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Kapitel 5
ОглавлениеMittwoch, 17. Oktober, Mittag
Als Leopold nach Beendigung seines Dienstes im Heller noch einen Sprung im Kommissariat vorbeimachte, ehe er ins Schopenhauer weiterfuhr, wurde er bereits von Oberinspektor Juricek erwartet. »Wir haben David Panozzo noch einmal verhört«, ließ er ihn wissen. »Er wird jetzt dem Haftrichter vorgeführt. Wenn du möchtest, darfst du vorher ein paar Worte mit ihm wechseln.«
Leopold nahm das Angebot dankend an. David staunte nicht schlecht, als er ihn sah. »Was machst du denn hier?«, fragte er.
Leopold erklärte ihm die Lage. »Du hast diese Frau doch nicht wirklich umgebracht?«, wollte er dann wissen.
»Aber nein! Es ist nur alles irrsinnig blöd gelaufen«, versicherte David.
»Versuche, dich an deinen letzten unglücklichen Besuch bei ihr zu erinnern. Ist dir etwas aufgefallen, was anders war als sonst?«, fragte Leopold weiter.
»Die Rotweinflasche und das Glas sind nicht auf dem Wohnzimmertisch gestanden. Frau Winkler hat für gewöhnlich daraus getrunken, wenn ich zu ihr gekommen bin. Aber ich habe dem keine Bedeutung zugemessen, da sie am Telefon ja gesagt hatte, sie sei krank.«
»Hast du irgendwo einen Aschenbecher bemerkt?«
David schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre mir aufgefallen.«
»Auch nicht neben der Leiche?«
David verneinte nochmals. Das kam Leopold bereits komisch vor. Wo war der Aschenbecher hergekommen? Er stellte nun Fragen zur Person der Toten: »Was war diese Katja Winkler für eine Frau? Wie hat sie sich im Schopenhauer verhalten?«
»Sie war seltsam«, gab David sofort an. »Das ist nicht nur meine Meinung, das habe ich auch von meinen Kolleginnen und Kollegen im Schopenhauer gehört. Manchmal blieb sie länger da, manchmal nur kurze Zeit. Dabei ist sie allein gesessen und hat Rotwein getrunken. Sie hat immer einen unruhigen und nervösen Eindruck gemacht, so als ob sie auf jemanden gewartet hat, der dann doch nicht gekommen ist.«
»Kein geselliger Typ also«, konstatierte Leopold. Er wusste, dass Schauspieler in ihrem Privatleben gern zurückgezogen agierten, auch wenn sie auf der Bühne einen ganz anderen Eindruck vermittelten.
»Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber auf mich hat es den Eindruck gemacht, als ob das mit ihrer Verletzung und dem damit verbundenen Ende ihrer Karriere zusammenhing«, erzählte David weiter. »Sie wirkte so überhaupt nicht fröhlich, verbittert eher. Ein paar ältere Männer haben sie zeitweise angegafft, da hat man richtig gesehen, dass ihr das wehgetan hat. Manchmal hat sie ein krampfhaftes Lächeln aufgezogen. Aber in ihrem Inneren hat es anders ausgesehen, das hat man gemerkt.«
»Hast du dich gut mit ihr verstanden?«
David Panozzo zuckte mit den Achseln. »Notgedrungen«, gab er zu. »Ich war immer nett und freundlich zu ihr, wie das bei uns im Schopenhauer so Sitte ist. Wenn sie es wollte, habe ich ihre Einkäufe in die Wohnung gebracht.«
Dank der ganzen Freundlichkeit hat er sich nur einen Mordverdacht eingehandelt, dachte Leopold bei sich. Im Stillen war er froh, dass er sich mit seiner strengeren Art solche Unannehmlichkeiten ersparte. »Du warst ihr sympathisch, denke ich«, stellte er fest.
»Sie war immer noch eine sehr eitle Frau«, mutmaßte David. »Sie hat ihre Wirkung auf junge Männer getestet, und wenn sie etwas getrunken hat, ist sie anlassig geworden. Ich habe mich bei ihr jedoch auf nichts eingelassen. Sie hat mir den ganzen Schmuck in ihrem Safe gezeigt und wollte mir etwas davon schenken, ich habe aber abgelehnt. Dass sie mir dann doch eine Kette zugesteckt hat, habe ich nicht bemerkt.«
»Wir werden den Herrn Oberinspektor schon noch von deiner Unschuld überzeugen«, versicherte Leopold ihm mit einem Seitenblick auf Juricek. »Hilfreich wäre es, wenn du Gäste im Schopenhauer wüsstest, die du direkt mit Katja Winkler in Verbindung bringen kannst. Auf wen soll ich mich konzentrieren? Hast du einen Anhaltspunkt?«
David musste nachdenken. »Es gab ein Telefongespräch, das ich vor ein paar Tagen belauscht habe«, erinnerte er sich. »Da war von einer Katja die Rede, die den Anrufer angeblich so geärgert hat, dass er ihr, wie er sagte, ein für alle Mal das Maul stopfen wollte. Es soll mit einer ›Grillparzer-Geschichte‹ zu tun haben. Ich hatte noch vor, sie zu warnen, aber sie war bereits tot, als ich sie wiedergesehen habe. Leider kann ich den Mann nur sehr ungenau beschreiben.« Er unterrichtete Leopold über die wenigen Anhaltspunkte, die ihm im Gedächtnis geblieben waren.
»Nicht viel, aber immerhin etwas«, räumte der ein.
»Noch etwas: Herr Burckhardt, den du ja kennengelernt hast, hat einmal erfolglos versucht, sich ihr zu nähern. Seither habe ich die beiden nie mehr gleichzeitig im Schopenhauer gesehen«, erwähnte David.
»Interessant«, attestierte Leopold. »Der feine Herr ist unlängst auch im Heller aufgetaucht, mit einer jungen, feschen Begleitung, die man ihm gar nicht zutraut. Sehr verdächtig! Dem werde ich auf den Zahn fühlen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt. Damit habe ich für den Anfang ein paar Dinge, die ich nachverfolgen kann. Du wirst sehen, deine Lage erscheint bald in einem anderen Licht.«
»Hoffentlich«, redete David auf ihn ein. »Ich habe nämlich das Gefühl, dass ich ganz schön in der Tinte sitze.«
»Vertrau auf mich«, verabschiedete Leopold sich augenzwinkernd. »Kopf hoch!«
»Vertreib bloß nicht zu viele unserer Stammgäste«, rief David ihm nach. Dabei war ein leises Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen.
Na also, seinen Humor hat er noch nicht ganz verloren, stellte Leopold im Hinausgehen zufrieden für sich fest.
*
»Es gibt da ein paar Dinge, die du wissen solltest«, nahm Juricek ihn draußen zur Seite. »Das ist ein aktuelles Foto von Katja Winkler, und das ist ihre Tochter Jennifer. Sie wohnt übrigens in Floridsdorf und geht dort ins Gymnasium. Sie steht vor der Matura.«
Leopold war sofort Feuer und Flamme. »Die kenne ich ja«, rief er aus. »Die war unlängst bei uns im Heller die Begleitung von diesem Burckhardt, einem sonderbaren Typ.«
»Sebastian Burckhardt, ja. Jennifer nimmt Nachhilfe in Mathematik bei ihm. Und Geigenunterricht gibt er ihr auch«, klärte Juricek seinen Freund auf.
»Was? Der Mann ist doch unmusikalisch und summt nur nervös herum«, konnte Leopold das nicht glauben.
»Er hat sich einmal um ihre Mutter bemüht, allerdings erfolglos. Nach einem kurzen Techtelmechtel hat Katja Gottfried Winkler, ebenfalls Schauspieler, geheiratet.« Juricek gab Leopold auch von ihm ein Foto. »Ganz aus den Augen haben Burckhardt und sie sich nie verloren. Dann hat sich Jennifer mit ihm angefreundet, und er ist so etwas wie ihr Lehrer und Betreuer geworden. Das hat wiederum Katja nicht gefallen. Sie hat den Kontakt mit Burckhardt abgebrochen, weil sie ihm die Schuld gab, dass ihre Tochter und sie sich immer mehr entfremdeten.«
»Na, siehst du! Da braut sich bereits etwas zusammen, was der Hintergrund für den Mord sein könnte.«
»Keine vorschnellen Schlüsse bitte«, mahnte Juricek. »Zurück zu den Fakten: Jennifer hat die Ehe ihrer Eltern als nicht sehr glücklich bezeichnet. Die Scheidung erfolgte nach 15 Jahren.«
»Lass mich raten: Liebschaften und Untreue?«
»Beide waren, wie gesagt, Schauspieler und freiheitsliebend. Deshalb haben sie es offenbar nicht so genau mit der ehelichen Treue genommen. Die Beziehung hat dennoch gehalten, bis Jennifer der Kindheit entwachsen war.«
»Namen?«
»Jennifer konnte oder wollte uns keine nennen. Vielleicht erfährst du bei Gelegenheit mehr darüber. Im Kaffeehaus wird da oft hinter vorgehaltener Hand geredet. Wir prüfen derzeit die Kontakte auf Katja Winklers Handy. Sie sind allerdings relativ überschaubar. In den letzten Jahren dürfte sie sehr zurückgezogen gelebt haben.«
Leopold nickte und prägte sich dabei alles ein, was ihm Juricek erzählte. Viel war es bis jetzt nicht. Wusste die Polizei noch nicht mehr? Oder verheimlichte ihm der Oberinspektor schon wieder etwas? »Glaubst du, die ›Grillparzer-Geschichte‹ ist eine Spur?«, fragte er noch.
»David ist der Einzige, der sie bisher erwähnt hat«, entgegnete Juricek trocken. »Keiner im Schopenhauer bestätigt seine Geschichte. Und laut Jennifer Winkler hat ihre Mutter nie eine Rolle in einem Grillparzer-Stück gespielt.«
*
Mittwoch, 17. Oktober, Nachmittag und Abend
Herbert Bäcker empfing Leopold, den Freund seines Vaters, herzlich im Schopenhauer, ging dann aber ohne Umschweife auf die aktuelle Situation ein. »Mir ist alles recht, was hilft, ein schlimmes Verbrechen aufzuklären und die Unschuld eines unserer Angestellten zu beweisen«, schärfte er Leopold ein. »Aber wir sind in erster Linie ein Kaffeehaus, und der reibungslose Ablauf aller Vorgänge sowie das Wohlbefinden unserer Gäste stehen im Vordergrund.«
»Ich bin auf alles vorbereitet«, versicherte Leopold. »Ich habe sogar meine Livree samt Mascherl mitgenommen.«
»Das … ist nicht vorgesehen«, bedeutete Bäcker ihm zögernd. »Die Hose und das weiße Hemd kannst du ja tragen, aber Sakko und Mascherl sind bei uns nicht üblich.«
Leopold fiel erst jetzt auf, dass die Oberkellner im Schopenhauer allesamt nur mit weißem Hemd und offenem Kragen herumliefen. Er hatte bei seinem letzten Besuch gar nicht darauf geachtet. »Wieso denn das?«, fragte er überrascht. »Das untergräbt ja die ganze Autorität!«
»Die Leute sollen doch keine Angst vor unserem Personal haben«, erklärte Bäcker. »Wir wollen unseren Gästen gegenüber Frische und Offenheit demonstrieren.«
»Und wo bleibt der Respekt?«, war Leopold zunehmend aus dem Häuschen.
»Respekt zieht heute nicht mehr«, ließ Bäcker verlauten. »Das sind Methoden von gestern. Mein Vater hat auch noch Wert darauf gelegt. Aber die Zeiten haben sich geändert – zumindest, seit ich in unserem Kaffeehaus das Sagen habe. Ich werde dir am Anfang unseren Herrn Oliver zur Seite stellen. An ihn kannst du dich wenden, wenn du Fragen hast. Oliver!«
Auf seinen Ruf kam ein junger, schlanker, schwarzgelockter Ober in betont lässigem Gang herbei. »Das ist Leopold, die Vertretung von David«, unterwies Bäcker ihn. »Du hilfst ihm, wenn es ein Problem gibt, klar?«
»Geht in Ordnung«, antwortete Oliver dienstbeflissen.
Dir werd ich gleich helfen, Bürscherl, dachte Leopold. Dann nahm er aber doch die zum Gruß ausgestreckte Hand. Unsympathisch schien ihm sein neuer Kollege nicht. Es fragte sich nur, wer hier wem etwas beibringen würde. Man würde sehen. Leopold konnte die kleine »Einschulung« immerhin nützen, um in Erfahrung zu bringen, was Oliver über Katja Winkler wusste. Jetzt wollte er erst einmal mit seiner Arbeit beginnen, damit er sich rasch eingewöhnte. Es wurde ja von ihm ein überhöhtes Maß an Freundlichkeit erwartet. Nun denn.
Sobald er die ungewohnte Dienstkleidung angelegt hatte, steuerte er zielstrebig auf einen weißhaarigen Mann mit dicker Hornbrille zu, der eine Zeitung las, dabei immer wieder den Kopf schüttelte und ein zischendes »Tsss« ausstieß. Das schien ihm der ideale Grantler zu sein, um sich in übertriebener Kundenbetreuung zu üben.
»Guten Tag, der Herr! Was darf ich Ihnen denn Gutes bringen?«, redete er ihn deshalb mit einem Lächeln an, das seine gesamte Gesichtsmuskulatur strapazierte.
Der Grantler verzog keine Miene und schaute auch nicht von seiner Zeitung auf. »Eine Melange«, knurrte er.
»Welche Temperatur?«, erkundigte sich Leopold.
Nun riskierte der Grantler doch einen Blick. »Was meinen Sie?«, fragte er irritiert.
»Welche Temperatur wäre dem werten Herrn denn angenehm? Brennheiß, heiß, Körpertemperatur oder lauwarm? Wir bereiten den Kaffee selbstverständlich exakt nach Ihren Wünschen zu.« Bei diesen Worten zog Leopold ein Thermometer hervor, das er extra zu diesem Behufe mitgenommen hatte. »Wenn’s gewünscht wird, auf den Grad genau«, informierte er den Gast.
»Ich möchte eine Melange«, wiederholte der Grantler. »Ganz normal und ohne viel Larifari!«
»Wie soll der Milchschaum sein? Fest oder halbfest? Oder locker mit kleinen Luftblasen? Wie gewohnt in klassischem Weiß?«, ließ Leopold nicht locker.
»Sagen Sie, was soll das?«, empörte sich der Grantler nun. »Ich möchte eine Melange, und wenn Sie schon so daherreden: Wissen Sie, wie?«
»Ich höre«, sagte Leopold in freudiger Erwartung.
»Rasch«, erhob der Grantler genervt seine Stimme und vergrub sein Gesicht wieder hinter der Zeitung.
Leopold verschwand nach diesem ersten missglückten Versuch überbordender Freundlichkeit seufzend hinter der Kaffeemaschine. »Na also«, sagte er dabei leise zu sich. »Wie ich es immer sage: Mit Liebenswürdigkeit kommt man in dem Geschäft nicht weit!«
*
»Was war denn das für ein Auftritt?«, erkundigte sich Oliver bei Leopold.
»Ich habe von David gehört, dass es bei euch extra freundlich zugehen muss«, antwortete Leopold achselzuckend.
»Der Chef verlangt zwar, dass wir den Gästen unsere volle Aufmerksamkeit schenken«, erläuterte Oliver. »Aber das ist in unserem Beruf ohnehin selbstverständlich. David hat das vielleicht zu ernst genommen, weil er vollkommen neu in dem Job war. Deshalb auch seine Besuche bei Frau Winkler. Das war etwas übertrieben und unklug. Du weißt ja Bescheid, oder?«
Leopold nickte. »Von euch hat das vorher keiner gemacht? Ihr die Taschen hinaufgetragen?«, wollte er wissen.
»Nein«, stellte Oliver sofort klar. »Du siehst, was bei so etwas herauskommen kann. Fairerweise muss man sagen, dass er der Erste war, den sie darum gebeten hat. Er ist sofort darauf eingestiegen. Da haben wir uns nicht mehr eingemischt.«
»Was war das denn für eine, die Winkler?«, wagte sich Leopold ein Stück weiter vor. »War sie auf junge Männer aus?«
»Schwer zu sagen«, gab sich Oliver bedeckt. »Den Männern hat sie gut gefallen, weil sie auf sich geschaut hat. Dem David vermutlich auch. Aber andererseits wirkte sie hier im Kaffeehaus sehr zurückgezogen. Immer allein an einem Tisch. Dabei war sie einmal eine sehr beliebte Schauspielerin. Na ja, sie hatte einen schlechten Fuß. Vielleicht hat das mitgespielt.«
»Ich kenne David und halte ihn für keinen Mörder«, machte Leopold deutlich. »Deshalb frage ich mich, ob Frau Winkler Kontakte hier im Schopenhauer geknüpft oder jemanden getroffen hat.«
»Nicht, dass es mir aufgefallen wäre«, gab Oliver Auskunft. »Obwohl, etwas war schon komisch. Sie ist meistens sehr abrupt aufgebrochen, hat ihr Achtel Rotwein hastig ausgetrunken und ungeduldig nach der Rechnung verlangt. Wie wenn sich plötzlich etwas ergeben hätte.« Dann stieß er Leopold mit dem Ellenbogen an, um ihn daran zu erinnern, dass er eigentlich zum Arbeiten und nicht zum Plaudern da war. Zielstrebig bewegte sich Leopold deshalb auf einen Mann zu, der soeben zur Tür hereingeschneit war. Er vermeinte ihn erst unlängst gesehen zu haben. Aber wo?
Sofort fiel es ihm wieder ein. Es war auf einem der Fotos gewesen, die ihm Richard Juricek gegeben hatte. Das war Gottfried Winkler, Katjas geschiedener Ehemann.
Sein Gesicht war von einer großen Sonnenbrille halb verdeckt, obwohl Leopold nicht vermutete, dass er sie trug, um trauernde, verweinte Augen zu verbergen. Die schwarzen, strähnigen Haare hatte er glatt zurückgekämmt, auf den Schultern seines Sakkos zeigten sich mehrere Schuppen. »Ein Bier – kalt!«, ordnete er an.
»Wie kalt?«
»Sehr kalt!«
Wiederum eine Bestellung ohne Komplikationen. Vielleicht würde die Arbeit im Schopenhauer doch nicht so mühsam werden, wie Leopold befürchtet hatte. Er beeilte sich, Gottfried Winkler sein Bier zu bringen. »Mein herzliches Beileid«, raunte er ihm zu, während er das Tablett abstellte.
»Was soll diese Bemerkung?«, reagierte Winkler unwirsch.
»Sie entschuldigen schon, aber ich habe Sie gleich erkannt, und das hat mich an das traurige Schicksal Ihrer Ex-Gattin erinnert«, eröffnete Leopold ihm. »Sie hat ja da vorn gewohnt, nur wenige Schritte vom Kaffeehaus entfernt. So ein furchtbares Ende! Das hat Sie sicher auch sehr mitgenommen, obwohl Sie sich von ihr getrennt haben.«
Winkler merkte, dass es nicht gut aussah, wenn er sich weiterhin so schroff zeigte. »Natürlich«, lenkte er ein. »Eine schreckliche Sache! Ich habe es nie für eine gute Idee gehalten, dass sie jedem dahergelaufenen Menschen ihren Schmuck gezeigt hat. Einmal musste das ja böse enden. Aber dass man sie gleich umbringt …«
»Können Sie sich auch ein anderes Motiv außer dem Schmuck vorstellen?«
Winkler wetzte unruhig auf seinem Sessel herum. »Hören Sie, ich will jetzt in Ruhe mein Bier trinken«, gab er Leopold zu verstehen. »Ich schätze Ihre Anteilnahme, aber deswegen muss ich Ihnen nicht Rede und Antwort stehen.«
»Sie würden mir außerordentlich helfen, wenn Ihnen etwas einfallen würde«, ließ Leopold nicht locker. »Der arme Kerl, den sie verhaftet haben, ist nicht nur ein Kollege, sondern auch ein Freund von mir. Ich kenne ihn gut. Der tut so etwas nicht. Er bringt es nie im Leben fertig.«
»Haben Sie eine Ahnung, was die Menschen alles fertigbringen, wenn’s um die Marie geht«, meinte Winkler abschätzig.
»Trotzdem frage ich mich, ob es nicht auch einen anderen Grund gegeben haben könnte, Ihre Frau – verzeihen Sie, Ex-Frau – umzubringen.«
»Hunderte«, grinste Winkler Leopold schäbig ins Gesicht. »Ich selbst habe mich mehrmals mit dem Gedanken getragen, sie zu töten, habe Pläne gewälzt, den perfekten Mord betreffend. Schließlich habe ich mich doch lieber scheiden lassen. Das war unkomplizierter.«
»Welche Rolle hat denn ihre Verletzung …?«
Leopold getraute sich jedoch nicht, diesen Satz zu vollenden, so sehr zeigte ihm Winklers durchdringender Blick, für wie deplatziert er die Frage hielt. Oliver deutete ihm in wilden Zeichen an, er solle den Gast in Ruhe lassen. »Das gehört sich nicht, so aufdringlich zu sein«, eröffnete er Leopold, als sie unter sich waren.
»Da gehen die Meinungen auseinander. Das ist doch der Mann von der Winkler«, raunte der ihm zu. »Den muss ich schon ein bisschen ausfratscheln. Schließlich geht es um Davids Unschuld.«
»So kommst du aber bei dem nicht weiter«, beteuerte Oliver. »Er trägt die Nase ganz schön oben. Für den sind wir Servicepersonal, sonst nichts. Vergräm ihn nicht! Angeblich hat er sich bei uns wegen einer Kleinigkeit jahrelang nicht blicken lassen. Dann hatte er ein paar Engagements an der Volksoper, seither kommt er wieder. Hoffentlich macht er uns dort nicht schlecht.«
Ungern ließ Leopold Gottfried Winkler daraufhin in Ruhe. Er beobachtete ihn nur während seiner Arbeit aus den Augenwinkeln, wie er sein Bier trank und dazwischen immer wieder auf die Uhr schaute.
Dann hörte er ein Geräusch, das er bereits kannte: das Geräusch einer mit Inbrunst falsch gesummten Melodie. Burckhardt war da. Er bestellte einen kleinen Mokka, zahlte gleich und blieb, nachdem er zu summen aufgehört hatte, schweigsam. Eigentlich mussten er und Winkler sich doch kennen, ging es Leopold durch den Kopf. Dennoch nahmen sie, in entsprechendem Abstand zueinander sitzend, keine Notiz voneinander.
Kaum versuchte Leopold, ein Gespräch mit Burckhardt anzuknüpfen, trank dieser seinen Kaffee aus, stand auf und ging zur Tür hinaus. Nun hatte es auch Winkler eilig. »Zahlen!«, rief er Leopold herbei.
»Bitte sehr, bitte gleich!« Dienstbeflissen setzte sich Leopold in Bewegung. Trinkgeld erhielt er freilich keines. Wie zur Revanche blieb er vor Winkler stehen und klimperte mit den Münzen in seiner Hand.
»Ist noch was?«, schnauzte Winkler ihn an.
»Leider sind Sie so einsilbig«, setzte ihm Leopold auseinander. »Deshalb bin ich’s jetzt auch. Aber ich kenne mich ein bisschen in der Theaterszene aus. Die ›Grillparzer-Geschichte‹ ist wieder aktuell, habe ich gehört.«
Winkler lief rot im Gesicht an. Er fing sich gleich wieder, aber eine Verunsicherung war deutlich zu erkennen. »Was wollen Sie?«, fragte er.
»Beehren Sie uns bald wieder«, legte ihm Leopold ans Herz. »Vielleicht haben wir dann mehr Zeit für ein Plauscherl.«
Winkler fixierte ihn noch einmal böse und war dann auch schon aus dem Lokal draußen. Leopold gratulierte sich im Stillen. Er hatte einen Köder ausgelegt, und der erste Fisch hatte bereits angebissen.
*
Am frühen Abend schaute Seniorchef Moritz Bäcker für gewöhnlich auf einen Sprung im Schopenhauer vorbei. Die Auswahl an alten Stammgästen, die er bereits selbst betreut hatte, war meist groß, sodass er keine Schwierigkeiten hatte, einen Gesprächspartner für einen Plausch zu finden. Diesmal blieb er jedoch im Thekenbereich stehen, um mit Leopold ein paar Worte zu wechseln.
Der alte Bäcker trat immer noch würdevoll auf. Die leicht gewellten Haare, von denen er eine Locke verführerisch in die Stirn fallen ließ, hatten dieselbe Fülle wie eh und je, sie waren nur grau geworden. Das Gesicht wirkte trotz der paar Fältchen mehr genauso frisch wie vor 20 Jahren. Wenn er es wollte, konnte er bei Frauen auch heute noch erfolgreich sein. Leopold verstand, warum Frau Heller in Erinnerungen an ihn schwelgte.
»Das ist eine besondere Ehre«, begrüßte Bäcker ihn. »Mein Lebetag hätte ich mir nicht gedacht, dass der Herr Leopold einmal bei uns arbeiten würde.«
»Na ja, die Umstände«, meinte Leopold achselzuckend.
»Wie hat es die Sidonie aufgenommen?«, wollte Bäcker wissen.
»Sie lässt dich schön grüßen«, richtete Leopold ihm aus.
Bäckers Augen funkelten. »Sie ist immer noch eine ausnehmend fesche Frau«, schwärmte er. »Ich habe Fotos von ihr im Internet gesehen.«
»Sie würde dich gern wieder einmal sehen.«
Bäcker entfuhr ein Lachen. »Das ist schön«, freute er sich. »Ich fürchte nur, es wird kompliziert. Wir wollten uns schon einmal in den letzten Jahren treffen, konnten uns aber nicht einigen, wo. Ich wollte nicht ins Heller kommen, sie nicht ins Schopenhauer. Man wird eigenbrötlerisch und stolz mit dem Alter.«
Leopold wiegte vorsichtig den Kopf hin und her. »Ein Abendessen in einem netten Restaurant würde ihr sicher gefallen«, schlug er vor.
»Vielleicht wird’s ja was, nach so langer Zeit«, befand Bäcker. »Wie geht es ihr? Was macht das Geschäft?«
»Alles bestens«, antwortete Leopold ausweichend.
»Sie wird es mir dann wohl selber erzählen. Und wie hast du dich bei uns eingelebt?«, wechselte Bäcker das Thema.
»Es braucht noch seine Zeit«, gab Leopold Auskunft. »Alles ist ein bisschen anders. Die Adjustierung zum Beispiel.« Er deutete auf sein weißes Hemd, in dem er sich immer noch ziemlich nackt vorkam.
»Das sind die Ideen meines Sohnes Herbert«, berichtete Bäcker. »Ich habe noch auf die Tradition gehalten, aber heute ist das offenbar nicht mehr so wichtig. Hast du übrigens schon etwas herausgefunden?« Er war eingeweiht und natürlich neugierig.
»Da bin ich wohl erst zu kurz da«, erinnerte Leopold den Seniorchef. »Du könntest mir aber ein bisschen helfen. Was weißt du über Katja Winkler und ihren Bekanntenkreis?«
»Sie war eine undurchsichtige Frau, hat sich nie in die Karten blicken lassen«, gab Bäcker an. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Sie hat erst hier im 18. Bezirk gelebt, seit sie von Gottfried Winkler geschieden war. Vorher war sie eine waschechte Floridsdorferin. Wusstest du das nicht?«
»Nein«, antwortete Leopold verdattert. Da hätte sie doch auch im Heller verkehren müssen. Auf dem Foto, das er von Richard Juricek erhalten hatte, war sie ihm jedoch nicht bekannt vorgekommen. Hatte sie sich derart verändert?
»Du siehst, du kannst dich auch in deiner Heimat auf die Spurensuche machen, nicht nur bei uns. Sie hat oft im Theater am Spitz gespielt«, informierte Bäcker ihn.
»Weißt du etwas über ihren Unfall? Das war doch ein entscheidender Einschnitt in ihrem Leben«, erkundigte Leopold sich.
»Darüber hat man nie Genaueres erfahren«, gab Bäcker sich bedeckt. »Sie ist in der Nacht die Treppe hinuntergestürzt, angeblich alkoholisiert. Ihr Mann hat sie gefunden. Es wollen allerdings auch Gerüchte nicht verstummen, dass sie bei dem Unglück nicht allein war.«
»Dass jemand nachgeholfen hat?«
»So in etwa, ja! Aber das sind, wie gesagt, Gerüchte, wie sie in solchen Fällen oft auftauchen.«
»Sind Personennamen genannt worden?«
»Nein. Wenn du Glück hast, triffst du am Vormittag einmal Primar Jaros vom Spital um die Ecke, der sie damals operiert hat.«
Leopold nahm zufrieden zur Kenntnis, dass immer mehr Details zum Vorschein kamen. »Wenn du Augen und Ohren offen hältst, wirst du bei uns auf Leute stoßen, die mit Katja Winkler zu tun hatten«, gab ihm Bäcker noch einen Rat mit auf den Weg. »Ich bin überzeugt, dass sie im Kaffeehaus ihre Bekannten hatte. Sie hat nur vermieden, hier mit ihnen in Kontakt zu treten.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Leopold.
»Es ist ein Gefühl. Begründen kann ich es nicht, aber so etwas spürt man als Cafétier, der seinen Job jahrzehntelang ausgeübt hat«, ließ Bäcker ihn wissen. »Sei wachsam, aber vergiss dabei die Arbeit nicht. Und was die Sidonie betrifft …«
»Sie wird sich freuen, von dir zu hören«, zwinkerte Leopold ihm zu. Dann machte er sich wieder ans Servieren.