorf erstmals urkundlich erwähnt wurde. Gedanken darüber, weshalb es ihn Tag für Tag hierhin zog, kamen nicht. Der tägliche Besuch gehörte zu seinem Leben. Die roh gezimmerte Türe des Gartenhauses - das Holz war so dunkel wie das der Balken – ließ sich nicht verschließen. Die Notwendigkeit bestand nicht. Niemand drang in das Innere des Gebäudes. Eine unsichtbare Schranke hielt Besucher ab – selbst im Zwanzigsten Jahrhundert.
Er trat, mit kurzem Zögern, in das Dunkel des Zimmers, das sich gegen die lehmige Hügelwand schmiegte. Zielsicher fasste seine Hand auf den Bord neben der Tür und griff die Petroleumlampe. Hunderte Male geübt, entzündete er den Docht. Sogleich flackerte dumpfe Helligkeit in den Raum. Gegenüber dem Eingang lag die Herdstelle, deren breiter Kamin durch das Dach brach. Der Rauchabzug wurde nach oben breiter, weil die sanfte Rundung der Naturwand des Hügels, die Form vorgab. Routiniert entzündete er den Reisighaufen und sah zu, wie die zunächst zögernd züngelnden Flammen von einem dunklen, fast schwarzen Rot, in helles gelbes Licht wechselten.
Im Raum fanden sich Gebrauchsspuren aus verflossenen Epochen. Hubert tat jedes Mal einen Schritt in die Vergangenheit, wenn er die Schwelle überschritt. Geschichten in der Familie berichteten davon, dass die Kate zur Zeit Karls des Großen entstand. Um die Hütte rankten viele Geheimnisse, die im Zusammenhang mit der Quelle am Fuße des Hügels standen.
Er zog einen Stuhl heran. Da war sie wieder, die leise eindringliche Stimme, die ihn latent seit einigen Minuten verfolgte: »Hilfe.« Sein Kopf ruckte hoch. Der Ruf kam nicht übers Ohr. Er lag in den Gedanken ... in seinen Gedanken. »Hilfe.«
Das war doch bekloppt. Weshalb rief er um Hilfe? Er wurde unruhig. Seine Nase schnüffelte, als könne er etwas oder jemanden wittern. Er schritt unsicher zur Tür und trat in Freie. Stockdunkle Finsternis empfing ihn. Zu dem beschissenen Wetter kam der Neumond.
»Hilfe.« Jetzt schwang die Tonfolge klar von außen zu ihm, und zwar aus der Heide. Also wurde er nicht meschugge.
»Hallo«, rief er. Keine Reaktion. Er ging zurück ins Innere. Hubert packte die dicke Felljacke, die neben der Tür hing. Sie wurde schon von seinem Vater und Großvater getragen. Automatisch ergriff er den knorrigen Holzstab und die Stablampe. Er schlug den Weg zur Quelle ein und dort den zum Waldstreifen, der nach wenigen Metern lichter wurde. Die LEDs zerschnitten die Dunkelheit und trafen auf kahle Bäume, deren Äste, wie anklagende Finger, in die Finsternis reckten. Ihn fröstelte.
»Hilfe.« Die Stimme klang näher.
»Hallo«, rief er beklommen.
»Hier.«
»Sie müssen ständig rufen oder singen, damit ich Sie finde.« Hubert stand hilflos in der Landschaft, weil er wusste, dass er bei einem falschen Schritt auf der Nase lag. Die glockenklare Frauenstimme ließ ihn aufhorchen:
Hört ihr, wie die Engel singen,
wie ihr Herz vor Freude lacht?
Seht, das Licht, das sie uns bringen,
hat die Nacht zum Tag gemacht.
Gloria in excelsis deo!
Gloria in excelsis deo!
Er gab sich einen Ruck und folgte den Tönen. Eine Altstimme ... aber was für eine.
Der Gesang brach ab. »Du bist vorbeigegangen.« Die Stimme kicherte.
Hubert blieb lauschend stehen. Die Frau klang nahe. »Sagen Sie noch einmal etwas.«
Wenige Augenblicke später kniete er neben dem Schatten auf dem Boden. Einige Schritte abseits des Weges und im seichten Wasser des Hochmoors. »Was ist geschehen?«, fragte er und beleuchtete mit der Lampe das ovale Mädchengesicht, dessen braune Augen hoffnungsvoll auf ihm ruhten.
»Mein Fuß klemmt fest.«
Seine Hände tasteten dorthin, wo er sie vermutete.
»Finger weg.« Sie versetzte ihm einen Schlag, der ihn fast auf den Weg zurückwarf. Die Taschenlampe fiel und rollte in den Graben.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte er mehr erschrocken, als unwirsch.
»Ja. Aber nicht anfassen.« Sie klang belustigt.
»Wie soll ich Ihnen sonst helfen?«
»Ich weiß es nicht. Mir ist kalt.« Sie sprach mit melodischer Stimme, in der etwas klang, was ihn rührte.
»Ich bin Hubert«, sagte er, weil er nichts anderes zu sagen wusste.
»Ich weiß. Du bist der Langweiler vom Rande des Dorfs.«
»Kennen wir uns?«, fragte er pikiert.
»Ich kenne dich. Jetzt sorg dafür, dass mein Fuß freikommt.«
»Sie glauben wohl, ich habe eine Macke. Freiwillig lasse ich mich nicht vermöbeln.«
»Das ist ein Problem. Das gebe ich zu.« Sie stockte, als überlege sie. »Es gibt eine Möglichkeit.«
»Ja und?« Die Temperatur lag nahe null Grad und er fror.
»Du gibst mir einhundert Tage deines Lebens. Dann darfst du mich anfassen.«
»Sie tun gerade so, als erweisen Sie mir einen Gefallen. Sie benötigen Hilfe. Sie sind in der Klemme. Weshalb soll ich Ihnen etwas geben?« Die Alte hatte eine Macke. Aber auf keinen Fall durfte er sie zurücklassen. In einer Stunde wäre sie tot.
»So sind die Spielregeln.«
Also doch ein Spiel. »Mein Gott. Ich will hier weg. Sie bekommen die hundert Tage. Nur lassen Sie mich endlich an Ihren Fuß.« Wenn sie befreit war, würde er sie nach Gangelt in die Psych bringen. Dort suchten sie bestimmt nach ihr.
»Versprochen?«, fragte sie.
Ganz kurz spukte Faust durch seine Gedanken. Er schüttelte die Vision ab. Und die Gebrüder Grimm hatten auch nur Märchen geschrieben. »Versprochen.«
»Dann los«, meinte sie. »Reich mir die Hand.«
In dem Augenblick, in dem sich ihre Hände berührten, durchzuckte ihn etwas wie ein Schlag. Er wusste, dass das Leben von nun an anders wurde. Der Schauer zog angenehm in seinen Körper. Er fror nicht mehr. Behagliche Wärme durchströmte ihn. Mit wenigen Handgriffen befreite er den Fuß aus dem Wurzelwerk, das ihn gefangen hielt. »Können Sie gehen?«, fragte er.
»Versuchen wir es.« Sie fasste seinen Arm und zog sich hoch. »Ich muss weiter.« Sie stöhnte.
»Wohin?« Er sah sie in der Dunkelheit kaum und fasste unter ihre Achsel.
»Hier hin und da hin.«
»Sie kommen erst einmal mit zu mir. Ich schaue mir den Fuß an.«
»In Ordnung.«
Hubert schüttelte den Kopf. Sie wusste scheinbar nicht, was sie wollte. Sie seufzte, wenn sie auftrat und er überlegte, sie zu tragen. Knapp unter fünfzig Kilo, das würde er schaffen. In welche Geschichte stolperte er hier?
Die Gedanken wurden abrupt unterbrochen. Eine schemenhafte riesige Gestalt sprang in den Weg. Sie trug einen dunklen Umhang mit Kapuze. Die Dunkelheit fraß die Konturen und ließ die Umrisse lediglich annehmen. Hubert erschrak. Die Taschenlampe lag im Graben. Eine Ahnung von Gefahr ließ ihn die junge Frau von sich stoßen, die mit einem spitzen Aufschrei zu Boden fiel. Er nahm eine Stellung ein, die er für Kampfstellung hielt. In solchen Sachen fehlte ihm jegliche Erfahrung.
»Wer seid Ihr?«, fragte er mit belegter Stimme, aus der Angst herausklang.
Die Gestalt wieselte, anders konnte er es nicht bezeichnen, auf die junge Frau zu. Sie stoppte mit einem Knurren und wandte sich Hubert zu. Er sah in ein verwüstetes Gesicht, in dem dunkle Augen wie Feuer brannten. Gewaltige Hände, groß wie Schaufeln, fassten nach ihm und stockten. Ein männliches Wesen ... unbestreitbar. Hubert sah die Kraftanstrengung in den Zügen, als versuche der Typ, ein Hindernis zu überwinden. Nach einer Zeit, die ihm endlos erschien, ließ das Ungeheuer die Arme sinken und verschwand im Dunkel des Waldes.
»Kein Problem.« Die Frau hielt Hubert zurück, der dem Gegner folgen wollte. »Lass ihn los. Er ist harmlos und kann dir und mir nichts tun.«
»Das ist für dich harmlos?« Er probierte, die Dunkelheit zu durchdringen. »Ist das ein Traum? Oder spinne ich.« Er schüttelte den Kopf und achtete nicht auf den Kloß in der Magengegend. Er packte den Arm der Frau und zog sie hoch. Dann warf er sie über die Schulter und stürmte, ihre Missfallenäußerungen nicht achtend, zur Kate.
Im Norden zog Wetterleuchten auf und warf bizarre Muster über die Landschaft.
*
Hubert hatte er es nicht so mit der Landwirtschaft. Nach dem frühen Tod der Eltern verpachtete er einen Teil der Wirtschaftsflächen des Hofs an Bauern des Dorfes. Den Hügel, den Bereich der Quelle und zwei Hektar für die beiden Pferde behielt er. Finanzielle Sorgen kannte er nicht. Seine Vorfahren hatten so viel Geld gescheffelt, dass es für mehrere Leben reichte.
Seine mittelgroße Statur bebte vor Energie, wenn er sich bewegte. Graue Augen sahen skeptisch in die Welt und stellten alles infrage. Das wirkte sich auch auf seinen Gesichtsausdruck aus. Selten huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
Hubert wohnte im ältesten Haus des Dorfes. Der Baustil wurde durch die vergangenen Jahrhunderte deutlich geprägt. Die Besitzer des Gebäudes verwirklichten, in vielen Dekaden, ihre Vorstellungen. Aus dem Anbau ragte ein kleiner runder Turm. Gegenüber reichte die linke Dachhälfte fast bis auf den Boden. An der Vorderseite des Hauses umrahmten kunstvolle Backsteinornamente die Fenster und die große Eingangstüre. Mit dem Dachgeschoss strebte das Bauwerk zwei Stockwerke hoch und bot aus der Mansarde einen Überblick, weit über die Ortschaft hinaus.
Am Ende des Grundstücks erhob sich ein Hügel, mehr eine aufgesetzte Kuppel, mit erstaunlich glattem gewölbtem Hang, auf dem karges Gras um Halt kämpfte. Fast kreisrund, um die Erhebung herum, verlief ein annähernd dreißig Meter breiter unbewachsener Sandstreifen, der deplatziert in der Gegend wirkte. Kaum sichtbar klebte die uralte kleine Kate gegen die Anhöhe. Das Backsteinhäuschen schimmerte zwischen alten Birken hervor. Verwitterte schwarze Balken durchzogen das Mauerwerk. Die Zeit hatte das ihre getan und es schief in die Bodenerhebung gezogen. Fast tiefschwarze Tonschindeln wuchsen zum Schutz über das kleine Gebäude aus dem Hügel heraus. Es wies viele Jahre mehr auf, als das Wohnhaus.
Die Erhebung ragte knappe vierzig Meter in die Höhe. Die Kuppe wirkte abgeschnitten und bildete ein überschaubares Plateau, in dessen Mitte ein kreisrunder Teich lag, ähnlich einem Maar.
Am Rande des Sandzirkels, in gerader Linie von der Kate, sprudelte die Quelle. Deren Wasser floss geschäftig durch ein Bachbett in Richtung des Heidegebiets. Das plätschernde Nass erzählte die ewig alte und neue Geschichte der Bewegung und des Kreislaufs, der immer wiederkehrenden Erneuerung. Auf dem Grund schimmerten alte, fast blau gebrannte Feldbrandsteine. Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte, des fließenden Wassers rieben den Stein glatt. Uralte Birken gaben dem Ort ein mystisches, heidnisches Gepräge. Vom Ursprung des Borns führte der Weg, der rechts und links von mächtigen Rosen- und Beerenhecken gesäumt wurde, in die Ortschaft.
Hubert wurde im Dorf weder geschätzt noch abgelehnt. Er lebte sein Leben, worin wenig Platz für Menschen war. Er hielt sich von den Nachbarn fern und wohnte abgeschieden auf seinem Hof. Manch einer würde Verständnis dafür aufbringen. Denn, jetzt im dritten Jahr, im Dezember wurden vier Wochen seines Lebens auf den Kopf gestellt. Darüber sprach er nicht, und zwar zu keiner Menschenseele. Er hegte wohl einen Verdacht, was in dieser Zeit geschah, doch der letztendliche Beweis gelang ihm nicht.
Es begann mit dem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Hubert kam als Christkind am vierundzwanzigsten Dezember zur Welt. Dadurch rückte sein Wiegenfest in den Hintergrund. Er teilte den Ehrentag mit dem Kind, das unter dem Weihnachtsbaum in der Krippe lag, ob er es wollte oder nicht. Nicht verwunderlich, dass er auf das Weihnachtsfest einen Frust entwickelte, der in seinem späteren Leben zur totalen Verweigerung des Glaubens wurde. Das erzählte er zumindest jedem, der es hören wollte. Im Grunde ging er lediglich nicht mehr in die Kirche. Die solide Erziehung aus Kindheitstagen sowie eine ungewöhnliche Begegnung verhinderte die absolute Ablehnung.
Doch nicht allein daher rührte die Isolation, in der er lebte. Um den Hof lag ein Zauber, der nicht zuletzt mit dem Hügel und der Kate zusammenhing. Die Nachbarn mieden diese Gegend. Wie er wusste, nicht aus Ablehnung, sondern, weil sie einfach kein Interesse zeigten. Nichts zog sie an den geheimnisumwitterten Ort.
Aber das alles war nichts gegenüber der Geschichte, die sein Vater auf dem Sterbebett erzählte. Er erinnerte sich, als sei es gestern. Bis dahin lebte er wie jeder Neunzehnjährige. Ging in Discos, zum Fußball und flirtete mit den Mädels. Im Spätsommer vor acht Jahren verunglückte der Vater auf dem Feld. Er geriet in den Strohwender und verletzte sich so schwer, dass er den Verletzungen erlag. Vorher erleichterte er sein Gewissen und ließ einen verwirrten Jungen zurück.
»Hör zu Sohn.« Das Krankenbett hielt ihn in sitzender Stellung. Die Maschinen zu den lebenserhaltenden Maßnahmen waren abgeschaltet. »Deine Mutter ist nicht gestorben, wie ich es dir erzählte.« Er hielt kurz inne und atmete rasselnd. Gegen die Schmerzen rann über den Zugang auf der Hand helle Flüssigkeit in die Adern. »Karneval 1990 lernte ich sie kennen. Es war einer jener seltenen Vorfrühlingstage. Auf dem Weg zum Umzug in Scherpenseel begegnete ich ihr. Sie trug ein Engelkostüm und kam zu hundert Prozent nicht aus dem Dorf. Ich sprach sie an und wir gingen den Rest des Weges gemeinsam. Ich vermute, sie war keine Deutsche. Der Gesichtsschnitt, die dunklen etwas schräg liegenden Augen, die schwarzen Haare und der Akzent, den sie sprach, gehörte nicht in unsere Gegend. Irgendwie sprang der Funke über.« Aus dem bandagierten Gesicht glänzten die Augen in der Erinnerung. »In geheimem Einverständnis nahmen wir den Weg zur Kate. Ich entzündete das Holz im Kamin. Zunächst sprachen wir über alles und nichts. Dann drehte ich einen Joint. An das, was folgte, habe ich lediglich Erinnerungsfetzen, die ebenso dem Rausch zuzuschreiben sein könnten, wie auch der Wirklichkeit. Wir tanzten nackt durch einen unbeschreiblichen Garten. Manchmal bin versucht zu glauben, es war der Garten Eden.« Um die Augenwinkel zuckten kleine Fältchen, als ob er lächle. »Es kam, wie es kommen musste, wir zeugten dich, was ich da noch nicht wusste. Ich erwachte mit schwerem Kopf in der Kate und tat die Geschehnisse als Traum ab, obwohl mein Körper die Zeichen einer heißen Nacht trug. Die Frau, an deren Namen ich mich nicht mal mehr erinnere, war verschwunden. Du bist das Ergebnis«, er stockte kurz, »... eines One-Night-Stands, wie du wohl sagen würdest.« Das trockene Lachen ging in ein würgendes Geräusch über. Er hielt Hubert mit einer Handbewegung auf, als er den Knopf für die Krankenschwester betätigen wollte. »Irgendwie gelang es mir, die Behörden zu überzeugen, dass du mein Sohn bist. Du wurdest Weihnachten geboren, besser gesagt, am Heiligen Abend. Auf dem Grund des Korbes, in dem du abgeliefert wurdest, lag ein Zettel mit Krakeln eines Kindes. Ich habe ihn aufgehoben. Darüber wirst du wohl nicht die Mutter finden. Ich habe, seitdem du in meinen Haushalt schneitest, alles versucht, diese Frau ausfindig zu machen. Sie war und ist vom Erdboden verschwunden. Ein Bluttest beweist, dass ich dein Erzeuger bin.« Er japste nach Luft und keuchte: »Möglicherweise war sie tatsächlich ein Engel.« Hubert saß benommen neben dem Bett. Er wusste vom Stationsarzt, dass die letzten Minuten schlimm werden konnten, und hörte nur mit einem halben Ohr zu. Langsam sickerte die Beichte in seine Gedanken. Er fuhr hoch und war versucht, den Vater zu schütteln. Die gebrochenen Augen zeigten ihm, dass das, was als Seele bezeichnet wurde, den Körper verlassen hatte. Der Idiot wählte den bequemsten Weg, indem er sich einfach verabschiedete und nicht mehr Rechenschaft ablegen musste.
Nichtsdestotrotz veränderten die Enthüllungen des Vaters die Gegenwart von einem Tag auf den anderen. Das bisherige Leben gründete auf einer Lüge. Ihn störte nicht das zufällige Ergebnis zweier Hormonschübe, die zu diesem Zeitpunkt wohl jeden genommen hätten, der zufällig vorbei kam, sondern vielmehr das mangelnde Vertrauen seines Erzeugers.
Jetzt kam diese merkwürdige Begegnung in der Heide hinzu. Die Parallelität der Ereignisse bereitete ihm Sorgen. Jetzt, wie vor dreiundzwanzig Jahren, trat aus dem Nichts eine Frau in sein Leben. Er durfte ihr keinen Raum bieten.
*
Im sanften Licht der Kate musterte er aus graugrünen Augen, was er sich in den Nacken geschlagen hatte. Sie war ganz anders, als das Bild in seiner Vorstellung. Eine zierliche Person, von vielleicht zwanzig Jahren, mit rehbraunen Augen und langen schwarzen Haaren. Ihre Figur war ausgesprochen fraulich mit hoch angesetzten vollen Brüsten. Sie trug ein einfaches dunkelblaues Kleid mit geschlossenem Kragen, das ein fingerbreit über den Knien endete sowie keine Schuhe. Das Gesicht zeigte einen eigenwilligen, aber auch verschmitzten Zug. Auf keinen Fall lag ihr Ursprung in Europa, wie der olivfarbene Teint zeigte. Aufgrund der geraden Nase tippte er auf Libanon, Israel oder ein anderes Land in dieser Kante.
Diese Frau war eine Augenweide. Ihre sinnlichen Lippen lockten. Etwas sagte ihm, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen, war. Sein Inneres signalisierte nicht gerade Gefahr, riet ihm jedoch zur Distanz. Obwohl sie einigermaßen ramponiert aussah, tat das ihrer Wirkung keinen Abbruch. Jetzt hatte er es. Sie war präsent. Nein, ... zu einfach. Sie beherrschte den Raum mit ihrer Anwesenheit, füllte ihn mit Charisma.
Sie ließ sich, ohne Umschweife am Tisch nieder und beobachtete ihn ihrerseits. Die Augen ruhten ungeniert auf ihm. »Ich bin Malekh«, warf sie in den Raum. Der Klang ihrer Stimme riss ihn aus seiner Betrachtung. Die Schwingung streichelte samtweich seine Sinne und riet auch hier zur Zurückhaltung.
»Aha«, meinte er. »Deshalb keine Schuhe.«
»Du schaltest schnell.« Sie lächelte, wobei zwei interessante Grübchen in den Mundwinkeln erschienen.
»Das heißt also, Sie sind ein Engel.« Er hob die Brauen spöttisch.
»Sei nicht so ein Langweiler. Du kannst mich duzen. Das hast du vorhin auch getan.« Sie reichte über den Tisch und fasste seine Hand. »Das ist bequemer. Sonst muss ich zu viel erklären.«
Hubert überfielen Empfindungen: Kribbeln in den Händen, Pulsieren im Körper und wunderbare Ruhe im Verstand. Und da war die Berührung seines Geistes. Sanft, fast tastend huschten Wahrnehmungen durch die Nervenbahnen. Gedanken, die nicht fassbar waren … die er jedoch dachte.
Ganz klar ... sie war ein Engel, wie sie sagte.
»Ja, ja. Ich weiß. Ich bin bekloppt und du bist eine Gummipuppe.« Er schüttelte den Kopf und befreite sich aus dem Bann. »Du bist nicht mein Typ. Ich mag blonde, schlanke Frauen. Ich würde mir nie ...«, er stockte und suchte nach Worten, um die Fantasievorstellung zu verbannen, »so viel Frau vorstellen.« Er malte mit den Händen einen übertrieben dicken Busen und ein breites Becken. Ganz klar: Das war ein Albtraum.
»Du entsprichst auch nicht meinem Idealbild von einem Mann.« Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du denkst an dein Versprechen?«
»Das hast du mit unlauteren Mitteln ergaunert.« Er schüttelte vehement den Kopf.
»Versprochen ist versprochen.« Sie trug eine steile Falte auf der Stirn.
»Was soll ich denn für dich tun?« Er ließ seinen Blick bewusst lüstern über ihre Figur gleiten.
»Da hast du dich geschnitten, mein Freund. Wir haben mit Sex nichts am Hut. Das ist was für minderbemittelte Primaten, wie du einer bist.« Sie schüttelte sich angeekelt.
»Bevor du Engel wurdest, warst du doch auch Primat.« Er musterte die eingebildete Ziege erstaunt.
»Du glaubst also den Quatsch, dass gute Menschen in den Himmel kommen und Engel werden. Ich war nie Mensch und bin schon immer Engel. Was denkst du, wie viele es von meiner Art geben würde, wenn das tatsächlich so wäre. Glaubst du, wir haben unbegrenzt Platz?« Sie sah ihn an, als ob er bescheuert wäre. »Ihr vermehrt euch wie Karnickel.«
»Falls du ein Engel bist, geht dich das einen Dreck an.« Was bildete die dumme Kuh sich ein. »Du kannst ruhig gucken. Ich zweifle tatsächlich an meinem Verstand. Hören wir auf mit dem Spaß. Was willst du? Woher kommst du?« Er wurde den Spuk leid.
»Ich komme von da«, sie zeigte nach oben. »Ich will die versprochene Zeit deines Lebens.«
»Falls ich das Spiel mitspiele, was stellst du dir vor?« Er kam auf keinen grünen Zweig, wenn er nicht nachgab. Malekh war zwar schön anzusehen, doch sie strahlte Unnahbarkeit aus. Er käme nie auf die Idee, sich ihr zu nähern. Sie bewegte sich mit der Anmut einer Katze. Wenn ihn jemand gefragt hätte ... er, hätte Hölle getippt.
»Moment. Ich muss zuerst nachfragen.« Sie schloss die Augen. »Scheiße. Du bist der Falsche. Mit dir können wir nichts anfangen.« Malekh funkelte ihn wütend an, als ob er den Fehler begangen habe. »Das wollten die Drei vorhin im Wald. Weshalb hast du sie zurückgehalten? Was soll ich jetzt tun?«, fragte sie aufgebracht.
Hubert spürte, dass die Fragen nicht ihm galten. Wieso war er der Falsche und sie konnten nichts mit ihm anfangen? Fragen brannten auf den Lippen. Er drängte sie zurück. Es brachte ja auch nichts. Gleich würde er aus diesem Traum aufwachen.
»Ich muss mit dir arbeiten. Verdammt, das fehlt mir gerade. Weshalb musstest du mich aus meiner misslichen Lage befreien? Du solltest mich gar nicht hören.« Sie stapfte mit dem Fuß auf.
»Weshalb bist du vorhin nicht mit deinen gespenstigen kleinen Freunden verschwunden?« Die blöde Kuh spielte mit ihm. »Such dir doch die richtige Person. Ich bin dir nicht böse, wenn du jetzt verschwindest.« Er grinste innerlich. Vielleicht wurde er sie elegant los.
»Du hast gut reden.« Sie schrie. »Verstehst du nicht: Ich muss mit dir arbeiten. Weshalb musstest du Blödsack das Versprechen abgegeben. Jetzt bin ich genauso gebunden, wie du. Weißt du, was du mir antust?«
»Du spinnst. Schau, dass du in deine Klapse zurückkommst.« Er machte eine wegwerfende Bewegung. Selbst wütend und enttäuscht blieb sie eine schöne Frau. Er war kurz davor, sie in den Arm zu nehmen. Doch er wusste nicht, was er sich damit einhandelte. »Was sollst du mit mir arbeiten? Wer verlangt das von dir?«
»Mich wundert, dass du selbstständig atmest. Es muss dir bestimmt schwerfallen, daran zu denken. Es ist doch klar, dass ich nicht alleine bin. Bei uns ist es wie bei euch. Überall Chefs. Jeder hat was zu sagen. Ich habe einen Auftrag, den wir gemeinsam erledigen müssen.« Sie setzte sich wieder an Tisch, um gleich aufzuspringen. »Verdammt. Wenn ich bei euch Herrentieren bin, muss ich Nahrung zu mir nehmen. Ich habe Hunger.«
»Und ich die Schnauze voll. Weshalb bist du so überheblich? Im Grunde sind wir die Krone der Schöpfung. Aber das möchtest du bestimmt nicht wissen.« Er grinste spöttisch. »Also komm. Wir gehen zum Haus rüber. Dann mache ich dir etwas zum Essen.
*
»Das war lecker.« Malekh betrachtete interessiert die Bilder in Huberts Wohnzimmer. Sie zeigten einen Ort in der Heide während der vier Jahreszeiten. »Hast du die gemalt?«
»Ja«, rief er aus der Küche. »Schildere mir deinen Auftrag.«
»Ich ... wir sollen einen Dieb finden.« Sie lehnte plötzlich gegen die Arbeitsplatte der Küche.
»Was hat er denn geklaut?« Er verbarg sein Erschrecken. Konnte Sie beamen?
»Ein Schriftstück. Vielleicht wurde es nicht gestohlen, sondern nur verlegt. Wir suchen es seit sehr langer Zeit.« Malekh spielte mit der Küchenwaage und freute sich sichtlich über die Zahlen auf dem Display. Sie veränderten sich, wenn sie darauf drückte.
»Ist es wertvoll?«
»Wie man es nimmt.« Sie öffnete einen Oberschrank und nahm die Gewürzfläschchen heraus. »Es ist ein Rezept für Plätzchen.«
»Plätzchen? Dafür der Aufwand?« Er ließ die Pfanne abtropfen, in der vorhin das Rührei brutzelte.
»Unsere Geschäftsführerin ist pingelig. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, eine andere Geschmacksrichtung auf den Markt zu bringen. Nicht immer Marzipan, Zimt, Kardamom oder wie das ganze Zeugs heißt.« Sie trat neben ihn und trocknete das Geschirr ab. »Du spülst mit der Hand?«
»Für mich alleine lohnt die Maschine nicht.« Er zeigte auf den Geschirrspüler. »Also.« Er wandte sich ihr zu. Sie stand nahe vor ihm und strömte einen frischen Geruch aus, der die Sinne ansprach. Weniger sexuell, aber auch, als vielmehr ein Gefühl von Freiheit vermittelte. »Ich bin fest überzeugt, dass ich gleich aufwache.« Sein Gesicht arbeitete. »Gesetzt den Fall, ich glaube deine Geschichte: Welche Rolle ist mir zugedacht?«
»Erwähnte ich das nicht.« Die großen Rehaugen sahen ihn treuherzig an. »Du findest das Rezept. Punkt zwölf Uhr in der Nacht muss ich wieder auf meinem Platz sein.« Der sinnliche Mund lächelte. »Am vierten Sonntag vor dem nächsten Heiligen Abend werde ich wieder hier sein.«
»Du tickst nicht sauber.« Er packte sie bei den Schultern und wurde zurückgeworfen. Der Schlag traf ihn ebenso unvorbereitet, wie vorhin in der Heide. »Jetzt ist Schluss mit lustig, du blöde Zicke.« Er verlor die Beherrschung und brüllte. »Das ist so nicht abgemacht. Einhundert Tage meines Lebens ... du kannst sie am Ende meines Lebens abziehen. Aber lass mich in Ruhe.« Hubert überlegte. Die Frau besaß Eigenschaften, die nahe legten, dass sie das war, was sie behauptete. Dann saß er in der Falle. Vielleicht gab er besser nach. Unter einem Engel stellte er sich auch etwas anderes vor. Bekam er eine Macke? Halluzinierte er?
»Tut mir leid«, meinte sie zerknirscht und kaute auf der Unterlippe. »Du bist mein erster Außenauftrag.« Sie neigte leicht den Kopf, als lausche sie. »Ich soll mich verbessern.« Malekh druckste herum. »Mein Supervisor quatscht dazwischen. Also ... wie gesagt ... wir müssen miteinander klarkommen und das Beste daraus machen.«
»Du hast einen Mann im Ohr, der dich volllabert?« Er schüttelte sich. »Fassen wir zusammen: Du bist ein Engel auf der Suche nach einem Rezept, bei der ich dir behilflich sein soll. Dafür versprach ich dir hundert Tage meines Lebens. Du wirst gleich verschwinden und am ersten Adventssonntag des kommenden Jahres wieder erscheinen.« Er dachte kurz nach. »Ich bin zweite Wahl, weil du einen Fehler begangen hast. Habe ich etwas vergessen?«
»Nein. Vielleicht eines ...«, sie machte eine Pause, »du suchst das Rezept, nicht wir.«
»Ich möchte mich nicht aufregen.« Er wirkte resigniert. »Für einen Engel bist du ganz schön link. Kannst du mir einen Tipp geben, wo ich die Suche beginnen soll?«
»In der Gegend war einmal eine Weihnachtsbäckerei. Soweit ich weiß, mussten wir die Kapazitäten aufstocken. Der Platz reichte nicht. Die Unterlagen darüber gingen verloren.« Sie setzte sich an den Esszimmertisch. »Hör dich um. Sprich mit den alten Leuten.«
»Woran erkenne ich das Rezept?«, fragte Hubert. Er war stinksauer. Malekh verarschte ihn nach Strich und Faden. Und er ging blauäugig darauf ein.
»Wie sieht ein Rezept aus?« Sie reagierte genervt. »Du könntest es möglicherweise an der Schrift erkennen. Es ist in engelisch verfasst.«
»In Englisch?«
»Boah. Du bist blöd. Engelisch. Hörst du nicht zu.«
»Ich werde verrückt.« Hubert schlug die Hände gegen Kopf.
*