Читать книгу Totenstille am See - Heribert Weishaupt - Страница 9

3. Kapitel

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Kriminalhauptkommissar Frank Eisenstein stand in der Mitte des Wohnzimmers. Noch war der Raum leer. Während er sich um sich selbst drehte, füllte sich der Raum in seiner Vorstellung mit Mobiliar und harmonischen Accessoires. Bereits jetzt empfand er eine heimelige Atmosphäre. Der Makler hatte ihm diese Wohnung in Troisdorf-Bergheim wärmstens empfohlen, und auch der Mietpreis war für den Großraum Bonn durchaus angenehm. Die Wohnung gefiel ihm recht gut. Nur mit dem Gedanken, künftig in diesem beschaulichen Ort zu wohnen, konnte er sich noch nicht abfinden. Von der Großstadt in einen kleinen Stadtteil von Troisdorf zu ziehen, auch wenn es nur wenige Autominuten bis Bonn waren, war ein Schritt, der gut überlegt sein musste.

Eisenstein war vor zwei Monaten nach Bonn versetzt worden. Ein Grund für Eisensteins Versetzung war nicht allein die Beförderung zum Kriminalhauptkommissar und der damit verbundenen Besoldung nach A 12 des Bundesbesoldungsgesetzes gewesen, sondern vor Allem wollte er mit seiner Freundin zusammenleben.

Im Frühjahr lernte er Inka bei einem Türkeiurlaub kennen. Kurze schwarze Haare und als Anfang-Vierzigerin eine tadellose Figur waren die Kriterien, die Eisenstein zuerst ins Auge gefallen waren. Nachdem sie sich kennen gelernt hatten, war er mehr und mehr von ihrer Ausstrahlung, ihrer ansteckenden Fröhlichkeit und auf der anderen Seite von der Ernsthaftigkeit der Gespräche, die er mit ihr führen konnte, angetan. Aus dem anfänglichen Urlaubsflirt wurde mehr. Der Altersunterschied von etwas mehr als zehn Jahren störte beide nicht. Sie liebten und respektierten sich. Eisenstein hätte nicht erwartet, dass er nach seiner zweiten Scheidung vor vier Jahren nochmals zu einer Beziehung fähig war. Inka war eine einfühlsamere Frau, als seine beiden Frauen vorher. Sie akzeptierte es, dass ihr Freund berufsbedingt wenig und unregelmäßig Freizeit hatte. Ihm hingegen war klar, dass Inka nicht ihre Stelle bei der Stadt Bonn aufgeben und zu ihm nach Duisburg ziehen würde. Daher war der Anfang ihrer Beziehung auf die Wochenenden beschränkt, an denen sie sich abwechselnd bei ihm oder in ihrer Wohnung in Bonn-Pützchen, einem kleinen rechtsrheinischen Vorort von Bonn, trafen.

Eine Wochenendbeziehung war auf Dauer für beide nicht akzeptabel. Aus diesem Grund wollten sie in näherer Zukunft irgendwann zusammenziehen.

Die freiwerdende Stelle im Kommissariat Bonn kam ihm gerade recht. Binnen eines Monates wurde sein Versetzungsantrag bewilligt, und seitdem wohnte er bei seiner Freundin. Da die Wohnung gerade einmal 55 qm groß war, galt es als nächsten Schritt eine für beide Seiten akzeptable Wohnung zu finden. Leider hatten sie gegensätzliche Vorstellungen von der Lage einer gemeinsamen Wohnung. Inka bevorzugte die ländliche Gegend, wohingegen er ein Stadtmensch war. Mehrere gute Wohnungsangebote hatten sie inzwischen ausgeschlagen. Er bezweifelte bereits, ob sie jemals übereinkommen würden. Die Vororte von Bonn und die Städte und Gemeinden im Rhein-Sieg-Kreis, die er bisher kennen gelernt hatte, wirkten auf ihn kleinstädtisch, ja fast dörflich. Er würde wohl über kurz oder lang in den sauren Apfel beißen müssen und eine Wohnung in irgendeinem Nest akzeptieren.

Während Eisenstein noch mit sich rang, ob er mit der Lage dieser Wohnung klarkommen würde, war seine Freundin bereits Feuer und Flamme, als sie das Haus gesehen und den ersten Rundgang durch die Räume unternommen hatte. Nur noch drei weitere Mieter im Haus und diese Parterrewohnung mit großer Terrasse und freiem Zugang zum angrenzenden Rasen, auf dem einige große Bäume im Sommer angenehmen Schatten spenden würden, war ihre Idealvorstellung von einer Mietwohnung. Außerdem lag das Naherholungsgebiet der Siegaue direkt vor ihrer Haustüre.

Inka führte ein angeregtes Gespräch mit dem Makler. Eisenstein schlenderte in Gedanken vertieft durch den Raum. Sein Handy klingelte. Mehrmals ignorierte er den nervigen Klingelton. Letztendlich griff er dann doch in seine Jackentasche und holte das Handy hervor.

Bereits im Display sah er, dass es seine Dienststelle war. Seine träumerischen Vorstellungen von einer gemütlichen Wohnung lösten sich in Nichts auf, und die Realität hatte ihn wieder. Er hasste es, wenn sich seine Kollegen in seiner Freizeit meldeten, denn das hieß meistens, dass er seine privaten Aktivitäten unterbrechen und unverzüglich seinen Dienst aufnehmen musste. Und so war es wahrscheinlich auch heute.

„Eisenstein“, meldete er sich unfreundlich wegen der Störung. Er ging in das leere Schlafzimmer nebenan, damit er unbehelligt telefonieren konnte.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Hauptkommissar. Aber es wurde eine Leiche gefunden“, druckste die Kollegin, denn sie wusste, wie ungern ihr Chef an einem Sonntagmorgen gestört werden wollte. Besonders, seitdem er diese Freundin hatte. Es schien ihr, als ob Eisenstein mit den Gedanken nicht immer bei seiner Arbeit war, sondern sich ausschließlich alles um seine Freundin drehte.

„Na, toll. Eine Leiche. Und das an einem Sonntagmorgen. Wo?“

Eisensteins gute Laune war mit einem Male dahin.

„Am Sieglarer See“, erhielt er einsilbig die geforderte Information.

„Wo ist denn das nun wieder? Können Sie mir sagen, wie ich dahin komme?“, fragte er unfreundlich. „Geben Sie einfach die Hüttenstraße in Troisdorf in Ihr Navigationsgerät ein. Dort finden sie einen Wanderparkplatz, wo ein Kollege Sie erwartet“, kam sofort die konkrete Antwort.

„Danke. Ich mache mich auf den Weg.“

Eisenstein beendete das Gespräch und steckte das Handy wieder in seine Jackentasche.

„Wer hat angerufen? Doch hoffentlich nicht deine Dienststelle?“, erkundigte sich Inka mit traurigem Gesichtsausdruck. Sie hatte trotz des angeregten Gespräches mit dem Makler mitbekommen, dass Eisenstein ein Telefonat geführt hatte.

„Es wurde eine Leiche gefunden. Ich muss leider los“, entgegnete Eisenstein.

„Klärst du alles Weitere mit dem Makler? Wir sprechen dann heute Abend darüber“, bat er seine Freundin.

„Okay, mache ich. Hoffentlich dauert es nicht zu lange.“

Zum Makler gewandt meinte er kurz: „Es tut mir leid. Ich muss leider weg. Mein Dienst. Sie verstehen sicher.“

Eilig umarmte er seine Freundin. Noch ein flüchtiger Kuss, denn er war mit den Gedanken bereits im Dienst, und schon schlug die Wohnungstüre hinter ihm zu.

Er setzte sich in seinen BMW, den er sich im vergangenen Jahr angeschafft hatte, und programmierte sein Handy mit den Angaben, die er von seiner Kollegin im Kommissariat in Bonn erhalten hatte.

Noch immer war das Navigationsgerät in seinem Wagen sein wichtigster Begleiter. Vor circa zwei Monaten hatte er die Stelle als leitender Kriminalhauptkommissar der Abteilung für Kapitalverbrechen übernommen. Bis dahin kannte er sich überhaupt nicht, weder in Bonn, noch in der Umgebung aus. Obschon er fast täglich Außentermine wahrnehmen musste, hatte er sich noch keinen fundierten Überblick über die Verkehrsinfrastruktur der Stadt Bonn und des Rhein-Sieg-Kreises verschafft. Ohne Navi wäre er aufgeschmissen.

Nachdem das Gerät einen Satelliten gefunden und die Route berechnet hatte, trat er das Gaspedal viel zu hart durch, so dass die 184 PS seines BMWs einen schwarzen Reifenabdruck auf dem Asphalt hinterließen, und machte sich auf den Weg zum Sieglarer See.


Die zu dieser Jahreszeit noch tief stehende Morgensonne blendete Kommissar Frank Eisenstein, als er durch die schmale Zufahrt auf den Wanderparkplatz am Hochwasserdamm der Sieg einbog. Mehrere PKW und zwei der üblichen, blauen Streifenwagen, sowie ein VW-Bus standen auf dem Parkplatz.

„Na toll, die gesamte Mannschaft der Spurensicherung und der Rechtsmedizin ist bereits eingetroffen“, stellte er leicht säuerlich fest, indem seine Mundwinkel nach unten fielen.

Er mochte es nicht, wenn er am Tatort ankam und dort bereits eine Menge Menschen umherwuselten. Er erhielt dann keinen uneingeschränkten, objektiven Eindruck mehr vom Tatort. Es war nun eben heute nicht mehr zu ändern. Der Unfall am Ortseingang von Bergheim an der Einbiegung zur L 269 hatte ihn erhebliche Zeit gekostet.

Der Parkplatz war holprig und Eisenstein lenkte seinen Wagen bis zum Ende der Fahrzeugreihe seiner Kollegen. Er hatte gerade den Motor abgestellt und die Tür zum Aussteigen geöffnet, als eine freundliche und bestimmte Stimme an sein Ohr drang:

„Sie sind sicher Kriminalhauptkommissar Eisenstein? Mein Name ist Grunert, Polizeiwache Troisdorf.“

Ein Mann, etwa Mitte dreißig, beugte sich zu ihm hinunter und reicht ihm seine Hand. Eisenstein fand es noch immer recht befremdend, wenn ihn jemand mit seiner neuen, vollständigen Berufsbezeichnung ansprach. Die Anrede mit Kriminalhauptkommissar durch den freundlichen Polizisten war für Eisenstein noch ungewohnt.

„Ja, richtig. Sie begleiten mich zum See“, entgegnete Eisenstein mehr als Aufforderung denn als Frage.

„Ja, ja. Folgen Sie mir bitte. Es sind nur wenige Hundert Meter bis zu der Stelle am See.“

Und schon schritt der freundliche Polizist vorweg. Eisenstein schwang sich aus dem Wagen und folgte mit einigen Metern Abstand.

Sie überquerten den Damm und kamen in ein Waldgebiet. Der Weg wurde feuchter, und an manchen schattigen Stellen standen noch Wasserlachen der vergangenen Tage. Eisenstein schaute missmutig auf seine dunkelblaue Anzugshose und seine schwarzen Lackschuhe. Wie sollte er heute Morgen ahnen, dass ein Einsatz an einem matschigen Seeufer bevorstand? Noch heute würde er ein Paar derbe Schuhe oder Stiefel für Einsätze wie diesen im Wagen platzieren. Sein Dienstbereich umfasste schließlich jetzt auch ländliche Gegenden. Und dem musste er Tribut zollen.

Kurz vor dem Seeufer wollten sie in einen schmalen Pfad einbiegen, der mit einigen Metern Abstand zum Wasser am Seeufer entlangführte. Ein Absperrband der Polizei sollte dafür sorgen, dass kein Unbefugter den Weg betrat. Zusätzlich achtete ein Polizist darauf, dass diese Maßnahme auch beachtet wurde.

„Guten Morgen, ich bin Kommissar Eisenstein“, grüßte Eisenstein freundlich, und Grunert nickte bestätigend dem Polizisten zu.

„Waren noch keine Schaulustigen hier?“, fragte er.

„Es waren einige Spaziergänger hier und ein, zwei Jogger. Aber kein Problem“, antwortete der Polizist.

Eisenstein und Grunert bückten sich unter das Absperrband und folgten dem Pfad. Inzwischen stand die Sonne direkt über den Wipfeln der Bäume am gegenüberliegenden Ufer. Ihre Strahlen ließen das Wasser glitzern und drangen auch auf den schmalen Weg. Der Morgennebel hatte sich vollständig aufgelöst, und um die rosafarbenen Blüten des Springkrautes surrten die ersten Wespen. Obschon Eisenstein seine Kollegen noch nicht sehen konnte, hörte er bereits aus einiger Entfernung deren leises Gemurmel und geschäftiges Treiben. Hinter der nächsten Wegbiegung hatten sie ihr Ziel erreicht. Der Pfad war vollständig zugestellt mit irgendwelchen Koffern, Stangen, Stativen und sonstigem Gerät.

„Da wären wir“, bemerkte Polizist Grunert unnötiger Weise, als ob Eisenstein dies nicht selbst bemerkt hätte.

Grunert ließ Eisenstein den Vortritt, indem er sich mit dem Rücken in das Springkraut drängte und Eisenstein mit der Hand auffordert, vorbeizugehen. Eisenstein zog die Beine hoch und in einem fast anmutig wirkenden stelzenden Gang über niedergetretene Stängel des Springkrautes suchte er sich den Weg bis zur Angelstelle.

Der Polizeifotograf hatte seine Arbeit bereits erledigt und packte gerade seine Kamera und die weiteren Utensilien in mehrere, bereitstehende Koffer.

„Hallo, Herr Kommissar. Ich bin hier fertig. Endlich mal wieder eine Leiche in unserem Bereich und dann noch in so einem schönen Ambiente hier am See. Viel Erfolg“, meinte er scherzend zu Eisenstein.

Eisenstein kannte den Mann nicht. Der Mann trug eine helle Cordhose und ein dunkleres Cord-Sakko und entsprach mit dieser Kombination überhaupt nicht Eisensteins Stil. Insgesamt machte er jedoch auf ihn einen gepflegten Eindruck. Woher dieser Fotograf wusste, dass er der zuständige Kommissar war, konnte Eisenstein nicht nachvollziehen.

„Schön, dass Sie sich über den Leichenfund so freuen können. Nun lassen Sie mich mal vorbei“, bat er bestimmt.

Eisenstein drängte sich an dem Fotografen vorbei, um die Fundstelle der Leiche in Augenschein zu nehmen, vergaß dabei aber nicht, ihn höflich anzulächeln.

Nun stand er zwischen den hohen Stängeln des Springkrautes. Inzwischen war eine größere Anzahl der Pflanzen niedergetrampelt und der Zugang zur Angelstelle war dadurch erheblich breiter als ursprünglich.

Durch seine schnelle Auffassungsgabe, und aus der Erfahrung der vielen Dienstjahre bei der Polizei, registrierte Eisenstein in wenigen Augenblicken alle Details am Fundort der Leiche. Ein umgekippter Stuhl, der ebenfalls umgekippte Angelkoffer und die herausgefallenen Kleinteile, unter anderem ein Totschläger zur Betäubung der gefangenen Fische, lagen in der Nähe des Wassers. Ein Klappmesser und eine Taschenlampe, die nicht mehr leuchtete, lagen dagegen am oberen Rand der Lichtung. Direkt am Wasser waren zwei eiserne Rutenhalter in die Erde gesteckt, auf denen je eine Angelrute abgelegt war. Die Angelschnüre beider Angeln verschwanden bereits nach kurzer Entfernung vom Ufer im trüben Wasser des Sees. Einen Bissanzeiger konnte Eisenstein auf der Wasseroberfläche nicht erblicken. Mehrere leere Flaschen Bier lagen verstreut am Angelplatz. Eine noch ungeöffnete Bierflasche ragte aus einer Angeltasche heraus, die neben dem umgefallenen Stuhl lag. Eisenstein zog die Stirn in Falten. Irgendetwas fehlte hier. Nur was?

In seiner Jugend hatte er einen Vorbereitungskurs zur Fischerprüfung besucht und danach auch die Fischerprüfung abgelegt. Tatsächlich hatte er in der Folgezeit nur wenige Male geangelt. Andere Interessen drängten sich in den Vordergrund und fesselten ihn mehr. Dies hatte sich bis heute nicht geändert.

Wenn er wieder den Kopf freihatte, würde er sich sicher erinnern, was hier fehlte.

Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Leiche, die noch immer im Wasser lag. Davor kauerte eine Person in einem weißen Overall und weißer Kopfhaube. Ihre Beine steckten in Stiefeln, die bis über ihre Knie reichten.

Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung knieten auf dem Boden und erledigten ihre Arbeit, indem sie alle Gegenstände auf Fingerabdrücke überprüften. Als sie Eisenstein sahen, erhob sich einer von ihnen und meinte zu Eisenstein:

„Sie können bis zu der Leiche gehen. Wir sind noch nicht ganz fertig mit unserer Arbeit. Verwertbare Fußabdrücke haben wir nur in der Nähe des Wassers sichergestellt.“

Eisenstein ging konzentriert und behutsam bis direkt ans Wasser und stellte sich neben die Person im weißen Overall.

„Guten Morgen, Frank. Was machst du denn hier?“

Mit diesen Worten erhob sich die in weiß gekleidete Person. Zwei rehbraune Augen sahen Eisenstein an und er erkannte Susanne Ohlrogge. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie geschickt unter der weißen Haube versteckt.

„Hm, ja. Hallo … Susanne. Und was machst du hier?“, stotterte Eisenstein und schluckte mehrmals.

Er war mehr als überrascht. Diese Konfrontation hatte er nicht erwartet, und es war ihm mehr als unangenehm.

Vor vier Jahren, gerade als seine zweite Frau ihn verlassen hatte, lernte er Susanne auf einer mehrtägigen Fortbildungsveranstaltung der Polizeigewerkschaft kennen. Beide wollten dem stressigen Polizeialltag entrinnen und hatten das Seminar im Rahmen des Bildungsurlaubs gebucht.

Bereits am ersten Abend an der Bar funkte es zwischen ihnen. Am Anfang plätscherte ihr Gespräch nur auf beruflicher Basis dahin. Im Laufe des Abends kamen sie sich näher und die Themen wurden persönlicher und intensiver. Es war nicht der Alkohol dafür verantwortlich, dass beide noch am gleichen Abend in Susannes Bett landeten. Eisenstein hatte tatsächlich Feuer gefangen und auch Susanne war verliebt. Es wurde für beide das schönste Seminar, das sie je besucht hatten. Die Beziehung dauerte nur zwei Monate. Als Eisenstein merkte, dass er und Susanne das Gesprächsthema bei fast allen Kolleginnen und Kollegen war, beendete er die Beziehung. Aus Feigheit vor dem Gerede der Kollegen, und weil er Angst vor einer neuen Beziehung hatte. Nicht aus fehlender Liebe, wie er sich nachher eingestand. Er selbst haderte lange mit seiner Entscheidung, die er aber nicht zurücknehmen wollte. Susanne war wütend und enttäuscht. Sie ließ sich sogar nach Stuttgart versetzen, um jede mögliche Begegnung mit ihm für die Zukunft auszuschließen. Und dann heute diese unerwartete Begegnung.

„Wieso bist du hier an diesem Tatort in Troisdorf?“, frage Susanne, nachdem auch sie ihre Überraschung überwunden hatte.

„Das ist eine lange Geschichte. Ich bin vor zwei Monaten nach Bonn versetzt worden. Und du? Du warst doch in Stuttgart?“

„Ach ja, auch das ist eine lange Geschichte. Ich bin seit fast einem halben Jahr hier in Bonn in der Rechtsmedizin und es gefällt mir recht gut – viel besser als in Stuttgart.“

Es entstand eine peinliche Pause. Eisenstein fühlte sich unwohl, in der Situation. Nicht nur um die Pause zu überbrücken, sondern auch aus wirklichem Interesse, meinte er spontan: „Wir können ja mal ein Bier zusammen trinken.“

Fast hätte er hinzugefügt: „So wie früher.“

„Dann hätten wir Zeit, auch für lange Geschichten“, fuhr er stattdessen fort.

Irgendwie brachen alte, verdrängte Gefühle bei Eisenstein wieder auf. Wahrscheinlich hatte Susanne die damalige Trennung gut verkraftet und hegte keinen Groll mehr gegen ihn. Er war sich seiner Sache, oder besser gesagt, seiner Gefühle nicht so sicher.

„Okay. Machen wir. Ich ruf dich an“, entgegnete Susanne ebenso spontan.

Eisenstein war überrascht – und erfreut über diese Zusage. Doch wie sagte man hier im Rheinland? „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.“

Und jetzt war er im Dienst.

„Prima. Doch jetzt zu unserem Toten hier. Kannst du bereits etwas sagen?“

„Nein. Ich kann nicht viel sagen. Wir müssen den Mann erst einmal an Land ziehen. Ich schlage vor, du wartest noch die Obduktion ab. Im Augenblick kann ich nur sagen, dass der Tod in der letzten Nacht, vielleicht so gegen Mitternacht eingetreten ist. Mord oder Unfall kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Wenn ich das alles hier so sehe, die leeren Bierflaschen, würde ich fast auf einen Unfall tippen.“

„Okay, ich verstehe. Es sieht tatsächlich so aus, als ob er zu viel getrunken hat, stolperte und in den See fiel“, stimmte Eisenstein zu.

„Konntest du feststellen, wer der Tote ist?“, fragte Eisenstein.

„Ja, ich bin ein, zwei Meter ins Wasser hineingegangen. Der See ist hier am Ufer sehr flach. Dort konnte ich immer noch stehen. In der Innentasche seiner Jacke habe ich seine Angelpapiere gefunden. Sein Name ist Franz Bertram. Vierundfünfzig Jahre alt. Hier die Papiere. Die Anschrift kannst du daraus entnehmen. Er wohnt drüben in Troisdorf-Müllekoven“, gab Susanne als Auskunft und reichte ihm die Angelpapiere, die durch das Wasser aufgequollen waren. Zum Glück war die Schrift noch lesbar.

„Ich würde sagen, wir sehen uns morgen bei der Obduktion. Solltest du heute noch neue Erkenntnisse gewinnen oder den Termin der Obduktion für Montag konkret festgemacht haben, ruf mich an“, entgegnete Eisenstein, der im Stillen hoffte, dass sie mit dem Anruf bis morgen warten würde. Er wollte sich heute noch mit Inka um die Wohnung kümmern. Zumindest wollten sie sich eingehend besprechen. Vor allem aber musste er diese Begegnung verdauen und sich über seine Gefühle klar werden.

Eisenstein drehte sich abrupt um und verließ den Leichenfundort. Susanne schüttelte leicht ungläubig ihren Kopf. Charmant, wie sie ihn kannte, hatte Eisenstein ihr zu verstehen gegeben, dass er Ergebnisse wollte, und die möglichst schnell. Sie würde wohl Montag die Obduktion der Leiche vornehmen. Geplante andere Termine musste sie verschieben, denn Eisenstein konnte grantig werden, wenn er auf wichtige Ergebnisse warten musste.

Im Grunde ihres Herzens freute sich Susanne, dass sie Frank getroffen hatte. Wahrscheinlich würden sie in Zukunft öfter miteinander arbeiten. Damals war sie enttäuscht und hasste ihn, da sie seine Gründe für die Trennung nicht verstand und nicht akzeptieren konnte. In den vier Jahren hatte sie viel erlebt. Die eine oder andere Beziehung war zerbrochen und sie konnte heute verstehen, warum Eisenstein damals kurz nach seiner zweiten Scheidung keine Beziehung mehr wollte. Die Angst vor einer weiteren Enttäuschung sitzt in solchen Situationen sehr tief. Ihr ging es jetzt genauso.

Aber wieso sollte sie keine Freundschaft mit einem vertrauten Kollegen eingehen? Sie würde ihn Montag anrufen. Die Zusage zu einem Bier mit ihm war ihr ernst. Sie freute sich darauf.

„Man wird sehen, wie sich das mit Frank weiterentwickelt“, sagte sie sich zuversichtlich.

Eisenstein betrat wieder den Pfad, der am See entlangführte. Inzwischen hatte er sich wieder einigermaßen im Griff und vom unerwarteten Zusammentreffen mit Susanne erholt. Sein Kollege Manfred Schmitz kam ihm entgegen. So einfach wie sein Name, war auch sein Wesen. Er war zwar sehr willig, aber Kombinationsgabe oder gar eine Spürnase besaß er nicht. Außerdem konnte er den oft unregelmäßigen Dienst nicht mit seinem Familienleben vereinbaren. Immerhin war er mit Leib und Seele Vater von drei Töchtern im Alter von zwei, drei und fünf Jahren, denen er gerne seine freie Zeit widmen wollte. Nach einem ausführlichen Gespräch mit seinem Vorgesetzten, hatte er daher bereits vor längerer Zeit ein Versetzungsersuchen für den Innendienst gestellt. Seine Stelle als Kommissar war bereits ausgeschrieben, und sobald ein geeigneter Bewerber gefunden war, würde seinem Versetzungswunsch stattgegeben werden.

Wie fast immer trug er eine fleckige Jeans und eine zerknitterte Schimanski-Jacke.

„Guten Morgen“, begrüßte er Eisenstein.

„Dort drüben steht der Jogger, der den Toten gefunden hat. Möchten Sie mit ihm sprechen?“ Schmitz zeigte mit dem Arm weiter den Pfad entlang, auf dem sie standen.

„Haben Sie bereits mit ihm gesprochen?“

„Natürlich. Aber der kann nichts Wesentliches sagen. Während seiner Joggingrunde um den See hat er die Angelstelle von der gegenüberliegenden Seite gesehen. Da er den Verdacht hatte, eine Person liege im Wasser, ist er zur Angelstelle gerannt und hat dort den Toten gefunden. Von zu Hause hat er die Polizei verständigt. Meiner Meinung nach kommt er sich sehr wichtig vor, kann aber zur Aufklärung nichts beitragen. Wir haben Abdrücke seiner Laufschuhe genommen, um sie von den übrigen Abdrücken am Fundort zu unterscheiden“, berichtete Schmitz eifrig.

„Er hat von zu Hause aus angerufen?“, fragte Eisenstein nach.

„Ja, ja. Sie wissen doch. Jogger tragen kein Handy bei sich – zu viel Gewicht“, Manfred Schmitz grinste über seine eigene witzige Bemerkung.

„Da ihm niemand mit einem Handy begegnet war, ist er nach Hause gelaufen und hat von dort sofort angerufen“, berichtete Schmitz jetzt wieder mit ernster Miene. „Dann will ich mir auch einmal den Jogger ansehen. Kommen Sie bitte mit“, bat Eisenstein und machte sich bereits auf den Weg in die gezeigte Richtung.

Schmitz beeilte sich, mit dem Kommissar Schritt zu halten.

„Das ist der Zeuge, der den Toten gefunden hat“, stellte Schmitz den Mann vor, der durch seine Kleidung unverwechselbar als Jogger erkennbar war.

Enge schwarze Leggings, ein verschwitztes, langärmeliges T-Shirt in greller, gelber Farbe. Seine Füße steckten in weißen Laufschuhen, die offensichtlich bereits oft getragen worden waren, denn an der Stelle, wo sich der große Zeh befand, war das Obermaterial der Schuhe durchgescheuert.

Er war groß. Eisenstein schätzte ihn auf fast zwei Meter, was für einen Jogger eher ungewöhnlich war. Ansonsten wirkte er sympathisch und lächelte Eisenstein und Schmitz freundlich zu.

„Ich bin Kommissar Eisenstein und leite die Ermittlungen in diesem Fall.“

Der Mann gab Eisenstein höflich die Hand, die er vorher kurz an seiner Hose abwischte. Wahrscheinlich war sie noch von der Anstrengung des Laufes, eher jedoch vor Aufregung, verschwitzt.

„Dann berichten Sie bitte, wie Sie den Toten gefunden haben. Laufen Sie hier regelmäßig, und kennen Sie vielleicht den Toten?“

Der Jogger berichtete ausführlich, dass er hier um den See regelmäßig laufe, und dass er die Angelstelle von der gegenüberliegenden Seite des Sees gesehen hatte. Schließlich berichtete er, wie er den toten Angler gefunden hatte. Nein, kennen würde er den Toten nicht, beendete er seinen Bericht.

Ohne die Schilderung des Zeugen zu unterbrechen, hatte Eisenstein aufmerksam zugehört und sich einige Notizen in einem kleinen Buch gemacht, das die Größe eines Taschenkalenders hatte.

„Vielen Dank. Nun laufen Sie mal nach Hause. Sie holen sich sonst noch eine Erkältung in Ihrer verschwitzten Kleidung. Wenn ich noch Fragen habe, rufe sich Sie an. Mein Kollege hat ja Ihre Telefonnummer notiert“, sagte Eisenstein mit einem fragenden Blick zu Schmitz, der kurz nickte.

„Ja, danke. Aber ich bin jetzt mit meinem PKW hier. Auf Wiedersehen.“

Der Jogger drehte sich um und verschwand hinter der nächsten Biegung des Pfades.

„Ich bin dann auch mal weg. Bleiben Sie bitte hier, bis die Kollegen fertig sind. Danke. Wir sehen uns morgen“, sagte Eisenstein zu Manfred Schmitz gewandt.

„Einen Augenblick noch. Auf dem Parkplatz, auf dem wir alle geparkt haben, Sie wahrscheinlich auch, steht der Wagen des Toten. Ein alter Mercedes. Nehmen Sie die Schlüssel an sich?“

Manfred Schmitz reichte Eisenstein ein Schlüsselbund.

„In Ordnung. Ich werde ihn der Familie geben, wenn der Wagen von uns abgeschleppt und untersucht wurde“, sagte Eisenstein und steckte den Schlüsselbund in seine Hosentasche.

Er hatte es mit einem Male eilig. Inka wartete sicher bereits ungeduldig auf ihn, und vorher musste er noch die Ehefrau oder die Angehörigen des Toten aufsuchen und informieren. Er hasste diese Aufgabe. In manchen Fällen reagierten die Angehörigen fassungslos und verzweifelt. Andere wiederum erlitten einen Schock und waren völlig teilnahmslos. Manche bemühten sich Fassung zu bewahren, andere waren überraschend gelassen. Er fühlte sich in den meisten Fällen völlig hilflos, auch wenn es sich um eine traurige Routinetätigkeit handelte. Geschult für solch eine Aufgabe wurde er nicht, zumindest nicht ausreichend. Anderseits war die erste Begegnung mit den Angehörigen in vielen Fällen recht aufschlussreich, insbesondere wenn die Angehörigen natürlich reagierten. Diese Reaktion wollte er unbedingt sehen und hatte es sich daher zur Aufgabe gemacht, immer selbst den Angehörigen die traurige Nachricht zu überbringen.

„Wahrscheinlich handelt es sich hier nur um einen dummen Unfall“, dachte er.

Damit drehte er sich um und verschwand in Richtung Parkplatz.

Bevor er in seinen Wagen einstieg, verbrauchte er ein vollständiges Päckchen Papiertaschentücher, um seine Lackschuhe einigermaßen zu säubern. Das würde ihm nicht noch einmal passieren, schwor er sich.

Mit seinen Gedanken war er wieder bei der neuen Wohnung. Vielleicht sollten sie doch eine Wohnung direkt in Bonn suchen. Da wäre sicherlich mehr Leben und Abwechslung als in diesem kleinen Vorort Troisdorf-Bergheim. Nur sie sollten schnell eine Wohnung finden, denn lange mochte er den jetzigen Zustand nicht mehr ertragen. Sein gesamtes Mobiliar befand sich noch in seiner alten Wohnung. Lediglich den größten Teil seiner Kleidung und einige Classic-CDs hatte er mitgenommen.

Immer wieder kam es vor, dass er zur alten Wohnung fahren musste, um irgendetwas zu holen. Dieser Zustand missfiel ihm in höchstem Maße. Im Grunde war er ein Mensch, der seine Ordnung und sein gemütliches Heim benötigte, damit er vom Arbeitsstress abschalten konnte. Der jetzige Zustand war da in höchstem Maße kontraproduktiv.

„Warum nur musste sich die Wohnung in dieser Einöde befinden?“, dachte er immer wieder.

Und dann beschäftigten ihn noch einige andere Fragen.

„Wie verhalte ich mich Susanne gegenüber?“

Und: „Wieso war ich ihr gegenüber so verlegen. Kribbelte es sogar bei mir im Bauch?“

„Nein“, entschied er, „für solche Gefühle bin ich schon zu alt und habe zu viel erlebt.“

Er wunderte sich über sich selbst, dass seine Gedanken immer wieder zu seiner Freundin und zu einer möglichen Wohnung abdrifteten. Und jetzt beschäftigten sich seine Gedanken auch noch mit Susanne.

Nein, er lehnte es ab, als sich ein Chaos in seinem Gehirn breitmachen wollte. Er musste faktisch und klar denken. Alles der Reihe nach und dann Entscheidungen mit dem klaren Verstand treffen.

Gewaltsam versuchte er, sich auf seine berufliche Aufgabe zu konzentrieren. Diese hatte jetzt unbedingt Priorität.

Wen würde er von Franz Bertrams Familie antreffen? Vielleicht die hysterische Ehefrau, die bereits seit Stunden auf ihren Mann wartete?

Oder die Tochter oder den Sohn, die vielleicht gar nicht wussten, dass ihr Vater über Nacht weg war?

Was sollte er ihnen sagen? Er hatte doch noch keine verlässlichen Ergebnisse. Sollte er von einem Unfall sprechen? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf seine Intuition und Schlagfertigkeit zu verlassen.

Mit finsterer Miene programmierte er sein Navigationsgerät, startete den Wagen und fuhr los.

Totenstille am See

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