Читать книгу Totenstille am See - Heribert Weishaupt - Страница 10

4. Kapitel

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Müllekoven ist der kleinste, der zwölf Stadtteile von Troisdorf. Die Atmosphäre wird hauptsächlich durch Landwirtschaft und Obstanbau geprägt. Durch die Lage unmittelbar an der Grenze zu Bonn, ist er als Wohnort sehr begehrt. Das Naherholungsgebiet der unteren Sieg beginnt sofort am Ortsrand, und bis zur Sieg sind es nur wenige Hundert Meter.

Kommissar Eisenstein parkte seinen Wagen am Rand des Bürgersteiges gegenüber einer imposanten, modernen Kirche in Müllekoven. Das Gemäuer bestand aus rotem Backstein. Auffallend waren jedoch die drei runden Kirchtürme. Ein großer Turm, den ein Wetterhahn an der Spitze zierte, und die beiden kleineren Türme waren mit schwarzem Schiefer verkleidet. Eisenstein stieg aus und blieb beeindruckt stehen, um die Kirche genauer in Augenschein zu nehmen.

„Ja, ja, unsere St.-Adelheid-Kirche. Sie sind wohl nicht von hier. Ich sehe das an ihrem Nummernschild“, hörte er eine Stimme hinter sich. Ein alter Mann auf einem noch älteren Fahrrad war stehen geblieben.

„Ein Meisterwerk von Gottfried Böhm“, sprach der Mann weiter, der sichtlich stolz auf seine Kirche war.

Eisenstein kannte diesen Gottfried Böhm nicht.

„Wahrscheinlich hatte dieser Baumeister noch mehrere andere Kirchen gebaut“, dachte er.

„Ja, ein tolles Bauwerk“, stimmte er dem Mann zu.

„Ich muss weiter. Vielen Dank für die Information“, sagte Eisenstein und begann seinen Fußmarsch durch den Ort. Auch der alte Mann bestieg umständlich sein Fahrrad. Als er an Eisenstein vorbeifuhr, winkte er noch kurz und rief: „Einen schönen Tag.“

Bald darauf war er an der nächsten Straßeneinbiegung verschwunden.

Eisenstein hatte es sich seit Langem zu eigen gemacht, das Wohnumfeld der beteiligten Personen seiner Fälle kennenzulernen. Gemütlich, immer den Blick nach rechts und links wendend, streifte er durch den Ort. Die Straßen wurden immer enger. Oftmals fehlte der Bürgersteig. Die zum Teil alten Häuser aus dunklem Backstein und die Fachwerkhäuser übten einen Reiz auf Eisenstein aus. Während seiner früheren Tätigkeit in der Großstadt hatte er solche Ortschaften und malerischen Winkel nicht kennengelernt.

Bevor er ausstieg, hatte ihm ein letzter Blick auf das Navi verraten, dass die gesuchte Straße nicht weit entfernt war. Bei der gesuchten Hausnummer handelte es sich um ein altes, dunkles Backsteingebäude, das früher vielleicht ein kleiner Bauernhof gewesen war. Mehrere dieser Gebäude reihten sich aneinander, und gemeinsam ergaben sie eine ansehnliche, alte Straßenfront, die der Straße insgesamt ein gemütliches Aussehen verlieh. Eine schwere doppelte Eisentüre versperrte den Zugang.

Er suchte gerade noch die Klingel, als sich die Türe quietschend öffnete, und ein junger Mann heraustrat. Eisenstein blickte in einen kleinen mit Kopfsteinpflaster gepflasterten Innenhof.

„Wohnt hier die Familie Bertram?“, fragte Eisenstein, da er kein Namensschild gefunden hatte.

„Ja, und was wollen Sie?“, fragte der junge Mann etwas schnippisch.

„Mein Name ist Eisenstein. Kommissar Eisenstein, Kriminalpolizei Bonn.“

„Ist etwas mit meinem Vater? Ich habe ihn heute noch nicht gesehen“, fragte der junge Mann und seine Augen weiteten sich fragend.

„Übrigens, ich bin Dominik, der Sohn“, fuhr er jetzt etwas freundlicher fort.

Dominik war schlank und vielleicht zwanzig Jahre alt. Seine glatten, braunen Haare waren zu einer Kurzhaarfrisur geschnitten.

„Kommen Sie bitte mit“, entgegnete der Kommissar lediglich, ohne auf die Frage einzugehen.

Mit einer Hand drückte er den jungen Mann zur Seite und schritt durch das Tor, über den Innenhof in Richtung Hauseingang. Der Sohn folgte ihm, ohne weitere Fragen zu stellen.

„Gott sei Dank, er fragt nicht weiter“, dachte Eisenstein.

In der geöffneten Haustüre stand eine große Frau von etwa fünfzig Jahren. Ihre Figur war schmal, vielleicht sogar hager. Ihre Wangen waren eingefallen, und die Wangenknochen traten stark hervor. Die braunen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden. Auf ihrer Stirn, und um ihren Mund zeigten sich tiefe, scharfe Furchen, die ihrem Gesicht ein schrecklich hartes und strenges Aussehen verliehen. Ihre Füße steckten in einfachen, blauen Sandalen. Ein katzengraues Augenpaar musterte Eisenstein neugierig. Eisenstein vermutete, dass es sich um Frau Bertram handelte, die womöglich sein kurzes Gespräch mit ihrem Sohn gehört hatte.

Nachdem Eisenstein seinen Namen und seine Dienststellung genannt hatte, stellte sich die Frau tatsächlich als Frau Bertram vor. Höflich und bestimmt, beinahe unfreundlich, bat sie ihn ins Haus und bot ihm im Wohnzimmer einen Platz auf einem gemütlich wirkenden Ohrensessel am Fenster an. Durch das große Fenster blickte er auf eine ausladende Terrasse mit angrenzenden, gepflegten Blumenbeeten. Sowohl der Sohn als auch seine Mutter blieben mit dem Rücken zum Fenster stehen und sahen Eisenstein erwartungsvoll an.

„Setzen Sie sich doch auch bitte“, forderte Eisenstein sie auf.

Frau Bertram nahm auf dem äußeren Ende der Sitzfläche eines anderen Sessels ihm gegenüber Platz. Nervös knetete sie ihre Hände. Ihr Sohn blieb hinter ihr stehen.

„Ist etwas mit meinem Mann?“, fragte sie mit spröder Stimme.

„Ja. Frau Bertram, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann tot ist“, begann Eisenstein und versuchte dabei, mit Frau Bertram Blickkontakt zu halten.

Er sah, wie sich unter den eingefallenen Wangen von Frau Bertram die Kieferknochen kraftvoll zuckend gegeneinander drückten. Dabei hielt sie seinem Blick stand. Keine Träne trat in ihre Augen.

Eisenstein schaute kurz zu Dominik hoch, dessen Hände sich tief in den Stoff des Sessels gruben, auf dem seine Mutter saß. Sein Gesicht war um einige Nuancen blasser geworden und seine Augen, die starr auf Eisenstein gerichtet waren, füllten sich unübersehbar mit Tränen.

„Tot? Das kann nicht sein. Er war doch nur zum Angeln drüben am See. Wo ist mein Mann?“, fragte Frau Bertram und schlug fast theatralisch die Hände vor ihren Mund, als hätte sie bereits zu viel gefragt.

„Frau Bertram“, fuhr Eisenstein fort. „Ein Jogger hat Ihren Mann heute Morgen am Sieglarer See gefunden. Er ist an seinem Angelplatz ertrunken. Genaueres wissen wir noch nicht. Ihr Mann wird zum Institut für Rechtsmedizin überführt. Dort wird man die Todesursache und den genauen Todeszeitpunkt feststellen.“

Bisher hatte Frau Bertram die Nachricht außergewöhnlich gefasst aufgenommen, fast zu gefasst. Weder ein Weinkrampf noch irgendwelche anderen Anzeichen für einen nervlichen Zusammenbruch oder für Fassungslosigkeit. Lediglich das unaufhörliche Kneten ihrer Hände zeigte ihre Nervosität und Erregtheit.

„Vielleicht hat sie meine Mitteilung noch nicht ganz realisiert und steht unter Schock“, dachte Eisenstein als Begründung für das ungewöhnliche, unberührte Verhalten von Frau Bertram.

„Ich muss Sie bitten, morgen Nachmittag zum Institut für Rechtsmedizin der Universität Bonn zu kommen und Ihren Mann offiziell zu identifizieren. Ich hole Sie ab, rufe Sie aber vorher an“, beendete hiermit Eisenstein seine unangenehme Aufgabe.

„Wann kann ich meinen Mann beerdigen lassen?“, stellte Frau Bertram die Frage, die, so fand Eisenstein, zum jetzigen Zeitpunkt völlig unbedeutend war. Wenn einer Frau die Nachricht vom Tode des Ehemannes überbracht wird, sollten andere Fragen Priorität haben.

„Das kann ich noch nicht sagen. Das kommt darauf an, wann die Obduktion ist und was sich daraus ergibt“, antwortete Eisenstein.

Frau Bertram nickte kaum merklich. Das war ihre ganze Reaktion. Keine Träne, nicht einmal ein Blick zu ihrem Sohn, der gerade erfahren hatte, dass sein Vater verstorben war. Keine Frage wieso, und wie ihr Mann ertrunken war – nichts. „Mama“, schrie plötzlich Dominik und fiel seiner Mutter um den Hals. Im Gegensatz zu seiner Mutter konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Seine Mutter nahm ihn in den Arm, legte ihm eine Hand auf den Kopf und zog ihn an sich. Kein tröstendes Wort kam über ihre Lippen. Trotzdem war es die erste menschliche Reaktion, die Eisenstein bei Frau Bertram feststellte.

„Was für eine harte Frau!“, dachte er.

Eisenstein war froh, dass er die Überbringung der Todesnachricht hinter sich gebracht hatte. Anderseits war es interessant für ihn, zu sehen, mit wie wenig Emotion Frau Bertram die Nachricht aufgenommen hatte.

Er spürte: Irgendetwas war hier seltsam. Er hatte keine direkten Beweise dafür. Zumal viele Menschen ungewöhnlich reagieren, wenn sie die Nachricht vom Tode ihres Angehörigen durch die Mordkommission erhalten. Überraschung, Angst und Unsicherheit auf die unvorbereitete Mitteilung können solche Reaktionen auslösen. Vielleicht war es aber auch mit der Ehe der Bertrams nicht zum Besten gestellt, und Frau Bertram weinte ihrem Mann deswegen keine Träne hinterher?

Eisenstein hoffte, dass er den wirklichen Grund noch herausfinden würde.

Der Sohn hatte sich inzwischen von der Mutter gelöst und kauerte in der Sofaecke und ließ weiterhin seinen Tränen freien Lauf, wobei sein Körper immer wieder von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde.

Eisenstein erhob sich zum Gehen und verabschiedete sich mit dem Hinweis an Frau Bertram, an die Identifizierung morgen zu denken. Er war froh, dass er diese furchtbare Aufgabe erledigte hatte.

„Wenn Ihnen etwas Wichtiges einfällt, das Sie mir sagen wollen, rufen Sie mich einfach an“, sagte Eisenstein und händigte Frau Bertram seine Visitenkarte aus. Für ihren Sohn legte er seine Visitenkarte auf den Tisch.

Nachdem sich die Haustüre hinter ihm geschlossen hatte, blieb er einen Augenblick stehen und lauschte. Kein Laut drang an sein Ohr. Wie konnte eine Frau bloß die Todesnachricht des Mannes so ruhig ertragen? Oder war das tatsächlich der Schock?

Bevor er den Innenhof verließ, schweifte sein Blick über den Hof. In der Mitte parkte ein großer Audi, der neu zu sein schien. Irgendwie passte dieser Wagen nicht zu diesem Ehepaar. Schon gar nicht zu dieser harten, kalten Frau, dachte Eisenstein. Sie stellte er sich eher in einem einfachen, nüchternen, den Zweck erfüllenden Kleinwagen vor.

In diesem Augenblick fiel ihm ein, dass er Frau Bertram oder ihrem Sohn noch sagen musste, dass sie den alten Mercedes am Wanderparkplatz am See gefunden und zur Untersuchung ins Polizeipräsidium gebracht hatten. Er würde ihnen Morgen in der Gerichtsmedizin die Schlüssel geben. Bis dahin war der Wagen gewiss von der Spurensicherung untersucht und freigegeben worden.

Er verließ den Hof und schlenderte zu seinem Wagen, noch immer beeindruckt von dieser seltsamen Familie.

Im Wagen wischte er die Gedanken beiseite. Jetzt konnte er endlich zu Inka fahren und hören, was aus der Wohnung geworden war.

Kurze Zeit später verließ Dominik Bertram sein Zuhause, stieg in seinen Wagen, der am Straßenrand parkte und fuhr zu seiner Freundin. Die Visitenkarte von Kommissar Eisenstein hatte er in der Hand und warf sie achtlos ins Handschuhfach.


Eisenstein war in Gedanken versunken und hatte sein Navigationsgerät nicht eingeschaltet. Aus mangelnder Ortskenntnis wählte er den Weg über Sieglar, um dann über die Autobahn nach Pützchen, um zu seiner Freundin zu fahren. Er fuhr langsam und schaute sich dabei die Umgebung an. Von der Straße „Im Kirchtal“ fuhr er geradeaus in die Larstraße, direkt in das Zentrum von Sieglar. Die Straße wurde enger, und er war mehr und mehr beeindruckt von den alten Backsteingebäuden, wie es die Gaststätte „Zur Küz“ eines war und von den prachtvoll gepflegten Fachwerkhäusern. Als er direkt auf den alten Mühlenhof zufuhr, nahm er seine Geschwindigkeit bis auf zwanzig Stundenkilometer zurück, damit er das alte Fachwerkhaus ausreichend betrachten konnte.

Auf der anderen Straßenseite ging eine ältere Frau, die eine prall gefüllte Stofftasche trug. Eisenstein konnte darauf das Wort Café lesen. Er hielt an und drehte das Seitenfenster herunter.

„Entschuldigung. Können Sie mir sagen, wo hier ein Café ist?“, rief er über die Straße.

„Nächste Straße links ab, dann sehen Sie das Café bereits“, rief die Frau zurück und ging weiter ihres Weges.

Nach einigen Hundert Metern bog er links ab. Es schien ihm, als ob diese Straße ins Ortszentrum führte. Er hatte Lust auf einen leckeren Cappuccino, vielleicht auch ein Stück Kuchen, denn er hatte heute noch nicht zu Mittag gegessen. Tatsächlich sah er an der nächsten Straßenecke den Hinweis auf das „Café Bröhl“.

Alle Parkplätze rechts und links der Straße waren belegt, bis direkt vor dem Café ein Wagen zurücksetzte und einen Parkplatz freigab, den er dankbar nutzte.

Er stieg aus und stand direkt neben einem riesigen bronzenen Stier oder Ochsen. Da er vor einer Raiffeisenbank parkte, überlegte er, ob es hier wohl eine Verbindung zu dem großen Bullen und Bären vor der Frankfurter Wertpapierbörse gab. Mit diesen Überlegungen betrat er das Café. Es wirkte gemütlich und sehr gepflegt. Er fand einen Platz direkt am Fenster. Was Eisenstein noch nicht wusste, war, dass das Café Bröhl für Sieglar das Gleiche war, wie für Berlin das Café Kranzler, oder für Wien das Wiener Café. Hier traf man sich und tauschte die Neuigkeiten des Tages aus.

Kurz nachdem er Platz genommen hatte, erschien die Bedienung, eine auf den ersten Blick sympathische junge Frau. Ein schwarzes Oberteil, ein kurzer, schwarzer Rock, dem eine kleine weiße Schürze vorgebunden war und ordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene, schwarze Haare verliehen ihr ein seriöses, ansprechendes Äußeres. Sie begrüßte den Kommissar mit einem freundlichen, ungezwungenen Lächeln und fragte nach seinen Wünschen.

Nachdem er seinen Cappuccino bestellt hatte, konnte er es sich nicht verkneifen, die junge Frau nach dem Sinn des Stieres vor der Raiffeisenbank zu fragen.

„Na, das ist der Sieglarer Ochse. Wir nennen ihn Lööre Oohs, und er ist unser Maskottchen.“

„Und was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Tier?“, wollte er jetzt genau wissen.

„Das ist eine lange Geschichte. Vor vielen Jahren benutzten die Sieglarer die Ochsen als Fleisch- und Arbeitstiere. Die Sieglarer züchteten speziell die Ochsen. Die Menschen aus den anderen Stadtteilen riefen scherzhaft, wenn sie Bewohner aus Sieglar sahen: Da kommen die Lööre Oohse. Der Ochse steht grundsätzlich für Stärke und Beharrlichkeit“, schloss die junge Frau ihren Vortrag.

„Und woher wissen Sie das alles?“, fragte Eisenstein neugierig.

„Von meinem Vater. Der ist Mitglied im Heimat- und Geschichtsverein.“

„Vielen Dank für die wirklich umfassenden Informationen. Sie haben meine Neugierde total befriedigt. Bringen sie mir bitte zum Cappuccino noch ein Stück Kirschstreusel, der sieht ganz lecker aus“, lächelte er.

Zum ersten Mal an diesem Tag hatte Eisenstein für ein paar Minuten die Gedanken an den Toten im See und an Inka und der Wohnung verdrängen können.

Wenn er jetzt wieder an Inka und die Wohnungsfrage dachte, drängte sich ihm nicht nur die Frage auf, ob es richtig war, eine Wohnung hier in einem Vorort, abseits der größeren Stadt zu suchen. Nein, inzwischen stellte sich ihm sogar die Frage, ob es richtig war, zusammen mit Inka eine Wohnung zu beziehen? Mochte er überhaupt diese totale Nähe zu ihr? Er liebte Inka und er liebte es auch, wenn er an den Wochentagen abends bei ihr war. Im Hinterkopf hatte er aber immer noch seine Wohnung in Duisburg als Fluchtort. Hier konnte er allein sein, wenn ihm danach war, und überhaupt hatte er dort einen Rettungsanker für alle Fälle.

Dann war da noch Susanne, die er nach Jahren jetzt wieder gesehen hatte. Bedeutete sie ihm immer noch etwas? Neben dem Unwohlsein bei dem überraschenden Zusammentreffen am See hatte er keine Gleichgültigkeit bei sich bemerkt – im Gegenteil.

„Hallo Herr Kriminalhauptkommissar“, holte ihn der Ruf, der durch das Café schallte, in die Wirklichkeit zurück.

Erschrocken wandte Eisenstein seinen Blick zur Theke, wo einige Menschen standen und Gebäck oder Kuchen kauften. Ein Mann wedelte mit einem Arm in der Luft und lachte Eisenstein an. Im ersten Moment konnte Eisenstein die freudig erregte Person nicht erkennen. Doch dann dämmerte es ihm. Polizist Grunert, der ihn zum See begleitet hatte. In Zivil sah er völlig anders aus als heute Morgen am See.

Eisenstein wollte lediglich kurz zurück grüßen, als Grunert bereits bei ihm am Tisch stand. Die Blicke aller Gäste und auch des Personals klebten an seinem Rücken und auch an Eisenstein. Jetzt hatte es auch der Letzte vernommen, dass er Kommissar war.

„Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, saß er bereits auf dem freien Platz Eisenstein gegenüber.

„Gibt es etwas Neues vom Toten am See?“, fragte er erwartungsvoll, um neue Informationen aus erster Quelle zu erhalten.

„Nein, noch nichts. Wir müssen die Obduktion abwarten“, antwortete Eisenstein etwas ungehalten über die Direktheit des Kollegen.

„Ihr Cappuccino und Ihr Kuchen, bitte Herr Kommissar“, meldete sich jetzt die Kellnerin zu Wort, die inzwischen ebenfalls an den Tisch getreten war, und stellte das Getränk auf den Tisch.

„Ach, Herr Kommissar, Sie untersuchen sicherlich den Tod von Franz Bertram?“, fragte sie neugierig.

„Woher wissen Sie denn bereits jetzt davon. Und vor allem, woher kennen Sie den Namen des Toten?“, war Eisenstein sichtlich überrascht.

„Sieglar ist ein Dorf. Nach ein paar Stunden weiß hier jeder alles, und Franz saß immer an dieser Stelle am See, wo Sie ihn gefunden haben“, meinte die Kellnerin wie selbstverständlich.

„Kennen Sie Franz Bertram persönlich?“, hakte Eisenstein nach.

„Natürlich. Viele in Sieglar, Eschmar und Müllekoven kennen ihn.“

Sie stemmte ihre Hände auf den Tisch und beugte sich zum Kommissar hinunter. Ihre Stimme wurde eine Nuance leiser, wobei der Tonfall erheblich bedeutender wurde.

„Franz ist doch ein reicher Mann geworden. Er hat als Erster den Vertrag für den Verkauf seines Grundstückes unterschrieben. Auf die anderen hat er immer wieder eingeredet, auch zu verkaufen, bis alle dann auch unterschrieben hatten. Außer diesem alten Paul, der will wahrscheinlich aus Altersstarrheit sein Grundstück nicht verkaufen. Der Franz und der Paul sind sich darüber schon oft in die Haare geraten. Da flogen schon mal die Fäuste – das war gar nicht lustig. Denn Sie müssen wissen, wenn der Paul nicht verkauft, steht das gesamte Bauvorhaben auf der Kippe. Auch hier bei uns im Café haben die Beiden schon einmal Geschirr zerdeppert. Da beide normalerweise recht nett und friedlich sind, hat der Chef nichts weiter unternommen“, berichtete die junge Frau und holte Luft, um fortzufahren.

Diese kurze Pause nutzte Eisenstein zu einer Frage: „Um welches Bauprojekt geht es denn dabei – und wer ist Paul?“

„Am Ortsausgang von Müllekoven will die Eigenheim GmbH mehrere Mehrfamilienhäuser bauen. Dem Paul Altmann ist das ein Dorn im Auge. Er braucht das Geld dieser Haie nicht, sagt er immer wieder. Die anderen Grundbesitzer, insbesondere Franz, können das Geld ganz gut gebrauchen. Bei Franz sind das ungefähr 500.000 €, bei Paul noch um einiges mehr.“

„Oh, das ist heftig“, entfuhr es Eisenstein.

Er sah jetzt den Tod von Franz Bertram in einem völlig anderen Licht. Der Besuch im Café hatte ihm sehr viel geholfen.

„Wiederum vielen Dank für Ihre Auskünfte. Wenn ich weitere Informationen benötige, komme ich wieder einen Cappuccino hier trinken. Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte Eisenstein mit einem breiten Lächeln, denn jeder gute Kommissar will den Namen seines Gesprächspartners wissen. Und Eisenstein war ein guter Kommissar.

„Ich bin die Liesbeth, das reicht“, sagte die junge Frau.

Grunert saß bisher schweigend am Tisch.

„Wussten Sie das auch alles?“, fragte ihn Eisenstein gerade heraus.

„Mh, ja, zum Teil“, stottert Grunert.

„Ein für allemal: Künftig möchte ich alle Informationen, die für den Fall wichtig sein könnten, unaufgefordert sofort von Ihnen erhalten“, ordnete Eisenstein mit freundlicher Strenge im Ton an.

Auffallend war, dass er zum ersten Mal von einem Fall gesprochen hatte. Ein möglicher Unfall schien für ihn nicht mehr relevant. Nur entsprechende Beweise hatte er noch nicht. Vielleicht brachte die Obduktion etwas zutage. Eisenstein verschlang schnell seinen Kuchen und trank den Cappuccino, denn er hatte keine Lust auf ein längeres Gespräch mit Grunert.

Er stand auf, verabschiedete sich von Grunert und zahlte seine Rechnung bei der Kellnerin an der Theke, wobei er nicht vergaß, ihr ein reichhaltiges Trinkgeld zu geben.

Als er wieder im Wagen saß, gingen ihm die Bilder vom Leichenfund durch den Kopf. Die leeren Bierflaschen, der umgekippte Stuhl und die umherliegenden Angelutensilien.

Wenn Bertram gestolpert und in den See gefallen war, wieso konnte er dann nicht mehr aufstehen? Wie Susanne sagte, konnte sie noch zwei Meter vom Ufer entfernt stehen. Sicher, er hatte einige Flaschen Bier getrunken. Aber so betrunken, dass er nicht mehr aufstehen konnte, war er bestimmt nicht.

Plötzlich wusste er, was er an der Angelstelle vermisst hatte: Der Kescher – wo war der abgeblieben. Am See wurde er nicht gefunden. Seltsam. Jeder Angler benötigt einen Kescher und hat ihn auch immer griffbereit dabei. Außer Franz Bertram – er hatte anscheinend keinen Kescher dabei gehabt!

Er überlegte weiter, wie sich ihm die Angelstelle präsentiert hatte. Das Messer lag ziemlich weit oberhalb des Wassers im Gras, beinahe am Rand des Angelplatzes. Wieso lag das Messer dort oben? Bertram würde das Messer doch in der Nähe des Wassers benötigen, wenn er einen Fisch gefangen hatte. Die Messerspitze zeigte seltsamerweise vom Wasser weg. Wenn Bertram das Messer aus der Hand gelegt oder fallen gelassen hätte, würde es bestimmt mit der Spitze zum Wasser, höchstens jedoch zur Seite zeigen, aber niemals mit der Spitze vom Wasser weg. Auch seine Taschenlampe lag in der gleichen Entfernung vom Wasser wie das Messer.

All diese möglichen Ungereimtheiten sah Eisenstein jetzt, nachdem er den Fall mit anderen Augen betrachtete.

Eisenstein wäre fast an der Ausfahrt Bonn-Pützchen vorbeigefahren. Gerade noch konnte er seinen Wagen abbremsen und in die Ausfahrt lenken.

Inzwischen war es bereits dämmrig geworden. Den Fall sollte er jetzt bis morgen zurückstellen. Inka wartete bestimmt schon lange auf ihn.

Er schloss die Haustüre auf und betrat den Hausflur. Inka kam ihm strahlend aus dem Wohnzimmer entgegen.

„Wie war‘s? Ein schwieriger Fall?“, fragte sie pflichtgemäß, hatte Eisenstein zumindest den Eindruck.

„Wie üblich. Wir wissen noch nichts Genaues. Wie bist du mit dem Makler verblieben?“

„Die Wohnung ist einfach toll. Ich habe ihm gesagt, dass du auch nicht abgeneigt bist, ich aber noch mit dir sprechen werde. Er will uns die Wohnung bis Ende der Woche reservieren. Ist das nicht toll? So haben wir Zeit, ausführlich darüber zu sprechen“, erzählte sie begeistert.

„Ja, das ist toll. Aber heute habe ich keinen Kopf mehr dafür. Reden wir morgen darüber“, bat er und war erleichtert, dass er das Gespräch und damit auch eine Entscheidung verschieben konnte.

Inka hingegen machte ein beleidigtes Gesicht. Sie hatte sich vorgestellt, heute Abend mit Frank den Mietvertrag auszufüllen und ausgiebig über die Einrichtung und den Kauf von Gardinen und Vorhängen und sonstigen Einrichtungsgegenständen, die ihnen noch fehlten, zu diskutieren. Sie verstand nicht, wie Frank das bis Morgen hinausschieben konnte. Womöglich würde er sich jetzt in ein Buch vertiefen oder den Fernseher einschalten. Der Abend war für sie gelaufen.

Totenstille am See

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