Читать книгу ... und die Geist lachte - Hermann Küster - Страница 12
2 VERTAUSCHTE ROLLEN
ОглавлениеEs hat den jungen Pfarrer unglaublich viel Überwindung gekostet, sich aufzuraffen und sich auf den Weg zu dem am äussersten Rande des Dorfes, schon bereits ein Stück weit im Wald gelegenen Haus der alten Frau Trummer zu machen. Er hat sich sozusagen selbst am Hemdskragen nehmen und sich dorthin zerren müssen. Dies nicht etwa des langen Weges wegen (er ist ein passionierter Velofahrer, dem eine Strecke von dieser Länge nicht imponieren kann) und schon gar nicht, weil ihm die alte Frau etwa unsympathisch oder gar zuwider wäre. Im Gegenteil, er besucht sie an sich sehr gern. Er mag sie.
Nein, eine heftige Depression, die ihn seit Monaten bis fast an den Boden niederdrückt, lähmt ihn und verursacht sein Unvermögen, seiner Arbeit so nachzugehen, wie er es gern täte. Er muss für alles, was er zu tun hat, die letzten Willensreserven aufbieten, was ihn unsäglich viel Kraft kostet.
Aber nun ist er da und Frau Trummer sitzt ihm in ihrem etwas altväterlich möblierten, etwas überstellten Wohnzimmer gegenüber. Sie ist eine schlanke, fast hagere, etwas herbe Altersschönheit, eine kühl und emotionslos wirkende, nüchtern denkende Person, die der Pfarrer aber sehr schätzt, weil sie gerade heraus ist ohne zu verletzen – und weil sie unverstellt die ist, die sie ist.
Vor etwas mehr als anderthalb Jahren sind sie an diesem Tisch, in diesem Raum noch zu Dritt gesessen. Der nicht immer ganz einfach zu nehmende Herr Trummer ist noch dabei gewesen, ein Original, der sich dem Pfarrer bei dessen erstem Besuch, einem Routinebesuch, um Trummers kennen zu lernen, als „Agnostiker, wenn nicht gar Atheist und auf alle Fälle Kirchenkritiker“ vorgestellt, dann aber, als der Pfarrer sich nach dem Besuch mit einem „Adjö“ hatte verabschieden wollen, heftig insistiert und einen „geistlichen Schluss“ verlangt hatte – mit Gebet und Lesung eines „hoffentlich gut gewählten Bibelspruches“. Dies mit der Begründung, wenn denn der Pfarrer schon einen Besuch machen komme, solle er seine Arbeit auch „anständig“ und „so, wie es sich gehört“ machen, denn das dürfe man doch wohl von ihm erwarten und verlangen, auch wenn man Atheist sei, dafür bezahle man „Pfärrer“ schliesslich – und wenn dies nicht mehr gewährleistet sei, dann wisse er vollends nicht mehr, warum er noch nicht zur Kirche ausgetreten sei. Nach dieser ersten Begegnung hatte sich dann nach und nach eine von gegenseitigem Respekt getragene Beziehung zwischen den beiden so verschiedenen Männern entwickelt, dem Pfarrer und dem Glaubensfernen, der sich immer auf den Besuch des Pfarrers und die sich dabei ergebenden interessanten Gespräche und Auseinandersetzungen trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen gefreut, und bezüglich der Schlussgestaltung der Besuche stets darauf bestanden hatte, dass der Pfarrer seine Arbeit „anständig und wie es sich gehört“ mache.
Vor diesen etwas mehr als anderthalb Jahren ist Herr Trummer noch einer gewesen, von dem es in Bayern, wo man kräftig gebaute, wuchtig wirkende Menschen ein „Trumm“ nennt, geheissen hätte, er mache seinem Namen alle Ehre. Kein Mensch hätte ahnen können, dass eine kurze Zeit später (und zu spät) erkanntes Krebsleiden diesen Baum innerhalb eines halben Jahres würde fällen können.
Heute ist sein erster Todestag. Darum ist der Pfarrer zu seiner Witwe gekommen. Frau Trummer sagt dem Pfarrer, der sie nun schon seit einem halben Jahr nicht mehr aufgesucht hat, auf dessen Anfrage hin in ihrer emotionslosen Art, dass sie ihren Mann vermisse, obschon ja dieser, wie der Pfarrer ja wisse, nicht immer ganz einfach gewesen sei. Aber sie sei es ja auch nicht. Und viel gefühlsmässige Liebe habe ihr Mann ja von ihr auch nicht gerade bekommen. Der Pfarrer wisse ja auch das, dass sie ihre Gefühle nicht gut zeigen könne, auch nicht gern darüber rede. Aber sie habe ihn eben doch gemocht, ihren „Lexu“ (Koseform von Alexander). Dessen schnelles Sterben, das gehe ihr doch immer noch sehr nahe; das habe er auch nicht verdient gehabt, so schnell gehen zu müssen auf Nimmerwiedersehen. Man habe es eigentlich – „nehmt alles nur in allem“ –. noch recht gut gehabt miteinander. Man habe zueinander geschaut. Man habe einander ergänzt. Man habe sich aneinander gerieben, sei aber dabei immer miteinander auf dem Weg geblieben. Man habe sich miteinander auseinander gesetzt und immer wieder zueinander gefunden. Man sei recht gegensätzlich gewesen, aber dennoch unzertrennlich. Das alles fehle ihr jetzt. Obschon sie im Übrigen ganz gut zurecht komme ohne den Mann. Und, nein, einsam fühle sie sich nicht, sie habe ja liebe Kinder, treue Freundinnen, die alle recht gut zu ihr schauen, auch singe sie, wie der Pfarrer ja wisse, im Frauenchor mit, sei in die Gemeinschaft dieser „Sing-Kameradinnen“ eingebunden. Aber irgendwie sei sie gleichwohl „nur noch halb“, wenn er wisse, was sie damit sagen wolle. Und dieser Tag heute, der erste Todestag, der sei schon noch irgendwie belastend; sie empfinde so eine eigenartige Leere, obschon sie doch sonst, wie gesagt, ihre Tage zu füllen und ihr Leben zu leben wisse.
Nun macht Frau Trummer eine abwehrende Handbewegung, als wolle sie jene trüben Gedanken wegwischen, um zu verhindern, dass diese sie am Ende doch noch zu Gefühlsausbrüchen bewegen. Was ihr peinlich wäre.
Sie bietet dem Pfarrer Kaffee und „Güetzi“ (Kekse) an. Den Kaffee nimmt dieser gern, die „Güetzi“ nicht, denn Essen ist ihm zuwider; wie alles, im Moment; die Depression raubt ihm neben der Lebenslust auch den Appetit.
„Genug von mir geredet, Herr Pfarrer!“, befindet Frau Trummer.
„Wie geht es eigentlich Ihnen?“
„Och, eigentlich ja gut, wenn nur die liebe Seele nicht manchmal so spinnen würde“, versucht der Pfarrer zu scherzen. Und merkt im gleichen Moment, wie lahm dieser Scherz ist und wie kraft- und witzlos. Aber er ist schliesslich als Seelsorger gekommen und will nicht Frau Trummer mit seinen Problemen belasten. Er kann doch nicht sich selbst und seine gegenwärtige Situation zum Thema machen. Das wäre ja unprofessionell und hiesse ja, Frau Trummer geradezu zu missbrauchen.
Aber er kann nicht verhindern, dass Frau Trummer ihn behutsam in ein Gespräch hineinzieht, in dem zunehmend sie die Seelsorgerin ist und ihn bewegt, seine Probleme auszusprechen.
Zunächst bemerkt er gar nicht, was da abläuft, so getrübt ist sein Blick und so zuvorderst sind ihm seine Gedanken zu seinem Gemütszustand. Als er es aber dann doch bemerkt, blockt er ab. Er entschuldigt sich bei Frau Trummer. Das sei jetzt nicht recht, sie auch noch mit seinen Problemen zu belasten, schliesslich habe sie selber deren genug, erklärt er tieftraurig. Er fühlt sich als fertiger Versager.
„Das ist schon in Ordnung“, sagt Frau Trummer nach kurzem Überlegen, er müsse sich nicht entschuldigen, „schliesslich habe ja ich verursacht, dass unser Gespräch in diese Richtung gelaufen ist!“
„Ja, aber ich bin doch der Seelsorger“, sagt der Pfarrer matt.
Ohne zu zögern, geistesgegenwärtig, erwidert Frau Trummer: „Ja. Und? Jetzt haben wir halt für einmal die Rollen getauscht. Wo ist das Problem? Sind wir nicht Brüder und Schwestern, die sich umeinander kümmern sollen? So heisst es doch immer, oder? So fromme Sprüche gehen mir zwar nur schwer über die Lippen. Aber wenn wir das mit dem Christsein auch nur ein bisschen ernst nehmen, dann müssen wir doch so handeln. Muss denn immer nur der Pfarrer der Gemeinde etwas geben? Wäre das christlich? Darf es nicht auch umgekehrt sein? Jetzt bin halt einmal ich Ihre Seelsorgerin gewesen. Beim nächsten Besuch sind dann vielleicht wieder Sie so gut „z’wäg“ (zu Wege = gut drauf), dass wieder Sie mein Seelsorger sein können. Oder dass wir einfach sonst miteinander reden. Auf Augenhöhe. Partnerschaftlich. Gefällt mir übrigens besser als das fromme ‚als Bruder und Schwester’.“
Leidenschaftslos und sachlich tönt das. Typisch Frau Trummer. Und ist doch nicht ohne Wärme gesagt.
„Aber ig by haut glych zaut derfür.“ (Aber ich werde halt gleichwohl dafür bezahlt), bewegt sein schlechtes Gewissen, sein Gefühl, hier versagt zu haben, den Pfarrer kraftlos zu erwidern, und darum müsse er doch …
„Herr Pfarrer, gäuitt, daisch jitz aber nid Öich gsy, wo das gseet het?! (Herr Pfarrer, nicht wahr, das sind aber jetzt nicht Sie gewesen, der das gesagt hat?!)“, tadelt Frau Trummer ihn leise, eine solch materialistische Äusserung sei doch sonst nicht sein Ding; das sei ihr fremd an ihm.
Nun muss der Pfarrer doch auch ein bisschen, wenn auch matt, lächeln, trotz der Betrübnis, die ihn ausfüllt.
„Naja, vielleicht sollte ich mich irgendwie für Ihren Dienst an mir erkenntlich zeigen“, druckst er.
Plötzlich ist ein ganz ungewohntes lausbübisches, verschmitztes Lächeln in Frau Trummers herbschönem Gesicht. Und wie aus der Pistole geschossen kommt ihre Replik: Sie setzt ganz bewusst einen Satz ein, um quasi den Pfarrer zu „entwaffnen“, einen Satz, der ihr gerade spontan in den Sinn gekommen ist, einen Satz, den sie aus des Pfarrers Mund etwa einmal gehört hat, wenn sie ihn gefragt hat, ob sie ihm nicht für seine treue Begleitung während des Krankenlagers ihres Mannes einmal etwas „z’lieb“ (zuliebe) tun könne, den Satz nämlich: „Tun Sie’s in die Kollekte!“
Unwillkürlich entfährt dem Pfarrer ein spontaner, kurzer, verhaltener Lacher. Und als Frau Trummer daraufhin in lautes Lachen ausbricht (so hat sie der Pfarrer noch nie erlebt!), lacht auch er kräftiger, befreiter.
Für den Moment fühlt er sich leicht und geborgen. Nicht mehr von Gott und dessen guter, heiliger Geist verlassen.
Freilich: Dieser Zustand hält nicht an. Schon kurz nach dem Abschied von Frau Trummer, bei seiner Heimkehr, als auch die Heimfahrt mit dem Velo ihre therapeutische Wirkung langsam wieder verliert, beginnt das trübe Gewölk der Depression, zäh und giftfarben, den Pfarrer wieder auszufüllen. Erst Monate später wird er, plötzlich, unversehens, aus seiner Depression auftauchen in die grosse Erleichterung wie in ein heimeliges, wärmendes Licht, und seine Depression wird so unvermittelt gegangen sein, wie sie vor Monaten gekommen war.
Er wird sich immer dessen bewusst bleiben, dass nicht zuletzt der „Rollentausch“ mit Menschen, in denen die Geist Gottes gegenwärtig war, ihm in seinem Pfarrerleben oft geholfen hat: Der „Rollentausch“ mit Menschen wie Frau Trummer.