Читать книгу Die Auferstehung des Oliver Bender - Hermann Brünjes - Страница 8

Montag, 12.8.

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Gestern Abend habe ich beschlossen, heute erst am Nachmittag in die Redaktion zu gehen. Notfalls melde ich mich krank. Ich bin innerlich aufgewühlt. Was bedeutet es, wenn mit Oliver Bender passiert, was damals mit Jesus Christus geschehen ist? Ich habe mir bereits eine Liste angelegt, die immer länger wird. Eine solche Nachricht wird begeisterte Freunde aber auch erbitterte Feinde finden. Vielleicht entsteht sogar eine neue Religion daraus ... keine Ahnung. Traditionalisten wie dieser Rübezahl in Himmelstal mögen sich bedroht fühlen. Andere wiederum, Menschen wie Irene oder Kojak, wären voller Hoffnung auf einen Neuanfang.

Mein Handy klingelt. Schorse ist dran, mein Freund bei der Lüneburger Polizei. Wir kennen uns schon aus der Schule, waren zusammen bei den Pfadfindern und seit er in Lüneburg bei der Kripo ist, treffen wir uns gelegentlich auf ein Bierchen. Ich habe ihn gestern Nachmittag über seine Privatnummer angerufen und ihn um Hilfe gebeten.

»Also, Jens, du bist dir ja klar darüber, dass ich dir nichts Offizielles sagen darf.«

Ich bestätige. Natürlich, Polizei und Verschwiegenheit, das gehört zusammen wie ... na ja wie Topf und Deckel? Nur, dass in meiner Singleküche die Deckel meistens nicht so richtig auf die gerade verfügbaren Töpfe passen.

»Folglich sage ich dir nun was Inoffizielles.«

»Hauptsache, Schorse, du sagst mir überhaupt etwas!«

Er lacht. »Ich werde doch meinen alten Freund nicht hängenlassen, zumal nicht mit einer Story aus Tausend und einer Nacht!«

»Was hast du denn nun herausgekriegt?«

»Okay. Ein Kumpel von der Lüneburger Kripo und ein Beamter aus Hannover waren bei der Exhumierung dabei. Die Kollegen haben zu Protokoll gegeben, dass der Sarg von diesem Oliver Bender leer war.«

Mir fällt kein Kommentar ein. Das ist der Hammer!

Der Sarg war also tatsächlich leer!

»Bist du noch dran? Oder hat es dich umgehauen?«

Ich stottere: »Oh, entschuldige«, und gebe zu, dass ich überrascht bin – auch wenn ich es bereits entgegen jeder Logik geahnt habe. Schorse erzählt weiter.

»Ich habe vorhin mit dem Kollegen von hier gesprochen. Er ist überzeugt, dass der Leichnam entnommen wurde. Eine andere Erklärung fällt ihm nicht ein. Nur warum und wozu weiß er nicht.«

»Ist denn überhaupt sicher, dass Oliver Bender im Sarg gelegen hat? Vielleicht war alles eine Farce.«

»Du meinst, schon bei der Beerdigung war der Sarg leer?«

»Ja, kann doch sein.«

»Nee, kann nicht sein. Sie haben ihn in der Kapelle offen aufgebart. Alle Trauergäste haben ihn gesehen. Auch das steht im Protokoll. Nee, wahrscheinlicher ist, dass der Leichnam gestohlen wurde.«

»Haben sie Spuren gesichert?«

»Das ist das Seltsame. Das Grab war völlig unversehrt, als sie mit der Öffnung begannen. Kränze und Gestecke lagen dort wie nach der Beerdigung hingelegt.«

»Also keine Spuren, auch nicht am oder im Sarg?«

»Richtig. Keine Spuren. Im Sarg lag nicht einmal mehr die alte Bibel, die sie dem Toten mitgegeben hatten.«

Das mit der Bibel höre ich zum Ersten mal.

»Gibt es irgendwelche Hinweise auf Täter?«

Schorse lacht wieder.

»Wie denn? Die Zeugen in der Nachbarschaft des Grabes sind alle tot!«

Er hat wirklich einen köstlichen Humor, finde ich. Die BILD hätte so einen Satz sicher veröffentlicht. Ich jedoch kann nichts von dem Gehörten in die Zeitung bringen, ist es doch noch keine offiziell bestätigte Information.

»Kommt da noch eine offizielle Ansage von euch?«

»Vermutlich. Dann wird sie von Spiekermann kommen, dem Polizeisprecher. Der wohnt übrigens in diesem Himmelstal – hey der Name des Kaffs passt ja gut zu deiner Story!«

Ich muss das erst einmal verdauen. Nicht, dass der Polizeisprecher ausgerechnet in Himmelstal wohnt – das könnte sogar hilfreich sein – sondern dass der Sarg tatsächlich leer war und es letztlich keinerlei Indizien für eine Schändung oder einen Grabraub gibt. Aber ein paar mehr Fakten brauche ich dennoch.

»Ist der Staatsanwalt eingeschaltet? Wer war noch bei der Exhumierung?«

»Immer langsam. Ja, sie haben tatsächlich eine Akte angelegt und gehen der Sache nach. Lauf ihnen also bei deinen Recherchen nicht unbedingt in die Arme – und wenn, du weißt von nichts!« Schorse hat ein wenig Angst um seine Anonymität. Verständlich.

»Ist klar. Aber sag, wer weiß noch davon und wer war dabei?«

»Gemeldet hat den Verdacht auf Unstimmigkeiten an diesem Grab der Pastor von Himmelstal.«

»Pastor Klaus Kerber?«

Ich weiß nicht, ob es mich wirklich überrascht.

»Ja, genau der. Kerber hat zu Protokoll gegeben, dass Gerüchte den sozialen Frieden in Himmelstal stören und man deshalb nachweisen müsse, dass die Leiche noch im Sarg liegt. Mit bei der Ausgrabung waren außer zwei Arbeitern des Betriebshofes Lüneburg und die zwei Kollegen nur noch der Pastor und ein Mediziner.«

»Kennst du seinen Namen?«

»Ja. Er heißt Dr. Ewald Semmler. Er soll nicht nur Arzt sein, sondern auch Psychiater und Thanatologe. Du findest ihn sicher im Telefonbuch oder bei Google.«

»Thanatologe? Was ist das denn?«

»Musste ich auch erst nachsehen. Thanatologie ist ein richtiges Studienfach mit Abschluss. Es sind Experten in Sachen Sterben und Tod.«

Ich staune, wofür es bei uns alles Experten gibt.

»Waren deine Kollegen nach der Aktion auf dem Friedhof noch bei Frau Bender, der Witwe des Verstorbenen?«

»Ich vermute ja. Eigentlich erzählt mein Kumpel mir immer alles, was so läuft. Aber was die Frau des verschwundenen Toten angeht, hat er nichts, absolut nichts, rausgerückt. Das falle unter die Schweigepflicht, war sein Argument.«

Ich will mich schon verabschieden, da fallen mir gleich zwei weitere Fragen ein.

»Du hast erzählt, wer bei der Graböffnung anwesend war. Warum war eigentlich die Witwe nicht dabei?«

Schorse stutzt einen Moment.

»Hast recht. Eigentlich müsste sie sogar gefragt werden. Ich habe keine Ahnung.«

»Okay, frag doch bitte noch einmal nach. Aber noch etwas. Du sprichst von zwei Kollegen. Und einer davon war nicht aus Lüneburg, sondern aus Hannover?«

»Richtig. Bei ungewöhnlichen Ereignissen ziehen wir jemanden vom Innenministerium hinzu. Die sind auch Fachleute für Spurensicherung in, na ja, sagen wir merkwürdigen Fällen.«

»Ich verstehe, so etwas wie außergewöhnliche Phänomene, AkteX – die unheimlichen Fälle des FBI und sowas ...?«

Schorse grunzt etwas vor sich hin.

»Nicht wie in den amerikanischen Serien. Aber bei möglicherweise leeren Gräbern agieren die Polizeistellen eben auch bei uns nicht ohne Fachleute.«

Wir verabschieden uns. Ich verspreche meinem Freund, ihn zum Bierchen einzuladen, wenn ich mal in Lüneburg bin.

Dieses Telefonat hat mich nun wirklich weitergebracht. Jetzt ist es gewiss: Das Grab war und ist leer. Ich muss an meine Bibellektüre von gestern denken. Hatten sie bei Jesus nicht auch gemeint, man habe seinen Leichnam gestohlen? Womöglich, um Gerüchte einer Auferstehung zu streuen, Jesus auf diese Weise zum Gott zu erklären und dann mit dem Christentum so richtig loszulegen?

Für damals verstehe ich diese Erklärung.

Für heute erscheint sie mir abwegig. Warum sollte man aus Oliver Bender einen Gott machen? Was sollte ein »Bendertum« als Neuauflage des Christentums bringen? Warum sollte jemand Benders Leichnam klauen? Wegen der alten Bibel? Ich glaube nicht, dass damit ein wertvolles Buch, eine handschriftliche Erstausgabe oder so etwas gemeint ist. Sie war vermutlich nur für Bender selbst wertvoll, weil es eben seine Bibel war. Außerdem hätten die Grabräuber dann ja die Leiche nicht auch noch mitnehmen müssen.

Im Übrigen gab es keinerlei Spuren für eine Öffnung des Grabes – was wieder den übernatürlichen Erklärungen Raum zu Spekulationen verschafft.

Mir dröhnt der Kopf. Dass ein Mediziner dabei war, ist einleuchtend. Falls Bender im Sarg lag, konnte man seinen Tod noch einmal ärztlich und amtlich bestätigen. Aber warum ein Psychiater und Thanatologe? Vermutlich hatten sie damit gerechnet, dass sie die Ehefrau nach der Exhumierung psychologisch betreuen müssen oder dass sie vom Grabschänder ein Profil erstellen können. Es wäre schon interessant, die Meinung dieses Dr. Semmler einzuholen.

Ich tippe seinen Namen in meinen Laptop. Es erscheinen nur einzelne Einträge. Der Mann scheint es nicht nötig zu haben, auf Publicity zu setzen. Eine eigene Homepage hat er nicht. Sein Name erscheint im Zusammenhang mit Gutachten und Vortragsveranstaltungen. An der Leuphana-Universität Lüneburg hat er offenbar einen Lehrauftrag für angewandte Psychologie. Im Telefonbuch finde ich eine Nummer. Sie enthält die mir so vertraute Vorwahl unserer Kreisstadt.

Eine Frau nimmt das Gespräch an.

»Hier ist die Praxis von Dr. Ewald Semmler!« flötet sie ins Telefon. »Was kann ich für Sie tun?«

Ich frage nach ihrem Chef. Vermutlich war es ungeschickt, mich als Journalist vorzustellen. Sie wird immer reservierter. Zuerst hat der Doktor im Moment gerade keine Zeit, dann ist er gar nicht im Hause und zuletzt ist er soeben zu einer längeren Vortragsreise aufgebrochen.

Ich gebe auf. »Wenn er wieder ansprechbar ist, geben Sie ihm bitte meine Telefonnummer und sagen Sie ihm, ich bin dem auferstandenen Oliver Bender begegnet! – Und versemmeln Sie es nicht!« Den Nachsatz kann ich mir nicht verkneifen. Ich lege auf.

Ich koche mir einen Kaffee.

Keine zehn Minuten später klingelt mein Telefon. Es ist Dr. Semmler höchstpersönlich. Das ging schnell.

»Herr Jahnke?« Er entschuldigt sich für die Abfuhr durch seine Sprechstundenhilfe. Er sei zu beschäftigt, um alle möglichen Fälle zu kommentieren und sich ständig mit den Medien zu befassen.

»Aber beim Stichwort ›auferstanden‹ reagieren Sie?«

Er lacht.

»Allerdings! Sie reagieren doch vermutlich auch auf Stichworte, die Ihnen eine gute Story signalisieren.«

Der Mann scheint ganz umgänglich zu sein. Wir verabreden uns in einer Stunde in einem Café in der Innenstadt. Auf dem Weg zur Redaktion komme ich ohnehin daran vorbei.

*

Das Café ist eigentlich eine Eisdiele. Davon gibt es in unserer schönen Stadt ziemlich viele. Drinnen ist sie wenig einladend: Ein dunkler, schmaler Raum mit schlichten Tischen und Bänken entlang der Wand. Der Tresen mit seiner riesigen Auswahl an Eissorten steht vorne, von der Straße aus gut sichtbar. Fast ununterbrochen kaufen dort große und kleine Schleckermäuler ihre Eisbecher oder -waffeln.

Als ich mein Fahrrad an einen Papierkorb anschließe, der neben einer Sitzbank an der Straße steht, sind fast alle Tische besetzt. Im Gegensatz zu drinnen wirkt die Eisdiele hier draußen beschaulich und gemütlich. Unter bunten Sonnenschirmen reihen sich mehrere Tische mit Gartenstühlen, dazwischen tropische Topfpflanzen. Die Innenstadt ist verkehrsberuhigt. Blumenkübel, Bänke und Barrieren verhindern schnelles Fahren und so fahren hier nur wenig Autos durch.

Wir haben kein Erkennungszeichen verabredet. Trotzdem tippe ich bei dem einzelnen Mann am äußeren Tisch sofort auf Arzt oder Psychiater. Wie Thanatologen typischerweise aussehen, weiß ich nicht. Ob sie ständig Schwarz tragen? Vermutlich nicht. Der Mann dort hinten trägt jedenfalls trotz der hohen Temperaturen ein braunes Jackett, darunter ein hellblaues Hemd, bis oben zugeknöpft. Dunkle Jeans und sportliche Schuhe mit weißer Sohle, dazu ein gut gepflegter Bart, eine Brille mit dunklem Rahmen und eine »Südddeutsche« vor sich auf dem Tisch – dieser Mann muss einfach Dr. Ewald Semmler sein.

Auch er scheint mich sofort zu erkennen. Er winkt mich zu sich. Ich frage mich, ob auch ich typische Merkmale meiner Profession aufweise. Vielleicht mein kleiner Rucksack für iPad und Kamera? Oder weil ich eher unauffällig gekleidet bin, mit blauer Jeans, Sandalen, kurzärmeligem Polishirt ... keine Ahnung, woran man Journalisten erkennt. Ich finde es für meinen Beruf auch erheblich zuträglicher, wenn man möglichst lange unauffällig bleibt.

»Hallo Herr Jahnke! Kommen Sie, trinken auch Sie einen Cappuccino? Ich habe mir bereits einen bestellt.«

Noch während ich mich setze, winkt er die Kellnerin herbei und bestellt für mich. Auf jeden Fall ist dies ein Mann voller Tatkraft und Selbstbewusstsein. Er kommt auch gleich zur Sache.

»Was reden Sie da von Oliver Bender? Sie haben ihn gesehen?« Er will vermutlich den Verlauf unseres Gespräches kontrollieren. Ich allerdings auch.

»Bevor ich Ihnen davon berichte, muss ich wissen, ob Sie bestätigen können, dass sein Grab leer war.«

Er stutzt. »Woher wissen Sie davon? Wie kann die Presse bereits darüber informiert sein?«

»Na ja, nicht die Presse. Nur ich. Sagen wir, ich habe so meine Quellen.«

»Ah, ich vermute, Sie kennen Pastor Kerber. Ich kann mir nicht denken, dass die Polizei aus Lüneburg Sie informiert hat.«

»Es stimmt. Gestern habe ich den Pfarrer von Himmelstal getroffen, genauer den Vakanzvertreter. Also, Herr Dr. Semmler, das Grab war leer? Und die Polizei vermutet, es sei geplündert worden?«

»Sie haben wohl doch Kontakte nach Lüneburg, scheint mir.« Es klingt ein wenig resigniert. Er merkt jetzt wohl, dass er mir nichts vormachen kann, sondern einige Informationen herausrücken muss, wenn er meine bekommen will.

»Sie haben Recht. Der Sarg war leer, abgesehen von einigen weißen Rosen, die seine Frau hineingelegt hatte. Oliver Benders Leichnam war samt seiner Kleidung und seiner Bibel verschwunden.«

»Und niemand weiß wohin?«

»Stimmt genau.«

Die Bemerkung kommt mir deutlich zu schnell, so als wolle er Rückfragen vermeiden.

»Nach der Exhumierung waren Sie dann gemeinsam mit dem Pastor und den Kripoleuten bei Frau Bender.«

Erstaunt hebt Dr. Semmler die Augenbraunen.

»Sie sind wirklich gut informiert! Haben Sie das von Frau Bender? Das kann ich mir absolut nicht vorstellen!«

»Warum nicht? Was macht Ihren Besuch bei der Witwe nach der Graböffnung so interessant, dass sie nicht darüber reden sollte?«

Mein Gegenüber schüttelt mit dem Kopf. Er ist nicht dumm. Er merkt, dass ich den Verhör-Spieß umgedreht habe.

»Es wurde Stillschweigen vereinbart, zum Schutz der Beteiligten. Im Übrigen erwarten Sie bitte nicht, dass ich Ihnen noch mehr erzähle, ohne etwas von Ihnen zu hören. Oder war das gegenüber meiner Sprechstundenhilfe nur ein Scherz?«

»Sie meinen das mit der Auferstehung?«

»Ja, genau das. Sie haben behauptet, Oliver Bender begegnet zu sein.«

»Und wenn?«

»Herr Jahnke, treiben Sie keine Spielchen mit mir. Entweder wir unterhalten uns wie erwachsene Männer miteinander oder ich trinke meinen Cappuccino aus und gehe!«

Er nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. Ich überlege, wie ich weitermache und beschließe, die Karten auf den Tisch zu legen.

»Sie haben recht. Hätten Sie zurückgerufen, wenn ich nicht von Benders Auferstehung gesprochen hätte?«

»Vermutlich nicht.« Der Doktor lacht. »Es war also eine Finte, um mit mir zu reden?«

»Nicht nur. Ich habe zwei Zeugen, die Bender lebendig gesehen haben. Aber sorry, ich selbst bin ihm nicht begegnet.«

»Was sind das für Zeugen, die mit solchen Fantasiegeschichten an die Presse gehen?«

»Wieso Fantasiegeschichten? Die Beiden behaupten, Oliver tatsächlich gesehen zu haben. Aus meiner Sicht sind meine Informanten sehr nüchterne und glaubwürdige Leute. Aber Sie scheinen da eher skeptisch.«

Der Psychiater nickt mit etwas übertrieben ernster Miene.

»Ich bin Arzt und Naturwissenschaftler. Gleichzeitig bin ich Psychiater und Psychologe. Und was meinen Sie, was ich bereits alles an Wahnvorstellungen erlebt habe!«

»Und wie erklären Sie sich die Tatsache, dass es am Grab keinerlei Spuren einer Öffnung gab, bevor Sie und die Polizei die Grabstelle öffneten?«

»Ach, das wissen Sie also auch. Niemand, nicht einmal die Polizei, sollte jedoch behaupten, dass es keine Spuren gab. Wir haben keine gefunden – das ist alles! Bleiben wir bei den Fakten!«

»Nicht einmal der Beamte vom Innenministerium, der Spezialist für so etwas ist, hat eine Spur entdeckt?«

Dass ich davon weiß, überrascht Semmler erneut. Er wird immer vorsichtiger und zuckt jetzt nur mit den Achseln. Ich starte meinen nächsten Vorstoß.

»Mich würde wirklich interessieren, was Frau Bender zu alledem gesagt hat.«

Jetzt beobachte ich mein Gegenüber besonders genau. Corinna hat steif und fest behauptet, Oliver Bender habe sich mit seiner Frau auf der Terrasse unterhalten. Folglich ist Maren Bender die wichtigste Zeugin dafür, dass ihr Mann lebt. Semmler jedoch verzieht keine Miene. Ein Mann, der sich im Griff hat.

»Fragen Sie sie selbst.«

»Und wenn sie mir sagt, sie habe ihren Mann nicht nur gesehen, sondern sogar gesprochen?«

»Dann schalten Sie Ihren gesunden Menschenverstand ein.« Etwas verzögert ergänzt er übermäßig betont: »Das ist unmöglich.«

»Sie meinen also, Frau Bender bildet sich das dann ebenfalls ein? Aus Verlustgefühlen heraus, als Wunschvorstellung oder etwas in der Art? Was aber ist mit meinen Zeugen?«

»Da muss es eine ähnliche Erklärung geben. Ich müsste mit den beiden sprechen, um herauszufinden, was dahinter stecken könnte. Wenn es darum geht, sich selbst interessant zu machen, erfinden die Leute notfalls Ufos und Aliens – und glauben dann später selbst daran. Vielleicht geht es auch um kollektive Psychosen oder zumindest psychotische Störungen. Das kann sogar in Schizophrenie enden.«

»Und so etwas kann gleich mehrere Leute unabhängig voneinander befallen? Ansteckend wie eine Grippe? Das glauben Sie doch selbst nicht!«

Dr. Semmler zuckt mit den Achseln.

»Wer weiß das schon? Es gibt Fälle von Massenwahn. Denken Sie nur an diesen Charles Mason mit seiner Sekte. Und haben nicht auch Goebbels und die Nazis einen Massenwahn ausgelöst? Als das dritte Reich zusammenbrach, haben sich unzählige paranoide Fanatiker inklusive Hitler selbst das Leben genommen. Sie glauben ja nicht, wie widersinnig unser Gehirn arbeitet – und doch gleichzeitig logisch und rational erklärbar.«

Ich habe den Eindruck, es bringt nichts mehr, mit dem Psychiater zu diskutieren. Jetzt ist er auf seinem Fachgebiet und findet womöglich kein Ende.

»Genau genommen kann alles zum Wahn werden. Vor allem im Bereich der Religion finden wir unzählige Beispiele. Unsere Einrichtungen sind voll von Menschen, die sich zu etwas Besonderem berufen fühlen, sich für Jesus oder Gott halten, Stimmen hören, Geister nicht nur sehen, sondern auch mit ihnen reden und Visionen von toten Angehörigen haben.«

Ich habe so etwas natürlich auch gehört und gelesen. Vielleicht hätte ich die Sache ähnlich abgetan. Nun jedoch hat Semmler bestätigt, was nach Schorses Information auch im Polizeibericht steht: Das Grab war unversehrt und dennoch leer. Außerdem spüre ich deutlich, dass Semmler mehr weiß als er sagt. Meine Intuition hat mich selten im Stich gelassen, nennen wir es »journalistische Spürnase«. Wenn meine Zeugen recht haben, ist auch Maren Bender ihrem Mann begegnet. Vielleicht hat sie das ihren Besuchern an jenem Dienstag sogar gestanden.

»Dr. Semmler«, unterbreche ich ihn, »Ihre fachliche Kompetenz stellt niemand infrage. Ich glaube Ihnen das alles. Aber trotzdem bitte ich Sie, nur einen Moment lang einmal zu überlegen: Was, wenn Oliver Bender tatsächlich lebt?«

Dr. Semmler schiebt seine Tasse von sich weg und winkt der Kellnerin.

»Herr Jahnke, was, wenn Ihre Zeitung sich nicht an Fakten orientiert, sondern an Wahnvorstellungen? Ich verstehe ja, dass Sie eine ungewöhnliche Story suchen. Das hat der Stern mit den Hitlertagebüchern auch gewollt – und am Ende ist die Lügenblase geplatzt und hat dem Magazin Millionen gekostet. Nein, Herr Jahnke, ich bin nicht bereit, solchen Hypothesen auf Kosten des gesunden Menschenverstandes nachzugehen!«

Die Kellnerin kommt und bringt die Rechnung. Mein Gesprächspartner zahlt. Eine Frage will ich noch anbringen.

»Ich verstehe. Das bedeutet, das mit der Auferstehung Jesu halten Sie ebenfalls für eine Wahnvorstellung. Und Kirchengeschichte und Christenheit sind dann so etwas wie eine Massenpsychose?«

Er steckt das Wechselgeld ein.

»So könnte man es beschreiben«, antwortet er und mein Chef Florian hätte ihm deshalb vermutlich einen Dimple eingeschenkt. »Aber natürlich wäre das zu kurz gegriffen. Es geht beim Phänomen der Religion auch immer um menschliche Sehnsüchte. Für den Philosophen Feuerbach ist Gott die Projektion unserer Wünsche an den Himmel, für Marx Opium des Volkes und für Lenin Opium für das Volk. Religion ist ebenso vielschichtig wie das Leben auch. Also legen Sie mich nicht fest. Aber Sie haben recht: Das mit der Auferstehung und alles andere jenseits von einem Leben in dieser Welt hat immer etwas von Psychose!«

Er steht jetzt auf und reicht mir die Hand. Auch ich erhebe mich. »Ich habe für Sie mitbezahlt. Falls Sie nun trotz meiner Argumente doch etwas schreiben wollen, lassen Sie mich unbedingt aus dem Spiel. Und denken Sie an meine Warnung und die Hitlertagebücher. Sie machen sich im besten Fall nur lächerlich, im schlimmsten riskieren Sie nicht nur Ihren Job, sondern auch den guten Ruf Ihrer Zeitung ...!«

Dr. Semmler biegt bei der Drogerie um die Ecke und ist verschwunden.

Ich bleibe noch einen Moment sitzen, um das Ganze zu sortieren. Irgendwie hat er ja recht. Wenn wir uns im täglichen Leben nicht am Sicht-, Greif- und Erklärbaren orientieren, rutschen wir ganz schnell in eine Scheinwelt hinein und werden zudem leichte Opfer für alle möglichen Scharlatane. Aber irgendwie trifft Semmler es auch nicht! Wenn wir Wirklichkeit nur über die sichtbaren und messbaren Dinge definieren, entgeht uns unglaublich viel. Liebe, Sehnsucht, Vertrauen, Hoffnung ... dies und mehr ist alles andere als unserer begrenzten Logik und Wissenschaft unterworfen. Dr. Semmler, Sie mögen klug sein – aber gleichzeitig auch ziemlich begrenzt in Ihrem Denken.

Immerhin rundet sich für mich jetzt das Bild. Wenn meine Zeugen nicht allesamt Psychopaten sind, hat Frau Bender ihren Mann ebenfalls gesehen, ihn sogar gesprochen. Ob sie genau deshalb so schwer anzutreffen ist? Weil sie genau weiß, was passiert ist, darüber jedoch nicht sprechen will – oder darf? Das Gutachten von Dr. Semmler wird zuletzt von Psychosen reden, egal was noch passiert. Es ist doch immer gut, schon vorher zu wissen, was hinten herauskommt!

*

Als ich am Nachmittag in die Redaktion komme, hat sich dort nichts verändert. Während ich es mit der Überwindung des Todes zu tun hatte, mit Auferstehung und leeren Gräbern, befassen sich die Kollegen mit der Feuerwehr, dem Verkehrsbericht, einer entkommenen Riesenschlange und anderen Sensationen.

In der Sportredaktion sitzt heute niemand. Die Kollegen vom Sport standen gestern nicht nur auf staubigen Fußballplätzen, sondern auch unter Stress. Die Montagsausgabe besteht zur Hälfte aus dem Sportteil. Ansonsten herrscht normaler Redaktionsbetrieb. Der Chef ist nicht da. Angeblich ist er mit zwei Ressortleitern im Büro in der Altmark. Also muss ich mein spätes Erscheinen nicht begründen und kann mich friedlich an meinen Schreibtisch setzen.

Ich rufe bei Gerald Tönnies an, den Auslöser meiner Recherche. Vielleicht ist Frau Bender ja inzwischen von der Arbeit zurück und ich kann noch einmal hinfahren, um mit ihr zu reden. Fehlanzeige. Der Abstellplatz ist leer. Langsam habe ich den Eindruck, Frau Bender ist auch gestorben ... Sie scheint sich ganz bewusst zu isolieren. Und wo mag ihr Mann nun sein? Noch einmal wurde er nicht gesehen, jedenfalls habe ich keine weiteren Zeugen. Folglich entzieht er sich seit Sonntag der Öffentlichkeit – oder sein gestohlener Leichnam wird irgendwo versteckt gehalten. Fragt sich nur, warum und wozu.

Es ist ein komplizierter Fall.

Ich kaue auf meinem Kugelschreiber herum und tippe wahllos auf die Tastatur meines Computers. Was soll ich tun? Vielleicht könnte ein Artikel im KB neue Entwicklungen in Gang setzten. Manchmal muss man etwas stochern, damit Bewegung entsteht. Allerdings scheuche ich so auch Florian Heitmann auf. Der stochert dann mit seinen dicken Fingern in meiner ohnehin nicht stattfindenden Karriere herum. Was also tun?

Ich spreche mit dem Ressortleiter für die Online-Ausgabe. Er vertritt den Chef bei Abwesenheit. Mit ihm verstehe ich mich bestens und weiß, dass er die Strategien und Vorstellungen Florians nur selten teilt. Ich frage ihn, ob ich eine Spalte im regionalen Teil auch ohne einen Beschluss der morgigen Redaktionssitzung kriege und auch ohne das Okay des Chefs. Er meint, Florian und die anderen sind nicht da und ihm ist es egal.

»Wenn du eine Spalte beim Setzer kriegst, mach es ruhig. Ich kann es online bringen, auch wenn es die bekloppteste Meldung ist, die mir je untergekommen ist.«

Ich muss also den Setzer fragen und für meinen Artikel gewinnen. Ich kriege ein »Kein Problem, muss sowieso noch was füllen!« und schreibe meinen kleinen Artikel.

Die Auferstehung des Oliver Bender

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