Читать книгу Neuer Mut zur Zärtlichkeit - Hermann Kügler - Страница 7
Eine Problemanzeige
ОглавлениеNähe schenken und Freiräume gewähren: das ist eine Grundspannung in jeder Beziehung. Wie man sie gut und menschenfreundlich leben und gestalten kann, ist Thema dieses Buches. Eine besondere Herausforderung liegt darin, dass nach den Missbrauchsfällen in der deutschen Kirche in den vergangenen Jahren viele Menschen fundamental verunsichert sind. Engagierte Gemeindemitglieder fragen sich, ob sie ihre Kinder überhaupt noch in kirchliche Schulen und Internate schicken oder Priestern in der Kinder- und Jugendarbeit anvertrauen können.
Priestern und kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geht es ebenso: Können sie Schutzbefohlenen noch unbefangen begegnen? Dürfen sie Kindern und Jugendlichen gegenüber Nähe und Zuwendung körperlich ausdrücken? Dürfen sie Kinder trösten, wenn sie weinen, sie auf den Schoß oder in den Arm nehmen, wenn sie traurig sind? In der Kirche herrscht mittlerweile eine »Null-Toleranz-Politik«:1 Berührungen, Streicheln, erst recht Zärtlichkeiten sind absolut tabu; und man darf mit Kindern und Schutzbefohlenen nicht mehr allein in einem Zimmer sein.
Aber geht mit solch rigiden Regelungen nicht auch viel Wertvolles verloren? Ein Pfarrer ist unsicher, wie er sich im Kommunionunterricht den Kindern gegenüber verhalten soll. Der Unterricht findet in einem Raum mit einer Glastür statt, so dass er von außen eingesehen werden kann. Der Pfarrer möchte unter allen Umständen vermeiden, dass er in eine missverständliche Situation geraten und verdächtigt werden könnte, Grenzen zu überschreiten.
In einem Kurs für Berufsanfänger im kirchlichen Dienst berichtet ein junger Kaplan, er getraue sich nicht mehr, mit Kindern und Jugendlichen ins Zeltlager zu fahren oder eine Sommerfahrt zu machen, weil er sich nicht dem Verdacht aussetzen wolle, sich unangemessen zu verhalten.
Ähnliche Verunsicherungen bestehen für Kleriker auch bei der Gestaltung persönlicher freundschaftlicher Beziehungen: Was geht und was geht nicht? Was passt und was ist unschicklich? In dem Buch »Unheilige Macht«, in dem es um einen Zwischenbericht zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Jesuitenorden geht, haben wir Herausgeber einen Briefwechsel zwischen einem Jesuiten und einer guten Freundin abgedruckt.2 Wir haben lange miteinander darum gerungen, ob wir diesen Briefwechsel überhaupt – und in welcher Weise – publizieren. Einerseits wollten wir ihn als ein authentisches Lebenszeugnis veröffentlichen, anderseits war es uns ganz wichtig, dass nicht der falsche Eindruck entsteht: Hier lebt ein nicht mehr ganz junger Jesuit ein Doppelleben unter dem Deckmantel der Frömmigkeit und der Orden schaut womöglich augenzwinkernd zu.
In diesem Buch nun soll es um die beiden Herausforderungen gehen: Wie gestalten zölibatär lebende Seelsorger, Priester und Ordensmänner in guter und heilsamer Weise menschliche Nähe in seelsorglichen Beziehungen? Und wie drücken sie in persönlichen Freundschaften ihre Zuneigung aus? Theologisch und spirituell besteht zwar ein Unterschied zwischen der »Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen«, die die Ordensleute im Gelübde der Keuschheit freiwillig versprechen, und der Verpflichtung zum Zölibat, die die von der Kirche geforderte Zugangsvoraussetzung für den priesterlichen Dienst ist. Aber in der Praxis macht beides keinen großen Unterschied; und deshalb benutze ich beides im Folgenden synonym.
Das vorliegende Buch soll zum einen eine Hilfe für Priester und Ordensleute bei der Gestaltung von beruflichen Beziehungen und persönlichen Freundschaften sein. Zum anderen soll es für alle Interessierten nützlich sein, die verstehen wollen, wie zölibatäre Seelsorger sich erleben. Und schließlich ist eine gute Balance von Nähe und Distanz, Zärtlichkeit und Abgrenzung ein Lebensthema, das alle Menschen betrifft und von dem hoffentlich niemand sagen kann, er sei damit ein für alle Mal »fertig«.
Dabei schreibe ich als Mann aus männlicher Perspektive und habe als Adressaten zunächst Männer im Blick. Ob die weibliche Sicht- und Erlebensweise grundsätzlich eine andere ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber in einem Punkt bin ich mir sicher, nämlich dass immer noch gilt, was zwei große Heilige aus der Frühzeit des Christentums gesagt haben: »Alles ist mir erlaubt – aber nicht alles nützt mir. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich« (1 Kor 6,12), sagte Paulus vor bald 2.000 Jahren. Und Augustinus meinte vor mehr als 1.500 Jahren: »Ama et fac quod vis« – liebe, und was du dann tun willst, das tu auch!3
Leipzig, im Sommer 2014 | Hermann Kügler SJ |