Читать книгу Die Tore der Atlanter 1. von 4 Folgen - Hermann Büsken - Страница 5
Kapitel 2 Erste Begegnung mit dem König der Elfen
ОглавлениеEin Haarschopf in der Mitte des Erdrutsches, schaute aus dem Astgewirre, also wieder nach oben. Da er jetzt wusste, wo er zu suchen hatte, ließ er den Haarschopf nicht aus den Augen und arbeitete sich zur Mitte des Erdrutsches vor. Er erkannte, dass der Haarschopf einem Mann gehören musste, der nicht sehr groß sein konnte. Wie gekreuzigt wurden seine Arme von dickem Astwerk niedergedrückt.
Durchdringende Augen blickten Kristian an. Der Mann stellte die vergeblichen Versuche sich zu befreien ein, ließ Kristian aber nicht aus den Augen. Seitlich neben seiner Brust, in einer Astgabel verfangen, hing an einer, scheinbar aus Gold gefertigten Kette, ein handtellergroßes Medaillon. In der Mitte ein halbrunder, grünlich schimmernder Stein, umsäumt von einem etwa einem Zentimeter breiten, flachen Rand, auf dem sich für Kristian unbekannte Zeichen befanden.
Immer den Steilhang vor Augen, hatte er sich nah an ihn herangearbeitet. Schnell erkannte er, dass es mehrerer Männer bedurft hätte, die Äste anzuheben. Ihm fiel sein Messer mit Säge ein, das sich in einer seiner Taschen befand. Als er es aufklappte und auf den Eingeklemmten zuging, fauchte dieser ihn an. Erschrocken sprang Kristian zurück.
»Du brauchst keine Angst haben, ich will nur den Ast durchsägen.« Abwartend blickte Kristian ihn an, während der Blick des Mannes durch Kristian hindurchzugehen schien. Kristian deutete ein leichtes Nicken seinerseits als Aufforderung, seine Arbeit zu beginnen. Ein Vergnügen ist es nicht, mit einer Taschensäge einen faustdicken Ast durchzusägen. Schon bald bildeten sich die ersten Blasen an seiner Hand und Blut machte den Griff des Messers rutschig. Zudem verkeilte sich die Säge immer öfter im Holz, was seine Arbeit zusätzlich erschwerte.
»Ja mein Freund«, sagte er zu dem schweigsamen, ihn nicht aus den Augen lassenden Mann, »und du fauchst mich zum Dank noch an.« Als der Ast schließlich kippte, griff der kleine Mann mit der freien Hand zu seinem Medaillon, legte seine Hand darauf, blickte Kristian kurz an und weg war er. Erschrocken wich Kristian zurück.
Als wenn nichts geschehen wäre, stand er alleine inmitten der umgefallenen Bäume. Nur seine blutende Hand zeugte davon, dass er alles nicht geträumt hatte. Nachrutschendes Erdreich erinnerte ihn daran, den gefährlichen Ort schnellstens zu verlassen. Er kletterte wieder zurück.
Oben angekommen machte er sich auf den Weg zu ihrem Treffpunkt. Schon bald sah er die Burg in einiger Entfernung. Johannes wartete schon ungeduldig.
»Wo bleibst du denn, ich wollte gerade ohne dich losfahren.« »Johannes warte, ich muss dich erst etwas fragen. Ist dir schon einmal ein kleiner Mann begegnet?« Kristian zeigte mit der Hand wie groß. Johannes zuckte zusammen.
»Bist du verrückt, so laut über das gute Volk zu reden. Man darf nicht schlecht über sie reden, und wenn man sie beleidigt, kommen sie des nachts und machen das Vieh krank. Wer aber gut zu ihnen ist, der wird belohnt. Ich könnte dir viele Geschichten über das gute Volk erzählen. Eins muss ich dir aber noch sagen, wenn dir ein Elfe etwas zu essen anbietet, dann darfst du es unter keinen Umständen annehmen. Tust du es trotzdem, gehörst du zum Elfenreich und kannst nicht mehr nach Hause zurück.«
»Keine Sorge«, meinte Kristian rasch und hob beschwichtigend die Hände. Ich frage dich nur, weil der Mann ein wenig seltsam war und sich einfach in Luft aufgelöst hat.«
»Es ist besser, wenn du nicht über sie redest«, entgegnete Johannes ängstlich und schaute zu seinem Wagen, auf den er frisches Heu geladen hatte.
Sich nervös umschauend, schob er Kristian dann zum Wagen und sah zu, wie dieser unter das Heu kroch. Schnell sprang er selber auf den Wagen. Mit der Peitsche trieb er sein Pferd an, sodass dieses erschreckt über die ungewohnt ruppige Behandlung, im Galopp, den Weg zur Burg einschlug. Das Tor der Vorburg war offen, im Galopp ging es über die Zugbrücke. Die zwei Wachposten hatten gerade noch Zeit, zur Seite zu springen. Eine Spur wehenden Heus hinter sich lassend, hatten sie bald die Zugbrücke der Burg erreicht. Die Wachen, durch den Lärm aufmerksam geworden, stellten sich dem Wagen in den Weg. Nur mit Mühe gelang es Johannes, das Pferd zum Stehen zu veranlassen. Nach einer Ausrede suchend, erzählte Johannes der Wache, dass sich sein Pferd erschreckt hätte. Sie gaben sich mit der Erklärung zufrieden und machten den Weg frei. Kristian hatte Angst, dass man ihn sehen konnte, da ein großer Teil des Heus vom Wagen geweht war. Doch zu seinem Glück war dies scheinbar nicht der Fall.
Johannes setzte den Wagen rückwärts vor die Stalltür. Er schaute sich nach allen Seiten um und gab Kristian dann ein Zeichen, dass er den Wagen verlassen könne. Johannes machte hinter sich die Tür zu. Erschöpft setzte er sich auf die Futterkiste.
»Was sollte das«? fragte Kristian. »Es hat nicht viel gefehlt und man hätte mich entdeckt.«
»Warum erzählst du mir auch was vom kleinen Mann. Ich bekomme Angst, wenn ich davon höre.«
»Du hast doch gesagt, dass es das gute Volk genannt wird, wieso hast du dann Angst?«
»Letztes Jahr haben sie einen Arbeiter gelähmt«, erzählte Johannes stockend.
»Und warum?«
»Der Arbeiter war betrunken und hat mit einem Stein nach einem Elfen geworfen, aber nicht getroffen. Der Elf hat ihn angeschaut und den Arm gehoben. Im selben Augenblick fiel der Arbeiter um und konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Anschließend löste sich der Elf in Luft auf.« Jetzt war es Kristian, der zusammenzuckte. Genau wie bei ihm löste sich ein Mensch in Nichts auf. Nach Johannes Reaktion zu urteilen, war das eine unumstößliche Tatsache.
»Wieso hast du nach dem Mann gefragt. Es gibt nicht viele hier, die jemals einen zu Gesicht bekommen haben. Du bist gerade mal einen Tag hier und fragst nach ihnen?«
»Das ist ganz einfach«, sagte Kristian, »ich habe einem in Not geratenem Mann geholfen und als Dank hat er sich einfach in Luft aufgelöst.«
»Warte ab«, sagte Johannes, »er wird dich dafür belohnen.« Nicht vertraut mit den Gewohnheiten der Elfen, war Kristian eher skeptisch.
Es war noch früher Abend, deshalb konnte er noch nicht in seine Zeit zurückkehren. Johannes schaute nach draußen und suchte nach Anzeichen, ob die Küche das Abendessen fertig hatte. Als er sah, dass ein Zustrom in Richtung Küche einsetzte, war er nicht mehr zu halten. Mit zwei dampfenden Schüsseln und einem Stück Brot unter dem Arm kam er zurück. Die Schüsseln waren mit Suppe gefüllt. An der Oberfläche schwammen dicke Fettaugen. Aus seiner Hosentasche holte Johannes zwei Holzlöffel. So eine fettige Suppe nicht gewohnt, versuchte Kristian den Inhalt zu ergründen. Fettstücke, und kleine Fleischbrocken, die aussahen wie klein geschnittener Darm.
»Was machst du denn für ein Gesicht«? fragte Johannes, »hast wohl noch nie so eine gute Suppe gegessen?«
„Darm besteht aus zartem Fleisch dachte Kristian, und wenn er gesäubert ist, wird er schon schmecken.“
Das Geklapper vieler Pferdehufe ließ sie beide aufhorchen.
»Der Graf kommt zurück«, erklärte Johannes. »Ich glaube, sie waren auf der Burg Rabenfels eingeladen.«
Neugierig schaute Kristian durch einen Türspalt nach draußen. Das erste Pferd kam um die Ecke auf den Stall zu. Die Reiterin mochte zwanzig Jahre zählen. Der nächste Reiter schien ein wenig älter zu sein. Er sprang aus dem Sattel. Vorne und hinten wies der Sattel hohe Wülste auf. Mit der heutigen Reitkunst hatte dieses wenig zu tun. Er konnte sich aber vorstellen, dass man im Mittelalter mit angelegter Rüstung, mehr Halt brauchte.
»Ich muss jetzt raus«, sagte Johannes, und stellte seine Schüssel zur Seite, »lass dich nicht sehen, und erschreck mich nicht, wenn du das nächste Mal kommst.« Auf Kristians Uhr wurde es zehn Uhr. Da er die Zeit hier nicht vertrödeln wollte, stieg er die Leiter nach oben und zog seine Sachen wieder an.
Der Lärm unten nahm zusehend ab, er wollte nicht auf Johannes warten und stieg also die Leiter wieder herunter. Vorsichtig schlich er die Stallgasse entlang, darauf bedacht, möglichst ungesehen sein Tor zu erreichen. Als er Öffnungszeremonie in Gang setzte, und er auf einen schnellen Wechsel hoffte, kam der jüngere Mann, der als Zweiter das Burgtor passiert hatte, auf ihn zu. An seiner Hose nestelnd, konnte Kristian sich schon denken, weswegen er hier war. Es war für beide ein Schreck. Der Mann blickte Kristian an, zog sein Schwert und rannte die Stallgasse entlang auf Kristian zu. Für diesen gab es kein zurück. Gerade noch rechtzeitig, setzte das Flimmern ein. Grüßend die Hand hebend, verschwand er aus seinem Blickfeld. Wohltuende Stille empfing ihn, trotzdem immer noch damit rechnend, dass ihm ein Schwert folgen könnte. Er musste lachen, als er an das verdatterte Gesicht des Mannes denken musste, der vielleicht gerade an der gleichen Stelle stand wie er und einem Geist nachjagte.
»Hallo Junge«, dröhnte es aus einer Ecke. Der unverkennbare Zigarrenrauch hatte Kristian schon verraten, wer da auf ihn wartete. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Großvater, »ich konnte einfach nicht einschlafen, und da fiel mir ein, dass du heute wieder zurückkommen wolltest. Sicher bist du müde und da habe ich mir gedacht, ich hole dich ab und fahre dich nach Hause.«
»Großvater, ich danke dir dafür, aber ich kenne dich genau, du kannst nicht abwarten und willst wissen, wie es mir in der anderen Zeit ergangen ist. Ich bin zu müde und will nur noch ins Bett.« Ein wenig enttäuscht drehte sich Großvater um und Kristian folgte ihm zu seinem Wagen, der nicht weit entfernt stand.
Ohne weitere Worte zu wechseln, fuhr Großvater ihn nach Hause. Als sie endlich vor seinem kleinen Haus angekommen waren, brach Kristian das erdrückende Schweigen.
»Tut mir leid«, sagte er, als er Großvaters enttäuschtes Gesicht sah, nur um kurz darauf, ohne eine Antwort abwartend, auszusteigen und die Autotür zufallen zu lassen. Jetzt zählte nur noch sein Bett. Die Haustür fiel hinter ihm zu, er zog sich aus und kurze Zeit später war er auch schon eingeschlafen.
Die ersten Sonnenstrahlen machten sich in seinem Zimmer breit. Bewusst, dass er sicher in seinem eigenen Bett lag, verleitete ihn, die Augen noch mal zu schließen.
Eigentlich hätte er darauf gefasst sein müssen, dass Großvater nicht so schnell klein beigeben würde. Tassengeklirr riss ihn wieder aus seinem Schlaf. Kristian hatte keine Zweifel, wer die Geräusche verursachte. Der Wecker verriet ihm, dass es kurz vor zehn Uhr war. Ihm fiel ein, dass er sich gestern Abend nicht die Zeit genommen hatte, seine Haustür abzuschließen. Er ging ins Badezimmer und zog sich an. Ein Blick in die Küche zeigte ihm einen Großvater von einer Seite, die er noch nicht kannte. Großvater sah ihn kommen und strahlte ihn an.
»Großvater, kochst du zuhause für die anderen auch Kaffee?«
»Es ist doch selbstverständlich, dass ich für unseren Heimkehrer etwas vorbereite, zumal man beim Frühstück so richtig entspannt plaudern kann.« Kristian sah ein, dass es für Großvater ein ebenso großes Abenteuer war wie für ihn. Er erzählte ihm, was er im Mittelalter erlebt hatte.
Ihn nicht aus den Augen lassend, hingen seine Augen auf Kristians Lippen, um ja nichts zu verpassen. Die Zeit verging, er wollte alles wissen.
»Was ist mit unserem Haus, hast du es gesehen?«
»Großvater, ich war doch nur kurz weg, so schnell kann man doch die Gegend nicht erkundigen.«
Beim nächsten Besuch wollte er haltbare Lebensmittel aus Bundeswehrbeständen mitnehmen und hatte dabei speziell an Hanna gedacht, aber auch Johannes sollte nicht zu kurz kommen. In Silberfolie eingeschweißte Notrationen waren um ein Vielfaches besser, als das trockene Brot. Großvater druckste herum, »Junge, was meinst du, nimmst du mich irgendwann mal mit?«
»Du weißt«, sagte Kristian, »dass das Tor meine Schwachstelle ist. Ich muss jedes Mal erst in die Burg und dann sehen, wie ich wieder heraus und hereinkomme. Ich glaube nicht, dass du dich gerne unter eine Fuhre Mist verstecken willst.« Um ihn abzulenken, fragte er deshalb: »Was weißt du über Elfen?« Erstaunt schaute Großvater ihn an. »Begegnet ist mir noch keiner.« Nicht wissend, ob er ihn auf den Arm nehmen wollte, blickte Kristian ihn kurz an. Großvaters Lachfalten um die Augen blinzelten verräterisch, beide lachten sie laut auf. Die Spatzen in den Obstbäumen, suchten jetzt bestimmt erschreckt das Weite. Sie konnten sich nur langsam beruhigen. »Großvater, ich muss erst in die Stadt zum Einkaufen. Wenn ich alles beisammenhabe, wäre ich dir dankbar, wenn du mich mit meinen Sachen heute Abend zum Tor hochfährst.«
»Das mache ich gerne«, sagte er. »Sag nur Bescheid, wenn du so weit bist, ich komme dann.« Bald saß Kristian alleine am Frühstückstisch. Schnell hatte er aufgeräumt, sodass er sich seine Einkaufsliste vornehmen konnte. Das Wichtigste schienen ihm haltbare Lebensmittel zu sein. Wenn er Hanna besuchte, musste doch etwas Essbares im Hause sein.
Er fuhr in die Stadt. Hier hatte er mehr Auswahl, wie in seinem Dorf. Schnell war der Einkaufswagen voll. Zum Schluss noch zwei Dosenöffner und zwei zusammensteckbare Bundeswehrbestecke. In zwei Seesäcke hatte er alles verstaut. Im normalen Einkaufszentrum holte er noch duftende Seife, Butter, Zucker wie versprochen, Salz und einige Gewürze. Vakuumverpackte Hühnersuppen durften nicht fehlen.
Er dachte darüber nach, was passieren würde, wenn nicht Eingeweihte diese Verpackungen im Mittelalter finden würden?
Hannas Haus stand unter Elfenschutz, ungebetene Besucher waren kaum zu erwarten. Trotzdem würde er Hanna bitten, den Abfall aus seiner Zeit zu sammeln, damit er ihn mit zurücknehmen konnte.
Da seine Brötchen das letzte Mal so gut angekommen waren, deckte er sich reichlich damit ein.
Nachdem seine Einkäufe im Auto verstaut waren, ging er nochmals zurück. Ihm fiel ein, dass er Hanna noch eine Freude machen wollte. Er wusste, dass es um die Ecke einen Secondhandshop gab. Es sollte ein Kleid sein, das bis zu ihren Füßen reichte. Schnell war das Richtige gefunden. Es schien eine Art Trachtenkleid aus seiner Gegend zu sein. Zumindest hatte es etliche Borden und Rüschen. An Schuhe wagte er sich nicht ran, da er ihre Größe nicht kannte.
Am späten Nachmittag machte er mit Großvater einen Termin für den nächsten Übergang aus.
Um nicht wieder bei Johannes die Kleider wechseln zu müssen, versuchte er sich den Umständen entsprechend, annähernd anzuziehen. Schwarze Lederhose und Weste schien ihm ein Kompromiss zu sein. Pünktlich fuhr Großvater vor, sie verstauten die Einkäufe, die er in zwei Seesäcke aufgeteilt hatte in den Kofferraum, und ab ging es. Angekommen trugen sie alles den Rest des Weges in den Burghof. Die Sachen um Kristian verteilt, stand er schließlich auf der Stelle, die in eine andere Welt führte. Ein komisches Gefühl hatte er schon, da er nicht wusste, was sein letzter Abgang für einen Wirbel verursacht hatte. Er blickte sich um. Großvater stand abseits und ließ ihn nicht aus den Augen. Sicher wollte er sehen, wie Kristian das Tor öffnete. Zum Glück wusste er nicht, wie einfach die Sache in Wirklichkeit war. Um das Ganze noch ein wenig auf die Spitze zu treiben, winkte Kristian ihm nochmals zu, hob seine Arme über den Kopf. Schon der Gedanke an das sich öffnende Tor brachte ihn ohne Übergang ins Mittelalter zurück. Zum Glück geschah das ohne den geringsten Laut und man erhielt auch keine Bestätigung über den gelungenen Zeitwechsel. Der Stallgeruch der Pferde bestätigte ihm jedoch, wo er war. So weit schien alles in Ordnung zu sein. Vorsichtig hievte er sein Gepäck über die Leiter nach oben. Einen Seesack versteckte er am Ende des Heubodens, ohne zu wissen, ob Johannes überhaupt hier war. Erleichtert vernahm er die Schlafgeräusche, die aus seiner Kammer kamen. Johannes hatte einen festen Schlaf. Um ihn nicht unnötig zu erschrecken, rief er leise seinen Namen. Johannes öffnete seine Augen und horchte ins Dunkle. Kristian stand hinter ihm, weswegen er ihn nicht sah.
»Ich bin's, Kristian«, sagte er.
»Mensch Kristian«, stieß Johannes hervor, sprang aus seinem Bett und fiel ihm um den Hals. Einen so herzlichen Empfang hatte Kristian nicht erwartet.
»Komm setz dich«, sagte er. Da er sich die Frage sparen konnte, ob er Hunger hatte, packte er die Brötchen aus. Nach dem dritten Brötchen war Johannes Hunger gestillt. Dann packte Kristian ihm mehrere Packungen Notration auf sein Bett.
»Hör zu, solange du die Verpackung nicht beschädigst, bleibt der Inhalt frisch. Mach also nicht den Fehler, und schau in jede Verpackung rein und esse nicht alles gleich auf einmal auf. Die leere Verpackung musst du unbedingt vergraben, damit man uns nicht auf die Spur kommt. Johannes, ich konnte mich vorgestern nicht von dir verabschieden, ist noch irgendetwas vorgefallen?«
»Das kann man wohl sagen. Ich habe den jungen Herrn Grafen unten im Stall angetroffen. Er hieb mit seinem Schwert um sich. Als er mich sah, steckte er es ein. Er fragte mich, ob ich etwas Verdächtiges gesehen hätte. Ich sagte nein, obwohl mir klar war, dass nur du etwas damit zu tun haben konntest. Bleich ging er schließlich aus dem Stall und verbot mir, über die Sache zu reden. Er war seitdem nicht mehr hier.«
»Johannes, morgen in der Frühe muss ich nach Hanna, geht das klar?«
»Kein Problem«, sagte er nur.
»Dann schlaf weiter, ich lege mich in eine andere Kammer aufs Ohr.« Nachdem die Ruhe wieder eingekehrt war, war Kristian schnell eingeschlafen. Zur gewohnten Zeit riss ihn das Treiben der Küchenmägde aus dem Schlaf.
Da er wusste, dass Johannes gleich erst sein Essen holen würde, hatte er es mit dem Aufstehen nicht eilig und war schon bald wieder eingeschlafen, bis Johannes ihn weckte.
»Es ist alles vorbereitet«, sagte er. Kristian nahm sich einen Seesack, seinen Rucksack und kletterte nach unten in die Stallgasse. Draußen war alles ruhig. Johannes hatte sich etwas Neues einfallen lassen. Mit Brettern hatte er im Karren einen zweiten Boden geschaffen, auf dem der Mist lag. Er verstaute seine Sachen und sich in den Zwischenraum.
Johannes deckte die Klappe mit Mist ab. Obwohl er sauberes Stroh auf den unteren Boden gestreut hatte, spürte Kristian jede Bodenwelle, über die er fuhr. Gleichzeitig fielen Strohschnitzel von oben herunter in seinen Nacken.
Sie passierten das erste und das zweite Fallgitter. Johannes fuhr ihn so nah wie möglich in die Nähe von Hannas Haus und Kristian war froh, als der Karren endlich anhielt.
Sie verabschiedeten sich, Kristian erinnerte ihn daran, dass er ihn in zwei Tagen wieder abholen sollte. Er sah noch zu, wie Johannes den Wagen wendete und schulterte dann sein Gepäck. Der Weg kam ihm jetzt viel weiter vor und wollte kein Ende nehmen. Die Dosen in seinem Gepäck drückten gegen seine Schulter.
Endlich die Lichtung. Er war froh, als er Hannas Haus erblickte.
Sein Gepäck ließ er zu Boden fallen. Gerade als er an Hannas Tür klopfen wollte, ließ ihn ein Geräusch herumfahren. Außer Hannas Ziege war nichts zu sehen. Sein Gefühl sagte ihm, dass irgendetwas in seiner Nähe vor sich ging. Er konzentrierte sich auf diesen Bereich, der nur ein paar Meter von ihm entfernt war.
Dunkle Schatten tauchten aus dem Nichts auf und formten sich um in kleine Gestalten. Sechs Elfen standen um ihn herum und schauten zu ihm herüber. Als ihnen bewusst wurde, dass er sie sehen konnte, verblassten ihre Umrisse auf einen Schlag und alle waren endgültig unsichtbar oder verschwunden.
Noch eine kurze Zeit blieb Kristian ein wenig verwirrt vor Hannas Haus stehen und starrte zu der Stelle, an der die Elfen sich soeben in Luft aufgelöst hatten. Da sie jedoch nicht wieder auftauchten und auch sonst kein ungewöhnliches Geräusch zu vernehmen war, drehte er sich wieder um und klopfte an Hannas Tür.
Es schien niemand da zu sein.
Er griff nach seinem Seesack, trat ein, und stapelte die Vorräte zu einer Pyramide auf Hannas Tisch. Ab und zu schaute er durchs Fenster, ob die Elfen wieder zurückgekommen waren. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie noch da waren. Er machte sich keine Sorge, da er an Johannes Worte denken musste: „Wer einem Elfen hilft, wird belohnt.“
Kristian ging nach draußen.
Ein leichtes Flackern neben ihm zeigte, dass jemand seine Unsichtbarkeit stabilisieren musste. Vielleicht war er über sein plötzliches Erscheinen auch nur erschrocken.
»Warum versteckt ihr euch, wenn ihr mir etwas zu sagen habt, dann sagt es.« Wie auf ein geheimes Kommando standen sie plötzlich vor ihm. Sechs Männer im grünlichen Filzanzug mit roter Kappe, was ihnen ein militärisches Aussehen gab. Auf ihrer Brust hing ein runder Gegenstand, den Kristian schon von der ersten Kontaktaufnahme her kannte. Ähnlich wie Orden unterschieden sie sich in der Größe und ihrer Farbe. Der Mann neben ihm setzte zum Sprechen an. Klar und deutlich in seiner Sprache sagte er: »Mein König Omi gab mir den Auftrag, dich als seinen Freund und Lebensretter in seinem Reich willkommen zu heißen. Heute Abend wird er mit seinem Gefolge hier erscheinen, um dir persönlich seinen Dank auszusprechen. Die Heilerin Hanna ist ebenfalls eingeladen.« Er verneigte sich und plötzlich war Kristian wieder alleine. Da wird Hanna aber Augen machen dachte er, als er sie auf der Lichtung auftauchen sah. Er winkte in ihre Richtung, und als sie ihn sah, fing sie an zu rennen.
»Hallo Kristian«, sagte sie, als sie bei ihm war.
»Es ist viel passiert in der Zeit, wo du weg warst. Das kleine Volk ist total aus dem Häuschen. Ein Erdenmensch hat den König vor dem sicheren Tod bewahrt. Mehr weiß ich aber auch nicht.«
»Hanna, wieso hast du mir nicht erzählt, dass du von dem Elfenvolk weißt?«
»Ich habe bisher noch keinem von den Elfen erzählt. Ich kenne sie, weil ich ab und zu als Geburtshelferin von ihnen gerufen werde.«
»Erschrecke nicht«, sagte er, »ich hatte vorhin Besuch von den Elfen. Wir beide sind heute zu einer Feier eingeladen, die hier bei dir stattfinden soll. Der König und die Königin werden erscheinen.« Er musste an ihr Kleid denken, welches noch nicht ausgepackt war. Sogleich fing sie an zu jammern.
»Ich hab doch nichts Gescheites anzuziehen. Wieso ist die Feier bei mir, ich verstehe das alles nicht.«
»Komm rein, wir werden es schon früh genug erfahren.« Als sie die Dosenpyramide sah, blickte sie ihn hilflos an.
»Da ist Essen für dich drin. Solange die Dosen geschlossen bleiben, sind sie mindestens zwei Jahre haltbar.«
»Schau«, sagte er, nahm den Dosenöffner, und begann, eine Dose mit Erbsensuppe zu öffnen. Der Deckel war zur Hälfte geöffnet, als sie ihn beiseiteschob und den Deckel anhob. Hannas Augen strahlten, als sie den Duft in sich hineinsog.
»Schnell, mach Feuer«, sagte Kristian, »warm schmeckt die Suppe besser.« Das Herdfeuer war schon vorbereitet. Mit dem Feuerzeug zündete er zum Schrecken Hannas, das Feuer an.
Kristian hatte schon wieder ein schlechtes Gewissen, Hanna ohne Vorwarnung mit der Technik des einundzwanzigsten Jahrhunderts überfallen zu haben. Er hielt ihr das Feuerzeug hin. Um dem Feuerzeug den Mythos der Zauberei zu nehmen, erklärte er ihr die Funktion. Erst scheu, dann aber mit viel Spaß, ließ sie die Flamme immer wieder aufleuchten. Er überließ es ihr.
Schließlich holte sie einen Kupferkessel, den sie an eine Kette über das Feuer aufhängte und die Suppe hinein schüttete. Dem Rucksack entnahm Kristian zwei Nirostaschüsseln und das Besteck. Schnell verbreitete sich der Duft der Suppe im Raum. Mit einer Holzkelle füllte Hanna die Suppe in die Schüsseln. Da er nicht so hungrig war, ließ er sich Zeit. Hanna dagegen hatte ihre Schüssel ruck zuck leer und blickte zum Topf.
»Mach ruhig den Topf leer, ich habe genug«, sagte er, was sie sich nicht zweimal sagen ließ. Der Topf war schließlich leer, Hanna satt und er zufrieden, dass es Hanna geschmeckt hatte. Hanna ging mit dem Geschirr nach draußen und wusch es ab.
»Hanna«, fragte er, als sie wieder beisammensaßen, »hast du schon mal an einem Elfenfest teilgenommen?«
»Ja«, sagte sie. »Deshalb verstehe ich ja auch nicht, wieso sie hier bei mir feiern wollen.«
»Stimmt es, wenn man von ihnen Essen angeboten bekommt und es annimmt, dass man ihnen dann ausgeliefert ist?«
»Da ist was Wahres dran, aber auch nur dann, wenn die Elfen wollen, dass jemand bei ihnen bleibt. Das kommt vor, wenn sie junge Frauen entführen, damit diese ihre Kinder gebären. Kristian, du musst keine Angst haben, dass die Elfen versuchen könnten dich in ihren Bann zu schlagen. Das haben sie bei mir auch noch nie versucht.«
»Hanna, du sagst du hättest für heute Abend nichts anzuziehen. Der König wird sich sicher wundern, wenn du beim Fest kein Kleid anhast.«
»Lass deine Späße, ich behalte mein altes Kleid an.« Kristian fand, dass er Hanna genug gequält hatte, und sagte deshalb, »willst du nicht mal in meinen Rucksack schauen, ich habe eine Überraschung für dich mitgebracht.«
»Für mich?«, fragte sie. Als er nickte, packte sie den Rucksack und schüttete ihn aus. Noch verpackt fiel das Kleid heraus. Sie blickte ihn an.
»Es gehört dir, mach es auf«. Vorsichtig faltete sie das Papier auseinander. Als sie das Kleid sah, schlug sie die Hände vor ihrem Gesicht zusammen und weinte.
»Warum machst du das, ich habe nichts, was ich dir schenken kann.« Er ging zu ihr herüber und nahm sie in den Arm.
»Du musst mir nichts schenken, wenn du dich freust, freue ich mich auch.« Ganz entrückt starrte sie das Kleid an.
»Meinst du nicht, du solltest das Kleid einmal anprobieren?«, fragte er.
Schnell und ohne näher nachzudenken, wechselte sie die Kleider.
Es schien wie für sie gemacht. Der Saum erreichte gerade den Boden.
»Du bist die Schönste im ganzen Land«, sagte er und küsste sie auf den Mund. Sie zog dann ihre Schuhe an und tanzte durch den Raum.
Es wurde langsam dunkel, als draußen ein reges Treiben einsetzte. Ein Blick durch das Fenster ließ Kristian schwebende Tische und Bänke erkennen. Lampions, die wie von Zauberhand plötzlich an Ort und Stelle standen, erhellten schwach die Dunkelheit der einsetzenden Dämmerung. Die Tafel begann sich zu biegen, je mehr Köstlichkeiten, die wie durch Zauberhand erschienen, aufgetischt wurden. Dann geschah eine Weile nichts mehr.
»Ich glaube gleich geht es los«, sagte Kristian. Glöckchengeläute kündeten das Herannahen der königlichen Gesellschaft an. Eine schwebende Sänfte, auf der die Königin und der König thronten, schwebte heran. Der Hofstaat, in bunten Gewändern, schloss sich an. Der König hatte einen grünen Anzug an. Die Königin trug ein langes in gelb gehaltenes Kleid.
Kristian stieß Hanna an, »komm, wir müssen nach draußen den König begrüßen.« Das königliche Gefährt schwebte heran und senkte sich auf den Boden. Hanna als Hausherrin verbeugte sich vor dem Königspaar und hieß es willkommen. Kristian beeilte sich, es ihr gleich zu tun. Damit war dem offiziellen Teil genüge getan. Der König hob die Hand, und sogleich erschallte ein Trompetensolo, das den Beginn des Festes verkündete. Die anfängliche Stille verwandelte sich in ein lebhaftes Treiben vieler königlicher Untertanen. Nachdem von den ersten Köstlichkeiten gekostet wurde, ertönte auf Veranlassung des Königs erneut ein Trompetensignal. Alle erhoben sich.
»Ich möchte mich bei der Hausherrin, unserer Freundin Hanna bedanken«, sagte der König, »dass sie diesem Treffen zugestimmt hat.« „Das stimmt ja wohl so nicht,“ dachte Kristian. »Der eigentliche Anlass dieses Besuches«, fuhr der König fort, »gilt ihrem Besuch.« Hanna schaute Kristian erschrocken an.
»Warum hast du mir nichts gesagt?«, flüsterte Hanna ihm zu, doch er tat, als hätte er es überhört. Der König fuhr fort.
»Sein Name ist Kristian.« Kristian musste daran denken, wie einfach es für die Elfen gewesen sein musste, seinen Namen herauszubekommen.
»Unter Einsatz seines eigenen Lebens hat er mich aus einer tödlichen Gefahr befreit. Wie wir alle wissen, kann man bei den einheimischen Dörflern nicht immer sicher sein, ob sie solch eine Situation nicht dazu benutzt hätten, einen der unseren zu töten. Auch ich schloss anfangs diese Möglichkeit nicht aus. Da der Dank unter gegebenen Umständen nicht möglich war, möchte ich dieses hiermit nachholen. Wir wissen, dass unser Freund Kristian ein Zeitreisender ist. Wir wissen auch um die Umstände, die mit einem Gang durch das Tor verbunden sind. Als Dank für meine Rettung erhält er ein Medaillon, das es ihm ermöglicht, sich unsichtbar zu machen. Weiter könnte es dazu verwendet werden, beim Gang durch das Tor, an eine andere Stelle weitergeleitet zu werden, also direkt nach hier. Sollte sich unser Freund Kristian als würdig erweisen, so kann die Verwendbarkeit des Gerätes erweitert werden.«
Der König kam zu ihm herüber. In der Hand ein Medaillon, deutlich kleiner, wie Kristian es schon kannte. An dem Medaillon war eine dünne Lederschnur befestigt, die er Kristian um den Hals legte. Sie blickten sich in die Augen. Im Gegensatz zur ersten Begegnung war von einer Gefährlichkeit keine Spur mehr zu sehen. Er nahm Kristian zur Seite.
»Mein Freund Kristian, sage Omi zu mir, deine Feinde sind jetzt auch meine Feinde. Wenn du in meinem Reich irgendwelche Probleme hast, gib mir ein Zeichen. Wenn du an dieses Symbol denkst«, er deutete darauf, »denke gleichzeitig an dein Problem. Mit diesem Symbol leitest du die Unsichtbarkeit ein. Gleichzeitig stellst du dir vor, wie dein Körper unsichtbar wird. Mit diesem Symbol kannst du dich an andere Orte begeben, denke nur daran, wo du hin willst.«
»Darf ich es mal ausprobieren«? fragte er.
»Sicher«, antwortete der König. Kristian dachte an das Symbol für die Unsichtbarkeit und stellte sich vor, wie sich sein Körper in nichts auflöste. Er blickte an sich herunter, seine Schuhe und alles andere sah er nicht mehr. Als er ein paar Schritte zur Seite ging, sah er wie der König sich konzentrierte und ihn mit seinen Augen folgte. Das war der Beweis, dass seine Unsichtbarkeit nicht vollständig war. Das gleiche Phänomen hatte er bei der Begegnung mit den sechs Elfen erlebt. Er dachte an das Symbol für einen Ortswechsel und dabei an die Lichtung vor Hannas Haus. Schon stand er in der Lichtung vor Hannas Haus. Von einem Fest keine Spur. Er versetzte sich zurück, und hob die Unsichtbarkeit auf. Der König lächelte ihn an, »du hast schnell gelernt«.
»Hast du das Fest vor ungebetenen Blicken geschützt«? fragte Kristian.«
»Die Gefahr ist zu groß, dass ein Dörfler uns sieht. Sie wissen zwar, dass es uns gibt, aber mehr auch nicht.«
»Wie erkenne ich einen Schutzschirm und wie mache ich ihn für mich durchschaubar?«
»Mit diesem Symbol und deiner Vorstellungskraft«, sagte der König und deutete auf das Symbol.
»Komm, wir gehen zurück«, sagte er, und deutete lächelnd zu den anderen Festteilnehmern. Die Königin war in einem Gespräch mit Hanna vertieft.
Beide blickten auf, als sie sie kommen sahen. Hanna sah betörend aus. Sie hatte dem in Alkohol eingelegtem Obst nicht widerstehen können. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung. So nach und nach lernte Kristian auch die Mitglieder des Königsrates kennen. Diese waren nicht militärisch gekleidet und alle männlich. Ihm fiel ein junger Mann auf, der ihn beobachtete. Sobald dieser merkte, dass Kristian in seine Richtung schaute, blickte er in eine andere Richtung. Kristian wandte sich dem König zu.
»Omi, wer ist der junge Mann dort drüben, ich glaube er möchte mir vorgestellt werden.« Der König blickte in die angegebene Richtung und lachte dann.
»Du hast recht, es war mein Fehler, dass ich es versäumt habe, euch miteinander bekannt zu machen.« Er winkte dem jungen Mann zu, der sogleich auf sie zu kam.
»Darf ich vorstellen, das ist Hera, der Bruder der Königin, meine Frau.« Dieser verbeugte sich leicht und Kristian machte es ihm nach.
»Hera«, sagte der König, »ist ein Rebell und allem Neuen aufgeschlossen.« Hera lächelte Kristian an und fragte ihn: »Wie hast du den Zugang zu uns gefunden?«
»Das war nur ein Zufall, ähnlich wie ihr mit der Vorstellungskraft arbeitet, habe ich das Tor in eure Welt aktiviert. Meine Neugierde hat mich dann hierher gebracht.«
»Das Tor gibt es schon lange, wir wissen nicht, wer es geschaffen hat«, meinte Hera, »ich selbst habe es noch nie benutzt.«
»Wenn du Lust hast, können wir das nächste Mal gemeinsam durch das Tor gehen«? fragte Kristian. Als wenn er noch nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte, zuckte Hera merklich zusammen.
»Du meinst mit in deine Welt«? fragte er und blickte dabei den König an.
»Da du mir jetzt sowieso keine Ruhe mehr lässt, habe ich nichts dagegen«, sagte der König. Hera konnte seine Freude nicht mehr zurückhalten und stieß einen Freudenschrei aus.
»Wann gehen wir«? fragte er.
»Vielleicht in zwei Tagen«, schlug Kristian vor. Die Königin, mit der er noch kein Wort geredet hatte, kam auf ihn zu.
»Kristian, Hera ist ein ungeduldiger Mann, achte auf ihn. Ich hoffe, dass er nach dem Besuch in deiner Welt etwas ruhiger wird.«
Die Feier ging schließlich zu Ende. Der König und sein Gefolge verabschiedeten sich. Kristian und Hanna waren so müde, dass sie sich gleich ins Bett legten und kurz darauf einschliefen.
Am anderen Morgen wachte er zuerst auf, stand auf und schaute durch das Fenster. Nichts deutete auf den gestrigen Abend hin. Er überlegte, was sie zum Frühstück essen sollten. Es gab Dosenbrot, Marmelade, Butter, Kaffee und Tee. Er nahm den Kessel, holte aus dem Bach frisches Wasser und hängte ihn über die Feuerstelle auf. Das Feuer war schnell entfacht, der Tisch gedeckt. Ein Blick zum Bett zeigte ihm, dass Hanna noch schlief. Ein Kuss auf ihren Mund ließ sie aufwachen. Sich die Augen ausreibend, schien sie zu überlegen, wo sie war. Ihre Augen öffneten sich, ihre Blicke trafen sich.
Sie stand auf nahm ihren Eimer und ging zum Bach. Es folgte das Waschritual.
Inzwischen hatte Kristian die Teebeutel in die Becher gehängt und mit heißem Wasser gefüllt. Hanna kam wieder, trocknete sich ab. Erstaunt blickte sie auf den Tisch. Für sie waren das alles unbekannte Dinge.
Mit dem Dosenöffner öffnete er die Dose mit Brot und die Dose mit Butter, entnahm eine Scheibe Brot und verteilte die Butter darauf. Aus der Tube kam noch Marmelade hinzu. Hanna schaute ihm mit großen Augen zu.
»Jetzt du«, sagte er und reichte ihr das Brot. Als sie schließlich den ersten Biss tat, verharrte sie und ließ den Biss auf ihre Zunge zergehen.
»Das ist gut«, sagte sie. Wenn er an Johannes Frühstück dachte, konnte er ihr nur recht geben. Hanna probierte den Tee und fand, dass er bitter schmeckte. Den Zucker hatte Kristian total vergessen. Er stellte ihn auf den Tisch.
»Hier, das ist der Süßstoff, den wir statt Honig verwenden.« Sie steckte ihren Löffel hinein und ließ den Zucker wieder in die Tüte rieseln.
»Du musst einen Löffel voll in deinen Becher tun«, erklärte er, »du wirst sehen, dass der Tee dann besser schmeckt.«
»Du hast recht«, sagte sie, nachdem sie umgerührt und einen Schluck genommen hatte.
»Hanna es geht nicht, dass ich bei dir wohne und es nur ein Bett gibt. Da könnten die Leute auf dumme Gedanken kommen. Es wäre gut, wenn du noch ein zweites Bett machen lässt.«
»Ganz wie du willst, ich muss sowieso heute ins Dorf.«
»Wir könnten ein Stück zusammengehen«, schlug er vor, »ich muss Johannes besuchen.«
»In Ordnung, ich räume nur noch etwas auf.« Ganz in Gedanken ging er nach draußen zum Gatter. Hier hatte er etliche Rundhölzer und Stangen gesehen. Ohne eine Waffe zur Selbstverteidigung wollte er nicht durch die Gegend wandern, auch wenn er jetzt jederzeit verschwinden konnte. Draußen fand er schnell einen passenden Stock aus Eiche von etwa zwei Meter Länge. Mit dem Messer glättete er die Oberfläche.
»Ich bin fertig«, rief Hanna.
»Komm bitte mal her«, sagte er, »ich möchte etwas ausprobieren, gib mir deine Hand.« Kristian dachte an das passende Symbol und versetzte sich an den Rand der Lichtung. Hanna wurde blass, als sie ihr Haus plötzlich so weit unten sah.
»Es klappt«, freute er sich, »komm lass uns gehen.« Nur langsam beruhigte sich Hanna. An der Wegkreuzung trennten sie sich. Hanna schlug den Weg zum Dorf ein. Er folgte den Wagenspuren aufwärts. Schon bald sah er die vorgelagerte Burgmauer, die Zugbrücke war heruntergelassen, das Fallgitter hochgezogen. Er ging auf das Tor zu. Die Mauern waren doch mächtiger, wie er sie in Erinnerung hatte. Die zwei Wachen schauten verblüfft, als er zügig das Tor passieren wollte. Sie hatten Helme auf und trugen ein Kettenhemd. Um die Hüfte einen Ledergürtel, an dem ein Schwert hing.
»Halt stehen bleiben«, rief einer. Kristian blieb stehen, weil er sie nicht verärgern wollte.
»Wohin des Weges«? fragte der Andere.
»Ich will Johannes den Pferdeknecht besuchen.« Die Wachen blickten sich an und überlegten, ob etwas dagegen sprach. Sicher machte seine Kleidung ihnen die Entscheidung auch nicht leichter. Er bemerkte ihre Unentschlossenheit, nahm seinen Rucksack ab und wühlte mit einer Hand nach den Plätzchen. Die andere Hand zu Hilfe nehmend, riss er im Schutz des Rucksacks die Folienverpackung herunter. Dann hielt er der Wache die Plätzchen hin. Langsam kamen diese näher und griffen zu. Nachdem die Riechprobe gut ausgefallen war, verschwand das erste Plätzchen in ihren Mund. Damit beschäftigt, sich die Plätzchen schmecken zu lassen, hatten sie nichts dagegen, als er sich umdrehte und seinen Weg fortsetzte. Die Hälfte des Weges war geschafft, als ihm vier Reiter entgegen kamen. Kristian erkannte den jungen Grafen und seine Schwester. Der dritte Reiter war älter und schien der Vater zu sein.
»Wohin des Weges«? fragte der vierte Reiter. Der junge Graf schaute Kristian aufmerksam an, dieser hielt seinem Blick stand. Er hatte Kristian im Stall gesehen. Entweder war er sich nicht sicher, oder er zweifelte, ob diese Begegnung überhaupt stattgefunden hatte. Der Schwester lächelte Kristian zu und deutete eine Verbeugung an, was sie mit einem Kopfnicken quittierte.
»Ich möchte euren Knecht Johannes besuchen«, erklärte er. Seine ungewohnte Sprechweise schien sie zu verwirren. Der vierte Reiter ritt um Kristian herum.
»Was hast du in deinem Sack«? fragte er.
»Ich wüsste nicht, was euch das angeht«, erwiderte Kristian.
»Du bist ein vorlautes Bürschchen.« Er versuchte, ihn mit seinem Pferd beiseite zu drücken. Kristian blieb nichts anderes übrig, als seinen Stock in die Seite des Pferdes zu stoßen. Nicht darauf vorbereitet, hatte der Mann Mühe, im Sattel zu bleiben, als sein Pferd in die Höhe stieg. Die drei anderen Reiter blickten der Auseinandersetzung interessiert zu.
»Was bildest du dir eigentlich ein«, ließ der Reiter nicht locker, »mach endlich deinen Sack auf.«
»Wenn ihr euch traut, macht ihn doch selber auf.« Unentschlossen blickte der Reiter rüber zu den anderen Reitern. Diese sahen den Zwischenfall als eine schöne Ablenkung an.
»Ja, was ist, nun schaut doch endlich in den Sack,« drängte der Graf den Reiter. Wohl oder übel stieg dieser von seinem Pferd. Kristian rührte sich nicht vom Fleck und grinste den Reiter an. Er kam auf ihn zu, eine Hand am Schwert, das noch in der Scheide steckte. Kristian beobachtend, griff er mit der anderen Hand nach seinen Rucksack.
»Halt, ich werde nicht zulassen, dass ihr euch an meinem Eigentum vergreift.« Ehe der Mann sich versah, schlug Kristian mit seinem Stock zu. Verblüfft schaute der Mann auf seine schmerzende Hand. Sich bewusst, dass Kristian es ernst meinte, zog er sein Schwert. Um sich nicht lächerlich zu machen, wollte er die Sache schnell zu Ende bringen. Durch Stechbewegungen versuchte er, Kristian von seinem Rucksack zu trennen. Kristian war von Anfang an bewusst, auf was er sich einlassen hatte. Er wusste, dass man mit einem Stock durchaus gegen einen Schwertkämpfer bestehen konnte, wusste aber nicht, wie ernst er die Sache hier nehmen sollte. Was der Schwertkämpfer vor ihm nicht wusste, war, dass er sich im Stockkampf auskannte. Mit dem Stock hat man den Vorteil, dass der Gegner nicht wusste, mit welcher Seite zugeschlagen wurde.
Kristian stand immer noch ruhig da.
Mutig geworden, hielt der Kämpfer das Schwert in seine Richtung und griff mit der anderen Hand nach dem Rucksack. Mit voller Wucht schlug Kristian seinen Stock auf seine Schwerthand. Das ging so schnell, dass der Gegner keine Möglichkeit hatte, dieses vorauszusehen. Vor Schreck und Schmerz ließ er das Schwert fallen. Kristian nutzte die Gelegenheit nicht, weiter gegen den Gegner vorzugehen. Es war still um sie. Der Gegner blickte auf sein Schwert, nicht wissend, wie Kristian reagieren würde, wenn er versuchte, es aufzuheben. Kristian senkte den Stock und hielt ihm seine ausgestreckte Hand hin.
»Frieden und Freundschaft«, sagte er, »es lohnt nicht, aus diesem Zwischenfall eine Feindschaft werden zu lassen.« Der Mann überlegte, wie er ohne Gesichtsverlust aus der Sache heraus kam. Schließlich nahm er die Hand an.
»Es ist besser einen Freund zu haben, als einen Feind. Ich bin der Waffenmeister Robert. Ihr könnt natürlich gehen, wohin ihr wollt.«
»Mein Name ist Kristian, ich bin Händler und mit der Heilerin Hanna verwandt.« Er hoffte, damit alle Feindseligkeiten ausgeräumt zu haben. Wieder suchte er in seinen Rucksack und brachte ein Stück wohlriechende Seife ohne Verpackung ans Tageslicht, ging auf des Grafen Tochter zu, und hielt ihr die Seife hin.
»Als Zeichen meiner Bewunderung bitte ich euch, dieses bescheidene Geschenk anzunehmen. Eure Haut wird duften, wenn ihr euch damit wascht.«
Sie nahm die Seife an, roch daran und ließ auch ihren Bruder riechen. »Ich danke euch«, sagte sie. »Es würde uns freuen, wenn wir euch bei nächster Gelegenheit unter besseren Umständen wiedersehen könnten.« Kristian verbeugte sich, schulterte seinen Rucksack und ging der Burg entgegen. Ein Blick zurück zeigte ihm, dass alle, bis auf dem jungen Grafen, ihren Weg fortsetzten. Das Pferd des Grafen hatte sich noch nicht gerührt, er sah zu ihm herüber. Als er keine Anstalten machte den anderen Reitern zu folgen, drehte Kristian sich um und ging weiter.
Die Wachen der Burg standen vor dem offenen Burgtor. Ihnen war das Geplänkel mit dem Waffenmeister nicht entgangen. Als er durch das Tor ging, sagten sie nichts. Kristian öffnete leise die Stalltür. Hinten im Stall war Johannes damit beschäftigt, frisches Stroh zu verteilen. Mit seinem Stock tippte er leicht gegen Johannes Schulter und rief: »Geld oder dein Leben.« Vor Schreck fuhr er zusammen und drehte sich um.
»Mensch Kristian, musst du mich so erschrecken?« Es war ihm anzusehen, dass er sich freute, Kristian zu sehen.
»Wo kommst du her«? fragte er.
»Dort durch die Tür.«
»Du meinst du bist durch das Burgtor gekommen?« Ungläubig schaute er ihn an.
»Ich bin den Weg von Hanna bis hierher gelaufen. Unterwegs habe ich den Grafen getroffen. Mit dem Waffenmeister hatte ich eine kleine Auseinandersetzung.« Johannes blickte ihn mit großen Augen an.
»Du kannst beruhigt sein, der Waffenmeister lebt noch. Ich habe ihnen gesagt, dass ich dich besuche.«
»Kristian«, sagte Johannes, »du machst Sachen.« Inzwischen hatte Kristian ein paar Plätzchen aus seinem Rucksack geholt. Johannes Augen strahlten ihn an.
»Eigentlich bin ich nur hier, um dir zu sagen, dass du mich nicht mehr abholen musst.« Um seiner Frage zuvor zu kommen, sagte er, »ich habe einen anderen Weg gefunden.« Johannes nickte nur, fragte nicht weiter nach.
»Machs gut«, sagte Kristian, verließ den Stall, ging zum Brunnen und schaute hinein. Der Wasserspiegel war gerade noch zu erkennen. Steigeisen führten bis unten. Eine Magd überquerte den Burghof. Als sie ihn sah, blieb sie stehen, rannte dann schnell zur nächsten Tür. Kurze Zeit später schauten mehrere Köpfe durch die Tür. Als er darauf zuging, verschwanden sie wieder.
Dann eben nicht.
Die Wachen am Burgtor schauten ihm entgegen, als er kam, sagten abermals nichts, als er das Tor passierte. Vor ihm lag die vorgelagerte Befestigungsmauer der Vorburg von enormen Ausmaßen. Die Mauer selbst war seiner Meinung nach nicht so hoch wie die eigentliche Burgmauer, sie würde einer Belagerung nicht ewig standhalten. Die Gärten- und Teichanlagen auf der linken Seite, die Ställe und Vorratshäuser auf der rechten Seite.
Alle Häuser waren aus Holz und standen auf gemauerten Potesten, die Dächer mit Holzschindeln gedeckt. Der Pferdestall ist ein lang gestrecktes Gebäude mit Platz für viele Pferde. Knechte waren damit beschäftigt, aus dem seitlich stehendem Futterhaus Stroh auf eine Schubkarre zu laden. Sie unterbrachen ihre Arbeit, als sie ihn sahen. Die Hand zum Gruß erhoben, kam er an der Pferdekoppel vorbei, die bis ans Ende der Mauer reichte. Etliche Fohlen sprangen übermütig herum. Die Wachen am zweiten Tor sahen ihn kommen, sagten nichts, als er das Tor passierte. Er ging zur nächsten Biegung, bis er nicht mehr den Blicken der ihm nachschauenden Wachen ausgesetzt war, machte sich unsichtbar und versetzte sich wieder in den Stall. Dort nahm er den zweiten Seesack und sprang damit direkt vor Hannas Haus. Hanna schrie auf, als Kristian so plötzlich dastand. Sie war gerade damit beschäftigt gewesen, der Ziege frisches Grün vorzuwerfen.
»Ich hab noch ein paar Vorräte mitgebracht«, sagte er, »wo soll ich sie hinstellen?«
»Bring sie in den Keller zu den anderen Sachen.« Der Keller war ein Erdloch mit einer Klappe und Stufen, die hinunter führten. Die Decke war aus Baumstämmen, die Wände und der Fußboden aus Lehm. In Vertiefungen der Seitenwände lag Obst, auf der Erde standen einige hohe Tontöpfe.
»Hanna was ist in den Töpfen?« Hanna kam herunter. Sie nahm den Deckel des ersten Topfes ab. Essiggeruch kam ihm entgegen.
»Hier sind Fische eingelegt, für den Winter.« Der nächste Topf war auch mit Essig aber mit Fleisch gefüllt.
»Komm«, sagte Kristian, »lass uns nach oben gehen. Damit kommst du aber nicht weit«, stellte er fest.
»Du hast Recht, die Bauern stehen in meiner Schuld, ich hole mir dann, was ich brauche.«
Es war jetzt Kaffeezeit.
Kristian entfachte das Feuer und hängte den Kessel mit Wasser auf. Hanna hatte die Vorräte für den täglichen Gebrauch auf ein Regal gestellt. Dort stand auch das Glas mit löslichem Kaffee. Als das Wasser heiß war, füllte er die Becher und gab einen Löffel Kaffee und Zucker hinzu. Hanna hatte ihn die ganze Zeit beobachtet, sicher konnte sie immer noch nicht begreifen, dass sich einiges in ihrem Leben geändert hatte. Aus dem Rucksack holte er Plätzchen. Hanna schien der Kaffee zu schmecken. Sie sagten beide eine Weile nichts, jeder hing seine Gedanken nach.
»Ich werde morgen wieder durch das Tor gehen«, sagte er, »Hera wird mich begleiten.« Sie blickte ihn fragend an, sagte aber nichts.
»Was ist«? fragte er, »möchtest du auch mal mit?« Kristian sah, wie es in ihrem Kopf arbeitete.
»Ist schon gut, du kannst es dir ja noch überlegen.«
Dieses Mal übernahm er den Abwasch. Im Bach säuberte er die Becher. Hanna saß immer noch stumm da, als er zurückkam.
»Ich möchte schon mal mit dir gehen«, sagte sie. Erleichtert, dass sie es ausgesprochen hatte, fiel sie ihm um den Hals.
»Ich werde vorher mit jemand reden müssen«, und er dachte dabei an Jessika. Hanna brauchte Sachen zum Anziehen, um nicht aufzufallen. Das wiederum bedeutete, dass er Jessika einweihen musste.
»Morgen kommt jemand und baut dir dein Bett,« unterbrach Hanna seine Gedanken.
»Dann kannst du gleichzeitig eine Bank für vorne vor dem Haus machen lassen«, schlug er vor. Immer im Haus zu sitzen gefiel ihm gar nicht.
»Ich werde mit dem Mann reden«, versprach Hanna.
»Komm, setz dich zu mir aufs Bett,« sagte er. Hanna kam, er ließ sich aufs Bett fallen und zog sie mit. Sie kuschelte sich in seinen Arm, er strich über ihre Haare. Nach einer Weile merkte er an Hannas Atemzügen, dass sie eingeschlafen war. Irgendwann übermannte auch ihn der Schlaf. Am Abend wurde er wach. Vorsichtig entzog er sich ihr und zog sich aus. Hanna wurde wach und sah, dass es draußen dunkel wurde, und streifte ebenfalls ihr Kleid ab. Kristian nahm den Eimer und ging nach draußen. Als er im Bach stand, gesellte sich Hanna zu ihm. Gemeinsam wuschen sie sich.
»Halt, warte«, rief er, rannte zur Hütte zurück und holte ein Stück Seife aus seinen Rucksack. Schnell war er wieder bei ihr. Das Papier hatte er unterwegs schon abgerissen. Langsam seifte sie ihren Körper ein. Hanna wollte unbedingt das Gleiche mit ihm machen. Er musste daran denken, wie viele unsichtbare Beobachter jetzt vielleicht zuschauten. Sie spülten den Schaum ab und trockneten sich anschließend gegenseitig ab. Hanna roch an ihrem Arm und war über den Duft begeistert. Sie gingen zur Hütte zurück. So wie sie waren, deckten sie sich zu, und ließen sich vom Schlaf in eine andere Welt entführen. Überrascht war Kristian am anderen Morgen Hanna nicht mehr im Bett vorzufinden. Er richtete sich auf und sah, dass das Feuer schon brannte. Hanna hatte den Tisch gedeckt. Sie kam von draußen rein und sah, dass Kristian wach war.
Eine Weile lag dieser noch träumend da und sah ihr zu. Hanna goss Wasser in die Becher und tat jeweils einen Löffel Kaffee und Zucker in die Becher. Er zog sich an, ging nach draußen und wusch sich, dann setzte er sich an den Tisch. Hanna lächelte ihn an. »Ich könnte mich an dieses Frühstück gewöhnen«, meinte sie. Kristian dachte an die vielen Dosen Brot, und dass diese eine Weile reichen würden. Er konnte sie verstehen, wenn er an das Frühstück aus dem Mittelalter dachte. Gerste und Haferbrei war nicht jedermanns Sache.
»Was hast du heute vor«? fragte er.
»Eigentlich nichts«, antwortete sie, »ich muss hierbleiben, weil heute der Zimmermann kommt, um dein Bett zu machen, und vielleicht auch noch die Bank.«
»Ich werde versuchen Hera zu erreichen«, sagte er, wusste aber noch nicht, wie er das anstellen sollte.
Er erinnerte sich an das, was ihm der König gesagt hatte. Das Symbol drücken und an das denken, was man wünscht. Er versuchte es und dachte an Hera. Nichts passierte. Jetzt wusste er auch nicht weiter. Plötzlich klopfte es an der Tür und Hera kam herein.
»Komm, und setz dich«, schlug Kristian vor. Hera setzte sich und blickte ihn fragend an.
»Ich gehe gleich durch das Tor, wenn du willst, nehme ich dich mit, oder weißt du, wie es auf der anderen Seite aussieht?« Hera schüttelte seinen Kopf. »Dann erschrecke nicht, wenn du die Burg siehst, es ist nicht mehr viel davon übrig. Bist du bereit sofort mit mir zu gehen?«
»Natürlich gehe ich mit«, sagte er.
»Hanna wir gehen jetzt.«
»Passt auf euch auf.«
Zu Hera sagte er, »wir machen uns unsichtbar, ich fass dich an, dass Weitere überlass mir.« Hera lächelte. Zum ersten Mal erfolgte der Sprung direkt ohne Umwege durch das Tor. Eigentlich wollte er zu Großvaters Haus, vorher aber Hera zeigen, wie die Burg jetzt aussah. Er blickte sich um. Es waren keine Besucher in der Nähe, als er die Unsichtbarkeit für sie aufhob. Hera war ziemlich geschockt, als er die Burg so sah. Kristian setzte sich, während Hera einen Rundgang machte. Nachdem er alles gesehen hatte, viel war ja nicht mehr da, machten sie sich unsichtbar und sprangen zum Haus von Großvater. Noch unsichtbar waren sie vor dem Gartentor angekommen. Sie hoben die Unsichtbarkeit auf, nachdem sie sicher waren, dass keiner in der Nähe war, und gingen durch das Tor. Der Zigarrengeruch verriet Großvaters Anwesenheit. Er saß auf seine Gartenbank, die Zigarre qualmte im Aschenbecher. Er hatte die Augen geschlossen. »Großvater«, sagte Kristian leise. Erschrocken fuhr er hoch, sah sie entgeistert an. Er wusste, woher sie kamen und sein Blick fiel auf Hera.
»Ha«, ertönte Jessikas Stimme, »hab ich euch bei eurer Geheimniskrämerei erwischt?« Jessika kam hinter dem Bambusstrauch hervor, wie lange mochte sie da schon gelauert haben? Hera, über das plötzliche Auftauchen von Jessika erschrocken, sah nur einen Weg, er machte sich unsichtbar. Das wiederum ließ Jessika und Großvater erbleichen.
»Du hast meinen Freund erschreckt«, sagte Kristian vorwurfsvoll.
»Wo ist dein Freund jetzt«? fragte Jessika.
»Er steht direkt hinter dir.«
Schreiend sprang sie zur Seite. Zu Hera gewand sagte Kristian, »es ist alles in Ordnung.« Daraufhin wurde Hera sichtbar.
»Darf ich vorstellen, das ist Hera, der Bruder der Königin vom Volk der Elfen.« Zu Großvater gewand, »das ist Großvater und seine Enkelin Jessika.« Beide staunten nicht schlecht.
»Ich wusste, dass ihr ein Geheimnis habt«, frohlockte Jessika. »Wenn du hier hoch und heilig versprichst, dieses Geheimnis zu wahren, werden wir dich einweihen«, versprach Kristian.
»Ich verspreche es«, sagte Jessika feierlich.
»Du verstehst doch Spaß«? fragte er sie.
»Ja, warum fragst du?«
»Hera wird dir zeigen, wie mächtig er ist, erschrecke deshalb nicht.« Jessika ahnte plötzlich, dass der Spaß ihr gelten sollte.
»Hera wird dich auf den Turm tragen.« Kristian nickte Hera zu. Plötzlich verschwanden beide und Jessikas Schreie kamen aus der Richtung des Turms. Sie sprangen auf und gingen zum Ende des Gartens, um von hier aus einen Blick zum Turm werfen zu können. Oben auf dem Turm stand Jessika, sie schrie und winkte.
»Es reicht,« sagte Kristian zu Hera, der wieder neben ihm stand. Plötzlich stand Jessika wieder bei ihnen. Mit zitternder Stimme fragte sie »kannst du das auch«? Er nickte.
»Wo lernt man das, ich möchte das auch können?«
»Das ist eine lange Geschichte«, hielt er sie hin.
»Erzähl sie mir,« ließ sie nicht locker.
»Wenn du Kaffee und Kuchen für uns hast, können wir darüber reden.« Jessika war nicht mehr zu bremsen.
»Kommt, wir gehen ins Haus.« Maria die Köchin war einkaufen gefahren, hatte aber vorher Kuchen gebacken. Jessika stellte den Kuchen auf den Tisch und machte Kaffee. Bald saßen sie zusammen, Jessika blickte sie erwartungsvoll an. In aller Ruhe aß Kristian seinen Kuchen. Auch Hera schien der Kuchen zu schmecken. In Kurzfassung erzählte er von dem Tor und die Rettung des Elfenkönigs. Von Hanna erzählte er nur das Nötigste und sagte ihr, dass sie älter ist, was Jessika zu beruhigen schien. Unter seinem Hemd zog er das Medaillon hervor. Hera hatte sich derweil still und heimlich verdrückt und streifte durchs Haus. Jessika starrte das Medaillon an, sich vorstellend, was sie damit alles machen könnte. Währenddessen dachte Kristian an ein Symbol und verschwand vor allen Augen. Jessika aus ihren Träumereien gerissen, schrie auf. Kristian stellte sich hinter Großvater und legte ihm seine Hände auf die Schulter, sodass er auch vor den Augen Jessikas verschwand. Jessika wurde es unheimlich. Sie überlegte, ob sie aus dem Zimmer rennen sollte. Kristian ließ Großvater los, sodass er wieder sichtbar wurde. Jessika war erleichtert, als Kristian ebenfalls wieder zu sehen war.
»Wenn du lange Kleider hast, die du nicht mehr anziehst«, wandte er sich an Jessika, »dann würde Hanna sich darüber freuen.«
»Ich habe so etwas nicht, aber von der letzten Theateraufführung liegen noch Kleider hier.« Da Kristian diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen wollte, ließ er sich den Weg erklären. Unterwegs traf er auf Hera.
»Wie findest du es hier«? fragte er ihn.
»Äußerst lehrreich«, antwortete er und ging weiter. Kristian fand die Kleider. Mehrere kamen infrage. Drei Stück suchte er aus. Wieder bei Jessika, sagte er, »falls du für die anderen Kleider keine Verwendung mehr hast, dann sage mir Bescheid.«
Großvater war eingeschlafen und Kristian fragte sich, was dieser überhaupt mitbekommen hatte. Jessika blickte ihn an.
»Kristian, wenn du durch das Tor darfst, darf ich es dann auch?«
»Das Gleiche hat mich dein Großvater auch gefragt. Du könntest schon, aber das Leben im Mittelalter ist rau. Ich könnte nicht für deine Sicherheit garantieren.«
»Schade, ich hätte dich gerne einmal begleitet. Wenn ich dich schon nicht begleiten darf, warum machst du nicht ein paar Fotos?« Er hatte selber schon daran gedacht, sagte ihr das aber nicht.
»Ich habe eine Digitalkamera«, schlug Jessika vor.
»Ich bestimme, was mit den Fotos geschieht«, wand er ein, »wenn diese in die falschen Hände gelangen, ist der Teufel los. Also gut, gib mir die Kamera.« Jessika ging und holte sie.
»Ist der Accu voll?« Sie nickte. Kristian rief nach Hera. Dieser kam und drängte Kristian zur Seite.
»Wissen die Menschen hier, dass es einen geheimen Gang gibt, der zur Burg führt?«
»Nein, dass wissen sie nicht«, sagte Kristian und rief nach Großvater. Erschrocken fuhr dieser hoch.
»Hera hat einen Geheimgang entdeckt.«
»Was für einen Geheimgang?« Auch Jessika war ganz aufgeregt. Sie folgten Hera in die große Halle.
»Der Kamin«? rief Kristian.
Hera schüttelte den Kopf.
»Nun sag schon.«
Die Holzvertäfelung reichte bis zur Decke. Hera ging auf sie zu, drückte gegen eine Leiste. Es klickte und ein Teil der Vertäfelung sprang krächzend nach vorne auf. Wie eine Tür ließ sie sich öffnen. Muffige Luft schlug ihnen entgegen, als Hera die Tür ganz aufzog. Ein gemauerter Gang führte nach unten. »Wir brauchen Taschenlampen, wenn wir den Gang erkundigen wollen.« Jessika starrte abwesend in den Gang.
»Jessika«, rief Kristian, erschrocken fuhr sie hoch. »Wir brauchen Taschenlampen.«
»Schrei mich nicht noch mal so an, ich hätte einen Herzschlag bekommen können.« Sie lief los, und kam mit zwei Taschenlampen wieder. »Das muss reichen, zur Sicherheit können wir noch ein paar Kerzen mitnehmen.«
Jessika ging noch mal los und brachte Kerzen und Streichhölzer mit. Hera ging als Erster, dann Kristian, den Schluss bildeten Jessika und Großvater. Dieser hatte Probleme, ihnen in gebückter Haltung zu folgen. Kristian blickte zurück. »Großvater, meinst du nicht, es wäre besser, wenn einer den Eingang bewacht?« Schneller als erwartet stimmte er zu und ging zurück. Sie gingen weiter. Der gemauerte Gang endete nach ca. dreihundert Meter. Der weiterführende Gang war aus massivem Felsgestein, an einigen Stellen behauen. Ansonsten schien er natürlichen Ursprungs zu sein. Sie folgten dem Gang. Nach weiteren einhundert Metern mündete er in eine große Felsenhalle. Halle deswegen, weil Teile der Decke herunter gefallen waren. Mit gemischten Gefühlen stiegen wir über das Geröll hinweg und folgten weiter dem Weg. Hera war wie ein Fährtenhund und bestimmte das Tempo. Kristian sah, dass Jessika fror, und beschloss deshalb, die Erkundung abzubrechen. Ihm war es recht, da ihm die Feuchte und Kälte auch zusetzte. Sie gingen zurück, Hera wieder an der Spitze.
»Na, habt ihr was gefunden«? rief Großvater ihnen entgegen.
»Nein, wir haben die Erkundung abgebrochen.« Großvater fragte nicht weiter nach. Hera schloss die Geheimtür. Befreites aufatmen überall, denn es tat gut, der feuchten Kälte entronnen zu sein. In der Küche setzten sie sich wieder zusammen. »Die Erkundung des Ganges verschieben wir erst einmal«, schlug Kristian vor. Seltsamerweise schien keiner etwas dagegen zu haben.
»Ich werde Hera mit zu mir nehmen, und mich auf jeden Fall wieder bei euch melden. Erschreckt gleich nicht, wenn wir plötzlich verschwunden sind.«
Mit Hannas Kleidern in der Hand, kamen sie bei Kristian an. Hera blickte sich neugierig um.
»Hier wohnst du«, stellte er fest. Kristian nickte und zeigte ihm seinen Garten. Ein rotbackiger Apfel erweckte sein Interesse. Er nahm den Apfel in die Hand und blickte Kristian an. Dieser nahm auch einen Apfel vom Boden auf, putzte ihn ab und biss hinein. Hera machte es ihm nach. Kristian musste lachen, als nach kurzer Zeit von seinem Apfel nur noch der Kern übrig war.
»Warum liegen die Äpfel auf der Erde«? fragte Hera.
»Ich weis nicht, was ich damit machen soll.«
»Meinst du damit, wenn ich wollte, könnte ich die Äpfel mitnehmen?«
»Sicher.« Sie beließen es dabei.
»Was hältst du davon, wenn wir an einen Ort gehen, wo viele Menschen eng beieinander wohnen?« Hera nickte.
An die Wortkargheit von Hera gewöhnt, fasste Kristian dies als Zustimmung auf. Sie konnten jetzt den einfachen Weg gehen und dort hinspringen, wohin sie wollten, aber Kristian wollte, dass Hera etwas mehr zu sehen bekam. Sie setzten sich deshalb ins Auto und fuhren los. Hera schien das Autofahren zu gefallen. Ansonsten konnte man seinem Gesicht nicht entnehmen, wie er darüber dachte. Kristian hatte den Verdacht, dass Hera im Stillen über ihn und ihre Technik lachte. Wenn er an die Möglichkeiten des Medaillons dachte, würden sie auf ein Auto nicht angewiesen sein. Sie fuhren los, ihr Dorf lag schon eine Weile hinter ihnen, als die ersten Häuser der Vorstadt sichtbar wurden. Die Hochhäuser flößten Hera doch Respekt ein. Vor dem nächsten Kaufhaus stellten sie das Auto ab. Kristian wollte noch verschiedene Sachen einkaufen, wie Kaffeetassen, Teller, Besteck, Hand und Trockentücher und Schmierseife zum Waschen der Wäsche.
Er drehte sich um. Hera hatte sich wie gewohnt aufgemacht, sein Umfeld zu erkundigen. Nach einer Stunde suchen, hatte Kristian ihn in dem mehrstöckigen Warenhaus endlich wieder gefunden. Sich keiner Schuld bewusst, blickte Hera ihn an.
»Was hättest du gemacht, wenn ich dich nicht gefunden hätte«? fragte Kristian.
»Das, was du Medaillon nennst, ist mit anderen Medaillons verbunden. Ich wäre einfach zum nächsten Medaillon gesprungen.« »Und warum sagt mir das keiner«? fragte Kristian sauer, »ich hätte mich in das Kaffee gesetzt und dort auf dich gewartet.«
»Du weist noch vieles nicht«, meinte Hera.
Sie packten die Einkaufstüten in den Wagen und gingen zu Fuß in die City. Es war ungewohnt, die vielen Blicke zu spüren, die man ihnen, speziell Hera zuwarf. Mit seiner Größe musste er einfach die Blicke auf sich ziehen. Von Weitem sah Kristian Ärger auf sie zukommen in Form von Springerstiefel tragende Jugendliche. Zu verschwinden war nicht mehr möglich, denn man hatten sie bereits als willkommene Opfer anvisiert. Zu Hera sagte er deshalb, »die da vorne auf uns zukommen, wollen uns ärgern, also halte dich hinter mir.«
Schon kamen sie heran.
»Wen haben wir denn da, einen zu kurz Geratenen.«
Kristian wollte schon eingreifen als Hera ihn zur Seite schob. Er zeigte auf eine Straßenbeleuchtung. Automatisch schauten alle dort hin.
»He Zwerg, willst du uns verarschen?« Ehe sie wussten, wie es geschah, erhob sich vor den Augen aller ein Mann aus der Gruppe in die Höhe. Er hatte den Boden unter seinen Füßen verloren und strampelte mit seinen Füßen in der Luft. Hera war es nicht anzusehen, dass dieses von ihm ausging, er stand ganz ruhig da. Die jungen Männer wussten deshalb nicht, wem sie diese unglaublichen Dinge anlasten sollten. Der Mann schwebte schreiend und trampelnd weiter, bis er sich sitzend auf der Straßenbeleuchtung wiederfand, wo er sich krampfhaft festhielt. Verblüfftes Staunen auf allen Gesichtern.
»Holt mich hier runter«, schrie er.
Einfach herunter springen konnte er nicht, dafür war die Höhe zu groß. Unsicher geworden, blickten die Springerstiefelträger sich nach einem Schuldigen um. Kristian wollte dieses Durcheinander nutzen, um sich zu verdrücken. Er sah, dass Hera von einem gepackt wurde. Entweder hatte der Mann vorhin nicht alles mitbekommen, oder er wollte nicht wahrhaben, was geschehen war. Ehe er sich versah, schwebte er zwei Meter über den Boden, alle viere von sich gestreckt. Hera ließ ihn aus der Höhe fallen, um ihn zehn Zentimeter über dem Boden wieder abzufangen. Diese Nutzung des Medaillons war Kristian noch nicht bekannt, er wollte Hera nachher fragen, wie er das gemacht hat. Erschrecktes Aufschreien auf Seiten der Springerstiefelträger. Passanten blieben stehen. Hera spielte sein Spiel weiter und ließ den Schwebenden wie einen Gummiball auf und ab und im Kreis um seine Kameraden schweben. Schon lange hatten die Anderen begriffen, dass sie ein Spielball unsichtbarer Mächte geworden waren. Am liebsten wären sie weggerannt, wollten aber ihre Freunde nicht im Stich lassen. Hera ließ den schwebenden Mann zu Boden gleiten. Diesen Augenblick, indem sich alle um diesen Mann kümmerten, nutzten sie, um zu verschwinden. Der Mann auf der Straßenbeleuchtung sollte sehen, wie er runter kam. Sie gingen die Einkaufsstraße entlang. Sirenengeheul in ihrer Nähe ließ nichts Gutes erahnen. Zuschauer drängten an eine Absperrung. Alle blickten nach oben. Auf dem Ausleger eines Baukrans hockte eine junge Frau. Die Feuerwehr hatte ein Sprungtuch gespannt. Kristian blickte zu Hera und wusste nicht, ob dieser verstand, was sich hier abspielte. Er sagte deshalb zu ihm: »Die Frau will ihr Leben wegwerfen.«
Die Menge schrie auf. Die junge Frau war aufgestanden. Kristian wollte nicht länger warten. Selbst wenn die Frau in das Sprungtuch sprang, würden Verletzungen nicht ausbleiben, da die Höhe einfach zu groß war. Unsichtbar sprang er zu ihr auf den Ausleger. Noch hatte die Frau nicht mitbekommen, dass er bei ihr war. Sie erschrak, als er zu ihr sprach. »Erschrecke nicht, ich möchte dir helfen. Wenn du dort herunterspringst, wirst du dir eine Menge Knochen brechen, aber nicht tot sein.«
»Ich habe Angst, ich kann nicht zurück«, jammerte sie. Vielleicht dachte sie, dass sie mit ihrem Schutzengel sprach, da sie ihn nicht sah.
»Ich helfe dir«, sagte er. »Habe keine Angst, wenn du langsam herunterschwebst. Eins musst du mir vorher versprechen, dass du nicht noch einmal versuchst, dir dein Leben zu nehmen, es gibt für alles einen Ausweg.«
»Ich verspreche es«, sagte sie schluchzend.
Damit sie nicht unsichtbar wurde, wenn er sie berührte, musste er seine Vorstellung dahin gehend ändern, sich die Unsichtbarkeit nur für sich vorstellen. Er berührte die Frau, und langsam schwebten sie nach unten. Kristian wusste, dass dieses für einige Aufregung sorgen würde. Neben dem Sprungtuch stellte er sie ab. »Leb wohl«, sagte er.
Es war total still. Unbegreifliches war geschehen.
»Was ist dort oben passiert«? fragte man die Frau.
»Mein Engel hat mich heruntergetragen.«
Dieses trug natürlich nicht zu Klärung bei, da wie jeder wusste, es natürlich keine Engel gab, oder doch? Weiteren Fragen entzogen, wurde die Frau in den Krankenwagen gebracht. Hera stand noch an der gleichen Stelle. Kristian stellte sich sichtbar werdend zu ihm.
»Willst du noch was sehen«? fragte er ihn, »sonst gehen wir zu mir nach Hause zurück.«
»Ich habe genug gesehen«, meinte er.
Unterwegs kaufte er ihr Abendessen ein. Zu Hause angekommen deckte er den Tisch. Brötchen, Milch, Käse und Schinken. Kristian wusste nicht, was Hera sonst aß. Jedenfalls aß er mit gutem Appetit.
»Hera«, fragte er, »warum sieht man so wenig von eurem Königreich.« Hera blickte Kristian an.
»Wir leben nicht wirklich in eure Welt, sondern in eine Welt, die parallel zu der euren verläuft. Die Meisten von uns leben dort.«
»Und wie kommt ihr von der einen in die andere Welt?«
»Ganz einfach, du hast es selbst schon mal gemacht, indem du dich von einem Ort zum anderen versetzt.«
»Du meinst, jeder der ein Medaillon besitzt, kann mit der Vorstellungskraft die Welten wechseln, also auch ich?«
»Du noch nicht, da du noch nicht in unsere Welt warst und du sie dir deshalb nicht vorstellen kannst.«
»Nimmst du mich einmal mit in deine Welt«? fragte er? «
»Da müsste ich vorher den König um Erlaubnis fragen.«
»Hanna war schon in eure Welt«? fragte Kristian.
»Ja«, bestätigte er. »Unser Volk besteht aus vielen Stämmen in anderen Ländern, die wir regelmäßig besuchen.«
»Beim letzten Fest mir zu Ehren, war die Festtafel mit Köstlichkeiten reichlich gedeckt. Das heißt also, ihr habt diese aus anderen Ländern herbeigeholt?«
»So ist es«, sagte er. »Wir leben auf einer Ebene mit den Menschen, da lässt es sich nicht vermeiden, dass wir uns gelegentlich begegnen. Kristian schaltete den regionalen Fernsehsender ein. Nach den Nachrichten berichtete der Sender über Vorkommnisse aus ihrem Bereich. Der Sprecher sagte: »Etwas Unglaubliches scheint passiert zu sein, und das an zwei Stellen. Vor den Augen der Schaulustigen schwebte eine junge Frau, die sich das Leben nehmen wollte, von dem Ausleger eines Baukrans langsam nach unten. Sofort befragt, sagte die Frau, dass ihr Schutzengel sie heruntergetragen hätte. Bei dem anderen Fall nicht weit von diesem Geschehen entfernt, legten Skinheads ein seltsames Verhalten an den Tag. Wie verlautet, hat eine unsichtbare Kraft einen von ihnen auf einen Beleuchtungsmast schweben lassen. Ein Zweiter soll auch ein Spielball dieser unheimlichen Macht geworden sein. Aufgefallen ist bei diesem Zwischenfall ein kleiner Mann, der leider nicht mehr auffindbar war.«
Das reichte, Kristian machte den Fernseher aus. Für heute haben wir ein wenig zu viel Aufmerksamkeit erregt. Lass uns schlafen gehen.«
Hera legte sich in Kristians Bett, während Kristian versuchte, es sich auf dem Sofa gemütlich zu machen.
Es war schon acht Uhr am anderen Morgen, als er aufwachte. Alles war ruhig. Hera schien noch zu schlafen. Kristian machte Frühstück und wollte Hera wecken, als dieser von draußen hereinkam.
»Schon lange wach«? fragte Kristian.
»Ich hab mich ein wenig umgesehen.«
»Komm, setz dich an den Tisch und lass es dir schmecken.« Als zum Schluss noch Brötchen übrig waren, schmierte und belegte Kristian sie, und legte sie in die Tüte zurück. Zusammen mit seinen Einkäufen und Hannas Kleider, kam alles in seinen Rucksack. Sie gingen nach draußen, er schloss ab. Hera hätte alleine nach Hanna gefunden, Kristian wollte aber, dass sie zusammen gingen. »Alles bereit«? fragte er.
»Warte,« sagte Hera und zauberte einen vollen Sack Äpfel herbei. Kristian blickte ihn fragend an.
»Darin sind Äpfel, die keiner will«, sagte er. Woher er den leeren Kartoffelsack hatte, war ihm ein Rätsel. Kristian berührte Hera, und in einem Rutsch ging es nach Hanna. Langsam wurde es zu einer Routine. Hanna saß draußen auf der neuen Bank, als sie ankamen, und erschrak. »Ich gehe«, sagte Hera, nahm seinen Sack und verschwand.
»Hast du schon gegessen«? fragte Kristian Hanna. Sie schüttelte den Kopf. Sie kochte Tee und aß mit Genuss die Brötchen. Während dessen packte er seinen Rucksack weiter aus. Die Hand und Trockentücher gefielen ihr.
»Das ist Seife, mit der du deine Wäsche waschen kannst. Hier sind noch Tassen, Teller und das Besteck. Du wirst sehen, der Kaffee und Tee wird aus den Tassen noch mal so gut schmecken.«
Vorsichtig bestaunte sie das Porzellan. Zum Schluss packte er die Kleider aus. Hanna hörte auf zu kauen, als sie sah, was er da auspackte. Sie sprang auf. »Ein Kleid schöner als das Andere«, rief sie, und fiel ihm um den Hals.
Sie suchte sich eins aus und wechselte sofort die Kleider. Wehrend sie die restlichen Kleider zusammenpackte und in die Truhe legte, fragte er sie, »wie hältst du es im Winter hier eigentlich warm?«
Er dachte an die Fensteröffnungen und das Loch in der Decke. »Ich verbringe viel Zeit im Bett, um mich warm zuhalten.«
So etwas Ähnliches hatte er sich schon gedacht. Das nächste Mal musste er einen Zollstock zum Ausmessen der Fenster mitbringen. Erst hatte er vorgehabt, ihr einen Kamin zu mauern, als ihm einfiel, dass er als er in seinem Haus eingezogen war, dort ein Kanonenofen gestanden hatte. Er hatte ihn ebenso wie die Kaminrohre, hinten in den Anbau gestellt. Seine Idee ließ ihn nicht mehr los und er beschloss, die Sachen sofort zu holen. Vorher wollte er das Innere der Hütte als Dokumentation mit der Kamera festhalten, ebenso die Hütte von außen und ein Rundblick von der Lichtung aus. Danach konnte er daran denken, die Sachen von sich zu holen.
Ein Gedanke und er war zu Hause. Als Erstes steckte er sich einen Zollstock ein, für den Wanddurchbruch brauchte er noch Hammer und Meißel. Einen Topf und eine Pfanne musste er auch mitnehmen, da Hanna bestimmt so etwas nicht hatte. Im Anbau standen der Ofen und die Rohre. Er platzierte sie um sich und sprang damit nach Hanna. Diese war erstaunt, weil er schon wieder da war. Kristian stellte den Ofen an die Rückwand. Mit Hammer und Meißel schlug er ein Loch in die Wand. Wegen der Strahlungswärme durfte der Ofen nicht zu nah an der Wand stehen, da sonst das Reisiggeflecht in der Wand zu brennen anfing. Er steckte die Rohre zusammen. Mit Lehm, den er aus dem Keller holte, schmierte er das Loch um das Ofenrohr zu. Schließlich holte er Brennholz und machte den Ofen an. Die Flamme brannte sauber und schon bald strahlte der Ofen eine wohlige Wärme aus. Hanna sah seinem Treiben ungläubig zu.
»Wir könnten das Loch im Dach jetzt schließen«, schlug er vor. »Du musst nur jemand kommen lassen, der das Dach richtig dicht macht, du kannst ihm dafür eine Dose Suppe geben.«
Als Nächstes musste er die Fensteröffnungen ausmessen.
»Was hältst du davon, wenn ich die alte Feuerstelle abreiße«? fragte er. Sie nickte nur. Es dauerte nicht lange und die alte Feuerstelle lag hinter der Hütte. Die unebenen Stellen am Boden schlug er weg, verputzte die Flächen mit Lehm und strich sie mit seinen Händen glatt. Der Raum wirkte jetzt viel größer. Mit der Kamera hielt er diese Veränderung fest. Hanna wusste nicht, was es bedeutete, als er die Kamera auf sie richtete.
Da Kristian sonst nichts vorhatte, wollte er auch die Burg und das Haus von Jessika mit der Kamera festhalten. Kristian fragte Hanna, ob sie ihm den Weg zu diesem Haus mit Turm beschreiben könnte. Sie brauchte nicht lange zu überlegen.
»Das ist das Haus des Burgvogts Ludwig, er züchtet neben der Arbeit für den Grafen Pferde. Der Graf ist sein bester Kunde. Du gehst bis zu Kreuzung, die zur Burg führt. Dann folgst du einfach dem Weg, der nach unten führt. Irgendwann siehst du das Haus auf der linken Seite liegen.«
Hanna war damit beschäftigt sich mit den Veränderungen anzufreunden, als er sich verabschiedete. Kristian nahm seinen Stock und versteckte sein Medaillon unter seinem Hemd. An der Kreuzung hielt er sich links. Der Weg kam ihm bekannt vor, nur dass rechts und links jetzt Wald war. Ein Schrei ließ ihn aufhorchen. Dann völlige Stille, nur das Rauschen des Waldes war zu hören. Der Schrei war aus dem Wald gekommen. In diese Richtung gehend, achtete er darauf, möglichst leise aufzutreten. Wie ein anschleichender Fuchs vermied er es, auf trockene Äste zu treten.
Dann hörte er Stimmen. Vorsichtig ging er weiter. Zwei Männer saßen auf dem Boden. Sie sahen abgerissen aus. Ihre Bündel lagen bei ihnen. Als Waffen konnte Kristian nur zwei lange Messer ausmachen, die an ihren Gürteln befestigt waren.
»Wir müssen weiter in den Wald«, hörte er einen sagen.
»Was ist, wenn sie das Töchterlein jetzt schon vermissen?« Töchterlein fragte Kristian sich? Die Sicht war durch den Baum, hinter dem er stand, eingeschränkt. Er sah auf dem Boden die Tochter des Grafen liegen. Sie war gefesselt, der Mund war mit einem Tuch verschlossen.
»Du weist was sie mit uns machen, wenn sie uns erwischen?«
»Mach dir keine Sorge«, sagte der Andere.
»Wie willst du die Lösegeldforderung überbringen«? fragte der Ängstliche.
»Wir haben ihr Pferd, es wird die Botschaft direkt zum Grafen bringen.«
»Ich habe gar nicht gewusst, dass du schreiben kannst?«
»Kann ich auch nicht, die Botschaft habe ich mir im Wirtshaus schreiben lassen.«
»Bist du verrückt, was ist, wenn sie uns schon suchen?«
»Hör endlich auf zu jammern, in der Botschaft steht nur der Name Töchterlein. Außerdem habe ich dem Schreiber mein letztes Geld gegeben.«
Kristian blickte sich weiter um. Ihr Pferd stand etwas abseits. Die Gelegenheit war günstig. Er nahm die Kamera und filmte das Geschehen. Irgendwann hatte er sich zu weit vorgewagt. Im Display sah er, dass beide Männer in seine Richtung blickten. Erschrocken setzte Kristian die Kamera ab und hatte gerade noch Zeit, sie in den Rucksack zu werfen. Die Beiden waren ebenso erschrocken. Der Ängstliche wollte das Weite suchen, wurde von dem Anderen aber festgehalten.
»Warum rennst du weg, er ist allein und hat nur einen Stock.«
Er schupste den Ängstlichen in Kristians Richtung. Dieser sprang zur Seite, sodass die Tochter des Grafen hinter ihm lag. Der Ängstliche kam, sein Messer vor sich haltend, langsam auf Kristian zu. Als er in Reichweite von Kristians Stock war, machte Kristian eine Drehung und traf ihn am Kopf. Überrascht ging der Mann sofort zu Boden. Der Andere blieb stehen und schien zu überlegen. Dann machte er einen Satz zu seinem Bündel, rannte in die Richtung des Pferdes, sprang in den Sattel und galoppierte bald darauf davon. Kristian hatte keine Lust hinterher zu rennen, sondern kümmerte sich um die Entführte. Er legte seinen Stock zur Seite und kniete sich neben sie. Als Erstes befreite er sie von dem dreckigen Tuch um ihren Mund. Erleichtert über ihre Befreiung, fing sie an zu weinen. Bald waren die anderen Fesseln entfernt.
»Könnt ihr aufstehen«? fragte Kristian. Sie nickte und versuchte aufzustehen, knickte aber sofort wieder um. Kristian kniete sich wieder hin, zog ihr die Schuhe aus, um ihre eingeschlafenen Füße zu massieren. Verwundert sah sie ihm dabei zu. Vorsichtig massierte er erst ihre Fußsohlen dann die Zehen. Das anfängliche Sträuben legte sich, sie ließ sich nach hinten fallen. Dann der andere Fuß. Die Füße mussten schon lange ausgeschlafen haben, aber sie rührte sich nicht. Also tat er ihr den Gefallen und massierte die Füße weiter. Alles Schöne hat mal ein Ende. Er zog ihr die Schuhe wieder an, und half ihr beim Aufstehen.
»Könnt ihr laufen, oder soll ich Hilfe holen?«
»Wir könnten zum Burgvogt gehen, der wohnt nicht weit«, meinte sie. Gemeinsam gingen sie bis zum Weg. Dann ließ er sie los. »Ich heiße Isabel«, sagte sie.
»Meinen Namen kennt ihr ja«, sagte er. Schweigend gingen sie den Weg hinunter, bis zu einer Abzweigung. Sie folgten der linken Abzweigung. Nach ca. dreihundert Meter hörte der Wald auf. Kristian blickte auf eine hohe Mauer, hinter der das Haus von Jessika sein musste.
»Da vorne ist das Tor«, unterbrach Isabel seine Gedanken.
Das Tor war nicht so mächtig wie das auf der Burg, aber trotzdem aus dicken Bohlen gefertigt. In einem Seitenflügel war eine kleine Tür eingelassen, die mit Eisenplatten beschlagen war. Beides, Tor und Tür waren geschlossen. Ein Klopfer hing neben der kleinen Tür. Für Isabel war dieses nicht neu. Sie nahm ihn und schlug damit gegen die Tür. Die Schläge waren nicht sehr laut, reichten aber aus, damit man auf sie aufmerksam wurde. Nach einer Weile fragte eine Stimme von oben über die Mauer blickend, was sie wollten.
»Hier ist Isabel die Tochter des Grafen, wir möchten zum Vogt.« Die kleine Tür öffnete sich, sie gingen hindurch. Das Haus lag vor ihm. Es waren vielleicht dreißig Meter bis zum Haus. Hinter dem Haus schien die Mauer nur wenige Meter am Haus vorbei zu verlaufen. Ein hölzerner Wehrgang führte an der ganzen Mauer entlang. Wachen waren nicht zu sehen. Auf der rechten Seite, auf dem gleichen Fundament wie bei Jessika, stand ein Stall. Er war ganz aus Holz. Hinter dem Stall, an der Mauer, stand der Turm. Eine überdachte Holztreppe führte zum Eingang des Turms in vielleicht vier Meter Höhe. Dort, wo bei Jessika eine Gartenanlage ist, war hier ein großer Platz mit einem Brunnen. Isabel ging voraus, sodass sie nicht sah, wie er mit der Kamera eine Rundumaufnahme machte. Die Haustür öffnete sich, der Burgvogt Ludwig erschien. Mit ausgestreckter Hand ging er Isabel entgegen.
»Isabel, ihr seid zu Fuß«, stellte er verwundert fest und warf einen Blick in Kristians Richtung.
»Ich bin überfallen worden, Kristian hat mich befreit.«
»Kommt erst mal herein.« Der Eingang, die Treppe und die Tür waren Kristian vertraut. In der Eingangshalle schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Alles war so wie bei Jessika. Unbewusst ging sein Blick zur Wand mit der Geheimtür. Ludwig führte sie in den Raum, den Kristian als Küche kannte. Ein offener Kamin bedeckte fasst die ganze linke Seite. Ein großer Tisch steht in der Mitte. Einige Wandteppiche verzieren die Wände. Zwei leere Fensteröffnungen mit außen angebrachten Holzläden ließen Licht in den Raum.
»Setzt euch, ich hole etwas zu trinken.« Isabel setzte sich.
Er nutzte die Gelegenheit, Aufnahmen mit der Kamera zu machen. Ludwig kam wieder, hinter ihm eine Frau, die ein Tablett mit Gläser und eine Karaffe mit Wein trug. Sie füllte die Gläser. Dann zog sie sich zurück. »Auf eure Rettung und Dank dem Retter.« Sie hoben die Gläser und prosteten sich zu.
»Eure Tat verdient eine Belohnung«, sagte Ludwig. »Sagt mir, was ihr euch wünscht?«
»Wenn ich mir ab und zu ein Pferd aus eurem Stall ausleihen darf, ist mir dass Belohnung genug.«
»Ihr seid zu bescheiden«, sagte Ludwig, »wenn das aber euer Wunsch ist, so sei er erfüllt. Wir gehen nachher zu den Ställen.«
»Ihr habt eine schöne Halle«, sagte Kristian, »darf ich sie mir einmal ansehen?«
»Fühlt euch wie zu Hause«, erwiderte er.
Kristian hatte schon eine Weile beobachtet, wie verliebt Ludwig Isabel anschaute. Diesem war es nur recht, wenn er mit Isabell alleine sein konnte.
Kristian ging in die Halle, vor sich die Kamera. Ihn zog es zum Geheimgang. Die Vertäfelung schien die Gleiche zu sein. Er zog an der Leiste, es machte Klick und ein Teil der Vertäfelung ließ sich aufziehen. Es hatte auch hier schon lange keiner mehr den Gang benutzt. Spinnengewebe versperrten den Eingang. Er machte Aufnahmen und drückte die Tür dann wieder zu. Isabel und Ludwig lagen sich in den Armen, als er zurückkam.
»Wann ist die Hochzeit«? fragte er.
Erschreckt fuhren sie auseinander. Beiden war es sichtlich unangenehm, dass er ihr Geheimnis kannte.
»Ihr habt nichts zu befürchten, euer Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
»Wir danken euch«, sagte Ludwig erleichtert.
»Lasst uns nach draußen gehen, ich zeige euch den Stall.«
Isabel und Kristian gingen hinter ihm her. Ganz so verlassen, wie er anfangs dachte, war es hier nicht. Knechte eilten umher. Der Stall schien größer zu sein wie in seine Zeit. Sie gingen in den Stall. »Hier vorne stehen meine Zuchthengste. Falls ihr ein Pferd ausleihen wollt, nehmt eines von hier hinten«, sagte er und zeigte dabei in den hinteren Stall.
Ein Pferd fiel sofort auf. Ein kleiner Kopf und feurige Augen. Es hatte eindeutig arabisches Blut in sich.
»Was ist, wenn ich mir dieses aussuchen würde«? fragte er.
»Ihr habt einen guten Geschmack«, meinte Ludwig, »ihr könnt es nehmen.«
»Und wenn ich sofort ausreiten möchte?« Ludwig hob die Hand. Ein Stallknecht kam angelaufen.
»Sattele das Pferd.« An den Sattel würde er sich erst gewöhnen müssen. Das Pferd wurde aus dem Stall geführt. Kristian stellte seinen Stock in eine Ecke und schwang sich in den Sattel. Leicht tänzelnd bewegte sich das Pferd unter ihm, er sah, wie Ludwig ihn beobachtete. Einen Runterschmiss konnte er sich jetzt nicht leisten. Er ließ das Pferd ein paar Runden um den Brunnen laufen, bis es sich an ihn gewöhnt hatte, und machte ein Zeichen zum Tor. Ludwig verstand und gab den Befehl, das Tor zu öffnen. Kristian winkte zurück, als er durch das Tor ritt. Das Pferd tänzelte, als er es den Weg zurückführte, den sie gekommen waren. Man merkte, dass das Pferd lange keinen Auslauf gehabt hatte. Trab schien nicht sein Ding zu sein, erst im Galopp war er in seinem Element. Übermütig schmiss er seine Hinterbeine hoch, er hatte Mühe im Sattel zu bleiben und lenkte es auf den Weg zur Burg. Die Kamera vor seine Brust haltend, ab und zu ein Blick auf das Display werfend, ritt er durchs Erste, dann durchs zweite Tor.
Die Wachen schauten erstaunt, als sie ihn sahen. Als er durch das Burgtor ritt, erkannte er sogleich die Hektik, die hier herrschte. Alle Augen waren auf ein Pferd gerichtet, es schien Isabels Pferd zu sein. Anscheinend hatte sich der Räuber nicht lange im Sattel halten können. Das Pferd war ohne ihn nach Hause gelaufen. Das Fell dampfte. Der Graf und sein Sohn sahen Kristian kommen.
»Das Pferd von meiner Tochter Isabel ist alleine zurückgekommen«, sagte der Graf. »Wir wollen losreiten und sie suchen.«
»Die Mühe könnt ihr euch sparen, sie ist bei Ludwig, ich komme gerade von dort, jemand hat versucht, eure Tochter zu entführen. Es ist alles gut.«
»Sattelt unsere Pferde«, rief der Graf.« Johannes stand vor dem Stall und beeilte sich die Pferde zu satteln.
»Du wirst immer besser«, meinte er, nachdem die Grafen losgeritten waren. »Jetzt hast du schon ein Pferd.«
»Ich will es dir sagen, ich war es der Isabel gerettet hat.« »Dann muss ich wohl stolz auf dich sein«? fragte Johannes.
»Nein, musst du nicht, nur durch dich war es mir möglich, dieses zu tun. Wie du siehst, war es auch dein Verdienst.«
Sichtlich beeindruckt fiel Johannes dazu nichts ein.
»Ich muss weiter«, verabschiedete Kristian sich, »bis zum nächsten Mal.« Er ritt um den Brunnen, dann über den Hof zum Tor hinaus. Ein kurzer Galopp, er passierte das letzte Tor, und er schaltete die Kamera aus. Wieder auf dem Weg ließ er sein Pferd nach Hanna laufen. An der Lichtung angekommen, zügelte er das Pferd. Langsam ritt er Hannas Haus entgegen. Geräusche von Pferdehufen nicht gewohnt, kam Hanna vor die Tür. Sie staunte nicht schlecht, als sie ihn erkannte.
»Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt«? fragte sie. »Nicht viel, ich habe nur Isabel aus den Händen böser Räuber befreit.«
»Ja, ja schon gut«, sagte sie. Er merkte, dass sie ihm nicht glaubte. »Das Pferd habe ich mir vom Vogt ausgeliehen. Ich reite zurück und komme dann wieder.«
Im Galopp ging es zurück. Er ritt durch das offene Tor, es war keiner zu sehen. Die Pferde vom Grafen standen angebunden vor dem Stall. Er ritt hinüber. Der Stallknecht nahm ihm das Pferd ab. Er hatte keine Lust ins Haus zu gehen, nahm seinen Stock und ging stattdessen durchs Tor hinaus. Von hier aus versetzte er sich direkt nach Hanna.
»Schon zurück«? staunte Hanna.
»Ich mach Kaffee«, bot er an, holte Brennholz von draußen und machte den Ofen an.
Das Brennholz würde im Winter nicht lange halten. Ihm fiel ein, dass der Graf in seiner Schuld stand. Mit Brennholz für Hanna konnte er sich bedanken. Das Wasser kochte bald, er schüttete es in die Tassen auf das Kaffeepulver.
»Oder willst du lieber, dass ich eine Dose aufmache«? fragte er.
»Dass können wir heute Abend machen«, meinte Hanna.
Kristian holte Brot, Butter und Marmelade. Ihr Essen wurde gestört durch das Geklapper von Pferdehufen. Der junge Graf stand vor der Tür. »Kommt herein«, sagte Hanna. Er sah sofort die Veränderung in diesem Raum. Die typische Feuerstelle fehlte, dafür stand eine runde Feuerstelle an der Wand. Er konnte sehen, dass darin Feuer brannte.
»Setzt euch und trinkt einen Kaffee mit uns«, sagte Kristian und machte seinen Platz frei. Der junge Graf setzte sich und schaute auf die geschmierten Brote vor sich auf dem Tisch. Vorsichtig nahm er ein Brot. Währenddessen holte Hanna eine Tasse und machte für den Grafen neuen Kaffee.
»Ihr müsst hiervon in euren Kaffee tun«, sagte Kristian und zeigte auf den Zucker. Mechanisch tat er auch das. Hanna nahm den Löffel und rührte den Kaffee um. Sie nickte dem Grafen aufmunternd zu und führte ihre Tasse an den Mund. Der Graf machte es ihr nach und ließ den Geschmack auf seine Zunge zergehen.
»Ein seltsamer Geschmack«, sagte er, »aber nicht schlecht.«
Dann nahm er das Brot und biss hinein.
»Euer Essen ist neu für mich, aber gut. Wenn ihr erlaubt, komme ich gerne noch mal wieder. Ich bin gekommen um euch Kristian, und natürlich auch euch Hanna, zur Rettung meiner Schwester für heute Abend einzuladen. Wir schicken einen Wagen.« Danach trank er einen letzten Schluck Kaffee. Den Rest seines Brotes in den Mund schiebend, schaute er Hanna zu, die sich beeilte ein neues Brot zu schmieren und ihm hinschob.
»Danke«, sagte er, und nahm es.
»Kristian, ihr seid uns ein Rätsel. Seitdem ihr aufgetaucht seid, hat sich einiges verändert«, dabei blickte er durch das Zimmer. Auf das zweite Bett blieb sein Blick hängen.
»Ich bin nur ein Händler«, tat Kristian bescheiden. »Bei mir bekommt ihr Sachen, die ihr woanders nicht bekommt. Meine Handelswege führen durch mehrere Länder.«
»Wo habt ihr Johannes kennengelernt«? fragte er unerwartet. »Das war vor der Burg, als er mit seinem Karren unterwegs war.«
Die Begegnung im Stall machte ihm also noch zu schaffen. Er hatte ihn erkannt, konnte sich sein plötzliches Verschwinden aber nicht erklären. Der Graf stand auf.
»Wenn ihr heute Abend kommt, würdet ihr von dem schwarzen Getränk etwas mitbringen, damit auch mein Vater es kennenlernt?«
»Wir werden es mitbringen«, versprach Kristian. Er nickte, ging nach draußen, stieg auf sein Pferd und ritt zurück.
»Wenn das so weiter geht, müssen wir noch einen Balken zum Anbinden der Pferde aufstellen«, sagte Kristian.
»Der Graf kommt bestimmt wieder.«
Sie waren wieder alleine, ihnen gefiel die Ruhe.
»Freust du dich auf heute Abend«? fragte er.
»Ja sicher, es gibt gutes Essen und ich kann mein neues Kleid vorführen. Ich werde zum Bach gehen und mich mit deiner duftenden Seife waschen.«
Plötzlich hatte Kristian eine Idee. Warum gab er Hanna nicht die Möglichkeit, sich in duftendes warmes Wasser zu waschen,
und dachte dabei an seine Badewanne.