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1. Wie ist mein vorrangiges Streitverhalten?
ОглавлениеStreit kostet Zeit und Kraft und stört die Harmonie des Miteinanders. Vielleicht haben Sie schon selbst erfahren, dass Freundschaften nach einer heftigen Auseinandersetzung zerbrochen sind. Man hat sich nichts mehr zu sagen und geht sich nur noch aus dem Weg. In der Arbeitswelt beklagen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Mobbing am Arbeitsplatz, also Psychoterror mit dem Ziel, jemanden aus dem Betrieb hinauszuekeln. Ständig und wiederholt wird jemand gequält und schikaniert, indem Falsches über ihn verbreitet oder er andauernd kritisiert oder sozial isoliert wird und sich nicht dagegen wehren kann.
Gleiches passiert in der Jugendarbeit oder im Sportverein und auch in den Kirchen und Pfarrgemeinden. Von heute auf morgen werfen langjährige ehrenamtliche Mitarbeiten »den Bettel hin«, weil sie den dauernden Zank und Streit nicht mehr ertragen wollen oder können. Das ist die destruktive Seite von Auseinandersetzungen.
Anderseits wirkt ein richtiger Streit wie ein reinigendes Gewitter, wenn geklärt werden kann, was schon lange in der Luft lag. Eine Liebesbeziehung gewinnt dann an Tiefe und Intensität. In der Arbeitswelt steigt die Produktivität und beim ehrenamtlichen Engagement die Motivation. Das ist die konstruktive Seite von Auseinandersetzungen.
Meine Erfahrung und Überzeugung ist, dass Konflikte zwischen Menschen und folglich Auseinandersetzungen und Streit nicht nur unvermeidbar, sondern notwendig sind. Ziel ist deshalb, beim Streiten die destruktiven Seiten zu begrenzen und die konstruktiven zu entfalten. Leider ist das einfacher gesagt als getan. Wenn heftige Emotionen ins Spiel kommen – was beim Streiten meist der Fall ist –, dann geraten die Sach- und die Beziehungsebene schnell durcheinander.
Damit mache ich eine zunächst theoretische Unterscheidung, die sich in der Praxis als nützlich erwiesen hat. In einem Fadenkreuz kann man sich das so verdeutlichen: Auf der Sachebene bringt sich der eine mit seinem Anliegen aktiv beim Streiten ein; der andere bleibt in der Sache völlig passiv. Auf der Beziehungsebene wird dem einen daran gelegen sein, die Beziehung auch beim Streiten wertzuschätzen und positiv zu gestalten; dem anderen ist es völlig egal, wenn die Beziehung beim Streiten Schaden nimmt.
Untersuchungen haben gezeigt,1 dass es letztlich fünf Konfliktstile gibt: Wir können forcieren, ausweichen, zudecken, einen Kompromiss eingehen oder konfrontieren.
Wer einen Konflikt forciert, der will ihn um jeden Preis gewinnen. Ihm geht es um die »Sache«, die Beziehungsebene ist ihm mehr oder weniger gleichgültig. Was der andere fühlt und erlebt, ist ihm egal. Er will den Streit gewinnen, auch wenn das die Beziehung schädigt. Man kann sich leicht vorstellen, dass dieser Stil bei Beziehungsklärungen nicht sehr erfolgreich ist. Der »Ausweichler« geht dem Konflikt aus dem Weg. Er spricht weder die Sach- noch die Beziehungsebene an. Er »hält sich raus« und verlässt möglichst schnell den Kampfplatz. Die Entscheidungen treffen dann die anderen. Weder in der Sache noch auf der Beziehungsebene trägt der Ausweichler zu einer Lösung bei.
Der »Zudecker« versucht, eine freundschaftlich-harmonische Atmosphäre auf der Beziehungsebene zu erhalten. Auf der Sachebene wird er nicht aktiv und trägt auch nichts dazu bei, dass man in der Sache weiterkommt. Im ersten Augenblick mag es ganz erfreulich sein, wenn jemand nicht gleich »losballert«, sondern erst mal die Beziehung positiv gestaltet. Aber wer ausweicht oder zudeckt, streitet eigentlich gar nicht, sondern entzieht sich dem Konflikt.
Für viele Menschen scheint die Suche nach einem Kompromiss der beste Weg zu sein. Beide Seiten stecken ein wenig zurück. Man versucht auf der Sachwie auf der Beziehungsebene zu einer Verabredung zu kommen, mit der beide leben können. Aber hier liegt auch die Grenze. Weil die Streitparteien weder sachlich noch gefühlsmäßig voll auf ihre Kosten kommen, ist die Gefahr groß, dass der Konflikt bei der nächsten Gelegenheit wieder aufflammt und der erreichte Kompromiss kein guter ist, sondern sich als faul erweist.
So bleibt als fünfter Stil und Königsweg die Konfrontation. Das Wort heißt eigentlich: »von Angesicht zu Angesicht«, oder auch: »von Stirn zu Stirn«. Konfrontieren bedeutet, jemandem die Stirn zu bieten und ein Problem so offen und klar wie möglich anzusprechen, dabei die eigenen Gefühle mitzuteilen und die des Gegenübers zu akzeptieren. Wenn ich einen anderen konfrontiere, mache ich ihn auf Aspekte seines Verhaltens aufmerksam, die er selber nicht sieht. Ich teile ihm mit, was sein Verhalten bei mir auslöst. Dieser Konfliktstil ist der wirksamste. Die Wahrheit liegt eben nicht immer in der Mitte.
Jeder dieser Konfliktstile hat seine Vor- und Nachteile; und manche Verhaltensweisen sind in bestimmten Situationen nicht wirklich angebracht. Bei einer parlamentarischen Debatte wird es vermutlich nicht klug sein, wenn der Versammlungsleiter auffordert, dass zu Beginn der Aussprache die Beteiligten erst einmal ihre Gefühle offenlegen. »Ich bin hierhergekommen, um Politik zu machen, nicht um an einem Selbsterfahrungskurs teilzunehmen«, ist darauf die angemessene Reaktion. Auch zu Beginn einer Gerichtsverhandlung wird der vorsitzende Richter die Konfliktparteien kaum auffordern, zunächst die jeweilige Befindlichkeit mit Fingerfarben auf einem Plakat auszudrücken.
Ein anderes Beispiel: Eine Gruppe von fünf katholischen Ordensfrauen plante ein gemeinsames Wohn- und Lebensprojekt in einem sozialen Brennpunkt einer europäischen Großstadt. Die beteiligten Ordensschwestern waren von Beruf fast alle Sozialarbeiterinnen. Für die Startphase des gemeinsamen Lebens und Arbeitens hatten sie mich gebeten, sie als Supervisor zu begleiten. Kurze Zeit nach Projektbeginn kam die lebenspraktische Frage auf, ob es dann und wann zum Abendessen eher Exportbier oder Pils zu trinken geben solle. Die Meinungen darüber waren geteilt und die Diskussion lang und heftig. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Gruppe merkte: Es geht gar nicht um Export oder Pils, sondern um darunterliegende Fragen. Wer hat wem etwas zu sagen? Wie kommt man zu Entscheidungen? Wer setzt sich durch und behauptet sich in der Gruppe und wer muss zurückstecken und machen, was die anderen wollen? Soll man einen Kompromiss schließen?
Auch wenn alle fünf Modelle ihre Vor- und Nachteile haben, ist doch das Konfrontationsmodell langfristig das nachhaltigste und hat die höchste Effizienz. Bei dieser Form zu streiten erfassen die Beteiligten auf der Sachebene die Fakten und Gegebenheiten so genau wie möglich. Sie entwickeln eine möglichst klare Sicht, was verhandelt werden kann und was als gegeben hingenommen werden muss. Was kann gleich gelöst werden und was erst in einiger Zeit? In welcher Reihenfolge sind also die Probleme anzugehen, damit man nicht den zweiten Schritt vor dem ersten macht? Zugleich werten sie ihr Gegenüber nicht nur nicht ab, sondern gestalten so weit wie möglich eine wertschätzende Atmosphäre mit. Die Beteiligten wollen nicht in erster Linie über den Streitpartner den Sieg erringen, sondern suchen miteinander nach einer für alle Seiten tragfähigen Lösung. Sie wissen, dass es gute Gründe geben kann für ein Ergebnis, das mehr ist als ein Kompromiss zwischen auseinanderstrebenden Interessen. Vielleicht gibt es ja nicht nur die Wahl zwischen A und B, sondern auch noch weitere Möglichkeiten.
So zu streiten, setzt voraus, dass alle Beteiligten die Fähigkeit und den Willen haben, sich aktiv in der Sache und auf der Beziehungsebene zu beteiligen. Dabei kann es helfen, sich zu fragen
– in der Sache: Um was genau geht es? Worum geht es vordergründig, worum tatsächlich? Gibt es Unterthemen oder »geheime Themen« hinter dem, was vordergründig genannt wird? Was führte zum Konflikt? Welche Einflüsse gibt es von außen?
– auf der Beziehungsebene: Wer ist direkt beteiligt? Gibt es Abhängigkeiten, Verflechtungen – privat oder halb privat? Wie bin ich betroffen? Wie erlebe ich mich in diesem Konflikt? Was ist mein Anteil und mein Anliegen und was ist Anteil und Anliegen des oder der anderen? Was möchte ich ändern und welche Zielvorstellungen habe ich? Welche Schritte sind möglich in Richtung einer Lösung? Was will ich selber dazu beitragen?
Solch aktives Involviert-Sein sowohl in der Sache als auch in der Beziehung wird den meisten Menschen vermutlich nicht auf Anhieb gelingen und lässt sich auch nicht einfach mit einem Willensbeschluss erreichen. Kein Mensch ist in allen Streit-Situationen integer wie Mutter Teresa, klug wie Marc Aurel und durchsetzungsfähig wie ein Bulldozer. Sich an einem solchen Ideal messen zu wollen ist gänzlich unrealistisch.
Wie findet man ein halbwegs realistisches Selbstbild über eigene Möglichkeiten und Grenzen? Die ignatianische Spiritualität und insbesondere die Spiritualität der Exerzitien kann dazu eine Hilfe sein. Ignatius von Loyola selbst war ein kämpferischer Mensch.2 Als baskischer Adliger war er in einem entsprechenden Milieu groß geworden. Ehre und Ruhm – vor allem durch Turniere u.Ä. – waren seine Lebensziele, als er jung war.
Die Wende brachte eine Kriegsverletzung. Durch den Todeskampf hindurch, durch die Lektüre des »Lebens Jesu« und der Lebensbeschreibung der kirchlichen Heiligen änderten sich langsam für Ignatius das Kampfziel und die Kampfweise. Er wurde – so schreibt er selber – wie ein blinder Schüler in die Schule Gottes genommen, als er noch keine Ahnung hatte, was »Demut, Liebe und Geduld« seien. Seinen Degen hängte er in einem Marienheiligtum auf.
Zeit seines Lebens hatte er Mühen und Kämpfe zu bestehen. Neunmal war er von der Inquisition angeklagt. Auf schwierigen Reisen zu Schiff und durch viele Kampfgebiete hindurch, als Spion verdächtigt, verhaftet und in Ketten gelegt, geriet er oft in Todesgefahr. Er kämpfte um seine soziale Position, um die Zuneigung von Frauen, um sein Selbstbild, um Gesundheit, um einen gnädigen Gott, gegen Selbstmordgedanken, um kirchliche Anerkennung, um Gewinnung von Gefährten und vor allem um und für Menschen und deren »Heil«.
Dabei beherrschte er die Kunst des konstruktiven Streitens und der Konfrontation in hohem Maße. Den Orden, den er gründete, sah er in der Nachfolge des »kämpfenden Jesus«. Seine Mitbrüder schickte er dorthin, wo die Lage in Kirche und Welt besonders schwierig und herausfordernd war. Für ihre Aufgaben und Aufträge sind sie vorbereitet durch die Erfahrungen der Exerzitien.
Zugleich ist Ignatius sehr realistisch, wenn es darum geht, sich und andere nicht zu überfordern. Schmerzliche Erfahrungen haben ihn gelehrt, die eigenen Grenzen zu respektieren und mit sich selbst und anderen barmherzig umzugehen. Von niemandem soll etwas verlangt werden, was über die eigene Fassenskraft geht. Er respektiert die Einmaligkeit und Einzigartigkeit eines jeden Menschen und ist überzeugt davon: »Es gibt keinen größeren Fehler in den geistlichen Dingen, als die anderen nach sich selbst leiten zu wollen.«
Deswegen geht es in der Anfangsphase eines spirituellen Weges um eine realistische Sicht eigener Möglichkeiten und Grenzen, eigener Verletzungen und Hindernisse. Ignatius ist überzeugt: Solange sich jemand mit den Verletzungen des eigenen Lebens nicht ausgesöhnt und seine zwischenmenschlichen Beziehungen nicht geklärt hat, soll er sich nicht mit Überlegungen befassen, ob er »unter dem Banner des Kreuzes Christus nachfolgen will«.