Читать книгу Insekten sterben, Menschen auch! - Herbert Wolf - Страница 5
Оглавление1. Radtour ins Verhängnis
Sie waren fünf Ehepaare, die häufig zusammen feierten oder sich in der Freizeit trafen. Da sie fast alle in diesem Ort aufgewachsen waren, kannten sie sich seit ihrer Kindheit, hatten sie die dortige Schule besucht und gehörten denselben Vereinen an. Innerhalb ihrer Gruppe mussten sie sich nicht mehr verstellen, da sie einander so vertraut waren, dass sie sich an die Eigenheiten eines jeden Mitglieds längst gewöhnt hatten. Reibereien, die es sicher schon mal gab, hielten nur kurz an und blieben daher folgenlos. Würde sie jemand fragen, welche Charaktereigenschaft sie besonders an ihren Freunden schätzten, dann würden sie wahrscheinlich spontan die Verlässlichkeit nennen. Dabei stellte sich bei ihnen so gut wie nie das Gefühl ein, dass sie sich Außenstehenden gegenüber abschotten könnten. Das Bedürfnis, ihren Kreis für neue Gesichter zu öffnen, war allerdings gering. Sie blieben gern unter sich.
Einmal im Jahr, meist im Frühjahr oder im beginnenden Herbst, brachen sie zu einer mehrtägigen Fahrradtour auf. Dafür übernahm Paul, unterstützt von seiner Frau Carmen, für die Gruppe stets die gesamte Organisation.
Wer schon einmal eine solche Radtour organisiert hat, weiß, wie zäh und aufreibend oft die Abstimmung ist. Alle Termin- und Reisewünsche der Teilnehmer müssen dabei zufriedenstellend berücksichtigt werden. Paul hatte genügend Erfahrung und Gelassenheit, um mit einigen eher schwierigen Charakteren in ihrer Gruppe umzugehen. Er schaffte das erstaunlich geräuschlos und beklagte sich selten, wenn ihn einer der Freunde mit seinen Extrawünschen überfiel.
Bis auf Roman Schlichter und die beiden Hausfrauen Rosa Lindner und Beatrix Schlichter waren sie alle noch berufstätig, was für Paul die Terminabsprache verkomplizierte.
Diese beiden Frauen versteiften sich oft auf Sonderwünsche, was für Paul nicht nur Mehrarbeit bedeutete, sondern Fingerspitzengefühl erforderte. So bestanden sie zum Beispiel auf den Einbau touristischer Highlights in die Tour, die der Veranstalter gar nicht anbot. Für ihre Männer Benno Lindner und Lars Schlichter sollten es vor allem Besichtigungen von Weingütern und Brauereien sein.
Fast nie konfrontierte ihn das Ehepaar Steffie und Roman Schlichter mit Sonderwünschen. Er war der Bruder von Lars und erst kürzlich Rentner geworden. So wie sie sich mit eigenen Wünschen meist zurückhielten, so setzten sie allerdings auch selten Impulse bei der Gestaltung der Touren oder ihrer Treffen.
Und dann gab es noch das Lehrerehepaar Inge und Andy Schubert, das sich meist unauffällig einfügte, aber gelegentlich durch Einfälle auffiel. Beide bereiteten sich, ähnlich wie die Kleins, auf ihre Radtouren vor, sodass ihre Ideen nicht von ungefähr kamen. Aber sie akzeptierten es, wenn die Gruppe ihren Anregungen nicht folgte.
Paul favorisierte ein Vorgehen, das seiner Meinung nach sehr effektiv zum Abstimmungsergebnis führte. Er stellte keine offenen Fragen zu Terminwünschen oder präferierten Fahrradtouren, sondern suchte selbst zwei, seltener drei Vorschläge im Internet bei bekannten Anbietern heraus, um die dann zur Abstimmung zu stellen. Er wusste ja, dass vielleicht mit Ausnahme der Schuberts sich die meisten in der Gruppe nicht bemühten, selbst nach geeigneten und reizvollen Touren zu suchen. Mit zwei Optionen zur Auswahl erreichte er schneller Einigkeit, als auf Vorschläge aus seiner Gruppe zu warten. Trotzdem nahm die Abstimmung für die anstehende Fahrradtour mehrere Tage in Anspruch.
Auch dieses Mal hatte er zwei Touren vorgeschlagen, eine davon sollte dem Neckar flussabwärts folgend in Heidelberg enden. Und genau für diese entschied sich die Gruppe, die Alternative wurde dagegen nach kurzer Diskussion verworfen. Nur beim Termin hakte es eine Weile, auch wenn das Zeitfenster eng begrenzt war. Auf Anfang September konnten sich schließlich alle festlegen. Was Paul noch regeln musste, waren eher Kleinigkeiten, wie Besuche von touristischen Highlights am Rande der gemeinsamen Tour oder spezielle Wünsche an die Hotelzimmer.
An ihren Radtouren liebten sie vor allem das gesellige Beisammensein, keiner von ihnen war so ehrgeizig, dies als sportliche Herausforderung aufzufassen. Der Spaß stand im Vordergrund, der Weg war das Ziel, hieß es bei ihnen.
Womit er in diesem Jahr nicht gerechnet hatte, war, dass sich jemand zusätzlich zur Teilnahme in ihrer Runde melden würde. Darauf hatte er mit einer einsamen Entscheidung reagiert. Und da hätte er sich einen Satz wie „Ich wollte doch nur …“ besser ersparen sollen, mit dem er in einem Gruppentreffen vor Beginn der Tour seinen Alleingang gegenüber seinen Freunden zu begründen suchte. Bereits beim Lesen der folgenden E-Mail hätte ihm die Problematik seiner Entscheidung auffallen müssen. Eine Korrektur wäre ihm da aber ohnehin kaum mehr möglich gewesen.
E-Mail von klaus.bender@spontanmail.de an paul-klein@xmail.com
Betreff: Unsere Radtour
Hallo Paul,
Samstag in acht Tagen geht’s schon los, und wir freuen uns riesig darauf! Habe dich in den vergangenen Tagen weder an deinem Arbeitsplatz noch in der Kantine angetroffen. Deshalb will ich dir kurz nochmals per E-Mail mitteilen, dass wir gut vorbereitet sind.
Wir sind fit, haben in den letzten Tagen an der Kondition in einem Spinning-Kurs im Fitnessclub gearbeitet. Unsere Fahrräder haben wir auch vom Fachmann checken lassen, fahren künftig mit sogenannten Unplattbaren an beiden Rädern. Hoffen, dass die halten, was ihr Name verspricht!
Habe noch ein paar Ideen, die unsere Abende beleben könnten. Die konnte ich bei meiner anstrengenden Radtour in Norwegen ausprobieren, was die Stimmung deutlich verbessert hatte. Werde mehr erzählen, wenn wir unterwegs sind.
syl
Klaus
Paul Klein atmete ganz tief ein und ließ die Atemluft dann aus seinen dicken Backen hörbar entweichen. Die E-Mail seines Kollegen Klaus wirkte doch erst mal befremdlich auf ihn. Wen hatte er da zu seiner Fahrradtour mit Freunden eingeladen?, fragte er sich. So dick war er mit Klaus nicht, arbeiteten sie doch in verschiedenen Abteilungen in ihrer Firma und hatten in ihrer Freizeit wenig Kontakt miteinander. Und wenn er das las, dann hatte er jetzt den Eindruck, dass der Kollege anscheinend eine andere Radtour erwartete als die gemeinsame mit seinen Freunden. Fast schien der die für einen Wettbewerb zu halten.
Sie trafen sich gelegentlich in der Kantine und bei einem Lehrgang. Einmal hatte Paul die Benders zu einem ihrer Gartenfeste eingeladen, sie waren ja im gleichen Alter. Eine Gegeneinladung oder weitere Besuch hatte es bisher nicht mehr gegeben. Weder schien das Paul noch sein Kollege zu vermissen, es hatte möglicherweise an einer passenden Gelegenheit gefehlt. Die von ihm gelegentlich an Klaus beobachtete berufliche Übermotivierung störte ihn schon mal, aber nicht so, dass er den Kontakt zu ihm hätte meiden wollen.
Einen Moment überlegte Paul, ob er diese E-Mail an seine Freunde weiterleiten sollte, doch unterließ er das, weil er fürchtete, dass die ähnlich erstaunt über den Inhalt reagieren würden. Das wollte er nicht.
Die hatten ja gerade erst die Benders kennengelernt, und er hoffte, dass sich alle auf der Tour zusammenfänden. Er atmete nochmals tief durch, dann antwortete er.
E-Mail von paul-klein@xmail.com an klaus.bender@spontanmail.de
Betreff: Re. Unsere Radtour
Hallo Klaus,
danke für deine E-Mail, war die letzten Tage erst auf einem Lehrgang und dann bei einem unserer Entwicklungspartner in Frankfurt.
Es freut mich, wenn ihr schon so top vorbereitet auf den Beginn der Fahrradtour wartet.
Meine aber, ihr solltet die Tour etwas entspannter sehen. Wir sind eher ein gemütlicher Freundeskreis ohne besonderen sportlichen Ehrgeiz. Spaß steht bei uns im Vordergrund. Es heißt bei uns: Der Weg ist das Ziel!
Dann freue ich mich, euch am Samstag im Hotel zu sehen,
MfG
Paul
Er ahnte nicht, dass Klaus voller Ehrgeiz Petra und sich selbst im Fitnessstudio zu einem Spinning-Kurs angemeldet hatte. Für den war es wichtig, dass sie sich nicht in der Gruppe wegen mangelnder Kondition blamieren müssten. Bei ihm eine überflüssige Sorge, bei Petra, die sich weniger körperlich fit hielt und dauerhaft an einem erhöhten Blutdruck litt, war das Training eher sinnvoll. Sie maulte zwar über seinen Eifer, gab ihm aber nach, um ihn nicht zu enttäuschen.
***
Wenige Wochen vorher hatte ihn Klaus an seinem Arbeitsplatz aufgesucht. Der erwischte ihn, als er gerade einen Wunsch von Rosa online bearbeiten musste. Die hatte ihn kurz zuvor angerufen und darauf gedrungen, dass die Gruppe unbedingt an einer Schlossbesichtigung in Heidelberg teilnehmen sollte.
„Dafür ist aber eine Reservierung für die Führung erforderlich“, ergänzte sie ihren Wunsch.
„Rosa, das müssen wir nicht über den Veranstalter buchen“, hatte er versucht, seine Freundin zu überzeugen. „Das können wir doch direkt vor Ort regeln.“
„Das sehe ich ganz anders. Wir sind zehn Leute, und es könnte mit unserer verfügbaren Zeit knapp werden. Mach es einfach! Ich will schließlich eine kompetente Führung“, ließ sich Rosa nicht beirren.
Pauls leisen Seufzer oder das Verdrehen seiner Augen hatte sie am Telefon nicht mitbekommen und sich nur mit einem herzlichen Gruß bedankt. „Du bist ein Schatz, weißt du das? Tschüs, Paul!“
„Rosa, was soll ich sagen?“, hatte er daraufhin resignierte. Sie und ihr Mann Benno, ein Beamter in der Stadtverwaltung, legten stets großen Wert darauf, dass sie gehört und ihre Gedanken ernst genommen wurden. Sie ließen sich schwer abbringen von einmal gefassten Ideen, das wusste er ja.
Als genau in diesem Moment Klaus bei ihm am Arbeitsplatz auftauchte, da zeigte sein Bildschirm noch die Veranstalter-Homepage. Und der merkte sofort, dass sich sein Kollege nicht mit seiner eigentlichen Aufgabe in der Firma beschäftigte.
„Hallo, was machst du gerade?“, fragte ihn Klaus neugierig, wobei er hinter ihn trat und dabei auf seinen Bildschirm starrte. Der musste nicht lange rätseln, die angezeigte Web-Seite stammte nicht von ihrer Fahrzeugbaufirma.
„Ich versuche gerade, eine Reservierung für unsere diesjährige Radtour abzusetzen. Das wollte ich noch schnell abschließen. Das ist schon die letzte Eingabe“, erklärte Paul etwas verlegen, hatte aber nicht vor, sich wegen des Kollegen unterbrechen zu lassen. „Gib mir einen Moment, ich rede gleich mit dir.“
„Dir ist schon klar, dass du dich bei unserem Arbeitgeber damit nicht beliebt machst. Könnte dir sogar eine Abmahnung einbringen“, schob Klaus seine Bedenken hinterher.
„Ach, weißt du, so oft, wie ich viel früher mit meiner Arbeit beginne oder später das Büro verlasse, da sollte mir mein Arbeitgeber diese kleine Nachlässigkeit verzeihen.“
Paul sah nicht, dass Klaus den Kopf schüttelte, auch weil er sich auf die Eingabe konzentrieren musste.
„So, das ist in der Kiste“, erklärte er schließlich zufrieden. „Du musst wissen, dass ich für die Organisation unserer nächsten Radtour verantwortlich bin. Und ich bin teilweise schon spät dran, immerhin sind wir fünf Ehepaare, und diese Radtour gehört zu den beliebtesten in Deutschland. Aber was wolltest du von mir?“
„Ihr seid eine feste Gruppe?“, fragte Klaus, den nun mehr interessierte, was sein Kollege gerade organisiert hatte.
„Ja, wir kennen uns teilweise seit unserer Kindheit. Einmal im Jahr unternehmen wir eine Fahrradtour, es ist schon die siebte.“
„Klingt interessant! Macht sicher auch Spaß“, sagte Klaus, der es mit seinem Anliegen offensichtlich nicht eilig hatte.
„Ganz bestimmt! Aber jetzt sag schon, was ich für dich tun kann.“
„Ach so, ja. Du bist doch der verantwortliche Konstrukteur für dieses Zusammenbauteil“, erklärte Klaus und hielt dabei seinem Kollegen eine Seite hin.
„Sieht so aus“, sagte Paul und suchte bereits über das Computersystem nach der passenden Zeichnung. „Was ist damit?“
Klaus erklärte, dass er für dieses Teil eine Änderung bräuchte, um es für seinen Einsatzzweck ebenfalls verwenden zu können. Und das sagte ihm sein Kollege nach einigem Nachdenken zu.
„Prima! Das würde uns wirklich helfen“, wollte sich Klaus schon verabschieden, als ihm noch etwas einfiel. „Wann habt ihr vor loszufahren?“
„Was? Ach so, du redest jetzt wieder von unserer Radtour. Die startet erst im September“, antwortete Paul.
„Bis dahin ist es ja noch eine Weile, aber ich wünsche euch jetzt schon ein gutes Gelingen“, sagte Klaus und wandte sich endgültig zum Gehen. Doch nur wenige Minuten später stand er nochmals vor Pauls Schreibtisch.
„Was ist denn jetzt noch?“, fragte der, dem die erneute Störung nicht gefiel.
„Mir ist eine Frage eingefallen, ist aber privat“, druckste Klaus etwas verlegen herum. „Ich habe eben überlegt, ob ihr in eurer Gruppe noch ein weiteres Paar verkraften könntet.“
„Du meinst, du und deine Frau? Oh, das kommt etwas überraschend“, zeigte sich Paul skeptisch. „Wir sind immerhin schon fünf Ehepaare und kennen uns zudem schon sehr lange. Ich weiß nicht, wie die anderen Teilnehmer das aufnehmen würden. Und abgesehen davon ist fraglich, ob der Veranstalter noch zwei weitere Personen auf dieser Tour unterbringen kann, Hotels usw.“
„Na ja, ich wollte halt einfach mal nachfragen, ist mir spontan eingefallen“, sagte Klaus und rührte sich nicht von seinem Platz. Er schaute seinen Kollegen abwartend an, bis der sich endlich bereit erklärte, dessen Wunsch prüfen zu wollen.
„Ich werde beim Reiseveranstalter erst mal anfragen, ob das möglich ist, mache ich gleich in der Mittagspause“, beschied er dem Kollegen, der sich immer noch nicht wegbewegte.
„War’s das dann für heute, Klaus? Wie gesagt, dem Veranstalter werde ich eine E-Mail schreiben. Und meine Freunde werde ich dann heute Abend anrufen oder die per WhatsApp informieren.“
Paul war aufgestanden und reichte Klaus die Hand, um ihm zu signalisieren, dass er nicht mehr Zeit habe. „Ich melde mich bei dir.“
Die Anfrage beim Reiseveranstalter schickte er sofort raus und erhielt prompt eine positive Rückmeldung. Er sollte sich nur wegen der Hotelreservierungen schnell entscheiden. Das war für Paul das Problem.
Die erst nach meiner Mittagspause anzuschreiben, wäre vielleicht schlauer gewesen, überlegte er, unsicher, wie er reagieren sollte. Keinen seiner Freunde hatte er bisher fragen können.
Ihm war unwohl beim Gedanken, sich ohne Zustimmung der Gruppe sofort entscheiden zu müssen. Immerhin könnten die freien Plätze anderweitig vergeben werden, sollte er zögern. Auch wenn Klaus nicht zu seinem engen Freundeskreis gehörte, wollte er sein Versprechen einhalten. Dann tippte er online die notwendigen Angaben der Benders ein, musste aber einige Daten offenlassen, was für die Buchung akzeptiert wurde. Jetzt musste er nur noch „Kostenpflichtig buchen“ drücken, dann wäre das Thema entschieden.
Der Mauszeiger fuhr über den Button, und sein Finger zitterte ganz leicht, doch schließlich drückte er entschlossen auf die Maus.
„Das war’s, die Buchung für Klaus und dessen Frau ist abgehakt!“
Das nächste Problem für Paul würde durch einen Mausklick nicht so leicht erledigt werden können, das ahnte er.
Er war erleichtert, Klaus Bitte erfüllt zu haben, was er dem sofort mitteilte. Unangenehm war ihm nur der Gedanke an seine Freunde. Er hoffte darauf, dass die seine Eigenmächtigkeit zwar kritisieren, aber letztlich doch hinnehmen würden. Unvorbereitet wollte er die nicht über seine Entscheidung informieren, sondern einen passenden Augenblick abwarten.
***
Am Abend rief er die Schlichters an, erreichte dort aber nur den Anrufbeantworter. Als gleich darauf sich auch im Haus von Benno und Rosa niemand meldete, verschob er sein Vorhaben. Er hatte entschieden, keine E-Mail oder WhatsApp an die Freunde zu verschicken, sondern wollte jedes Ehepaar telefonisch über seine Entscheidung informieren. Er hoffte eher auf Nachsicht für seinen Alleingang, wenn er sie einzeln mündlich ansprach.
Am Folgetag erhielt Lars Schlichter als Erster der Gruppe einen Anruf, der gleich anders ausfiel, als Paul es erwartet hatte. Zwar verzichtete der darauf, direkt gegen seine Entscheidung zu opponieren, aber unverkennbar zeigte der sich verärgert. Nach dem Gespräch lief er kopfschüttelnd zu seiner Frau, um ihr von der Neuigkeit zu berichten. „Beatrix, weißt du, was mir Paul gerade offenbart hat?“
„Nein, aber du wirst es mir sicher gleich erzählen“, erwiderte sie ungeduldig und verdrehte dabei ihre Augen. Sie empfand ihren Mann gelegentlich als etwas langatmig.
„Paul hat ein Ehepaar zu unserer Radtour eingeladen, ohne uns vorher zu fragen. Keiner von uns kennt die“, rief er deutlich empört.
„Was hat der? Und du hast ihm sicher gleich gesagt, was du davon hältst?“, zeigte sich Beatrix ebenfalls irritiert von Pauls Entscheidung, schien aber anzunehmen, dass Lars sich entsprechend ablehnend geäußert hatte.
„Jedenfalls habe ich ihm gesagt, dass sein Vorgehen nicht in Ordnung ist“, antwortete ihr Mann verunsichert und deutlich leiser.
„Mensch, warum hast du nicht gleich gesagt, dass wir damit nicht einverstanden sind!“, zeigte sich Beatrix ungehalten.
„Das bringt doch nichts!“, verteidigte sich Lars. „Die Buchung ist doch schon gelaufen, wie er mir erzählte.“
„Ich fasse es nicht! Ich rufe den jetzt an und sage ihm selbst, was ich davon halte.“ Damit griff sie zum Telefon, wählte und wartete.
„Und wieso meldet der sich jetzt nicht?“ In Beatrix steigerte sich der Ärger. „Dann versuche ich erst mal, Rosa zu erreichen. Die weiß vielleicht noch gar nichts davon.“
Sie hatte den Apparat in der Hand und schien zu zögern.
„Ich mache das von drüben aus, da kann ich mit der gleich noch etwas anderes besprechen!“
„Was denn?“, fragte er hinterher, erhielt aber keine Antwort, da sie bereits das Zimmer verlassen hatte.
Lars wurmte, dass seine Frau ihn ziemlich heftig angegangen und nun zum Telefonieren im Schlafzimmer verschwunden war. Wenn er etwas nicht leiden konnte, dann, von ihr respektlos behandelt zu werden. In diesem Fall meinte er, nicht einmal eine Berechtigung für ihren Unmut zu erkennen. Dass sie sich häufig zurückzog, um ungestört zu telefonieren, verstand er nicht, es verunsicherte ihn nur.
Beatrix erreichte Benno Lindner am Telefon, was sie wohl insgeheim gehofft hatte, auch wenn sie angeblich Rosa hatte sprechen wollen. Und bis sie dann zum Thema ihres Anrufs kam, vergingen einige Minuten. Bei Benno schien das keine Verwunderung hervorzurufen, eher schien der beim Plaudern mit der Freundin aufzublühen, hörte ihn doch seine Frau mehrfach auflachen. Erst als Rosa neben ihm auftauchte, wechselte er in einen mehr sachlichen Ton.
„Was kann ich denn jetzt für dich tun?“, fragte er, da ihm Rosa schon das Telefon aus seiner Hand zu entwenden suchte.
„Beatrix, ich bin’s jetzt. Worum geht es denn?“, mischte sie sich in das Gespräch ein.
Und dann berichtete ihre Freundin von Pauls Neuigkeit, die sie angeblich von ihm selbst erfahren hätte. Sie musste sich gar nicht sonderlich anstrengen, Rosa teilte sofort ihren Ärger. Sie hatte nur Mühe, ihren Mann auf Abstand zu halten, da der versuchte, dicht an ihrem Ohr mitzuhören, was Beatrix berichtete.
„Sag, geht’s bei dem noch? Der kann doch nicht über unsere Köpfe hinweg einfach jemanden dazu einladen. Das sollten wir nicht akzeptieren“, schimpfte Rosa.
Schnell waren sich die beiden Frauen einig, dass sie das nicht hinnehmen wollten, und sie fanden ausreichend Gründe, warum das absolut nicht möglich wäre.
„Wir kennen uns so lange, wir harmonieren wirklich, so- dass wir mit unseren Macken gut zurechtkommen. Das ist doch bei einem völlig neuen Paar gar nicht zu erwarten“, erklärte Beatrix. „Ich kann Paul wirklich nicht verstehen, dass dem das nicht bewusst ist.“
„Sehe ich genauso. Allenfalls wenn wir die vorher mehrmals treffen könnten und wir dann wüssten, wie die drauf sind, hätte diese Einladung eine Chance“, stimmte ihr Rosa zu.
Erst Benno konnte die beiden Freundinnen beruhigen, nachdem er durch mehrfaches Fragen herausbekommen hatte, was das Problem war. Er schlug vor, die ganze Gruppe zu einem Gespräch zusammenzurufen. „Dann erklären wir mal Paul, wie wir das sehen!“ Er bot sich an, einen Termin zu arrangieren, um diese Entscheidung zu diskutieren.
Und dieses Treffen fand wenige Tage später in einem Lokal statt, das sie häufiger schon für ihre Besprechungen und bei etlichen Feiern aufgesucht hatten. Dort gab es einen kleineren Raum, in dem die Gruppe niemand stören würde. Und dieses Mal war das sogar erforderlich, denn die Stimmung zeigte sich aufgeladen, selbst wenn sie alle sich zunächst noch zurückhielten.
Paul sah jeder sein schlechtes Gewissen an. Er äußerte auch sofort sein Bedauern. Er habe das völlig falsch eingeschätzt und nur deshalb so prompt reagiert, weil ihn der Reiseveranstalter wegen der Hotelreservierung unter Druck gesetzt hätte.
„Das Büro des Veranstalters hat mich da regelrecht gedrängt, schnell zu reagieren“, behauptete er kleinlaut, und das verstanden einige in der Gruppe sogar. Nur die Lindners und Schlichters zeigten sich unbeeindruckt.
„Das Schlimmste, was du riskiert hättest, wäre, dass dieses Ehepaar nicht mitfahren könnte“, zischte Beatrix Paul an. „Na und? Dann hättest du das denen mitgeteilt: Sorry, hab’s versucht.“
Und Benno sprang ihr zur Seite. „Dann hätte sich die Sache von selbst erledigt.“
„Ist das deine Art, mit Kollegen umzugehen?“, fragte Paul, der eine andere Meinung vertrat und die jetzt am liebste gesagt hätte. „Ich wollte doch einfach nur meinem Kollegen einen Gefallen tun. Dachte nicht, dass das ein großes Problem für euch sein würde.“
Jetzt griff Lars ein, der mehr Verständnis für den Gescholtenen empfand und dem die knallharte Kompromisslosigkeit seiner Frau und von Benno nicht gefiel.
„Was Paul gemacht hat, war nicht in Ordnung. Ist aber auch kein Grund, über ihn herzufallen. Immerhin organisiert er zu unser aller Entlastung Jahr für Jahr unsere Radtouren. Das sollten wir nicht vergessen.“
Selbst seine Frau Beatrix erwiderte nichts mehr, kaute auf ihrer Lippe und schaute kurz zu Rosa rüber, die sich scheute, Lars Worten offen zu widersprechen. Paul fasste sich endlich und hatte einen Vorschlag.
„Wir sollten uns mit denen treffen, ich meine mit den Benders“, erklärte er und ließ seinen Blick in der Runde kreisen. „Dann können wir uns ein Bild von denen machen. Und sollten wir dann feststellen, dass es nicht passt, dann müssten wir die bitten, die Tour allein zu fahren oder abzusagen.“
Das klang gut und kam an, obwohl er unerwähnt ließ, ob eine Buchung so einfach gecancelt werden könnte. Fast alle nickten zustimmend und schienen froh, dass sie Paul hatten, der sich dieser Organisationsarbeit seit Jahren angenommen hatte. Jetzt wollten sie aber mehr über die Benders erfahren.
Als sie auseinandergingen, war zumindest Paul überzeugt, dass ihm alle in der Runde seinen Alleingang verziehen und die Mitfahrt seines Kollegen und dessen Frau grundsätzlich akzeptiert hatten. Er war sicher, dass keiner deshalb die gemeinsame Tour platzen lassen wollte. Das sah er zu optimistisch, denn einige seiner Freunde hatte er nicht überzeugt. Auf ihrer Heimfahrt diskutierten die beiden Ehepaare Schlichter und Lindner weiter. Beatrix konnte sich nicht bremsen, ihrer anhaltenden Skepsis und Verärgerung freien Lauf zu lassen.
„Paul hat uns ganz schön eingewickelt, finde ich. Jetzt sollen wir also zusammen mit diesen Benders fahren, obwohl wir die überhaupt nicht kennen. Oder wisst ihr mehr, als dass sie in unserer Stadt wohnen und er ein Kollege von Paul ist?“
„Na ja, etwas mehr wissen wir jetzt schon“, widersprach Lars. „Es scheinen auch interessante Leute zu sein, immerhin hat sich Paul doch sehr positiv über die geäußert. Und Erfahrungen mit Radtouren sollen die auch haben. Ich sehe das entspannter als du.“
„Ja und?“, fragte Benno ironisch. „Was Paul sagt, will ich gern glauben. Nur ist das nicht der Punkt. Das Wichtige ist doch, ob sie zu uns passen. Also ich weiß jedenfalls nicht sehr viel über die, um jetzt sagen zu können: passt schon. Aber die Entscheidung ist gefallen, und wir sollten uns damit anfreunden, meine ich.“
„Manchmal bringst du es einfach auf den Punkt!“, rief Beatrix, die jetzt von ihrem Rücksitz aus die Schultern von Benno umschlang, ungeachtet dessen, dass der sich auf das Lenken konzentrieren musste.
„Kannst du den mal einfach fahren lassen, bevor noch etwas passiert?“, mischte sich Rosa befremdet ein, der diese Geste weniger gefiel.
„Wieso denn? Dein Mann ist doch so knuddelig!“ Jetzt mussten alle lachen, und weder Rosa noch Lars bemerkten, wie sehr in diesem Moment Beatrix Benno knuddelte und der gleichzeitig ihre Hand fasste und die fest drückte.
„Gell, wir jedenfalls gehören zusammen!“, sagte Benno in die Runde und schaute in den Rückspiegel.
***
Benders fuhren voraus, eine beträchtliche Lücke hatte sich zum Feld der restlichen Radgruppe aufgetan, die offensichtlich keine Anstrengungen unternahm, die zu verkleinern. Dabei war es nicht der Tag, an dem man unbedingt gemütlich durch die Landschaft zockelte, weil keine wärmende Sonne und ein wolkenloser Himmel die Stimmung stimulierte. Es regnete zwar nicht, aber sonst gab sich dieser Septembertag grau und kühl.
Bei der Abfahrt vor dem Hotel am Morgen hatte Paul den Benders erklärt, dass sie auf der Fahrt gern zusammenbleiben wollten, sich keiner beim Radeln verausgaben sollte.
„Wir fahren eher gemütlich, haben für die Etappe genug Zeit und müssen uns nicht beeilen.“
Das hatte zumindest Klaus vermutlich nicht völlig verstanden. Bereits mehrfach hatte er festgestellt, dass er zu weit vor der Gruppe herfuhr und er dann warten musste. Nur Petra war meist neben ihm geblieben, was ihr gar nicht so leicht fiel. Gegen das eher gemächliche und entspannte Radeln der Gruppe hatte sie selbst nichts einzuwenden, hätte sich gern mehr an den Gesprächen der anderen Radler beteiligt.
„Du hast doch gehört, was Paul heute Morgen gesagt hat“, erinnerte ihn seine Frau. „Die fahren halt ihr übliches Tempo, und das reicht ja auch. Ich jedenfalls möchte auch nicht wesentlich schneller fahren.“
„Bisschen nervend für mich, immer wieder warten zu müssen“, entgegnete Klaus etwas gequält. „Die sind wohl gar nicht so fit, wie es Paul behauptet hat. Zumindest ein Teil von denen.“
„Wen meinst du denn?“, erkundigte sie sich. Ihr war Klaus Beobachtung gar nicht aufgefallen, hatte sie zumindest nicht beachtet.
„Das siehst du doch selber!“, entgegnete ihr Mann und schaute sich abschätzig nach der Gruppe um, die Klaus bissigen Kommentar gar nicht gehört hatte. „Ich hätte da mal eine Frage zur Fitness an Paul!“
„Untersteh dich“, warnte ihn Petra, die fürchtete, dass ihr Mann drauf und dran war, seine latente Unzufriedenheit hinauszuposaunen. „Bring die nicht gegen uns auf mit deinen Kommentaren. Die Tour geht noch über mehrere Tage.“
„Keine Sorge, mach ich schon nicht“, wiegelte er ab. Gleich darauf vermochte er doch nicht, sich mit einer spöttischen Bemerkung über deren Fitness zurückzuhalten. Die hatten inzwischen zu ihnen aufgeschlossen, da sie ihr Tempo verzögert hatten. „Kostet euch Kondition, was?“
„Am ersten Tag tun wir uns vielleicht etwas schwer“, erklärte Paul entschuldigend und klopfte dabei Klaus auf die Schulter. „Wart ab, morgen wird’s schon besser!“
Dann fiel ihm noch etwas ein, wobei er ihn sogar versuchte, näher an sich heranzuziehen.
„Wenn du meine Rede von heute Morgen richtig verstanden hättest, dann müsstest du nicht so oft warten, weil du so weit vorausfährst.“
Petra hatte diesen Hinweis erwartet und nickte zustimmend. Nur hatte der gar nicht ihr gegolten.
Der Radweg verlief parallel zu einer mäßig befahrenen Landstraße. Erst genossen sie einen abschüssigen Streckenabschnitt, dann folgte eine lang gestreckte Linkskurve, wobei die zunehmend steil anstieg. Fast alle in der Gruppe schalteten jetzt in einen niedrigeren Gang runter, sofern sie nicht auf E-Bikes unterwegs waren. Nur Klaus mühte sich weiter die Steigung hinauf, ohne zu schalten. Er erhob sich sogar vom Sattel. Oben auf der Kuppe musste er dann erst mal warten und schaute grinsend seinen Mitfahrern entgegen. Er rudert dabei mit dem Arm, um denen anzuzeigen, dass die sich ins Zeug legen sollten, was er für einen Spaß hielt. Tatsächlich aber hatten da bereits alle Frauen erschöpft aufgegeben und schoben ihre Räder.
„Der kann mich mal!“, stieß Beatrix mit unterdrücktem Ärger aus. „Wir unternehmen hier nichts anderes als eine Radwanderung und keinen Wettbewerb!“
„Die haben es wohl nicht begriffen, was Paul heute Morgen gesagt hat“, erwiderte ihre Freundin Rosa, die ebenfalls genervt war, aber weniger von der anstrengenden Schieberei. Sie sah sich durch den häufig vorausfahrenden Klaus provoziert.
„Macht mal hinne!“, rief jetzt Lars Schlichter, der in den Pedalen stehend an ihnen vorbeizog. „Wollen uns doch nicht abhängen lassen!“
Aber kurz darauf musste er auch absteigen, was er mit einem lauten Fluch quittierte. „Nur verschaltet!“, rief er zur Entschuldigung. Immerhin konnte jetzt die ganze Gruppe zum wartenden Klaus aufschließen.
Erst mal sprach keiner ein Wort, deutlich schien sie alle dieser Anstieg gefordert zu haben. Selbst der ehrgeizige Klaus hielt sich zurück, wenn auch seiner leicht spöttischen Miene zu entnehmen war, was er insgeheim über seine Mitfahrer dachte.
Er wollte gerade doch etwas sagen, da fuhr ihn Rosa harsch an. „Besser du hältst jetzt den Mund!“, schnauzte sie ihn an. „Wir fahren in der Gruppe, um die Tour zu genießen! Der Weg ist unser Ziel, hast du wohl noch nicht verstanden!“
Alle schauten etwas unsicher abwechselnd zu Rosa und dann zu Klaus, der grinsend den Kopf schüttelte und es nicht dabei bewenden lassen wollte.
„Sorry, aber gut, dass du es mir nochmals erklärt hast!“
„Lasst uns mal weiterfahren, bevor die Stimmung leidet“, grätschte Paul dazwischen, dem das Verhalten der beiden absolut nicht gefiel. „Noch zwei oder drei Kilometer, dann erreichen wir eine Ortschaft. Dort im Ort oder dahinter finden wir sicher am Ufer einen Platz, wo wir Rast machen können.“
Paul zeigte in diesem Moment wieder einmal, warum er im Freundeskreis wegen seines Gespürs für aufkommende Misstöne und seiner Besonnenheit eine Führungsrolle einnahm. In Gruppen findet sich oft jemand, der eine Missstimmung früh genug heraufziehen sieht, um darauf rechtzeitig reagieren zu können. Wenn es galt, einen ernsthaften Streit zu schlichten, dann griff Paul ein und suchte meist mit Erfolg die Situation zu retten. Zweifelsohne trug er so zum Gelingen ihrer Unternehmungen bei, weil er allen die Sicherheit vermittelte, ein Scheitern abwenden zu können. Unterstützt wurde er dabei von seiner Frau, die sich zwar selten in den Vordergrund schob, aber ein ähnliches Geschick aufwies.
Sie beide studierten wie kein anderer der Freunde lange vor Beginn der Radtour intensiv die Tourenbeschreibung des Veranstalters und informierten sich über die Region, durch die die Tour führte. So halfen sie häufig mit Tipps, wo ein Abstecher zu einer Sehenswürdigkeit lohnte oder wo sie eine Pause einlegen sollten. Kein Wunder, dass Paul von den Freunden als Seele einer Radtour empfunden wurde. Ob die Benders genauso empfanden, war nicht sicher, Petra zumindest schien das eher bewusst zu sein, wohingegen das bei Klaus nicht so klar war.
„Dann reihen wir uns halt jetzt hinten ein“, bemerkte Klaus leicht verstimmt nur für seine Frau, die dicht neben ihm stand. Es war die erste Etappe, laut Tourenbeschreibung zirka fünfzig Kilometer lang. Sie bot ihnen ausreichend Gelegenheit, sich entspannt zu unterhalten, da keiner von der Strecke übermäßig gefordert wurde.
***
Erst wenige Tage davor hatte Paul einen Grillabend in seinem Garten organisiert, um Klaus und Petra allen Teilnehmern vorzustellen. Er hoffte, dass die Benders hierdurch schneller Kontakt zur Gruppe finden würden. Das Glück hatte ihnen einen warmen und trockenen Tag im beginnenden September geboten. Neugier war auf beiden Seiten vorhanden, und der Ärger über Pauls einsame Entscheidung schien vergessen zu sein, als sich alle in der Gruppe den Benders kurz vorstellten.
Vielleicht wäre dieses Zusammentreffen noch besser verlaufen, wenn Klaus nicht eine für ihn typische und langatmige Rede gehalten hätte. Ausführlich erzählte er von seiner wichtigen Arbeit, und dann fehlte auch nicht, was er bei einer seiner Radtouren im Norden von Skandinavien meinte vollbracht zu haben. Das hörte sich für die anderen beeindruckend an, fand nur wenig Sympathie, langweilte eher, und einige hielten es schlicht für zu dick aufgetragen.
„Es gab dabei Steigungen von bis zu 15 %, und das noch über zweihundert bis dreihundert Metern Länge. Hinzu kam auch der oft heftige und böige Wind“, schwärmte Klaus. „Das hat uns alle bis zur Belastungsgrenze gefordert.“
„Wer ist wir? Warst du dabei, Petra?“, wagte Beatrix eine Frage.
„Nein, wir Männer waren unter uns. Nur meine Tennispartner!“, schoss Klaus sofort dazwischen, noch bevor seine Frau antworten konnte. „Ich glaube, Petra, das hätte dir auch kaum gefallen.“
„Hört der sich immer so gern reden?“, flüsterte Beatrix Rosa ins Ohr, wohl ahnend, dass das klar war.
„Muss wohl so sein“, gab die ebenfalls leise zurück, weil sie den gleichen Eindruck hatte. „Seine Frau scheint das gewohnt zu sein.“
„Na, dann wissen wir das jetzt auch noch, danke, Klaus“, sagte schließlich Paul etwas ironisch lächelnd.
Sein Arbeitskollege hatte den leicht spöttischen Ton, die möglichen kritischen Gefühle und die schon aufkommende Distanz bei einigen Zuhörern nicht wahrgenommen. Und seine Frau schien solche Reden ihres Mannes klaglos hinzunehmen. Auf dem Nachhauseweg hatte Petra bemerkt, wie nett sie alle fände und meinte, dass die Tour ihnen Spaß machen würde.
„Wir haben uns ganz gut präsentiert, denke ich. Und konditionell müssen wir uns sicher nicht verstecken“, fügte ein recht zufriedener Klaus an.
***
Paul mochte sich an dieses Treffen jetzt erinnern, als er sich mit seinem Rad zwischen die Benders schob. Bis zur nächsten Ortschaft war es nicht mehr weit.
„Es ist für uns besser, wenn wir nicht nur in Kleingrüppchen fahren“, versuchte er vor Klaus seine Mahnung vom Morgen in anderen Worten zu wiederholen, da er nicht überzeugt war, dass der ihn richtig verstanden hatte. „Wir haben schließlich genügend Zeit für die Etappe. Und so können wir uns auch unterhalten.“
„Wir werden uns an das übliche Tempo halten!“, mischte sich Petra lachend ein. „Sorry, wenn wir euch vorhin verärgert haben sollten.“
„Verärgert ist keiner“, gab Paul zurück, der nicht sie, sondern ihren Mann gemeint hatte.
Etwas später saßen sie eng gedrängt in einer zu einem Café erweiterten Bäckerei des kleinen, kaum dreihundert Seelen zählenden Ortes. Die meisten verdrückten ein Stück Kuchen und tranken dazu Kaffee oder Tee. Leider fing es jetzt zu regnen an.
„Na, das wird heute sicher nicht unser schönster Tag!“, rief jemand, der sich dicht an der matt verglasten Eingangstür postiert hatte.
„Morgen wird es sicher wieder schöner“, suchte Carmen die Stimmung aufzuhellen.
Keiner hatte es bemerkt, bis Klaus plötzlich mit einem Tablett an den drei runden Café-Tischen erschien. Er platzierte acht Schnapsgläser und eine Flasche Mirabellen-Schnaps direkt vor seine erstaunt blickenden Freunde.
„Also die haben hier nur eine beschränkte Anzahl an solchen Gläsern, und die Mirabelle ist das Einzige, was es hier an stärkeren Getränken gibt“, entschuldigte er sich. „Wir müssen uns halt damit begnügen.“
Dann füllte er die Gläser, was durchaus bei den Freunden hörbar Beifall fand. Kaum gefüllt, griff schon der Erste nach seinem Schnapsglas.
„Die Flasche reicht aber gerade mal für eine Runde!“, spottete Benno nicht ganz ernst.
„Aber leider, Leute, Nachschub werden wir hier nicht bekommen. Dann aber zum Wohl, auf die Tour!“, rief Klaus sichtlich stolz auf seine Idee.
Petra, seine Frau, begann sofort, die geleerten Gläser nochmals neu zu füllen, sodass am Ende jeder mindestens eine Mirabelle erhielt. Nur für sie selbst und Klaus blieb so nichts mehr übrig, die Flasche war ja beim Kauf schon angebrochen gewesen.
„Ich wollte noch etwas sagen“, ließ sich Klaus vernehmen. „Wir müssen bei dem Regen ja noch eine Weile hier im Laden abwarten.“ Er schaute in die Runde.
„Also, wir sind das erste Mal dabei, haben bis auf Paul und Carmen keinen von euch gekannt. Und da ist für uns besonders spannend, mit euch mitzufahren. Ich sage noch mal: Vielen Dank an euch, dass ihr alle uns so offen aufnehmt, und ich wünsche uns allen eine gelungene Radtour.“ Und weil er so in Fahrt war, rief er einer spontanen Eingebung folgend laut in die Runde: „Mit Plattfuß geht’s nimmer, ohne immer!“, was alle gleich darauf wiederholten.
Es war kaum aufgefallen, dass Rosa sich zurückgehalten hatte. Die hatte möglicherweise ihren Wortwechsel auf der Fahrt nicht weggesteckt, und immer noch stand ihr Schnapsglas gefüllt vor ihr. Ihr Gesicht zeigte sich unbeteiligt und verriet nicht, was sie beschäftigte. Sie mied auch den Blickkontakt zu ihren Mitfahrern.
„Das war hoffentlich aber nur euer Einstieg in den Einstand“, witzelte Paul, der die leere Mirabellenflasche in die Luft hielt. „Da sollte doch noch etwas folgen!“
Einige trommelten mit der flachen Hand auf die Tischplatten, und Petra erklärte lachend, dass sie das nicht anders verstanden habe.
Dass sie der Regen länger in diesem Café festhielt als geplant, schien niemanden zu stören. Im Gegenteil, es stellte sich inzwischen eine entspannte Stimmung ein, weil sogar diese kleine Menge Alkohol einigen die Zunge gelöst hatte. Dabei half dann, dass es in dieser Café-Bäckerei gemütlich war, trotz der Beengtheit – oder gerade deshalb.
Der Regen würde sich heute nicht mehr verziehen, stellte Paul nach fast einer Stunde fest, und schon ließ die Bäckersfrau erkennen, dass sie darauf hoffte, ihre Gäste endlich weiterziehen zu sehen. Dabei hatte sie sicher einiges eingenommen, weil die Gruppe nicht nur Kuchen gegessen hatte.
„Leute, lasst uns losfahren“, mahnte schließlich Paul zum Aufbruch. „Wir haben noch ein gutes Stück vor uns, und der Regen wird uns erhalten bleiben.“
„Geht es dir nicht gut, Rosa?“, fragte Klaus beim Hinausgehen, dem ihre Teilnahmslosigkeit aufgefallen war. Warum die sich bei den lockeren Gesprächen so zurückgehalten hatte, erschloss sich ihm nicht, er vermutete durchaus zutreffend den Grund in ihrem kurzen Zusammenprall auf der Fahrt.
„Wieso willst du das jetzt wissen?“, antwortete Rosa auf seine Frage, was eher missgelaunt rüberkam.
„Ach, nur so. Du warst die ganze Zeit im Café so schweigsam, und das habe ich bemerkt.“
„Ich habe zugehört. Das reicht manchmal auch!“, erwiderte Rosa spitz und wollte sich an ihm vorbei zu ihrem Rad durchzwängen. „Mal eine gute Idee, nicht wahr?“
„Ich dachte, dass ich das von vorhin geradebiegen kann“, versuchte es Klaus nochmals, da schwang sie sich aber schon auf ihr Rad.
„Lass sie doch!“, zischte ihm Petra leise zu, was niemand sonst mitbekam. „Die braucht wohl noch etwas Zeit, um sich an uns in der Gruppe zu gewöhnen. Zeigen wir uns also auch mit Geduld.“
„Deshalb versuche ich ja mit der ins Gespräch zu kommen. Vielleicht …“
Petra sah das anders. „Lass sie einfach in Frieden und warte, bis sie von selbst kommt!“
Ohne zumindest Rosa auf ihr abweisendes Verhalten angesprochen zu haben, wollte Klaus aber nicht aufgeben. Daher drängte er sich jetzt neben sie, die sich an die Spitze der Radgruppe gesetzt hatte.
„Ein blödes Wetter“, versuchte er es mit einem neutralen Thema. Dann wartete er einen Moment, ob sie etwas erwidern würde, und redete, weil von ihr nichts kam, einfach weiter.
„Der Wetterbericht prophezeit Gott sei Dank für die nächsten Tage recht passables Wetter. Morgen gibt es demnach keinen Regen.“
Rosa reagiert immer noch nicht, ließ ihn regelrecht auflaufen. Ziemlich ratlos suchte er jetzt in der für ihn peinlichen Gesprächspause nach einem Thema, um sie aus der Reserve zu locken. Ihm fiel noch mal seine anstrengende Radtour mit seinen Tennisfreunden ein.
„Wenn ich an das teilweise scheußliche Wetter in Skandinavien bei unserer Tour denke, dann ist der Regen jetzt ganz gut zu ertragen“, versuchte er sie so zu erreichen. „Kalt war es auch häufig gewesen, manchmal haben wir sogar gefroren.“
„Toll!“, rief Rosa ohne Interesse. „Frage mich, warum du dich auf so eine Challenge eingelassen hast, wenn es doch so wenig Spaß gemacht hat?“ Dabei dehnte sie übertrieben das Wort Challenge.
„Ja, für mich war es eine Herausforderung. Darauf kam es mir ja an!“, entgegnete er ernsthaft, weil er ihren spöttischen Unterton gar nicht bemerkt hatte.
„Brauchst du das für dein Selbstbewusstsein?“, hakte sie nach und feixte dabei zu ihm rüber, was Klaus nicht entging.
Der hatte endlich verstanden und reagierte jetzt spürbar gereizt. „Für mein Selbstbewusstsein gibt es ausreichend Gelegenheiten! Allerdings frage ich mich, ob du nicht dein Selbstbewusstsein durch solche Unhöflichkeiten aufpolieren musst? Hast du noch mehr drauf?“
„Mit deiner Erzählung kann ich nichts anfangen. Höre nur immer heraus, dass du ein ganz toller Radfahrer bist, was du augenscheinlich auch bei unserer Tour unter Beweis stellen willst.“
Klaus atmete tief durch, bevor er darauf antwortete. „Muss ich das verstehen? Jeder fährt gern in seinem Rhythmus. Und ich liebe es, auch mal Tempo zu machen. Kann ja sein, dass dich das stört, fehlt es dir vielleicht an Kondition?“
Rosa schüttelte unwillig den Kopf. „Meine Kondition reicht völlig! Aber gerade habe ich überhaupt keine Lust, mich mit dir zu unterhalten“, entgegnete sie säuerlich und verzögerte so unvermittelt ihre Fahrt, dass der folgende Radfahrer ebenfalls heftig bremsen musste und laut protestierte. „Mensch Rosa, was soll das denn?“
Und Klaus sah sich auf einmal an der Spitze allein fahren. Auch ihm reichte es jetzt, einen weiteren Versuch, an Rosa heranzukommen, hatte er zumindest heute nicht vor. Etwas missgelaunt schaute er sich nach Petra um, die das sah und versuchte, zu ihm aufzuschließen.
„Sagte ich nicht, du sollst die in Ruhe lassen? Musstest du dir erst eine Abfuhr abholen, bis du das begreifst? Wir gehören für sie einfach noch nicht dazu, das müssen wir erst mal akzeptieren.“
„Ob ich das akzeptieren werde – schau’n wir mal“, knurrte er.
Der Regen ließ doch noch nach, etwas zeigte sich tief am Horizont sogar die Sonne. Dem stets zurückhaltenden Roman Schlichter gefiel es so gut, dass er zu singen anfing, was die anderen eher amüsierte.
Von hinten hörten sie Rosa laut rufen. „Könnten wir doch noch mal anhalten?“, rief sie, und den meisten war klar, warum sie so kurz vor ihrem Etappenziel die Fahrt unterbrechen wollte.
„Hier ist es aber schwierig“, erklärte Beatrix zu ihrer Freundin und sah sich prüfend um. „Ich muss auch, aber hier ist nichts, wo wir uns etwas verbergen könnten.“
„Ich gehe das Stück zurück zu dem Graben, den wir gerade überquert haben“, antwortet Rosa. „Kommst du mit?“
Und gleich darauf verschwanden sie beide im Graben, wo nur noch gelegentlich etwas von ihren Köpfen über den Rand lugte.
Und dann ertönte ein schriller Schreckensschrei. Zwei andere Frauen stürmten zurück, um Hilfe zu leisten, doch da tauchten Rosa und Beatrix schon wieder auf und rannten zu ihren Rädern. Sie ruderten heftig mit ihren Armen durch die Luft, so, als wollten sie irgendwelche Insekten verscheuchen, die sie verfolgten.
„Was war denn los?“, frage Paul besorgt, als sie bereits wieder zusammenstanden.
„Uns haben im Graben Wespen angegriffen, die nisten dort augenscheinlich in einem Erdloch, was wir nicht bemerkt haben“, erklärte Beatrix. Sie war gestochen worden, denn sie zeigte wütend auf die Innenseite ihres Oberschenkels.
Auch Rosa hatte es erwischt, bei ihr musste der Stich ihren Rücken getroffen haben, denn sie ließ jetzt die Stelle von Carmen untersuchen.
„Und das mitten beim Pipimachen“, feixte Klaus unpassend, der sich nichts bei seinem Spaß gedacht hatte. Wie empfindlich die beiden Frauen waren, erfuhr er postwendend.
„Geht’s noch bei dir?“, geriet Rosa fast außer sich und blitzte Klaus wütend an. „Nicht nur, dass die Stiche richtig schmerzhaft sind, wenn eine dieser Wespen in unseren Po gestochen hätte, was meinst du, wie wir dann hätten weiterfahren können?“
Die Gruppe schwieg betreten, selbst wenn nicht alle Rosas Wut nachvollziehen konnten. Zumindest unangebracht erschien Klaus Witz den anderen. Der gab sich immer noch ahnungslos über die Empfindlichkeit der beiden Frauen. Immerhin unterdrückte er eine weitere Bemerkung, als ihn Petra heftig anstieß.
„Es ist ja Gott sei Dank nichts passiert“, suchte Paul wieder einmal die aufgezogenen finsteren Wolken zu verscheuchen.
Jetzt mischte sich aber Benno ein, den Klaus Verhalten an diesem Tag schon einmal sauer aufgestoßen war.
„Paul, wenn du glaubst, hier den Psychodoktor spielen zu müssen, dann liegst du falsch. Du solltest ihm noch mal klarmachen“, er zeigte dabei mit seinem Finger auf Klaus, „wie wir hier miteinander umgehen. Ansonsten ziehen wir, Rosa und ich, es vor, allein weiterzu- radeln.“
„Jetzt schießt du deutlich übers Ziel hinaus“, mischte sich Carmen zur Unterstützung ihres Mannes ein. „Klaus hat einen Spaß gemacht, der wollte niemandem von euch zu nahe treten. Es reicht jetzt, oder wollt ihr, dass unsere Radtour hier im Streit scheitert?“
Carmen schien sich selbst über ihre entschiedene Rede zu wundern, erntete aber einen dankbaren Blick von Paul.
„Ich wollte wirklich niemanden beleidigen“, beteuerte Klaus und schaute sich hilfesuchend um. Beatrix und Rosa schien das nicht zu beeindrucken, ihre Mienen verrieten nach wie vor Verärgerung.
„Okay, stecken wir es weg!“, erklärte Lars. „Carmen hat recht. Jedenfalls möchte ich diese Radtour bis zur letzten Etappe zu Ende fahren, und meine Frau sicher auch.“
Was immer Rosa und Beatrix im Moment durch den Kopf ging, sie sprachen es nicht aus. Erst als sie nebeneinander außer Hörweite der Benders radelten, wurden sie deutlich.
„Denkst du dasselbe wie ich?“, fragte Rosa. „Ich meine, dass er vor allem für mich fast ein rotes Tuch ist, er ist aufgeblasen und offensichtlich empathielos.“
„Er schon, seine Frau aber nicht! Was sollen wir machen?“, fragte ihre Freundin.
„Das weiß ich jetzt auch nicht. Aber ich werde ihm aus dem Weg gehen“, erwiderte Rosa.
Wie sehr Klaus lockerer Spruch nach dem Wespenangriff ihre latent vorhandene Abneigung gegen ihn weiter verstärkt hatte, war den Freundinnen in diesem Moment nicht bewusst. Die hatte sich aber richtig verfestigt.
Und die anderen? Die mochten vielleicht erstmals daran zweifeln, ob ihre Tour dieses Mal ebenso harmonisch verlaufen würde, wie sie es gewohnt waren. Aber auch ihnen war das nicht sofort bewusst.
Am Abend beim Essen schien die Missstimmung in der Gruppe vergessen. Die Gespräche liefen so locker wie bei früheren Radtouren. Es wurden Witze gemacht und gelacht, und besonders Paul und Carmen schien die Atmosphäre zu beruhigen.
***
Der folgende Morgen zeigte sich mit dem wolkenlosen Himmel so freundlich, wie sie es sich wünschten. Zwar war es jetzt um diese Zeit noch kühl, aber alle hofften darauf, dass die Sonne das schnell ändern würde.
Bevor sie losfuhren, gab es die übliche Diskussion zwischen den Männern über die Fahrstrecke. Das lag sicher auch an den Navigationssystemen, die inzwischen fast alle mit sich führten. Die Routenbeschreibung im Informationsheft des Veranstalters spielte da kaum eine Rolle. Aber das war ein Ritual, auf das vor allem die Männer nicht verzichten wollten.
Nur die Benders hielten sich bei der Diskussion raus und hatten ein ganz anderes Problem.
„Gestern Abend war das Vorderrad noch in Ordnung!“, knurrte er und drehte das Rad auf Lenker und Sattel um. „Weiß nicht, was da passiert ist. Immerhin sind Schlauch und Mantel ganz neu, ein sogenannter unplattbarer Reifen.“
Petra stand bedauernd neben ihm, weil sie nicht helfen konnte. Den Platten würde ihr Mann allein reparieren. Prüfend fuhr er mit seinem Daumen über die Innenfläche des extra verstärkten Mantels.
„Verstehe ich nicht! Da ist nichts Spitzes, kein Dorn, kein Nagel, nichts dergleichen. Der Mantel scheint völlig unversehrt“, erklärte er und legte dann einen neuen Schlauch ein. „Muss mir bei nächster Gelegenheit unbedingt noch einen Ersatzschlauch besorgen, falls das noch mal passiert.“
Erst jetzt schienen die anderen seine Panne bemerkt zu haben und traten dazu. „Können wir helfen?“
„Nee danke, schon erledigt“, antwortete Klaus, den immer noch die Panne wurmte. „Von mir aus können wir starten.“
„Das passiert also auch mit sogenannten unplattbaren Reifen!“, kommentierte Benno sachlich, wobei er den kaputten Schlauch in seinen Händen prüfte.
„Der Schlauch muss ein Loch haben, aber es geht in Wirklichkeit um den Mantel. Und da konnte ich nichts Spitzes finden“, belehrte ihn Klaus.
„Zu deinem Schlachtruf passt das nicht gerade“, sagte Beatrix, die ihr Gesicht so verzog, als verkniffe sie sich ein Lachen. Sie warf Rosa einen vielsagenden Blick zu, die der Vorfall ebenfalls zu amüsieren schien.
„Lasst mal eure Sprüche“, ermahnte Paul leise die umstehende Runde.
Klaus war fertig, befestigte nur noch sein iPhone am Lenker, worauf er ihre Etappen abgespeichert hatte.
„Möchte mal wissen, was die immer so lange mit der Route herumeiern“, brummte er Petra verärgert zu, als sie wieder allein standen. Die Panne ließ ihn nicht los. Sie mahnte ihn jetzt leise, den Mund zu halten.
„Scheint denen wichtig zu sein“, erwiderte sie. „Denke diesmal daran, wir sind nicht auf der Flucht, fahre also nicht ständig voraus!“
„So, Leute, wenn alle so weit sind, dann lasst uns mal starten“, rief Paul, der kurz den wartenden Benders zunickte und ebenfalls sein Rad bestieg.
Die anderen schwangen sich endlich auf ihre Räder, es ging los, obwohl einige Männer die Diskussion über die beste Route noch immer nicht beenden wollten.
Auf dem schmalen Radweg radelten sie bis zum Ortsende zunächst in Schlange. Erst dann erreichten sie einen deutlich breiteren und befestigten Feldweg, auf dem sie nebeneinander herfahren konnten. Schnell bildeten sich dann kleine Gruppen. Carmen wagte, nochmals ein Lied anzustimmen, was aber keinen animierte mitzusingen. Wer kannte noch Liedtexte aus seiner Kindheit?
„Hör mal, Paul.“ Rosa hatte sich mit ihrem Rad direkt neben ihn geschoben. „Wenn die Benders heute wieder das Tempo verschärfen oder weit vorausfahren, dann sollten wir die einfach mal ziehen lassen. Ich habe nämlich keine Lust, mir von denen das Tempo diktieren zu lassen.“
Paul stutzte und reagierte verzögert. „Was ist mit dir los, Rosa?“, erwiderte er verwundert. „Natürlich fahren wir unser Tempo, wie sonst auch. Im Moment sehe ich nicht, wo dein Problem ist.“
„Mein Problem?“, reagierte Rosa gereizt. „Wer hat die eigentlich eingeladen, mit uns mitzufahren?“
„Das war ich“, erwiderte Paul halb belustigt, halb irritiert. „Hatte das auch mit euch besprochen, wenn auch etwas verspätet. Schon vergessen?“
„Genau, verspätet! Ich habe immer mehr Zweifel, ob die hier reinpassen.“
Das Gespräch empfand Paul als unangenehm. Er sah keinen Grund, sich ihr gegenüber nochmals rechtfertigen zu müssen. Er beschleunigte jetzt sein Tempo, sodass er vor ihr fahren konnte. Die merkte das und verzögerte ihrerseits ihre Fahrt, bis sie dann dicht neben ihrem Mann radeln konnte.
„Paul versteht mich mal wieder nicht“, schimpfte sie aber leise.
„Was? Was hast du gesagt?“, fragte ihr Mann in normaler Lautstärke. Der versuchte schon länger an die Seite von Beatrix heranzufahren, was ihm wegen Lars nicht gelang, der nicht gedachte, ihm Platz zu machen.
„Das erkläre ich dir später, heute Abend“, resignierte Rosa, unverändert sauer. „Sollten die Benders heute wieder weit vorausfahren, dann werde ich dafür plädieren, die einfach ziehen zu lassen.“
„Was hast du denn vor?“, fragte Benno unkonzentriert, der nach wie vor eine Chance suchte, sich neben Beatrix schieben zu können.
„Mal sehen. Abwarten“, antwortete sein Frau, die fest entschlossen schien.
Sie fuhren am Morgen recht zügig. Es war bei ihnen üblich, sich erst mal „warm“ zu fahren, möglichst eine volle Stunde an einem Stück, sodass sie dann etwa ein Viertel der Etappe zurückgelegt haben würden. So auch heute, sie warteten mit der ersten Pause, bis einzelne Mitfahrer darauf drängten, endlich anzuhalten. Wie üblich gab es kleinere Diskussionen darüber, welcher nun der bessere oder schönere Rastplatz wäre.
Die Benders, die sich über die ihrer Meinung nach verfrühte Unterbrechung wunderten, fanden die Diskussion für einen geeigneten Rastplatz erst recht aufwendig. Petra schüttelte zwar verhalten mit dem Kopf, behielt ihre Meinung aber für sich. Nur Klaus hatte eine spöttische Bemerkung auf den Lippen und ließ die jetzt noch leise raus. „Ob die nicht eher einen Übernachtungsplatz suchen?“, fragte er Petra, die ihn sofort ermahnte, doch bitte still zu sein.
Schließlich fand sich ein Platz, der die allseitige Zustimmung genoss. Ein Holztisch mit zwei Bänken, direkt am Flussufer, weit genug vom nächsten Ort entfernt. Dort konnten sie in aller Ruhe die erste Flasche Wein trinken und die vielen mitgebrachten Kekse, Süßigkeiten oder sogar Würstchen verzehren.
„Trinkt ihr sonst auch um diese Zeit bereits Wein?“, erkundigte sich Petra schmunzelnd.
„Na klar! Und meist reicht die eine Flasche nicht einmal“, erklärte Andy lachend. „Aber keine Sorge, für jeden ist da so wenig im Glas, wir sind ja zehn Leute, dass man die geringe Menge Alkohol gar nicht merkt.“
„Zwölf!“, korrigierte ihn Petra, die sich gestern über die Einladung ihres Mannes gewundert hatte, trank der doch normalerweise selten hochprozentige alkoholische Getränke und auf einer Radtour meist nur Wasser. Sie nickte Andy zu und ließ sich eine geringe Menge Wein in ihren Becher eingießen.
„Dann noch mal dein Spruch von gestern, Klaus“, sagte Paul und hielt seinen Becher hoch.
„Mit Plattfuß geht’s nimmer, ohne immer!“, rief der und freute sich sichtlich, weil sich jemand an seinen gestrigen Ausruf erinnert hatte.
In dem Moment sprang Rosa auf. „Ich habe noch etwas ganz Besonderes dabei!“
Sie lief zu ihrem Rad und kehrte gleich darauf mit einer Flasche zurück, die ein rötlich-orangefarbenes Getränk enthielt.
„Ihr werdet es gleich merken, was es ist. Habe es selbst angerichtet mit Orangen und Mangos!“
„Mit viel Alkohol natürlich“, vermutete Klaus und verdrehte etwas die Augen.
„Du brauchst ja nicht mitzutrinken!“, entgegnete ihm Rosa kühl. „Eure Gläser bitte!“
Als sie die fast leere Flasche prüfend gegen den Himmel hielt, schien sie verwundert. „Hätte nicht gedacht, dass da noch ein Rest übrig bleibt.“
Als schließlich die Fahrt fortgesetzt wurde, hatte sich die Stimmung deutlich verbessert. Und endlich fand Carmen die richtige Melodie, denn bei ihrem erneuten Versuch mit einem populären deutschen Schlager sangen zunächst mindestens die Frauen mit und wenig später auch einige Männer. Der Text strapazierte ja kaum das Gedächtnis, so simpel, wie er war.
„Der Wein scheint ihnen gar nicht viel auszumachen“, wunderte sich Petra, zeigte aber, dass sie das eher lustig fand. „Erst der Wein, und die Likörflasche von Rosa haben sie auch fast geschafft. Ich glaube, ich fahre im falschen Film!“
Andy, der direkt vor den Benders radelte, drehte sich lachend zu ihr um. Er hatte das mitbekommen. „Das lernst du bei uns auch bald!“ Kurz darauf fuhren sie in ein Waldgebiet hinein, wo der Radweg nicht nur beträchtlich schmaler, sondern auch kurvenreicher verlief. Die häufigen, mit Regenwasser gefüllten Vertiefungen zwangen sie alle, vorsichtig und konzentriert zu fahren. Das vorher muntere und spaßige Hin und Her der teilweise recht schlichten Sprüche ebbte schnell ab.
Ein kurzer, aber durchdringender Schrei und das Knacken von Holz, gefolgt von einem dumpfen Geräusch einer fallenden Person, riss zumindest die in der Nähe fahrenden Radler aus ihrer Konzentration auf den Weg. Gleich hinter einer Wegbiegung trafen Andy und die Benders auf die am Boden liegende Rosa, die Mühe hatte, wieder auf die Beine zu kommen. In dem schmierigen Untergrund einer der Wasserlachen war ihr Rad weggerutscht und sie dadurch zur Seite in das dicht stehende Buschwerk gekippt. Jetzt hatte sich ein Bein unter ihrem Rad verklemmt, was sie daran hinderte, sofort aufstehen zu können.
„Hast du dir etwas getan?“, fragte Andy besorgt und stieg von seinem Rad ab, um zu helfen, während die Benders auf ihrem Rad verharrten.
„Nein!“, erwiderte Rosa, mehr verärgert über ihre Hilflosigkeit als über den Sturz. „Hilf mir nur mal hoch, heb mein Rad etwas an!“
Was Klaus jetzt äußerte, stieß erneut auf Unverständnis, obwohl er sicher nicht beabsichtigte, Rosa zusätzlich zu verärgern. Er war ja erleichtert, dass sie sich nicht ernsthaft wehgetan hatte. Nur sagte er etwas, was die absolut nicht hören wollte. „Wenn das mal nicht der Alkohol war!“
„Du bist so ein Arschloch, weißt du das!“, herrschte ihn Rosa, bereits wieder auf den Beinen, an, und jeder konnte ihre Empörung an ihrem heftigen Armrudern sehen. „Euch hätten wir gar nicht mitfahren lassen sollen.“
Damit stieg sie schon wieder auf ihr Rad und trat demonstrativ so scharf in ihre Pedale, dass ihr Hinterrad ein paar Mal regelrecht durchdrehte.
„Kam nicht so gut an“, bemerkte Andy in Richtung Klaus mit einem etwas ratlosen Gesichtsausdruck.
Dann war er fast hastig aufgestiegen und, ohne sich nochmals umzudrehen, weitergefahren. Auch Petra war ratlos und schüttelte den Kopf. „Du lernst es nicht, Klaus. Immer wieder provozierst du die mit deinen lockeren Sprüchen.“
Sie konnte das nicht nachvollziehen und wunderte sich über sein mangelndes Gespür der Runde gegenüber, was sie so bei ihm gar nicht kannte. Ob ihn vielleicht die Tour mit ihrem Zwang, sich einfügen zu müssen, überforderte?, fragte sie sich nicht ganz ernsthaft.
Bei der nächsten Rast bemerkten Klaus und Petra eine veränderte Stimmung bei ihren Mitfahrern. Die wichen ihnen aus oder reagierten abweisend auf ihre Äußerungen. Und sie beide hatten den gleichen Verdacht über die Ursache dieses Stimmungsumschwungs. Sie vermuteten, dass Rosa ihre Empörung über seine Bemerkung inzwischen weitergetragen hatte, sicher gefärbt von ihrer vorhandenen Antipathie. Selbst Paul schien sich etwas von ihnen fernzuhalten, was sonst nicht seine Art war. Nur einmal schüttelte er kurz den Kopf, als ihn Klaus’ Blick traf.
Am Abend erschienen die Benders als Letzte der Gruppe zum gemeinsamen Abendessen im Hotelrestaurant. Für sie waren nur die äußeren Plätze am langen Tisch frei geblieben. Bei ihrem Eintreten verstummte die Unterhaltung, die sie an der Tür zur Gaststube mitbekommen hatten.
„Haben wir etwas verpasst?“, fragte Petra, als sie schon eine Weile saßen und niemand redete. „Was ist mit euch?“
Paul räusperte sich, bevor er sich dann direkt an die Benders wandte. „Es ist so“, fing er umständlich an. „Wir wundern uns doch etwas über euer Verhalten. Ihr gebt den Anschein, als gefiele euch unser Umgang miteinander nicht so richtig.“
Klaus zögerte nur einen Moment, schaute kurz zu seiner Frau, um dann zu antworten.
„Wie sollen wir das jetzt verstehen?“, fragte er, was eher angriffslustig klang, zumindest sein Unverständnis ausdrückte. „Wir fühlen uns ganz wohl in eurer Runde. Wir dachten, dass ihr das auch seht. Vielleicht …“
Paul unterbrach ihn. „Es ist zum Beispiel eure Reaktion heute bei unserer ersten Rast. Und auch deine Bemerkung bei Rosas Sturz.“
„Das war ein Spaß!“ Klaus richtete sich direkt an Rosa. „Also das war doch nur ein Spaß von mir. Wir waren doch froh, dass dir nichts passiert war. Das kannst du uns glauben.“
Rosa blieb stumm, es trat eine Pause ein, in der auch keiner in der Gruppe etwas sagen wollte. Es war Rosas Mann Benno, der endlich die beklemmende Stille unterbrach.
„Okay!“, sagte er. „Wir haben verstanden und sollten es dabei belassen. Oder, Rosa?“
Was der durch den Kopf ging, blieb ihr Geheimnis, denn sie äußerte sich nicht. Stattdessen starrte sie nur zum gegenüberliegenden Wandgemälde. Dabei war ihr sicher nicht entgangen, dass jeder am Tisch auf ein Statement von ihr wartete. Sie vor allem hätte jetzt die Atmosphäre wesentlich entspannen können.
„Gut, da Rosa sich nicht äußert, möchte ich noch etwas sagen“, legte Lars los. „Dass ihr euch hier einfügen müsst, ist euch schon klar?“
„So, jetzt greife ich noch mal ein. Was du eben gesagt hast, das ist Klaus und Petra sicher klar, müssen wir hier nicht ansprechen“, unterbrach ihn Paul, der dessen Worte als unangebracht, ja, fast beleidigend für die Benders empfand. „Wir sollten jetzt mal unsere Gläser heben und mit unserem neuen Schlachtruf den Abend entspannt einläuten.“
Paul riss regelrecht sein Bierglas in die Höhe, wohl darauf hoffend, damit das ungemütliche Gespräch beenden zu können.
„Mit Plattfuß geht’s nimmer, ohne immer!“, rief er laut in die Runde, worin die Anwesenden aber nur zögerlich einstimmten, auch wenn sie alle den Schlachtruf wiederholten. Begeisterung hörte sich sicher anders an.
Als sich die Freunde etwas später in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, die Stimmung war doch eher verhalten geblieben, konnten die Benders auch nicht sofort einschlafen. Noch mal kreiste ihr Gespräch um das, was in der Gaststube passiert war. Klaus redete sich in Rage, war aufgebracht und weigerte sich sogar, ins Bett zu gehen, lief stattdessen im Zimmer auf und ab. Selbst Petra steigerte sich unter seinem Einfluss in den Gedanken, sie könnten in der Gruppe nicht wohl-gelitten sein.
„Glaubst du, dass wir in dieser Runde wirklich willkommen sind?“, fragte Petra.
„Das ist gar nicht die Frage. Ich habe Paul gefragt, ob wir mal mitfahren könnten. Und der hat dem ausdrücklich zugestimmt, angeblich sogar mit Einverständnis der ganzen Gruppe.“
„Wenn die anderen aber gar nicht richtig mitziehen? Die sind vielleicht von Paul überrumpelt worden. Immerhin kennen die sich schon seit vielen Jahren und treffen sich wahrscheinlich alle naselang.“
„Mag sein, dass die Gruppe auch schon zu groß ist! Aber wir sind nun mal dabei, und wegen dieser blöden Rosa, die sich offensichtlich nicht genügend wahrgenommen fühlt, lassen wir uns nicht wieder hinausdrängen. Ich habe nicht vor, wegen der die Tour abzubrechen!“
Im Gegensatz zu Klaus zeigte sie sich unsicher. „Ich denke, dass wir uns mit kritischen Bemerkungen zurückhalten sollten, vor allem, weil wir die noch viel zu wenig einschätzen können. Durch unsere Äußerungen scheinen die sich oft angegriffen zu fühlen.“
„Das verstehe ich nun wiederum nicht! Wenn ich mal einen Witz mache, dann …“
„Deine Art, Witze zu machen, ist halt nicht jedermanns Sache“, suchte sie ihm zu erklären. „Und du solltest dich auch mehr von Rosa fernhalten. Die vor allem versteht dein ständiges Bemühen um sie falsch.“
„Du scheinst das auch falsch zu verstehen. Ich bemühe mich doch nicht um die. Im Gegenteil!“, behauptete er verärgert über Petras Unterstellung.
„Klaus, lass uns einfach zurückhaltender auftreten. Und wir sollten mehr auf Paul hören“, suchte sie ihre Meinung nochmals zu verdeutlichen.
Als sie sich schließlich doch zum Schlafen ausstreckten, hielt sich bei ihr der Zweifel, ob ihr Mann ihr wirklich zugehört hatte. Und in ihm blieb das Unverständnis über die negative Reaktion einiger Gruppenmitglieder ihnen gegenüber haften. Es war das unbefriedigende Gefühl, das sie nicht sofort einschlafen ließ. Bei ihr hielt sich das sogar bis weit nach Mitternacht.
***
Rosa, Beatrix und Benno waren die Ersten beim Frühstück. Vor ihm lag sein Navigationsgerät, womit er den Frauen die Tagesstrecke erklärte.
„Kannst du das den beiden vor der Abfahrt genauso verklickern wie gerade uns beiden?“, fragte Beatrix. „Wichtig, falls die uns heute wieder abhängen sollten.“
„Lass mich mal machen!“, erklärte Benno und steckte jetzt sein Navigationsgerät weg, noch bevor die anderen Freunde beim Frühstück erschienen.
„Wir haben uns gerade unsere heutige Tour angesehen“, erklärte er gegenüber Paul, der sich neben ihn gesetzt hatte.
„Und gibt’s da etwas, was wir alle wissen müssen?“, fragte der interessiert.
„Nee, Paul, wir müssen nur aufpassen, dass wir die Abzweigung nicht übersehen. Das Hotelpersonal sagte mir, dass die leicht zu übersehen ist, und die ist wichtig“, antwortete Benno.
„Das sollten wir auch noch mal den Benders klarmachen, damit die, wenn die uns vorausfahren, das auch wissen. Übernimmst du das?“
Benno nickte nur, er würde mit Klaus genau über diese Strecke reden.
Beim Frühstück schien in der Gruppe der gestrige Missklang abgehakt zu sein. Alle begrüßten sich, ohne die Diskussion vom Vorabend nochmals zu erwähnen. Die üblichen Bemerkungen flogen zwischen ihnen hin und her, manche witzig, andere aber so abgegriffen, dass sie sogar nahe an Blödeleien vorbeischrammten. Und Lars fragte, ob auf der anstehenden Etappe für genügend Wein vorgesorgt wäre. Nur Rosa hielt sich wieder zurück, reagierte kaum einmal auf einen Witz und vermied den Augenkontakt zu ihrer Umgebung. Sie verschwand auch bald, um sich angeblich in ihrem Zimmer für die Fahrt vorzubereiten. Ihr Verhalten fiel aber niemandem auf.
Als dann die anderen ihrem Beispiel folgten, hielt Paul die Benders am Treppenaufgang zurück.
„Hört mal zu, ihr versteht das doch, warum ich euch gestern Abend direkt ansprechen musste?“, fragte er sie. „Es schien mir notwendig, den Missklang zwischen euch und uns auszuräumen.“
Klaus war nicht sicher, ob er das gerne hörte, entschied sich aber, erst mal nur zuzuhören.
„Die Truppe kennt sich sehr lange, was ihr ja bemerkt habt. Da stellt sich schon eine besondere Vertrautheit untereinander ein, die es Neuen schwermacht, ohne Weiteres Anschluss zu finden. Einige, ihr wisst, an wen ich denke, sind dann auch etwas empfindlicher. Was wir untereinander gar nicht mehr sagen müssen oder einfach so hinnehmen, klappt mit euch dann nicht auf Anhieb.“
„Wir haben verstanden, Paul!“, reagierte ein leicht genervter Klaus. Was er hörte, weckte in ihm eher seinen Widerwillen, empfand er die Mahnung doch als unangemessen. Er hatte sich die gemeinsame Radtour anders vorgestellt, irgendwie im Umgang erwachsener und lockerer. Besonders Rosas Verhalten schien ihm reichlich kindisch zu sein, die ihn fast schon dazu zwang, jedes seiner Worte genau abzuwägen, damit sie ihm keine Beleidigung oder gar Anmache unterstellen könnte. Die verhielt sich ihm gegenüber wie eine Mimose, die dazu neigte, übertrieben zu reagieren. Dabei war sie ihm bei ihrer ersten Begegnung charmant und selbstbewusst entgegengetreten, was ihm gefallen hatte. Vielleicht hatte er sich sogar wegen ihr besonders auf die gemeinsame Radtour gefreut. Wie es sich tatsächlich entwickelte, war für ihn und Petra enttäuschend.
„Was soll diese Ermahnung? Der sollte sich lieber mal die Rosa vornehmen, anstatt uns so einen Vortrag zu halten“, schimpfte Klaus, als er mit Petra allein im Zimmer war. Das mochte die genauso empfinden, die nun ihre Arme um seinen Körper schlang und ihn kurz an sich drückte.
„Wir müssen los!“, sagte er und löste sich von ihr. Es klang resigniert und überhaupt nicht zufrieden. Wenn Körpersprache etwas ausdrückte, dann sprach sein Achselzucken gegen die Erwartung an eine entspannte nächste Etappe.
Wieder war es ein herrlicher Sonnentag, warm und trocken. Nur ein paar Wolkenschleier hingen kaum erkennbar am westlichen Horizont. Jeder vermutete, dass es auch am späten Nachmittag so bleiben würde.
Ihre Räder mussten sie erst aus dem Schuppen des Hotels herausholen, was einige Zeit kostete. Es gab ein regelrechtes Gedränge davor und auf dem Hof, sie waren nicht die einzige Fahrradgruppe, die sich zur Abfahrt fertig machte. Die Benders brauchten besonders Geduld, weil sie am Vorabend als Erste ihre Räder im Schuppen abgestellt hatten. Jetzt standen die eingekeilt von vielen anderen Fahrrädern an der hintersten Schuppenwand. Sie hatten darauf verzichtet, die durch ein gemeinsames Kettenschloss zu sichern, das hatten sie einfach offen über dem Lenker hängen lassen. Jedenfalls war Petras Rad damit an einem Pfosten angekettet worden.
„Du, Petra, ich kann dein Rad nicht rausholen!“, rief Klaus noch im Schuppen seiner Frau zu, die schon bei den anderen draußen wartete. „Wieso hast du denn das Kettenschloss abgeschlossen?“
„Was soll ich getan haben? Ich habe das Kettenschloss gestern Abend überhaupt nicht angefasst!“, entgegnete Petra überrascht und lief ihrem Mann hinterher.
„Wie auch immer, dein Rad ist an der Rückwand angeschlossen. Hast du den Schlüssel?“
„Ich habe auch keinen Schlüssel, der sollte doch noch im Schloss stecken“, erklärte Petra kopfschüttelnd. „Das kann doch nicht wahr sein. Irgendjemand muss mein Rad angeschlossen und den Schlüssel abgezogen haben.“
Beide, Klaus und Petra, kamen jetzt auf den Hof und schauten in die Runde.
„Petras Rad ist angeschlossen worden, und wir haben keinen Schlüssel“, erklärte ein ratloser Klaus. „Hat vielleicht jemand von euch den Schlüssel an sich genommen, in guter Absicht?“
„Warum sollten wir uns um eure Fahrräder kümmern?“, fragte Benno spöttisch. „Dafür müsst ihr schon selbst sorgen!“
Einige der Freunde zeigten sich amüsiert. Nur Paul bemerkte Klaus aufkeimenden Ärger und störte sich an der spöttischen Reaktion seiner Gefährten.
„Ihr seid also sicher, dass ihr das Rad nicht abgeschlossen und auch nicht den Schlüssel habt?“, erklärte er betont sachlich. „Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber vielleicht hat irgendein anderer Hotelgast oder jemand vom Personal das getan. Bleibt nichts anderes übrig, als an der Rezeption nachzufragen.“
Klaus hatte verstanden und lief ins Hotel zurück. Die Freunde beschäftigten sich jetzt bereits mit ihrer üblichen Diskussion der besten Fahrstrecke.
„Die wissen auch nichts, aber sie haben mir das hier gegeben“, erklärte ein grimmig blickender Klaus und hob einen wuchtigen Bolzenschneider in die Höhe.
Dann sprach ihn Benno an. „Klaus, das hast du nicht mitbekommen. Bei der Strecke gibt es eine kleine Schwierigkeit, wo wir aufpassen müssen. Entgegen dem Vorschlag des Veranstalters müssen wir hier an dieser Stelle nicht in einen Seitenweg abbiegen, wir folgen weiter der Landstraße.“ Er wies auf die Karte seines Navigationsgeräts. „Hier also nicht abbiegen.“
„Wieso denn das?“, fragte Klaus, der nur mit halbem Ohr zugehört und nicht auf das Navigationssystem geschaut hatte, weil er mit dem Durchschneiden des Kettenschlosses beschäftigt war.
„Das hat uns heute Morgen jemand vom Hotel erklärt. Angeblich ist die Straße nur wenig befahren, und die Abzweigung kostet mehr Zeit. Also nicht vergessen, nicht abbiegen.“
Ob Klaus Bennos Erklärung bewusst aufgenommen hatte, war unwahrscheinlich, zu sehr nagte in ihm der Vorfall mit dem Fahrradschloss. Und gegen seinen Ärger blieb auch Petras Zureden später auf der Strecke wirkungslos.
„Also ich weiß nicht!“, erklärte der maulend. „Gestern dieser platte Reifen und heute die Sache mit dem Schloss. Das ist alles sehr mysteriös.“
„Beruhige dich jetzt. Irgendwelche Unterstellungen helfen doch nicht weiter, die sind doch absurd!“
Paul setzte sich mit seinem Rad neben die beiden Benders. „Jetzt denkt bloß nicht an irgendeine Verschwörung. Bin sicher, dass jemand außerhalb der Gruppe da am Werk war. Wahrscheinlich in bester Absicht.“ Er klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und nickte Petra zu.
„Lass mal, schon alles gut“, presste Klaus zwischen seinen Zähnen hervor und zeigte ein verzerrtes Lächeln. Auch Petra strich jetzt mit einer Hand über seinen Unterarm, bis ihr Mann etwas freundlicher dreinschaute.
„Hört mal, wenn wir heute bei diesem herrlichen Radfahrwetter nicht die Fahrt entspannt genießen, wann denn dann?“ Paul war der Gedanken an eine Verschwörung oder gar an Mobbing völlig fremd.
Die Hälfte ihrer Etappe war geschafft, und sie hatten in einem Gartenlokal schon eine erste Pause eingelegt, da stießen sie am Ortsausgang auf die Landstraße. Befolgten sie den Rat des Hotelpersonals, müssten sie bald bei der Abzweigung auf einen Feldweg in ein Waldgebiet abbiegen.
Der Autoverkehr auf der Straße zwang sie zwar, gelegentlich hintereinander herzufahren, aber er war so gering, dass sie mühelos ihre Gespräche fortsetzen konnten. Es bildeten sich zwischen ihnen bald stetig größer werdende Lücken, weil die vorn Fahrenden auf das Tempo drückten. Das lag vor allem an Klaus, der, nicht überraschend, gefolgt von Petra an der Spitze fuhr. Bald betrug deren Abstand zu den anderen schon einige Hundert Meter. Ihm fiel das gar nicht auf, er war so in Gedanken vertieft, dass er selbst Petras Mahnung überhörte, langsamer zu fahren.
„Die können’s nicht lassen!“, rief verärgert Beatrix der vor ihr fahrenden Rosa zu. „Jetzt sind die schon wieder kaum noch zu sehen.“
„Die passen gar nicht in unsere Gruppe!“, wiederholte sich Rosa laut. „Wollen mal sehen, ob die das nicht bereuen!“
„Die sehen wir sicher erst im Hotel wieder“, feixte Benno.
Den beiden Frauen schien der Gedanke, dass die Benders so weit davongezogen waren, zu amüsieren. Nur Lars hatte wohl keine Ahnung. „Gibt’s etwas, wovon ich nichts weiß?“
Klaus und Petra waren inzwischen so weit voraus, dass sie selbst lautes Rufen ihrer Freunde nicht hören würden. Immer noch vertieft in Gedanken, erinnerte sich Klaus nicht mehr so genau an das, was Benno über die Strecke erklärt hatte. Den scharf nach rechts abzweigenden Weg übersah er natürlich. Den musste er ja entsprechend dessen Hinweis gar nicht beachten. Stattdessen vertraute er seinem Navigationssystem, das ihn anwies, weiter der Landstraße zu folgen.
„Wie lange müssen wir denn noch auf dieser Straße fahren?“, fragte Petra ihren Mann.
Jetzt bedauerte Klaus, sich nicht mehr exakt an das Gespräch mit Benno am Morgen erinnern zu können. „Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sagte Benno, dass wir der Straße erst mal folgen sollten. Angeblich hätte jemand im Hotel ihm das geraten. Aber nicht mehr lange, dann erreichen wir sicher eine Abzweigung, wo wir die Straße verlassen können. Das zeigt mir auch das Navigationssystem.“
Ihre Gefährten hatten keine Chance, Klaus noch zu beeinflussen. Sie sahen wegen einer langen Rechtskurve nicht einmal, dass der und Petra irrtümlich geradeaus radelten. Die Gruppe war so weit zurückgefallen, dass sie den Benders kaum etwa verständlich hätten hinterherbrüllen können. „Jetzt haben sie sich möglicherweise vertan“, sagte Benno leise zu Rosa, die ihm zunickte.
Als dann einige Mitfahrer die nächste Pause anmahnten, störte es die meisten wenig, dass die Benders fehlten.
„Das ist dumm!“, erklärte Paul, dem stets wichtig war, dass sie alle zusammenblieben. „Hat jemand Klaus informiert, dass wir nicht auf der Straße bleiben sollen, auch wenn das Navi etwas anderes vorschlagen sollte?“
Bevor Benno antworten konnte, polterte Rosa ihre Abneigung gegenüber Klaus heraus. „Die fahren immer voraus und machen dann auch noch blöde Sprüche. Die sollen fahren, wie sie wollen.“
„Paul, das ist völlig richtig! Wir sind auf jeden Fall nicht für die verantwortlich“, schloss sich Beatrix Rosas Meinung an.
„Jetzt mal langsam, Leute“, suchte Paul die Stimmung zu versachlichen. „Ich dachte, dass wir uns gestern einig waren. Wir sind als Team gestartet und fahren diese Tour auch bis zur letzten Etappe gemeinsam zu Ende.“
Niemand widersprach, sie teilten zwar die Kritik der beiden Freundinnen an Klaus, aber nicht deren scharfe Antipathie. Keiner hatte Interesse daran, dass diese Tour mit einem solchen Zerwürfnis, was sicher auch Paul hart treffen würde, endete.
Alle standen etwas ratlos im Kreis um ihn herum, und fast hätten sie den Zweck der Pause vergessen.
Paul beabsichtigte einen Moment lang, Klaus mit seinem Handy zu erreichen, steckte das aber gleich wieder kopfschüttelnd ein. Carmen erklärte er, dass er nicht einmal eine Handynummer von denen hätte.
„Die Benders sind also wohl eine andere Strecke als wir gefahren“, stellte Paul für alle nüchtern fest. „Aber die sind in der Lage, ihren Weg auch ohne uns zu finden. Spätestens im Hotel werden wir sie dann wiedertreffen. Und vielleicht ist es gerade ganz gut, wenn wir eine Weile ohne sie fahren können. Mit ist aber wichtig, dass wir diese Tour gemeinsam, das heißt auch mit Klaus und Petra, zu Ende fahren. So, wo ist der Wein?“
Jetzt breitete sich so etwas wie Erleichterung unter den Freunden aus. Gleich nach Pauls kurzer Rede öffnete Lars schon eine Weinflasche, und zusätzlich wurden Tüten mit Süßigkeiten herumgereicht. Fast erschien es ihnen, als unterschiede sich diese Tour überhaupt nicht von denen davor. Es wurde munter drauflosgequatscht, auch mal einige dumme Sprüche geklopft, worüber sie lachten oder den Kopf schüttelten. So verging diese Pause so vergnüglich, wie sie sich das alle von Anfang an gewünscht hatten.
Und diese Rast dauerte sogar länger als üblich. Keiner hatte damit Probleme, dass sie möglicherweise erst nach Einbruch der Dunkelheit ihr Hotel erreichen würden. Jetzt beschleunigten sie ihr Tempo so, dass selbst die Benders gestaunt hätten. Und sie entschlossen sich, auf eine weitere Unterbrechung zu verzichten.
***
„Sag mal, fahren wir nicht viel zu schnell? So holen die uns nie ein“, bemerkte endlich Petra, die sich nach einer Pause sehnte. „Lass uns doch mal warten.“
„Stimmt! Wir sind zu schnell gefahren. Wir halten hier erst mal an und warten einen Moment. Brauchst du Wein?“, fragte Klaus aus Spaß.
„Wasser brauche ich und ein paar Süßigkeiten“, erwiderte sie und hockte sich neben ihrem Rad auf die Böschung.
„Geht es dir gut?“, fragte er und schaute sie prüfend an. „Du bist so rot im Gesicht.“
„Alles in Ordnung. Aber bist du wieder runter von deinem Ärger?“, wollte Petra wissen.
„Irgendwie … Lass mal gut sein. Ich will nicht mehr darüber nachdenken. Hoffe, dass die anderen bald aufschließen können.“
„So richtig glücklich wirkst du nicht gerade auf mich. Dich wurmen diese häufigen Reibereien.“
„Zumindest die mit dieser Rosa“, erwiderte er und klang dabei nicht verärgert. „Ich habe mir etwas vorgemacht, nicht in Bezug auf Paul und Carmen. Die sind schon beide okay und verhalten sich meist souverän.“
„Ich mag die beiden Kleins auch. Gilt mit kleinen Einschränkungen für einige der anderen auch.“ Petra legte den Arm um ihren Mann. „Jetzt fahren wir diese Tour zu Ende, halten uns mit Kritik zurück und versuchen, uns in deren Runde besser einzufügen. Nur darum geht’s, Klaus.“
Er sah auf seine Uhr, weil er das Gefühl hatte, dass sie hier schon zu lange warteten, fast eine Stunde war vergangen. Er stand jetzt auf und schaute intensiv die Landstraße zurück.
„Das verstehe ich nicht! So weit können wir doch nicht vorausgefahren sein.“
„Sind wir denn überhaupt die richtige Strecke gefahren? Was sagt dein Navi?“, fragte Petra.
„Benno hatte mir vor der Abfahrt etwas von einer Abzweigung erzählt – oder war es eine Streckenänderung? Da habe ich vielleicht doch nur halb zugehört. Meines Erachtens sagte er, dass wir auf der Landstraße bleiben sollten, entgegen der Tourenempfehlung …“
„Was machen wir, wenn die doch anders gefahren sind?“, bohrte sie nach.
„Dann werden wir halt hier auf der Landstraße zunächst weiterfahren, die führt ja irgendwann zur Stadt, unserem Ziel. Allerdings: Schneller am Ziel wären wir dann höchstens mit einem Auto.“ Er lief zu seinem Rad und stieg auf. „Wenn Benno mich bewusst hat irreführen wollen, dann …“
„… werden wir auch die letzten beiden Etappen zu Ende fahren“, ergänzte sie seinen Satz. „Du bildest dir schon wieder etwas ein.“
Nach einer Weile hatte er eine Idee. „Weiß wirklich nicht, ob wir heute Abend auch noch mit denen zum Essen gehen sollten. Das Hotel soll sich nahe am Ortseingang befinden. Was hältst du davon, wenn wir einfach erst mal ins Zentrum fahren und dort bummeln gehen?“
„Das können wir machen, obwohl die Gruppe ein solcher Alleingang stören könnte. Ich weiß nicht. Zumindest müssen wir im Hotel eine Nachricht hinterlassen. Vielleicht könnten wir die sogar mal anrufen.“
***
„Da vorn müsste gleich das Ortsschild auftauchen. Ich sehe ja schon die ersten Häuser!“, rief Paul, der etwas vorausfuhr und jetzt ein Handzeichen gab.
„Wir haben’s gleich geschafft, da vorn beginnt die Stadt“, rief einer, der zu ihm aufgeschlossen hatte.
Keine Viertelstunde später standen sie vor dem Hoteleingangsportal, und Paul lief sofort in die Lobby. „So, jetzt frage ich gleich mal, ob Klaus und Petra schon eingetroffen sind!“ Er nahm gar nicht mehr wahr, wie Rosa und Beatrix ihre Augen verdrehten und sich dann angrinsten.
Es dauert, bis Paul zur Gruppe zurückkehrte und ein besorgtes Gesicht zeigte. Da hatten die anderen schon ihre Räder in der Tiefgarage des Hotels eingestellt.
„Die Benders sind angeblich noch nicht eingetroffen! Eine Nachricht hat der Mann am Empfang auch nicht erhalten“, erklärte er. „Das ist mir völlig unverständlich, die sind ja vorausgefahren, und wenn sie auf der Landstraße geblieben wären, heißt das nicht, dass sie dann unbedingt langsamer sein müssten, auch wenn es über die Straße länger ist.“
„Abgesehen davon, dass die ja kaum so lange Pausen gemacht haben dürften, haben die ja weniger Wein bei sich“, spottete Lars unpassend.
„Können wir die nicht per Handy erreichen?“, fragte Benno, der an das Naheliegende dachte.
„Na klar! Wenn jemand von euch eine Handynummer von denen hat“, nickte Paul und hielt erwartungsvoll sein Telefon hoch. Doch es meldete sich niemand. „Mist, ich habe nämlich auch nicht deren Handynummern, nur deren Nummer vom Festnetz und Klaus’ Firmennummer.“
Keiner von ihnen wusste mehr. „Wieso haben wir eigentlich nicht die Handynummern mit denen ausgetauscht? Das haben wir doch sonst immer gemacht“, meldete sich Benno nochmals. Es klang wie ein Vorwurf an Paul, der sich diesen Schuh auch anzog.
„Hinterher ist leicht jammern!“, wehrte er schwach ab. „Ich denke, dass wir erst mal unsere Zimmer einnehmen sollten. Wir warten noch bis zum Abendessen, also so bis etwa achtzehn Uhr. Wenn sie dann nicht erschienen sind, werde ich bei der Polizei nachfragen. Eventuell müssten wir uns sogar auf die Suche nach denen machen.“ „Wie, auf unseren Rädern?“, fragte Lars ungläubig.
„Unter Umständen ja! Oder hast du eine bessere Idee?“, schoss Paul genervt zurück. „Wir können ja nicht einfach zu Abend essen und die ihrem Schicksal überlassen, oder?“ Seine Reaktion ließ keine Zweifel, dass ihm die Gleichgültigkeit einiger seiner Mitfahrer nicht gefiel.
***
Es war schon nach achtzehn Uhr, und alle hatten sich in der Gaststube eingefunden, wo für die Gruppe ein großer Tisch eingedeckt worden war. Keiner der Freunde hatte Platz genommen, erst wollten sie hören, was Paul inzwischen in Erfahrung gebracht hatte.
Der erschien ungewohnt nervös. Carmen hatte er in ihrem Zimmer gesagt, dass er erstaunt sei, wie teilweise unpassend sich einige ihrer Freunde zeigten. Zwar gefiele ihm Klaus’ Verhalten ebenfalls nicht immer, aber das sei für ihn kein Grund, die beiden Benders abzulehnen.
Jetzt fiel ihm offensichtlich nichts ein, was er seinen Gefährten vorschlagen könnte. Inzwischen war klar, dass die Benders sich entweder verfahren hatten oder wegen einer Panne auf der Strecke liegen geblieben sein mussten. Ihre Koffer standen immer noch in der Lobby. Der Tourenveranstalter sorgte stets dafür, dass ihr Gepäck von Hotel zu Hotel transportiert wurde.
„Gemeldet haben sie sich weder bei mir noch hier an der Rezeption. Das Büro vom Veranstalter der Radtour habe ich versucht zu erreichen, war aber schon geschlossen, geht erst morgen früh wieder.“ Paul drehte sich fragend im Kreis, um zu sehen, ob jemand anderes etwas erfahren hatte.
„Wenn die Benders zunächst die Straße weitergefahren wären, könnten die auch noch später abgebogen sein, um dann irgendwann auf unsere Strecke zu stoßen. Auch so sollten die sich kaum verfahren haben. Klaus hat ja ein Navi dabeigehabt“, bemerkte Benno, dem die Warterei nicht gefiel.
„Dass die uns immer so abhängen, ist das wirkliche Problem“, beschwerte sich dessen Frau, die kaum Verständnis für die Benders aufbrachte.
„Entweder die warten auf uns, oder, wie jetzt wieder, wir warten auf die“, drückte Rosa aus, worüber die anderen in der Gruppe möglicherweise ähnlich dachten.
„Was können oder was sollten wir jetzt tun?“, lenkte Paul die Runde auf die seiner Meinung nach nächstliegende Frage.
„Du solltest die Polizei anrufen“, schlug Lars vor, den es auch zum Abendessen zog.
„Das kann ich machen. Aber was, wenn die nichts wissen?“, bohrte Paul nach.
Die allseitige Meinung war, dass er erst mal bei der Polizei anrufen sollte, und dann könnte man weiter- sehen.
Sein Telefonat mit dem Revier dauerte lange, da hatten sich seine Freunde schon an den Tisch gesetzt.
„Die Polizei hier weiß nichts, und weder deren Kollegen im Nachbarort noch das hiesige Krankenhaus wissen etwas über die Benders“, erklärte Paul nach seinem Telefongespräch. „Was machen wir jetzt?“
Wenn es ein Stimmungsbarometer gab, so waren es die Mienen der Freunde, die erkennen ließen, was die meisten empfanden. Jedem schien klar, dass sie nicht einfach ihr Abendessen fortsetzen könnten, wenn da zwei aus ihrer Gruppe vermisst wurden. Selbst Rosa und Beatrix schienen das einzusehen.
Insgeheim hofften sie vielleicht, dass sie die Vermissten nicht mit dem Rad in der Dunkelheit suchen müssten. Aber Paul schlug genau das jetzt vor.
„Also wer will mich begleiten? Allein möchte ich nicht die Strecke zurückfahren“, erklärte er.
„Du meinst aber nicht die ganze Strecke?“, meldete sich Beatrix, was Paul nur mit Kopfschütteln quittierte.
„Die Landstraße könnte man doch besser mit einem Taxi abfahren als mit unseren Rädern“, gab Benno zu bedenken. „Mit dem Fahrrad dauert es sehr viel länger, und wir wissen nicht einmal, welche Strecke die gefahren sind. Aber wenn du willst, werde ich dich natürlich auf dem Rad begleiten.“
„Die Straße mit einem Taxi abzufahren ist eine gute Idee, Benno! Könnten die Frauen übernehmen. Ansonsten würde ich unsere Strecke auf dem Schotterweg Richtung unserer letzten Rast zurückfahren wollen. Wer begleitet mich denn noch auf dem Rad?“
Obwohl die, die sich jetzt meldeten, noch ihr Abendessen beenden wollten, ging es dann doch recht schnell. Keine fünfzehn Minuten nach ihrer Beratung fuhren erst Paul, Lars und Benno mit dem Rad los, wenig später auch das Taxi. Carmen und Beatrix hatten sich angeboten, diese Fahrt zu übernehmen. Zuvor hatten sie gemeinsam überlegt, welchen Weg Klaus und Petra genommen haben könnten. Unglücklicherweise boten sich unterschiedliche Routen an, das Hotel zu erreichen.
„Die Benders haben wahrscheinlich vor unserer letzten Rast die richtige Abzweigung nach rechts auf den Schotterweg verpasst. Vermutlich sind die erst mal der Landstraße weiter gefolgt“, vermutete Benno. „Der hat mir wahrscheinlich gar nicht zugehört, denn ich hatte ihn ausdrücklich darauf hingewiesen, rechtzeitig von der Landstraße abzubiegen. Auf dem Navi habe ich ihm noch die Stelle gezeigt …“
„Kann schon sein. Aber auch dann könnten die irgendwann noch von der Landstraße abgebogen sein und haben später versucht, uns zu treffen“, stimmte Paul ihm zu. „Lass uns jetzt so zurückradeln, wie wir gekommen sind. Ich habe die Hoffnung, dass wir dann auf die beiden stoßen.“
„Hoffentlich müssen wir dann nicht bis zu unserem Rastplatz zurückradeln“, brummte Lars schon unterwegs. „Ganz so frisch bin ich nämlich auch nicht mehr, und bis dahin werden es doch zirka fünfzehn Kilometer sein, oder?“
„Vielleicht haben wir ja Glück, und die kommen uns bald entgegengeradelt“, gab Paul zurück.
Etwas Hoffnung hatten sie, dass die Frauen im Taxi schon bald auf die Vermissten treffen könnten. Mehrmals überlegte er, was passiert sein könnte. Er hielt Klaus und Petra für erfahren genug, eine Fahrradpanne schnell und ohne fremde Hilfe zu meistern. Das würde die kaum länger aufgehalten haben. Dahingegen schloss Paul den Gedanken nicht mehr aus, dass einer der Benders schwer gestürzt sein könnte. Das würde ihm deren Verspätung erklären.
Auch wenn sie sich bemühten, zwangen sie die Dunkelheit und die unzureichende Fahrradbeleuchtung, langsamer zu fahren. Der Weg forderte ihre volle Aufmerksamkeit. Es gab immer wieder mit Wasser gefüllte Mulden, größeres Gestein oder Wurzeln, die im Boden steckten. So brauchten sie viel länger als auf der Hinfahrt zum Hotel. Glücklicherweise lugte dann doch der Mond hinter den Wolken hervor.
Es war sicher Müdigkeit und etwas Ärger bei Benno und Lars, dass sich Zweifel am Sinn der Suche bei ihnen verstärkten. Ihre häufiger werdenden Fragen, ob sie nicht besser umkehren sollten, zeigten das Paul deutlich.
Als sie an einer steil abfallenden und tiefen Böschung neben dem Fluss entlangfuhren, reichte es Benno.
„Ich weiß nicht, ob unser Vorgehen Sinn macht. Wenn die hier diese Böschung entlanggefahren sind, könnte es gut sein, dass sie in den Fluss abgerutscht sind. Was dann? Das können wir so gar nicht checken!“
„Ja und? Hast du eine bessere Idee?“, knurrte Paul missmutig, dem Bennos Szenario doch zu weit hergeholt erschien. Vor allem wollte er jetzt keine Diskussion, die, wie er meinte, nicht weiterführte. „Was ist? Habt ihr einen anderen Vorschlag?“
Sie fuhren einfach weiter, weil keinem eine Alternative eingefallen war. Ein paar Meter später hielt Paul unvermittelt an. „Ich telefoniere jetzt mit der Hotelrezeption und dann noch mit meiner Frau.“
„Scheiße!“, rief er gleich darauf und stieß ein irres Lachen aus. „Das kann ja nicht wahr sein!“
Erst als die anderen in ihn drangen, äußerte er sich endlich. „Das glaubt ihr jetzt nicht! Die sind längst da. Allerdings haben die zunächst die Stadt angesteuert, um sich die anzusehen und dort in einem Restaurant essen zu gehen. Angeblich hätten sie beim Empfang Bescheid gesagt.“
Pauls Begleiter stöhnten laut auf. Das Verhalten der Benders empfanden sie nicht nur als unverständlich, sondern auch als einen Affront. Sie hielten sich aber erstaunlicherweise mit herber Kritik zurück. Fast wirkten sie ratlos.
„Ob Klaus irgendeinen Gedanken darauf verschwendet hat, wie so ein Verhalten bei uns ankommt?“, fragte Benno nur kopfschüttelnd.
„Was weiß ich denn? Scheiße, jetzt müssen wir den ganzen Weg zurückfahren!“, entfuhr es Paul wütend.
Benno und Lars schwiegen. Die Verärgerung ihres Freundes verstanden sie zu gut, das ging ihnen ähnlich. Im Gegenteil. Sie hätten den Benders jetzt gern ihre Meinung gesagt, selbst wenn sie nicht unbedingt erwarteten, dass sich deren Verhalten daraufhin ändern könnte.
Die Rückfahrt verlief erstaunlich schnell, da sie jetzt mit der Strecke besser zurechtkamen. Und etwas besserte sich ihre Stimmung, sie machten sogar Witze über die sinnlose Suche.
Im Hotel angekommen, herrschte unter den wartenden Freunden eine erstaunlich gelöste Atmosphäre. Wenn sie erwartet hatten, dass ihre Gruppe missgelaunt oder streitend den beiden Benders gegenübersaßen, dann hatten sie sich geirrt. Klaus und Petra hatten sich bei denen entschuldigt und knapp erklärt, wie es zu dieser Info-Panne hatte kommen können. Jetzt wiederholte Klaus das nochmals für Paul und die beiden anderen. Was die Freunde wirklich dachten, blieb ihr Geheimnis, sie ließen sich zumindest ihren Ärger nicht anmerken. Nur wer die Lindners und Schlichters beobachtete, bemerkte, wie die mehrfach miteinander tuschelten. Die drückten wohl deshalb nicht ihre Verärgerung aus, weil sie sich davon nichts versprachen.
Es irritierte Paul, dass weder Klaus noch Petra etwas über ihre ermüdende Nachttour sagten, sie sich lediglich allgemein für alle ihre Bemühungen bedankten. Dank zu erhalten, darum ging es Paul gar nicht. Diese scheinbare Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung, die sich breitzumachen suchte, störte ihn derart, dass er unbedingt eine für ihn wesentliche Kritik hinterherschieben wollte.
„Was mich erstaunt und sogar wütend macht, ist eure scheinbare Schwierigkeit, euch in unsere Gruppe einzufügen. Es reicht nicht, dass ihr gern mitfahrt, sondern ihr solltet das auch durch euer Verhalten zeigen.“
Klaus und Petra schauten sich an. Es sah so aus, als hätten sie diese Worte getroffen, allerdings anders, als von Paul beabsichtigt. Jedenfalls antworteten sie ihm nicht, und der wartete auch nur kurz, bis er sich von ihnen abwandte.
Schließlich verabschiedeten sich die einzelnen Paare fast wie auf ein Kommando hin auf ihre Zimmer. Nur ein sichtbar müder Paul verharrte noch am Tisch und hielt Klaus und Petra zurück.
„Ich möchte kurz mit euch reden“, sagte er lapidar. Allein mit denen, erklärte er in recht deutlichen Worten, was ihn an ihrem Verhalten störte.
„Das Ganze wäre nicht passiert, wenn ihr uns nicht wieder davongefahren wäret. Und zumindest hättet ihr nochmals bei der Rezeption oder bei uns zurückrufen sollen, um sicherzugehen, dass eure Nachricht auch angekommen ist. Warum seid ihr nicht der geplanten Strecke gefolgt? Benno hatte sie dir erklärt.“
„Wieso das jetzt? Die Strecke wurde angeblich von euch abgeändert, so jedenfalls glaube ich Benno verstanden zu haben“, entgegnete Klaus irritiert.
„Immerhin erinnerst du dich, mit Benno gesprochen zu haben! Keiner hat die Strecke geändert!“, behauptete Paul wahrheitsgemäß, was Klaus erst recht verblüffte. Kurz tauschte er mit Petra einen Blick, dann suchte er sich nochmals zu erklären. „Es war Benno, der mir von einer Änderung erzählte.“
„Das ist seltsam. Von einer Streckenänderung war nie die Rede gewesen“, gab sich Paul überzeugt, dass Klaus etwas falsch verstanden haben musste. „Vielleicht klärst du das morgen früh noch mal vor der Abfahrt.“
„Na gut, ich spreche Benno darauf an. Als wir uns entschlossen haben, direkt in die Stadt weiterzufahren, haben wir die Hotelrezeption verständigt, mit der Bitte, euch sofort zu benachrichtigen. Nach der Stadtbesichtigung sind wir am Marktplatz auch noch eingekehrt. Das hat gedauert, weshalb wir leider erst verspätet ins Hotel zurückgekehrt sind.“
„Und mal zu überlegen, ob ihr uns nicht direkt informieren könntet, darauf seid ihr nicht gekommen. Ganz abgesehen davon, dass es dafür Handys gibt!“
„Paul, jetzt komm doch mal runter!“, suchte Klaus seinen Kollegen zu beruhigen, wobei er eine leicht spöttische Miene zeigte. „Es ist doch überhaupt nichts passiert. Wir sind doch keine kleinen Kinder, auf die man aufpassen muss, oder?“
Darauf konnte Paul nichts erwidern. Der Verdacht von Klaus, einfach nicht verstanden worden zu sein, wirkte ernüchternd. Er drehte sich abrupt um und lief stracks zur Treppe, er wollte nur noch in sein Zimmer.
„Wir hätten die tatsächlich nicht mitnehmen sollen!“, sagte er leise zu sich, als er schon oben war. Einer weiteren Radtour mit den Benders würde er in diesem Moment nicht noch einmal zustimmen, war er sich sicher.
Wie diese Auseinandersetzung bei Klaus gewirkt hatte, erfuhr Petra in ihrem Zimmer. Dort brach seine ganze Wut und Enttäuschung aus ihm heraus, auch weil sein Kollege ihm unterstellte, Benno nicht korrekt verstanden zu haben. Plötzlich redete er nur noch von falschen Freunden, über die er sich auf das Heftigste beklagte.
„Kann es sein, dass uns dieser Benno mit seiner Tusnelda tatsächlich verarschen wollte? Sieht ganz so aus, oder sehe ich deiner Meinung nach nur wieder eine Verschwörung?“
Diesmal legte er sich noch lange nicht ins Bett, sprang immer wieder von der Bettkante auf und lief im Zimmer umher. Was Benno Klaus erklärt hatte, wusste Petra nicht, aber auch sie wollte inzwischen nicht ausschließen, von dem und Rosa gezielt gemobbt zu werden.
Jetzt versuchte sie mit aller Kraft, ihren Mann ins Bett zu ziehen, um ihn ganz fest an sich drücken zu können.
Das war gar nicht so einfach. Der kämpfte immer noch mit seiner Wut und damit auch gegen alle Beschwichtigungsversuche seiner Frau. Pauls belehrender Ton hatte ihn zusätzlich aufgebracht. Und so konnte er kaum einschlafen. Er richtete sich erneut im Bett auf, und dann passierte mit ihm etwas, was Petra schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sie spürte das Zittern, das seinen gesamten Oberkörper packte, und die Tropfen, die ihre Arme benetzten.
„Es macht doch überhaupt keinen Spaß, wenn wir in diesem Klima nebeneinander radeln. Und selbst wenn wir uns genau an deren Fahrrhythmus anpassen, wird das kaum helfen“, wehrte er sich gegen ihre Umarmung. „Jetzt steht nicht mal Paul auf unserer Seite.“
Petra wollte dem nicht widersprechen, sie ahnte, dass sie bei Klaus nichts erreichen würde. Dennoch hoffte sie, dass die beiden letzten Etappen noch eine Wende bringen könnten.
***
Am Morgen beim Frühstück kam Benno mit einem Vorschlag, wobei es ihn nicht störte, dass die Benders noch nicht erschienen waren.
„Gestern Abend haben wir im kleinen Kreis diskutiert, ob wir Klaus und Petra nicht vorschlagen sollten, dass die unabhängig von uns die Tour zu Ende fahren sollten. Zwischenziele könnten wir gemeinsame abstimmen, wo wir uns dann treffen. Morgens und abends im Hotel sehen wir uns ohnehin.“
Das war umständlich formuliert der Wunsch, ohne Klaus und Petra weiterfahren zu wollen. Zumindest Paul verstand das so und brauchte kaum Zeit zum Nachdenken, um darauf zu antworten. Bennos Idee, sich nur im Hotel zu treffen, aber tagsüber getrennt zu fahren, hielt er für absurd. Es widersprach seiner Vorstellung vom Umgang in der Gruppe. „Wer ist denn wir?“, fragte er ungewöhnlich scharf.
„Na ja, Rosa, Beatrix, Lars und ich halt“, klang Benno schon etwas verunsichert. Er nickte den Genannten zu, hoffte aber vergeblich bei denen auf ein sicht- oder hörbares Signal der Unterstützung.
„Habt ihr auch darüber diskutiert, wie das funktionieren soll? Im Hotel treffen wir uns, und tagsüber gehen wir uns aus dem Weg. Wie soll das funktionieren?“, hakte Paul unerbittlich nach.
„Das ist nun wirklich kein großes Problem. Im Hotel sind wir sowieso zusammen. Und auf der Tour können die ihr Tempo fahren, wie sie wollen!“, mischte sich Rosa aggressiv ein. „Darum geht es doch gar nicht. Die passen einfach nicht zu uns, oder?“
„Nein, Rosa, vielleicht ist es genau andersherum“, erwiderte Paul. „Aber bei mir kommt nur an, dass ihr die Benders künftig ausschließen wollt.“
Er schaute in die Runde, in der alle jetzt betreten schwiegen.
„Leute, wir sind doch als eine Gruppe gestartet, wer ist denn dafür, ganz direkt gefragt, dass Petra und Klaus die letzten Etappen allein fahren müssen?“
Die Stille blieb, und Paul meinte deutlich zu spüren, dass er nicht alle Freunde auf seiner Seite hatte. Die Benders schienen weit weniger akzeptiert zu sein, als er angenommen hatte, was jetzt nochmals Beatrix betonte.
„Das passt einfach nicht richtig, mit denen zusammenzufahren. Keine Etappe bisher, wo es nicht irgendein Problem gab.“
„Und wie der sich immer aufbläst mit seiner tollen Norwegen-Radtour …“, maulte Rosa.
„Was ist jetzt?“, fragte Paul ungeduldig die Runde und schien Rosas Bemerkung gar nicht zu beachten. Jeden Moment könnten die Benders erscheinen, und die Situation wäre noch peinlicher, als sie ohnehin für Paul schon war. „Wenn die künftig allein fahren sollen, dann muss das jemand von uns denen auch beibiegen. Und der werde nicht ich sein!“
Wahrscheinlich hatten genau das alle von Paul erwartet, denn keiner wagte, sich zu melden.
Dass jetzt Klaus und Petra erschienen, beendete zwar ihre Diskussion, nicht aber den offenen Dissens zwischen den Freunden. Nur wagte keiner in der Runde im Beisein der Benders, das Thema fortzusetzen. Stattdessen verschwand jetzt einer nach dem anderen in sein Zimmer, um sich für die weitere Fahrt vorzubereiten.
„Haben wir euch gerade gestört?“, frage Petra Paul misstrauisch, die sich über die Stille am Tisch bei ihrem Eintreten gewundert hatte.
„Ach was! Alles bestens!“, erwiderte Paul wahrheitswidrig und suchte ebenfalls schleunigst in sein Zimmer zu kommen.
Wenn die Benders etwas bemerkt hatten, so ließen sie es sich bei der Vorbereitung für die Etappe nicht anmerken.
Als Klaus Benno zu der Konfusion vom Vortag befragte, zeigte der sich ahnungslos. „Was meinst du, von einer Streckenänderung habe ich nicht geredet. Da hast du etwas falsch verstanden.“ Damit drehte sich Benno abrupt ab, sprang auf sein Rad und fuhr los. Die anderen Freunde nahmen das als Startsignal und folgten dessen Beispiel.
Klaus und Petra fuhren mittendrin und suchten sich an den Gesprächen zu beteiligen, was allerdings nur zäh gelingen wollte. Wenn jemand auf ihre Beiträge einging, dann hörte sich das eher desinteressiert an, gelegentlich warteten sie sogar vergeblich auf eine Reaktion. Oft liefen die Gespräche an ihnen vorbei.
„Ich glaube, dass dir das Radfahren nichts ausmacht, so wie du drauf bist!“, sagte Klaus zur neben ihm fahrenden Beatrix, was er sofort bereute, weil er solche flachen Sprüche selbst nicht mochte. Sie empfand seine Worte wohl ähnlich, was sie prompt erkennen ließ. „Was soll das jetzt heißen?“, antwortete sie unwillig, als vermutete sie hinter seiner Rede eine Art Anmache.
„Sollte nur ein Kompliment von mir sein, Beatrix“, versuchte er sofort abzuwiegeln.
„Merkwürdiges Kompliment! Siehst du unter uns jemanden, der nicht gut drauf ist?“, erklärte sie kopfschüttelnd.
„Es sollte wirklich nur ein Kompliment sein, ich wollte weder dir noch den anderen zu nahe treten. War wohl nichts“, resignierte Klaus. Klar war, dass er wieder einmal den falschen Ton getroffen hatte. „Aber mich interessierte, wie ihr euch auf so eine Radtour vorbereitet. Mit Petra haben wir extra noch an einem Spinning-Kurs …“
„Oh Gott!“, unterbrach sie ihn jetzt genervt. „Davon hattest du uns schon sehr ausführlich erzählt, Klaus, gibt’s noch andere sportliche Großtaten, die wir noch nicht kennen?“
Da war er wieder, der abschätzige und unwillige Ton, den er so verabscheute. Er hätte besser das Gespräch von sich aus beenden sollen. Nur: So souverän war er zumindest jetzt nicht, er versuchte prompt, ihre Unhöflichkeit zu kontern.
„Im Moment fällt mir nichts ein. Ich will dich auch nicht mit meinem lockeren Plaudern überfordern. Muss ja nicht verstehen, was dich gerade verärgert und dich so unhöflich reagieren lässt. Irgendein Problem mit dir, von dem ich besser wissen sollte?“
Sympathiepunkte brachte ihm das bei Beatrix sicher nicht. Sie ließ jetzt unverhohlen ihre Antipathie hervorblitzen. „Weißt du, nicht nur ich halte dich für ziemlich aufgeblasen, wenn du nach meiner Meinung fragen solltest …!“
Das reichte Klaus, er scherte abrupt mit seinem Rad so weit aus, dass er mit angezogenem Tempo an den vor ihm radelnden Mitfahrern vorbeiziehen konnte.
Am liebsten hätte er jetzt sofort das Rad zur Seite geworfen und die gemeinsame Radtour beendet. Seine Hände umklammerten so fest die Lenkergriffe, dass sich die Handknöchel deutlich zeigten. Wie sehr ihn inzwischen solche Wortwechsel forderten, merkte er an seinem gefühlt verstärkten Puls, an der Hitze im ganzen Körper, die ihm den Schweiß ins Gesicht trieb. Schnell bildeten sich auf der Haut Schweißperlen, die von seinem Hemd aber aufgesogen wurden.
Er sah sich gedemütigt, meinte, in der Gruppe als Blender zu gelten, den sie nicht ernst nahmen. Und das erfuhr er vor allem durch zwei Frauen, die sich hinreichend in der Gruppe geschützt wähnten, um ihm solche groben Unhöflichkeiten zu servieren. Er vermutete, dass alle anderen deren Haltung teilten.
Schon fast wieder an der Spitze, bremste er nochmals sein Rad ab und ließ sich zurückfallen, bis ihn Petra eingeholt hatte. Die hätte ihm ebenfalls von einer frustrierenden Unterhaltung erzählen können, bei ihr mit dem Ehepaar Inge und Andy Schubert. Sie hatte es sogar aufgegeben, mit denen weiterzureden.
„Was ist?“, wollte die von ihm wissen, worauf er nur den Kopf schüttelte. Dann erst erzählte er, was er mit Beatrix erlebt hatte.
„So macht’s für uns keinen Spaß! Wir sollten lieber allein weiterfahren“, sagte Petra endlich leise zu ihrem Mann, der immer noch mit seiner Empörung kämpfte. „Hörst du, ich habe keine Lust mehr, mit denen zusammenzufahren. Sollen wir nicht besser nach dieser Etappe von uns aus die Tour abbrechen?“
„Die sind wahrscheinlich nicht nur sauer wegen gestern Abend, die haben wohl grundsätzlich etwas dagegen, dass wir hier mitradeln“, erwiderte Klaus endlich, ohne auf ihren Vorschlag einzugehen. „Warte erst mal ab! Wir können im Moment ohnehin nichts ändern. Vielleicht fällt uns noch was ein!“
Es arbeitete in seinem Kopf, dass sie beide nichts hatten, womit sie sich gegen dieses Mobbing von einigen Teilnehmern zur Wehr setzen könnten, das frustrierte ihn. Wie bei heftigem Stress fühlte er einen dumpfen Druck in der Magengegend, gegen den er hilflos war. Nicht einmal die Tour abbrechen bot einen Ausweg. Das Gefühl, schmerzhaft mit einem Poller zusammengeprallt zu sein, vermochte auch seine Frau nicht zu verändern. Eine Niederlage war es für ihn, was sonst?
So gestimmt, beschleunigte er wieder seine Fahrt, indem er sich sogar aus dem Sattel stemmte, um kräftiger in die Pedale zu treten. Was er vorhatte, erschloss sich Petra nicht. Sie sah nur, dass er sich an die Spitze setzte und davor kurz mit Paul redete. Und wenig später geriet er aus ihrem Blickfeld, weil er rasch hinter einer Wegbiegung verschwand. Irgendeiner in der Gruppe, der das beobachtet hatte, klatschte sogar dazu Beifall.
Schon wenige Augenblicke später entschieden sich die Freunde für eine Pause und suchten einen Rastplatz. Keine fünfhundert Meter weiter an einer freien Fläche am Ufer mit einem Tisch und Bänken hielten sie an.
„Was hat dir Klaus gesagt?“, fragte Petra Paul. „Er wollte vorausfahren, weil er im nächsten Ort seine Schaltung überprüfen lassen will. Das passt ja gut, weil wir gerade eine Pause machen wollen“, erklärte er ihr lapidar. „Den holen wir dann dort wieder ein.“
Petra war verwundert, denn von einem Problem an seinem Rad hatte ihr Klaus nichts gesagt. Und die Strecke bis zum nächsten Ort schätzte sie recht lang ein, weshalb ihr seine Idee, vorauszufahren, wenig einleuchtend erschien.
***
Klaus hatte mit Paul kurz darüber gesprochen, warum er vorausfahren wollte. Aber es gab sicher kein Problem mit seiner Fahrradschaltung. In der kleinen Stadt lag das Fahrradgeschäft direkt an ihrer Strecke, an dem er aber vorbeifuhr.
Ihn drängte es, einen möglichst großen Abstand zur Gruppe zu gewinnen, mit denen nicht sprechen und die nicht ständig sehen zu müssen. Mit zunehmender Distanz fühlte er sich befreiter, der Druck in seiner Magengegend verschwand und statt weiter im Kreisdenken zu verharren, richteten sich seine Überlegungen mehr darauf, wie er die Fahrradtour ohne Peinlichkeit oder gar Streit beenden könnte. Die Diskussion beim Frühstück kannte er nicht, und sein Gefühl schwankte hin und her. Mal sorgte er sich, dass die Gruppe ihnen den vorzeitigen Abbruch verübeln könnte, dann aber meldete sich sein Mobbing-Verdacht, der sich bei ihm durch die Vorfälle in den vergangenen Tagen verstärkt hatte.
Er hielt ein unstetes Tempo. Hatte er gerade wie wild in die Pedalen getreten, bis ihm die Beine schmerzten, so bummelte er gleich darauf, dass er drohte umzukippen. Und dann schrie er auf, was für idiotische Mitfahrer er hätte und wie er sich nur auf diese Tour hatte einlassen können.
Dass er so emotionsgeladen kaum rational agieren könnte, nahm er gar nicht wahr. Die Aussicht auf das schnelle Ende der Tour hatte für ihn nicht nur etwas Befreiendes, es verteilte auch die Schuld an dieser missglückten Unternehmung völlig anders. Es weckte bei ihm den Wunsch, die Gruppe das vermeintliche Scheitern spüren zu lassen. Das war möglicherweise entscheidend für das, was ihn kurz darauf an Bösartigkeit einfiel.
Er folgte am Ende der Ortschaft einem gut befahrbaren Radweg, bis eine Absperrung ihn unvermittelt daran hinderte weiterzufahren. Ein an einem Holzgestell befestigtes Hinweisschild wies Radfahrer an, nach links in einen schmalen Feldweg einzubiegen. Er stieg vom Rad und überlegte – nicht über die Bedeutung des Schildes, die war ihm klar. Prüfend hob er das Absperrgestell an einem Ende etwas an. Mühelos konnte er es anheben, und da es klappbar war, würde er es problemlos versetzen können. Warum die Straße für Radfahrer gesperrt worden war, konnte er nicht erkennen, sein Navi wollte ihn an dieser Stelle weiter geradeaus fahren lassen.
Eine Idee setzte sich bei ihm fest, er könnte mit dieser Umleitung der Gruppe eins auswischen. Es war schlicht ein Rachegedanke, der ihn antrieb. Er wollte das Holzgestell genau vor dem Feldweg aufstellen. Ob diese plumpe Irreführung funktionieren würde – da war er nicht sicher. Auf einmal hatte er es eilig, beeilte sich sogar, um die Absperrung an ihren neuen Platz zu transportieren.
Wie sehr die Aktion von Rache getragen wurde, spürte er nach wenigen hundert Metern. Er hielt nochmals kurz an, schaute sich um und musste lachen. „Das habt ihr euch verdient!“, rief er laut, weil ihn niemand hören würde.
Jetzt fiel ihm ein, dass seine Frau ebenfalls betroffen sein würde. Er zögerte, ob er wirklich so eine Bösartigkeit begehen oder nicht besser alles zurückdrehen sollte.
Vielleicht sorgte er sich, von den anderen bei seiner Manipulation erwischt zu werden, von denen er annahm, dass die bald zu ihm aufschließen könnten. Jedenfalls fuhr er doch weiter, erst langsam, aber dann immer entschlossener.
Er hatte sich überhaupt nicht damit aufgehalten, im Navi zu prüfen, was die Fahrt über die Straße für die Gruppe bedeuten könnte. Ob dieser Umweg beträchtlich war oder es später noch eine alternative Abkürzung geben würde, das hatte ihn nicht gekümmert. Der Feldweg, den er jetzt fuhr, war nicht nur der kürzeste, sondern der vom Tourenveranstalter vorgeschlagene Radweg zu ihrem Zielort. Das hatte er nicht bedacht oder überprüft.
Was Klaus ebenfalls nicht wissen konnte, war, dass diese Straße noch eine unangenehme Überraschung für die Gruppe enthielt.
Das alles belastete ihn im Moment wenig. Der große Ärger war inzwischen zwar abgeklungen, aber die Abneigung gegen einige Mitradler hielt sich bei ihm. Das begrenzte auch sein schlechtes Gewissen. Nur der Gedanke an Petra bekümmerte ihn, der er eine längere Tour gern erspart hätte. Die müsste diese Strecke bewältigen, obwohl es sie konditionell an ihre Grenzen bringen könnte. Für die Batterien der E-Bikes, mit denen einige Kameraden unterwegs waren, sah er keine Probleme.
„Mal sehen, wann sie dann heute am Ziel ankommen!“, rief er laut, und der Gedanke an die Radfahrkollegen, die nichts ahnend irregeleitet würden und lange strampeln müssten, gefiel ihm mehr und mehr. Das wurde auch nicht dadurch getrübt, dass er Regenwolken aufziehen sah. Es würde am Abend regnen, und sicher würde die Gruppe davon nicht verschont bleiben.
„Wenn es heftiger regnen sollte, müssen sie sich notfalls irgendwo unterstellen“, sagte er im sicheren Gefühl, davon nicht betroffen zu sein.
Der Himmel verlor mehr und mehr sein Blau, die untergehende Sonne steckte hinter dicken Wolken verborgen, es wurde dunkler. Der Wind frischte in Böen so merklich auf, dass er kräftig dagegenhalten musste. Rechts und links von ihm erstreckten sich offene Felder, was ihn ungeschützt dem Wind aussetzte.
„Hoffentlich bereue ich meinen Einfall heute Abend nicht, lange nachgedacht habe ich nicht!“
***
In der kleinen Stadt wunderten sich alle, dass Klaus nicht zu finden war. Sie hielten am Fahrradgeschäft und erfuhren dort nur, dass niemand sich im Geschäft gemeldet hätte.
„Dann hat er sein Problem anders lösen können“, bemerkte einer aus der Gruppe. „Aber typisch, dass Klaus ohne zu halten gleich weitergefahren ist.“
„Wir sollten auch weiterfahren“, drängte Paul, der die entfernt aufziehenden Wolken sah und sicher mit baldigem Regen rechnete. „Wenn wir nicht nass werden wollen, dann sollten wir jetzt zügiger fahren. Wahrscheinlich schaffen wir das noch rechtzeitig, bevor es zu regnen beginnt. Wir haben ja bereits zwei Drittel der Strecke zurückgelegt, und gleich werden wir von der Straße in einen Feldweg abbiegen müssen. Wenn wir uns beeilen, dann sollten wir es trocken ins Hotel schaffen.“
Das Hinweisschild für Autos am Ortseingang hatte keiner von ihnen beachtet. Das wies auf eine spätere Sperrung der Landstraße hin und verwies auf eine Umleitung für Kraftfahrzeuge. Abgelenkt durch Gespräche und in der Annahme, dass Radfahrer nicht betroffen sein würden, hatten sie diese Hinweise schlicht ignoriert. Der geringe Autoverkehr hätte ihnen am Ortsausgang auffallen können, sie beachteten es aber nicht.
Bei der Abzweigung in den Feldweg hielten sie an. Ihnen war unklar, ob sie der Straße weiter folgen oder in den Schotterweg abbiegen sollten, vor dem jetzt das Holzgestell mit dem Hinweisschild stand, das Klaus dort hingestellt hatte. Eine längere Diskussion entbrannte vor allem zwischen denen, die solche Schilder gern mal ignorierten und denen, die die normalerweise respektierten. Einige Freunde erinnerten sich jetzt an den Warnhinweis im Ort, nur meinten sie, dass der sich ausschließlich an Kraftfahrzeuge gerichtet hätte. Leider boten ihre Navigationssysteme auch keine Alternativen an. Die und auch die Routenbeschreibung des Veranstalters empfahlen übereinstimmend, in den Feldweg einzubiegen. Klaus’ Manipulation verursachte eine ziemliche Ratlosigkeit, was die nicht enden wollende Diskussion zeigte. Unklar blieb, ob sie später noch eine weitere Abzweigung finden würden.
„Wenn wir der Straße folgen, dann werden wir deutlich länger bis zum Hotel brauchen“, behauptete Lars, der intensiv sein Navigationssystem studierte.
„Aber wenn der Feldweg gesperrt ist, dann bleibt uns doch gar keine andere Wahl. Umsonst haben die doch diese Absperrung nicht aufgebaut“, widersprach ihm Benno.
„Er hat recht!“, pflichtete Beatrix ihm bei, was erstaunlich war, da sie weder über ein Navigationssystem verfügte noch sich die Mühe machte, die Touren-Unterlage zu studieren. „Also ich fahre nicht auf einem Weg weiter, der gesperrt ist.“
„Was machen wir?“, fragte Paul in die Runde, weil er diesmal nicht allein entscheiden wollte.
Eine Weile zögerten diejenigen, die eher auf dem Feldweg trotz Absperrung hätten fahren wollen, knickten aber dann ein.
„Also los, folgen wir der Straße“, gab sich Lars widerstrebend zufrieden. Der hatte sich vor allem über Beatrix’ leichtfertige Unterstützung für Benno geärgert. „Hoffentlich stoßen wir noch auf eine andere Abzweigung!“
„Auf der Straße kommen wir zumindest zügiger voran als auf diesem Schotterweg“, bemerkte Benno und fuhr los.
„Allerdings wissen wir nicht, was das für unsere Fahrstrecke bedeutet, die wird möglicherweise deutlich länger sein“, sorgte sich Paul in Gedanken.
Wenig später saßen sie alle wieder im Sattel und versuchten in Erwartung des Regens, das Tempo zu steigern.
Inzwischen kämpften sie auch gegen einen schärferen Wind an. Angenehm war nur, dass auf dieser Straße überhaupt kein Autoverkehr herrschte. So konnten sie zumindest nebeneinander fahren. Der Regen hatte sie noch nicht erreicht.
Und dann bemerkten es die Voranfahrenden zuerst. Es gab Schilder, nur konnten sie auf die Entfernung kaum erkennen, was die ankündigten. Und fast im selben Moment fielen schon die ersten Tropfen, verstärkten sich sehr schnell zu einem veritablen Regenguss. Nirgendwo sahen sie eine Möglichkeit, sich unterzustellen. Es war bereits dunkel geworden, und sie waren spät dran.
Aber nicht der Regen war ihr primäres Problem, direkt vor ihnen überquerte die Straße einen Zufluss des Neckars. Die Brücke war offensichtlich in der Mitte eingebrochen, eine Überquerung gab es nicht. Dabei war es nicht einmal ein breiter Fluss, sondern nur ein Bach, der in ihren Navigationssystemen gar nicht aufgeführt wurde. Jetzt verwehrte er ihnen aber die Weiterfahrt. Niemand hatte die leiseste Idee, wie sie diesen Wasserlauf trockenen Fußes überqueren könnten.
Einer ihrer Kameraden schlug vor, etwas abseits der eingestürzten Brücke den Bach zu durchwaten, was bei den Frauen sofort auf Ablehnung stieß. „Bestimmt gehe ich da nicht rein, schon gar nicht mit dem Fahrrad! Der Bach könnte ziemlich tief sein, und wenn wir ausrutschen …“
Dieser Einwand klärte sofort jede weitere Diskussion in dieser Richtung, und gleich darauf kam der Vorschlag, dem Wasserlauf entlang zu folgen, um nach einer anderen Überquerungsmöglichkeit zu suchen. „Vielleicht finden wir doch noch einen Steg“, warf Lars ein.
Unschlüssig verharrten sie vor der Brückenabsperrung. Die Erfolgsaussicht von Lars Vorschlag erschien ihnen aber zu vage. Und jetzt nahm der Regen an Stärke zu, die Suche nach einer passenden Möglichkeit, sich unterzustellen, wurde dringlicher.
Das unangenehme Gefühl, vom Regen kräftig durchnässt zu werden, überdeckte ihren Ärger über ihre Entscheidung, der Straße gefolgt zu sein. Noch erhob keiner einen Vorwurf an die, die für die Landstraße plädiert hatten.
„Wir können doch nicht mit unseren Rädern am Bach entlang nach einer Überquerung suchen“, meinte Paul, der sofort eingesehen hatte, dass sie zurückfahren müssten. „Wir müssen zurück, um dann doch über diesen Feldweg zu fahren.“
„Das kostet uns fast eine weitere Stunde“, entrüstete sich Beatrix, die zwar auch keine Alternative sah, aber in diesem Moment richtig wütend wurde über die Aussicht, umdrehen zu müssen. Und jetzt richtete sich ihre Enttäuschung doch auf ihren Mann, dem sie fälschlicherweise die Schuld an ihrer Entscheidung zuschob. „Das hast du uns eingebrockt!“
„Wir haben keine andere Wahl. Besser, du findest dich damit ab, Beatrix. Die Brücke geht nicht, und nach einem Steg zu suchen, halte ich für aussichtslos. Eine andere Brücke oder einen Steg zu finden, wird uns sicher mehr Zeit kosten, als zurückzufahren.“ Was Paul sagte, sahen schließlich alle ein.
Plötzlich hörten sie ein Fahrzeug sich nähern und sahen schon von Weitem das eingeschaltete Blaulicht. Der Polizeiwagen ließ kurz sein Martinshorn aufheulen, bevor er direkt vor der Absperrung zum Stehen kam.
Einer der Beamten rief ihnen durch die geöffnete Seitenscheibe zu, warum sie dieser doch gesperrten Straße gefolgt seien.
„Wir wollten den Feldweg nehmen, aber da stand uns eine Absperrung im Weg!“, rief Benno verständnislos zurück.
„Absperrung? Der ist doch nicht gesperrt!“, erwiderte der Beamte verwundert. „Sie müssen sich irren!“
Jetzt wollten sie es genauer wissen und verlangten von dem Polizisten eine Erklärung, denn keiner von ihnen meinte, sich geirrt zu haben.
„Glauben Sie mir“, entgegnete der. „Den Feldweg können zurzeit sogar Autos nutzen, bis dieser Brückenschaden behoben sein wird. Wohin wollen Sie denn eigentlich?“
Als die beiden Polizisten von ihrem Zielort hörten, schauten die sich kopfschüttelnd an.
„Da müssten Sie aber auf dieser Straße einen riesigen Umweg fahren, sicher mehr als zehn Kilometer zusätzlich!“, erklärte ihnen der Polizist.
Jetzt schwand in der Gruppe jeder Anflug von Heiterkeit, und keiner fand sofort Worte, um seinem Ärger Luft zu machen.
„Sie meinen wirklich zehn Kilometer mehr?“, fragte Lars ungläubig, der daran dachte, dass man ihm besser gefolgt wäre. „Wie kann das sein, dass die Absperrung genau vor diesem Weg aufgebaut ist?“
„Tja, vermute, dass das irgendein Witzbold gemacht hat, aber sicher keiner von hier. Wir gehen der Sache nach.“
Paul hatte sich bereits damit abgefunden, dass sie die ganze Strecke zurückfahren müssten. Nur um auch seine zweifelnden Freunde davon zu überzeugen, erkundigte er sich bei den Polizisten nach einer anderen Route.
„Es gibt überhaupt nur eine sinnvolle Alternative, und dafür müssen Sie leider umkehren, bis zu diesem Feldweg. Hier jedenfalls kommen Sie nicht weiter.“
„Und wenn wir diesem Graben über das Feld ein Stück folgen?“, fragte Benno nach.
„Wie lange wollen Sie denn da suchen? Leider nein, Sie müssten schon sehr lange ihre Fahrräder über das Feld schieben, bis es einen Steg auf die andere Seite gibt. Vergessen Sie es, das ist keine Alternative.“
Als sie jetzt zurückfuhren, redeten sie wenig miteinander. Unmut und Wut beschäftigte fast alle. Einige zerrissen in Gedanken diesen vermutlichen Witzbold, der sie in die Irre geleitet hatte, und grübelten darüber, wem solch eine blöde Idee eingefallen war. Andere, wie Benno, schienen dabei schon einen konkreten Verdacht zu haben. „Denkst du das Gleiche wie ich?“, fragte er Rosa.
„Sehr wahrscheinlich. Und wir kennen das Arschloch!“ Beatrix, die voran fuhr, hörte das und drehte sich kurz um. „An wen denkt ihr?“, fragte sie.
„Wenn du uns fragst, ist nur einer für diesen miesen Witz verantwortlich“, antwortete Benno.
„Wenn der das war …“, erwiderte Lars, dem ebenfalls dieser Verdacht gekommen war. Komisch erschien ihm, dass Klaus im letzten Ort nicht auf sie gewartet hatte.
„Wenn er es war, dann muss er schon eine ziemliche Wut auf uns haben“, bemerkte er.
„Was heißt Wut?“, zischte Rosa, deutlich unwillig über Lars Worte. „Das ist ein aufgeblasenes und eingebildetes Arschloch!“
„Genau das hat er wohl bei all der Ablehnung ihm und Petra gegenüber empfunden. Was Wunder, wenn er es dann auch zeigt“, gab Lars ungerührt zurück.
Weder den Lindners noch den Schlichters war bewusst, dass ihr lautes Zurufen jemand anderes mithörte, den dieses Reden erschreckte.
***
Keiner hatte auf Petra geachtet. Sie war zunehmend besorgt, aber auch verunsichert den anderen gefolgt, hatte stets nur geschwiegen, wohl darum bemüht, nicht aufzufallen.
Seit sie am Fahrradgeschäft erfahren hatte, dass Klaus dort nicht eingetreten war, fühlte sie sich in der Gruppe noch unwohler als vorher ohnehin schon. Und natürlich hatte sie sich gefragt, wieso ihr Mann einfach weitergefahren war, ohne auf sie zu warten. Und später an der Einsturzstelle der Überquerung konnte sie sich nicht erklären, wie es ihr Mann weitergeschafft haben konnte.
Mit ihrem Handy hatte sie nur dessen Mailbox besprechen können.
„Klaus, wo bist du jetzt? Irgendetwas stimmt mit der Strecke nicht. Unsere Freunde haben den Verdacht, dass jemand die Absperrung manipuliert hat. Warst du das? Melde dich bitte!“
Leider hatte sich Klaus nicht zurückgemeldet, was Petra kaum verstand. Normalerweise kontrollierte er sein Handy häufig. Warum nicht jetzt?, fragte sie sich.
Die Diskussionen über die weitere Fahrstrecke hatte sie wortlos verfolgt. Als dann sogar bei einigen ihrer Begleiter der Verdacht aufkam, dass Klaus die Strecke an der Abzweigung zum Feldweg manipuliert haben könnte, bekam sie das voll mit und versuchte sich fast unsichtbar zu machen. Sollte sie erklären, dass sie ebenfalls ihren Mann verdächtigte?
Sie ließ sich immer mehr zurückfallen, was aber keinem auffiel. Der Abstand zu den anderen wuchs so stetig, und jetzt in der Dunkelheit und dem anhaltenden Regen wäre es sogar schwer für ihre Mitradler gewesen, das zu bemerken.
Warum fiel sie überhaupt immer weiter zurück, setzte sogar gelegentlich das Treten in die Pedalen aus? Bereits vor Erreichen der Straßensperre hatte sie sich körperlich unwohl gefühlt, versuchte, sich das zunächst mit Müdigkeit und mit der negativen Stimmung gegen Klaus und sie zu erklären. Merkwürdig empfand sie jetzt auf der Rückfahrt die kurzen Aussetzer beim Sehen, die sie kaum den unzureichenden Sichtbedingungen zuschreiben konnte. Ohne diese fühlbare Ablehnung in der Gruppe hätte sie sich wohl den anderen anvertraut, so aber wagte sie das gar nicht erst.
Als dann endlich alle die Abzweigung zum Feldweg erreichten und ohne Halt dort einbogen, sah sie sich weit hinten und auf der Straße völlig allein. Der Abstand zu den Freunden war derart angewachsen, dass sie schon sehr laut hätte schreien müssen, um von den anderen gehört zu werden. Aber dazu schien sie gar nicht in der Lage zu sein.
Dass sie stattdessen immer weniger, fast stockend in die Pedalen trat, hatte seinen Grund nicht unbedingt in ihrer körperlichen Schwäche. Plötzlich wurde ihr regelrecht übel, sie empfand ein Kribbeln, erst im rechten Arm und dann in der Hand. Sie ließ einseitig kurz den Lenker los, um diesen Arm frei in der Luft hin und her zu schütteln, was das Taubheitsgefühl kaum änderte. Sie geriet dabei aber in einen Schlingerkurs und dadurch fatal dicht an das regennasse Gras am Rand. Den Straßenrand erkannte sie wegen der unzureichenden Beleuchtung an ihrem Rad ohnehin nur undeutlich, sah den daneben verlaufenden und Wasser führenden Graben ebenso wenig. Als hätte sie das Bewusstsein verloren, glitt sie seitlich vom Rad, rutschte die kurze Böschung hinunter, gefolgt von ihrem ebenfalls abgleitenden Fahrrad. Sie vermochte vielleicht nicht einmal das kalte Wasser unten im Graben zu spüren. Keinen Laut oder Hilferuf stieß sie aus, nichts dergleichen. Das hätte niemand aus ihrer Gruppe gehört, denn zu weit waren die ihr inzwischen davongefahren. Ihre linke Hand hatte einen Moment nur wirkungslos nach den Grasbüscheln der Böschung zu greifen versucht, ohne jedoch den Fall abbremsen zu können. Jetzt hinderte sie auch ihr Rad, sich frei bewegen zu können, und es fehlte ihr möglicherweise die Kraft dazu, sich von dem energisch zu befreien. Ob sie überhaupt den Sturz und ihre missliche Lage bewusst erlebt hatte, war nicht sicher, als sie mehrfach versuchte, zumindest ihren Oberkörper aus dem Wassergraben zu stemmen.
***
Der Regen hatte sich in ein feines Nieseln verwandelt, was trotzdem lästig war. Durchnässt waren sie inzwischen alle. Die Müdigkeit in den Beinen würden selbst die Fitteren unter ihnen nicht mehr leugnen wollen. Die Lichter des nahenden Zielorts hatten die Stimmung der Radler wahrnehmbar aufgehellt, was die wieder munter werdenden Gespräche zeigten. Es wurden selbst Witze gerissen und laut gelacht. Dabei fühlten sich einige von ihnen tatsächlich sichtlich erschöpft, diese Etappe hatte die übliche Länge und Dauer überschritten. Einer von den Freunden verkündete, dass es gegenüber der geplanten Strecke fast zwanzig Kilometer mehr gewesen seien. Und statt wie sonst normal, am späten Nachmittag, am Zielort einzutreffen, erreichten sie heute ihr Hotel erst in der Dunkelheit.
Und wie sahen sie jetzt aus? Durchnässt durch den Regen waren sie alle, und das Durchfahren der vielen Pfützen auf dem Feldweg, die sie nicht hatten richtig erkennen können, hatte ihren Kleidern und Schuhen zugesetzt.
Niemand in der Gruppe vermisste kurz vor dem Ziel Petra. Als sei sie nie mitgefahren, schien sie schlicht vergessen zu sein.
Bei der Einfahrt in das hell ausgeleuchtete Hotelgelände sahen sie Klaus vor dem Eingangsportal in einer Pose stehen, die ihn für die Freunde provozierend und unpassend erscheinen ließ. Genauso hatten ihn einige in der Gruppe schon vorher oft empfunden.
Er hatte sich bereits umgezogen, war sogar geduscht, hatte seine Hände in den Taschen vergraben und grinste über das Gesicht, fast wie in einer Siegerpose. Es schien ihm große Genugtuung zu bereiten, sie so spät und ermattet zu sehen.
„Na, dann habt ihr es endlich auch geschafft!“, rief er, bevor sie alle im Hof vom Rad gestiegen waren. Und das war genau das, was keiner der Angekommenen hören wollte. Wie in einer feindlichen Linie umkreisten sie ihn, ihre Räder neben sich haltend.
Es war Paul, der vor allen anderen die eine, aber wichtige Frage stellte: „Warst du das, Klaus, der uns in die Irre geleitet hat?“
Der musste die Frage gar nicht beantworten, aber gespürt haben, dass er bei allen in der Gruppe in diesem Augenblick verschissen hatte.
„Klaus, du bist raus“, setzte Paul nach. „Morgen früh wollen wir dich und Petra nicht mehr dabeihaben!“
„Was soll das jetzt?“, erwiderte der immer noch grinsend und schüttelte dann mehrfach ungläubig seinen Kopf. Er schien überhaupt nicht zu begreifen, was in den anderen vor sich ging. „Wegen dieser Lappalie, ein kleiner Denkzettel, den ihr euch alle durch euer Verhalten mir und Petra gegenüber reichlich verdient habt, wollt ihr uns aus eurer Runde werfen?“
Als ihm keiner antwortete, wurde er regelrecht wütend. „Ihr seid solche Arschlöcher, wisst ihr das? Meint ihr, ich habe nicht eure Ablehnung gespürt, meint ihr das wirklich? Das nennt man Mobbing, hört ihr, Mobbing!“
„Du und Petra, ihr seid nicht mehr dabei!“, wiederholte Paul und steuerte entschlossen mit seinem Rad an ihm vorbei zum Fahrradschuppen. Die anderen wollten ihm folgen, als Klaus auffiel, dass seine Frau fehlte.
„Wo ist überhaupt Petra?“, rief er mit lauter Stimme den Freunden hinterher, die im Begriff waren, ihn im Hof allein stehen zu lassen.
„Petra!“, rief er mehrfach, und das klang nicht mehr empört oder wütend, sondern fast wie in Panik. „Wo ist denn Petra?“ Er rannte zur Straße und schaute vergeblich in die Richtung, aus der sie alle gekommen waren.
Paul, aber auch die anderen ließen jetzt ihre Räder stehen und liefen ebenfalls zu Klaus hin. Keiner hatte eine Antwort, wo sie Petra verloren hatten.
„Wir haben sie gar nicht mehr gesehen“, meldete sich Lars, dem die Situation peinlich war. „Aber auf der Rückfahrt, ist sie da noch dabei gewesen?“ Alle schwiegen, selbst das war ihnen nicht mehr sicher.
„An der Brücke habe ich sie stehen sehen, da schien sie völlig in Ordnung zu sein“, erinnerte sich Carmen, die bereute, sie nicht angesprochen zu haben. „Es kann nur sein, dass sie unterwegs liegen geblieben ist und wir das nicht mitbekommen haben.“
„Das wäre allerdings wenig schmeichelhaft für uns“, stellte Paul nicht minder unangenehm berührt fest. „Wer hat sie als Letzter gesehen?“ Die Auseinandersetzung oder seine Enttäuschung über Klaus’ Verhalten schien erst mal völlig vergessen. „Leute, das kann doch nicht wahr sein! Keiner von uns weiß, wo Petra abgeblieben ist.“
Wie verwandelt zeigte sich jetzt die Stimmung. Die Wut und Abneigung gegen die Benders wurde vom Unverständnis über ihr mögliches Versäumnis und von ihrem schlechten Gewissen überdeckt. Auf einmal schienen die beiden wieder Teil der Gruppe geworden zu sein.
„Klaus, das tut uns jetzt ehrlich leid“, sagte Paul entschuldigend. „Soweit wollten wir es nicht kommen lassen.“
Klaus hatte sein Handy hervorgeholt, während ihn die Gruppe dabei beobachtete, wie er abwechselnd das ans Ohr hielt oder auf das Display starrte.
„Entweder gibt es kein Netz, oder ihre Handybatterie ist leer, ich erreiche nicht mal ihre Mailbox!“, erklärte er und schob sein Handy zurück.
Dann schlug Paul vor, noch etwas zu warten, da Petra vielleicht nur auf der Fahrt weit zurückgefallen war.
„Wir können sie im Ort suchen, vielleicht hat sie sich am Ortseingang verfahren“, schlug Benno vor, der sich über die Gruppenneulinge meist negativ geäußert hatte. Jetzt wollte er sich sogar auf die Suche nach Petra begeben.
„Gut, das sollten wir machen!“, zeigte sich Klaus unverändert beunruhigt und nervös, aber das bloße Warten ertrug er erkennbar weniger. „Ich fahre gleich mit, wartet, bis ich mein Rad geholt habe.“
Auch Lars schloss sich Benno und Klaus an, während die anderen in die Empfangshalle zurückkehrten, aber nicht wagten, in ihre Zimmer zu verschwinden. Alle blieben erst mal dort stehen oder setzten sich auf die Sessel davor.
„Das ist wirklich Scheiße von uns“, erklärte Paul kopfschüttelnd. „Ganz gleich, was Klaus da für einen Blödsinn gemacht hat, das darf nicht passieren, dass wir einen in der Gruppe einfach vergessen.“
„Einen in der Gruppe“, wiederholte Rosa leise, wie zu sich selbst. Ihr war eingefallen, dass ihre Antipathie stets nur auf Klaus und nicht auf Petra gerichtet war. Dass sie die, wie es aussah, im Stich gelassen hatten, hatte sie nicht gewollt.
Sie mussten nicht lange warten, so groß war der Ort nicht, keine halbe Stunde später kehrten Benno und Lars in die Empfangshalle zurück, Klaus war vor dem Hoteleingang stehen geblieben.
„Nichts“, sagte Benno resigniert und ließ sich scheinbar ermattet neben den Sesseln auf den Boden fallen. Sie mussten in großer Hast in der Innenstadt herumgefahren sein, denn beide, er und Lars, schwitzten.
„Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Einfach hier abwarten ist keine Option. Ich kann nur wie gestern die Polizei anrufen“, erklärte schließlich Paul, den es drängte, ihre Suche auszudehnen. Und das schlug er den Freunden nach einer kurzen Denkpause vor.
„Unmöglich, dass wir den ganzen Weg zurück bis zur Absperrung nochmals per Rad absuchen“, sagte Paul. „Das dauert erstens viel zu lange, und zweitens können wir ihr kaum wirksam helfen, sollte etwas Ernstes passiert sein.“ Was er sagte, war überzeugend, sie mussten rasch handeln, und das ginge nicht mit den Fahrrädern, waren auch die anderen in der Gruppe überzeugt.
Er suchte Klaus vor dem Hoteleingang, der draußen angespannt vor der gläsernen Drehtür hin und her lief. Ob er dort nur verharrte, in der Hoffnung, Petra als Erster zu empfangen oder den Kontakt zu den anderen seiner Gruppe im Moment nicht ertragen konnte, war unklar. Die hätten ihm vielleicht nicht abgenommen, dass er sich ausgerechnet jetzt seinen unsinnigen Scherz vorwarf, weil er damit, wie es aussah, vor allem seiner Frau geschadet hatte. Wächsern und bleich erschien sein Gesicht im Licht der Außenstrahler, die ihn voll erfassten.
Paul, der ihn durch die Tür musterte, meinte bei ihm ein Zucken des ganzen Körpers wahrzunehmen, so, als fröstelte er. Er verließ jetzt ebenfalls die Empfangshalle.
„Klaus, vergiss, was ich vorhin gesagt habe. Wir sollten alle gemeinsam beratschlagen, was wir tun können, um Petra zu finden.“
Er hatte seine Hand auf dessen Schulter gelegt und zog ihn sogar etwas zu sich heran.
Ob Klaus das überzeugte? Sie kehrten jetzt beide nach drinnen zu den anderen zurück, die sofort ihr Reden unterbrachen und warteten, was die ihnen vorschlagen würden.
„Ihr habt recht, meine Aktion war Scheiße, habe ich gemacht, weil ich so wütend war.“ Klaus Stimme brach, er wendete seinen Blick ab, rang um Fassung, bis er endlich weiterredete. „Aber jetzt geht es nur um Petra. Es muss ihr etwas passiert sein …“
Wieder brach seine Stimme, zeigte er eine Reaktion, die kaum einer der anderen von ihm erwartete. Er wischte sich vergeblich mit seinen Händen das Gesicht, konnte aber seine Tränen nicht verbergen. Die liefen so heftig über seine Wangen, dass die bald silbern glänzende Bänder neben den Nasenflügeln zeichneten.
„Wir sollten jetzt erst mal ein Taxi bestellen!“, rief Lars. „Der kann uns die ganze Strecke, auch die über den Feldweg bis zur Absperrung vor dem Bach, zurückfahren. Irgendwo dort muss sie ja sein.“ Er sprang auf und lief zur Rezeption hinüber.
„Ich fahre da auf jeden Fall mit!“, rief Klaus, der seine Beherrschung wiedergefunden hatte. Paul meldete sich ebenfalls.
Ein Taxi, das gerade einen Gast gefahren hatte, wartete zufälligerweise draußen, und der Wagen war frei. Paul ließ sich ein paar Handtücher und einen Bademantel von der Frau an der Rezeption geben, was ihm sinnvoll erschien. Es dauert nicht einmal fünf Minuten, bis die drei Männer schon im Auto saßen.
In der Halle blieben erst mal nur Rosa und Beatrix zurück, während die anderen mit nach draußen zum Taxi gelaufen waren. Beatrix hatte sich auf einen Sessel fallen lassen, und ihre Freundin war eher unschlüssig vor der Rezeption stehen geblieben.
„Was starrst du so auf das Fenster?“, fragte Rosa Beatrix, die ihrem Blick zu folgen suchte.
„Sieh mal, da hat sich gerade eine Wespe in diesem Spinnennetz verfangen. Der rette ich jetzt mal ihr Leben!“
„Also, Beatrix, wirklich! Vergessen, dass diese Biester uns beinahe den Arsch zerstochen hätten?“, schüttelte Rosa den Kopf. „Eine Wespe, man glaubt es nicht.“
Ihre Freundin schien das nicht zu kümmern, sie stand jetzt auf, um zum Fenster zu laufen. Mit einem gezielten Wischer befreite sie die Wespe aus dem Spinnennetz. Die fiel nur leblos auf den Boden und blieb dort reglos leicht verkrümmt liegen.
„Sie ist ja auch schon tot“, sagte Beatrix mit erstickter Stimme.
„Mein Gott, Beatrix.“ Rosa zog sie jetzt mit einem festen Griff zu sich herum. „Alles in Ordnung mit dir? Es ist nur eine Wespe, längst tot!“
„Was ist denn nur mit Petra passiert?“, schluchzte die auf.
„Mensch, du spinnst ja! Hör auf damit!“, versuchte sie Rosa zu trösten.
Sie schien ratlos, weil sie die heftige Emotion ihrer Freundin nicht begriff. Sie schüttelte sie an den Schultern. „Wir haben doch nichts falsch gemacht. Es war Klaus, dem wir diese Situation zu verdanken haben.“
„Nein, es ist doch ganz anders!“ Beatrix löste sich aus Rosas Umklammerung. „Erinnerst du dich denn nicht? Damit hat es doch angefangen, als wir fürchteten, dass uns diese Insekten beim Pinkeln den Hintern zerstechen könnten und Klaus das so blöde kommentiert hat. Das hat uns erst recht gegen ihn aufgebracht. Erinnerst du dich nicht, wie wütend wir auf ihn waren? Vielleicht wäre doch alles ganz anders verlaufen, wenn das nicht passiert wäre.“
Rosa drückte ihre Freundin noch fester an sich. Sie sah es nicht so wie Beatrix. Sie erinnerte sich, dass ihre Abneigung beim ersten Zusammentreffen eingesetzt hatte, und die hatte sich allenfalls verstärkt. Das Erlebnis mit den aggressiven Wespen und Klaus blödem Spruch, das war später hinzugekommen.
***
Auf dem etwas rumpligen, von tiefen Fahrspuren durchzogenen Feldweg fuhr das Taxi eher zu schnell, was seine Fahrgäste mehrfach vergeblich monierten. Die hatten hier gerade so viel Licht und damit Sicht auf die Randbereiche der offenen Felder längs des Weges, dass sie die ein Stück weit nach rechts und links einsehen konnten. Es war trotzdem anstrengend, denn auch der inzwischen sternenklare Himmel bot kaum ausreichend Licht, um die nahe Umgebung auszuleuchten. Selbst das asymmetrische Scheinwerferlicht drang nur einseitig auf den schmalen Randstreifen des Feldwegs durch.
Klaus hatte sich neben den Fahrer gesetzt, die beiden anderen saßen hinten und klebten fast mit ihren Gesichtern an den Seitenscheiben.
„Wieso ist Ihre Freundin eigentlich allein gefahren? Ich dachte, Sie wären als Gruppe unterwegs gewesen“, störte auf einmal der Taxifahrer die Konzentration der drei Fahrgäste.
„Sie ist meine Frau!“, antwortete Klaus genervt. „Allein ist sie ja auch nicht unterwegs gewesen!“
„Hmm, verstehe das dann erst recht nicht“, brummte der Fahrer irritiert, der dabei seinen Beifahrer kurz von der Seite musterte. Die beiden anderen im Auto sagten lieber nichts.
„So, jetzt sind wir an der Abzweigung. Soll ich jetzt nach links abbiegen?“, fragte der Taxifahrer wieder in sachlichem Ton.
„Ja, das ist die einzige Möglichkeit. Könnten Sie aber bitte ab jetzt langsam und möglichst auf der linken Fahrbahnseite fahren? Es kommt uns ja sicher keiner entgegen“, gab Paul eine Anweisung.
Obwohl der Fahrer sich bemühte, jetzt Schrittgeschwindigkeit einzuhalten, schien Paul und Lars der Abstand bis zur gesperrten Brücke erstaunlich kurz zu sein. Sie glaubten, einen weitaus längeren Umweg geradelt zu sein.
„Das sind ziemlich genau sieben Kilometer gewesen von der Abzweigung in den Feldweg bis hierher zum Bach“, erklärte ungefragt der Taxifahrer, der zu wissen schien, was seine Fahrgäste gerade überlegten.
„Nichts!“, stieß Klaus resigniert aus und verstärkte so bei Paul und Lars deren schlechtes Gewissen.
„Wir fahren jetzt die ganze Strecke zurück. Irgendwo muss sie doch sein!“, sagte er laut. „Notfalls laufe ich die ganze Strecke nochmals zu Fuß ab.“
„Wie zu Fuß?“, meldete sich der Taxifahrer zweifelnd. „Meinen Sie, dass ich da warten soll?“
„Wenn notwendig ja, Sie kriegen es doch bezahlt“, entgegnete Paul, dem die Ungeduld des Fahrers auf die Nerven ging.
„Vielleicht hat sie auch nur die Abzweigung übersehen und ist weiter in Richtung Ortschaft gefahren“, erklärte Lars, dem das durchaus plausibel erschien. „Wenn sie doch ein Problem mit ihrem Rad hatte oder wegen des starken Regens vorhin …“
„Die hätte dann doch sicher angerufen“, erklärte Paul, der diese Meinung nicht teilte. „Erscheint mir sehr unwahrscheinlich. Das Radgeschäft hätte sie dann sicher bereits geschlossen vorgefunden.“
Das Taxi hatte inzwischen gewendet und rollte erneut in mäßigem Tempo in Richtung der Abzweigung zum Feldweg. „An die Möglichkeit, dass sich ihre Frau von jemanden hat mitnehmen lassen, haben Sie auch schon gedacht …“, bemerkte der Taxifahrer.
Alle drei hatten das nicht bedacht, und Klaus erschien das auch sofort als unsinnig. Wenn Petra sich von einem Auto hätte mitnehmen lassen, würde sie sich doch längst gemeldet haben, war er sicher. „Meine Frau würde mich dann sofort angerufen haben!“ Über irgendetwas anderes wollte er gar nicht nachdenken.
„Fahren Sie so langsam, wie es geht! Und bleiben Sie dicht am Fahrbahnrand!“
Jetzt erst bemerkten sie den parallel zur Fahrbahn laufenden Straßengraben, der durch hohe Gräser und kleine Büsche leicht zu übersehen war. Keine Idee hatten sie, wie steil die Böschung abfiel und wie tief dieser Graben war.
„Halten Sie mal, bitte“, befahl Klaus dem Taxifahrer, nachdem sie schon einige Kilometer gefahren waren. „Ich konnte kaum etwas neben der Fahrbahn erkennen. Besser, ich steige jetzt aus.“ Und nach dem Aussteigen ermahnte er den Fahrer, dass der hinter ihm herfahren sollte, damit er ausreichend Licht erhielte.
Klaus blieb oft stehen und beugte sich tief hinunter zum Graben. Auf dem rutschigen Gras wäre er einmal beinahe die Böschung hinuntergerutscht, konnte sich aber an einem Strauch festhalten. Resigniert schaute er sich mehrmals zu seinen beiden Gefährten im Auto um und schüttelte den Kopf. Schließlich stiegen die ebenfalls aus und folgten Klaus zu Fuß.
„Da liegt jemand im Graben!“, rief Lars, der etwas voraus stehen geblieben war. Gleich darauf zog er heftig an irgendeinem Gegenstand.
Die beiden anderen rannten zu ihm, um ein Fahrrad hochzuziehen. Für Klaus war sofort klar, sie hatten unzweifelhaft Petras Rad geborgen. Dann stieg er runter in den Graben.
„Es ist Petra!“, gellte Klaus’ Stimme laut auf. Er kniete jetzt ungeachtet der Nässe direkt neben seiner Frau, deren Gesicht im Wasser lag. Er versuchte ihren Körper mit beiden Armen hochzuziehen. Ihre Beine, die sich zuvor offenbar im Fahrradrahmen verfangen hatten, waren jetzt frei. Er musste trotzdem Lars um Hilfe bitten, um seine Frau nach oben auf die Straße zu ziehen.
Petras Wangen berührend, nahm er die Kälte in ihrem Gesicht wahr. Er gewahrte die leblos herunterhängende Hand, nach der er griff. Und als er ihren Puls zu fühlen suchte, war ihm das unmöglich.
Hinter ihm drängten sich die beiden Gefährten und der Fahrer. Sie alle sahen im Licht der Scheinwerfer Petras feucht glänzendes Gesicht, deren Augen in den Himmel blickten, so als wäre sie noch bei ihnen. Klaus drückte ihren Körper an sich. Nur Paul begriff, was sie umgehend versuchen mussten. Fest entschlossen schob er Klaus beiseite, bettete Petras Oberkörper längs auf dem Grasstreifen am Straßenrand und fing an, kraftvoll mit beiden Händen übereinander rhythmisch ihren Brustkörper zusammenzudrücken. Mit Abständen presste er seine Lippen auf die ihren. Dazu holte er immer wieder tief Luft.
Wie oft? Als Paul sich langsam aufrichtete, glänzte sein Gesicht im Schein der Autolampen, Tropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, die er jetzt wegwischte. Keiner sagte etwas, und einen Moment dauerte es, bis Klaus sich wieder neben seine Frau kniete. Der Taxifahrer, der Pauls Wiederbelebungsversuchen zugeschaut hatte, stieg zurück in sein Taxi und telefoniert mit der Polizei oder einem Rettungsdienst.
Paul und Lars blieben stehen, während Klaus kniend immer wieder ruckartig Petra an sich drückte, wobei er sein Schluchzen nicht beherrschen konnte. Keiner wollte ihn dabei stören, zu sehr war den anderen bewusst, dass sie ihn nicht trösten konnten.
Nur leise murmelte Paul zu sich, was das für eine verdammte Scheiße sei, die sie wohl alle zu verantworten hätten.
Eine Sirene ertönte, und rasch näherte sich ein Rettungswagen, gleich darauf erschien auch die Polizei.
„Lassen Sie uns kurz durch“, sagte jemand in der typischen Kleidung eines Sanitäters oder Notarztes. Der Polizeibeamte, was für ein Zufall, genau der, den die Gruppe am Abend an der Absperrung angetroffen hatte, zog sie alle drei zurück, wollte mehr von ihnen erfahren.
Die Polizei fand am Morgen Kratzspuren und ausgerissene Grasbüschel an der Böschung, was für sie darauf hinwies, dass Petra noch um ihr Leben gekämpft haben musste. Nur ihr Rad, in dem sie sich verfangen hatte, und vielleicht ihre Panik hatten bewirkt, dass sie sich nicht selbst im Graben befreien konnte.
Eine spätere Obduktion stellte bei Petra einen rechtsseitigen Schlaganfall fest, Ursache für ihren Sturz, aber nicht für ihren Tod. Sie war im Graben ertrunken, was hätte verhindert werden können, wäre ihr rechtzeitig jemand zu Hilfe gekommen.
***
Es gab keinen Abschied. Die Etappe des folgenden Tages wollte niemand in der Gruppe fahren. Paul hatte das geahnt und den Veranstalter telefonisch darum gebeten, sie und ihre Räder bereits von ihrem jetzigen Hotel aus zu ihrem Ausgangspunkt der Tour zurückzubringen. Zum Frühstück waren sie alle außer Klaus erschienen, aber die Stimmung war so bedrückt, dass kaum gesprochen wurde. Jeder schien mit seiner ganz eigenen Aufarbeitung beschäftigt zu sein und wollte sich nicht darüber auszutauschen.
Wenn gesprochen wurde, dann waren es belanglose Bemerkungen oder einige Fragen zur Organisation der Rückfahrt. Paul wurde gefragt, ob Klaus Hilfe von ihnen benötigte, weil alle annahmen, dass er Kontakt zu ihm haben müsste. Der hatte von der Rezeption erfahren, dass Klaus noch einige Tage im Hotel bleiben wollte und keine Hilfe erwartete.
An Paul hatte er per WhatsApp geschrieben, dass er sich um Petras Überführung kümmern müsste und erst mal allein sein wollte. Später, so erklärte er, würde er sich nochmals ausführlicher melden. Im Schluss der Nachricht hieß es, dass er allen eine gute Heimfahrt wünsche.
Paul hatte gezögert, ob er den anderen diese WhatsApp vorlesen oder nur ein paar Worte darüber sagen sollte. Schließlich las er sie doch vor, und die betretene Stille, die dann erst recht eintrat, zeigte, wie sie alle das Unglück belastete.
Dass es nie wieder eine Radtour mit den Benders, schon gar nicht mit Petra, geben könnte, war jedem klar. Wie sie dem nochmals begegnen könnten, mochten sich einige von ihnen fragen. Zu viel war von Anfang an schiefgelaufen.
Klaus hatte in der restlichen Nacht gar nicht erst den Versuch unternommen, sich zum Schlafen hinzulegen. Es war schon Mitternacht gewesen, als ihn die Polizei zunächst zum Krankenhaus und dann zurück ins Hotel transportiert hatte, die beiden anderen waren ohne ihn mit dem Taxi zurückgekehrt.
Nicht nur die letzte Etappe war ihm durch den Kopf gegangen, aufgewühlt von seinen Gefühlen war er durchs Zimmer gelaufen. Er hatte angefangen, seine und ihre Sachen zu packen, obwohl doch klar war, dass er hier würde bleiben müssen, um alles zu regeln. Bei seiner Reisetasche hatte ihn auf einmal die Wut so ergriffen, dass er die einfach nochmals ausgekippt hatte. Alle Sachen waren auf dem Boden verteilt.
Früh hatte er sich ein Taxi gerufen und war zum Krankenhaus gefahren, wo man Petras Leichnam hingebracht hatte. Er hatte allein an ihrer Bahre in einem extra Raum verharrt, ihr ins Gesicht geschaut. Er hatte nicht geweint, womit er zuvor im Hotel nicht hatte aufhören können. Er hatte sich ihre Gesichtszüge genau einprägen wollen, die er meinte, so gut zu kennen. Aber da hatte er plötzlich viele Linien entdeckt, die ihm jetzt neu erschienen. Erst nachdem jemand an die Tür geklopft hatte und ihm mitteilte, dass Beamte ihn nochmals sprechen wollten, hatte er sich endlich von ihrem Anblick gelöst.
Er hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, sich sogar selbst zu beobachten, als ihm die Polizei zum Unglück einige Fragen stellte. Er hatte die nur schwer ertragen, auch deren Verwunderung darüber, wie seine Frau unbemerkt hatte vom Rad in den Wassergraben stürzen können, wo sie ohne Hilfe ertrunken war.
Er hätte das gar nicht beantworten können, hatte stattdessen von seiner Schuld gesprochen, von seinem blöden Einfall, was die Beamten noch mehr verwirrt hatte. Am Ende fragten die ihn ernsthaft, ob er nicht eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung stellen wollte.
„Anzeige erstatten?“, hatte er ungläubig zurückgefragt. Da hatte er schon seine Stimme verloren und nur heftig mit dem Kopf geschüttelt.
„Ich wollte doch nur …“, hatte er nochmals zu einer Erklärung angesetzt.
Was immer die Polizei über ihn dachte, sie äußerten es nicht. Die beendeten gleich darauf ihre Befragung. „Sie sollten zurück in Ihr Hotel fahren. Sie wollen heute sicher nicht nach Hause fahren, so wie Sie sich fühlen.“
Im Hotel hatte die Frau am Empfang ihm ihr Bedauern ausgedrückt. Obwohl die Petra gar nicht kannte, zeigte die sich tief berührt und hatte Mühe, ihr Mitgefühl zu verbergen. Sie hatte sogar Tränen in den Augen, die sie sich mehrfach verstohlen wegwischte. „Ihre Freunde sind am Mittag abgeholt worden, die konnten nicht warten, weil der Bus vom Veranstalter sofort hatte weiterfahren wollen. Aber alle lassen Sie grüßen und sie würden sich bei Ihnen melden.“ Dann fiel ihr noch etwas ein. „Sie können hier so lange wohnen bleiben, wie es erforderlich ist.“
***
Es waren sechs Wochen vergangen, der Herbst hatte deutlich die Gewalt über das Wetter übernommen, als Klaus erstmals wieder an seinem Arbeitsplatz erschien. Er hatte sich zunächst krankgemeldet und dann bezahlten beziehungsweise später unbezahlten Urlaub genommen. Er hatte die Zeit gebraucht, um zu trauen und teilweise, um zu regeln, was erforderlich war.
Seine Familie war ihm zur Seite gestanden, was ihm geholfen hatte. Trotzdem hatte er viel Zeit allein verbracht, einfach, weil er das brauchte. Erschüttert hatten sich alle gezeigt, und die fassungslosen Fragen seiner Umgebung hatte er kaum hinreichend beantworten können. Die hatte er sich auch selbst gestellt. Die eine Ursache oder die eine Erklärung für das Scheitern ihrer Fahrradtour hatte er nicht gefunden. Aber das Gefühl blieb in ihm haften, dass er mit seinem überheblichen und ungeschickten Verhalten die Ablehnung in Pauls Freundeskreis provoziert haben könnte. Er schob sich längst eine Mitschuld zu, dass er nicht unwesentlich zum katastrophalen Ende der Radtour beigetragen hatte.
Den Beerdigungstermin hatte er Paul ebenso wenig mitgeteilt, wie er auf dessen Kontaktversuche reagiert hatte. Mit den anderen Gruppenmitgliedern pflegte er ohnehin keinen Umgang. Der Bruch zu seinem Kollegen war ihm unvermeidlich erschienen. Er konnte sich eine Fortsetzung selbst eines losen Kontakts zu ihm und dessen Freunden nicht vorstellen. Die dünne Freundschaftsbasis hatte ja nicht einmal ausgereicht, die Radtour vernünftig zu Ende zu fahren. Eine vergleichbare Unternehmung würde es für ihn auf lange Zeit nicht geben, war er sich sicher.