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Hinführung
ОглавлениеSeit einigen Jahren halte ich regelmäßig Seminare zum Thema »Streiten lernen«. Die Teilnehmenden berichten zu Anfang fast immer: Einerseits empfinden sie Streit und Konflikte als unangenehm: in der Alltagssprache ist »Streit« oft gleichbedeutend mit »Zank« und »Zwietracht«. Wer streitet, scheint den Kontakt und die Begegnung zu stören. Im Arbeitsfeld schwächt Streit unter Kollegen und mit dem Vorgesetzten die Effizienz von Arbeitszusammenhängen. Im privaten Leben kann er Freundschaften und Liebesbeziehungen extrem belasten. Andererseits kann ein »richtiger Streit« aber auch wie ein reinigendes Gewitter wirken. Streit – verstanden als das offene Austragen einer Meinungsverschiedenheit zwischen zwei oder mehreren Personen oder Gruppierungen – muss eben nicht immer und nicht notwendigerweise feindselig sein.
Man kann darüber spekulieren, ob es im Himmel keinen Streit mehr geben wird. Aber seit der Vertreibung aus dem Paradies ist mit dem Menschsein mitgegeben, dass Streiten unvermeidbar ist. Wir Menschen sind zugleich einmalig und unterschiedlich. Selbst wenn zwei Menschen die gleiche Auffassung in der Sache teilen, kann der eine sich so ungeschickt verhalten, dass er eine Gegenposition regelrecht provoziert.
Wenn ich mit anderen streite, kann das sogar Ausdruck meiner Achtung und meines Respekts dem anderen gegenüber sein. Er oder sie ist mir so wichtig, dass ich mit ihm streite und ihn damit ernst nehme und nicht einfach den Kontakt abbreche oder ihn nicht beachte. Streit unter uns Menschen entsteht ja nicht deshalb, weil wir meistens lieblos, bösartig oder egoistisch wären. Sondern: Jeder Mensch ist einmalig und wir alle sind verschieden; und wir wollen unterschiedliche Dinge, wenn wir zusammen leben und arbeiten.
In einer bestimmten Situation kommt hinzu, dass verschiedene Menschen denselben Sachverhalt oft völlig verschieden wahrnehmen. Fragen Sie fünf Zeugen eines Verkehrsunfalls, und Sie werden sechs verschiedene Varianten zu hören bekommen. Vermutlich werden Ihnen die meisten Zeugen auch gleich Erklärungen mitliefern, wer schuld ist und wer was falsch gemacht hat! Das liegt nicht daran, dass vier der fünf Zeugen lügen oder Hellseher sind. Vielmehr sind unsere Wahrnehmungen unterschiedlich und wir interpretieren und bewerten unsere Wahrnehmungen nochmals auf verschiedene Weisen. Und das hängt noch einmal von der Tagesform ab!
Sage ich zu meinem Gegenüber: »Dein freches Lachen gefällt mir nicht«, dann bewerte ich sogar gleich doppelt: Erstens qualifiziere ich sein Lachen als frech, und zweitens mache ich eine Aussage über unser Verhältnis zueinander. Wenn wir dann unsere Wahrnehmungen gegenüberstellen und unsere Interpretationen und Bewertungen abgleichen, ist es unvermeidlich, dass wir darüber streiten.
Wie gelingt es uns aber, miteinander so zu streiten, dass wir die destruktiven Seiten des Streitens möglichst begrenzen und die konstruktiven entfalten? Wie geht das in einer Freundschaft, Partnerschaft oder Arbeitsbeziehung und auch bei Konflikten, die durch das eigene Herz gehen?
Die Lektüre dieses Buches wird Ihnen die persönliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen nicht ersparen können. Aber sie kann vielleicht ein wenig dazu beitragen, dem eigenen Streitverhalten auf die Spur zu kommen. Und sie kann ermutigen, Streiten und Auseinandersetzungen als etwas Positives zu sehen, das uns bereichert und zu mehr »Leben in Fülle« führt – was ja nicht nur den Christenmenschen verheißen ist (vgl. Joh 10,10).
Danke sage ich allen Menschen, die mit mir in den letzten Jahren konstruktiv gestritten haben und von denen ich einiges über eigene Empfindlichkeiten und blinde Flecken und ihre Aufhellung gelernt habe. Besonders danke ich Andreas Franz, Constanze Janert, Jeannine Lenker und Renate Waldschütz-Leich für viele gute Gespräche und für ihre fruchtbare und wohlwollende Kritik am Buchmanuskript.
Leipzig, im Sommer 2012
Hermann Kügler SJ