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1. Wurzeln und Visionen

Siedler oder Suchender?

Vor vielen Jahren versuchte ein junger Taxifahrer bei einer Taxifahrt in Xian (China) in rudimentärem Englisch mein Alter zu schätzen. Ich war gerade fünfzig geworden. Er aber meinte: Du bist sechzig oder siebzig. Ich war irritiert. Sehe ich wirklich so alt aus? Sind seine Augen schuld? Der Chinese gab mir jedenfalls zu denken: Wie viel Leben hast du in dir? Welches Leben? Tragen dich noch gute Erwartungen, helle Ziele oder drücken dich schlechte Erfahrungen? Zeigt meine Lebenslinie aufwärts oder läuft sie nach unten? Was erwarte ich?

Ein Eintrag in mein Tagebuch vom März 1999 lautet: „Warum ich eines Tages alle diese Bruchstücke meines Lebens zusammentragen werde? Ich möchte den roten Faden erkennen, den ich nicht immer sehe. Tiefenschichten möchte ich ausleuchten in all dem Lauten und Oberflächlichen. Die Spuren von Gottes Geist nachzeichnen. Auferstehen aus manchem dunklen Tal. Lass dir mit Christa Wolf sagen: ‚Wenn du aufhörst zu hoffen, kommt, was du befürchtest, bestimmt‘.“

Ich lese immer wieder gern diese Zeilen von Hans Magnus Enzensberger: „Die Frage, ob es mit dem Strom oder gegen ihn zu schwimmen gilt, scheint mir veraltet, weil sie eine unerträgliche Vereinfachung voraussetzt. Ergiebiger scheint mir das Verfahren des Seglers zu sein, der sowohl mit dem Wind wie gegen ihn kreuzt. Ein solches Vorgehen, auf die Gesellschaft bezogen, erfordert extreme Aufmerksamkeit und stoischen Unglauben. Wer auch nur das nächste Ziel erreichen will, muss Zug um Zug mit tausend unvorhersehbaren Größen rechnen und darf sich keiner von ihnen anvertrauen.“1

Thomas Merton unterscheidet einmal seekers von dwellers, d. h. Suchende von solchen, die einen festen Platz eingenommen haben.2 Die dwellers bevorzugen feste Plätze und fühlen sich eigentlich nur innerhalb ihres bekannten Territoriums sicher. Es ist für sie heilig, ihre Spiritualität bewegt sich in der Regel in Bahnen, die von der Tradition gesichert sind. Natürlich werden auch sie von Veränderungen berührt, aber sie bleiben fest verankert. Im Gegensatz dazu erkunden die seekers neue Perspektiven. Sie bewegen sich innerhalb alternativer und zuweilen unübersichtlicher Systeme des Glaubens und seiner Praxis. Das Heilige ist für sie fließend und übertragbar, Spiritualität ist ein Prozess, ein Zustand des ständigen Werdens. Ihre Sprache passt sich dieser Erfahrung an. Eine Vision ist eine Quelle neuer Dynamik und der Beginn eines neuen Aufbruchs.

Paul Michael Zulehner ist überzeugt, dass die Vision die einzig wirksame Gegenkraft gegen Resignation ist.3 Visionen sind also alles andere als überflüssig. Sie sind notwendig, um immer wieder zu spüren, was in unserer Welt und in der Kirche nicht richtig und nicht gerecht ist. Zu spüren auch, dass wir manches aus eigenem Vermögen allein gar nicht ändern können. Sie sind – biblisch gelesen – Gottes Einladung, uns von der Dynamik des Reiches Gottes tragen zu lassen. Sie sind und bleiben damit auch eine Kraftquelle zur Veränderung dessen, was von Menschen verändert werden kann und muss, und zugleich eine Quelle der Hoffnung auf das, was nur Gott allein bewirken kann.

Visionen sind wie Sterne

Neben der westfälischen Heimat hat mich der Mittelmeerraum geprägt. Fast fünfzehn Jahre in Rom haben mich empfänglich gemacht für Nuancen des Lichtes und wahrscheinlich auch empfindlicher gegen innere und äußere Kälte und Dunkelheit. Ein besonders helles mediterranes Licht jener Jahre legt sich nicht auf Rom, sondern auf eine Insel – auf ein internationales Treffen des Ordens in Baħar iċ-Ċagħaq (Malta). Ich spüre noch immer die Nähe des Meeres und sehe vor mir das kristallklare Wasser, in dem ich in freien Stunden waten konnte. Die frühlingshaft kühle, salzhaltige, prickelnde Atmosphäre einer Insel kann so vieles – streicheln, besänftigen, von innerem Schmutz reinigen, ermutigen, aufwecken, Blicke weiten, spirituelle Koordinatensysteme in Erinnerung bringen. Die klare, noch nicht vor Hitze kochende und flirrende Luft und das klare Blau des Himmels luden zur Kontemplation der Schönheit von Gottes Schöpfung und zugleich zu verantwortungsvoller Arbeit an der Zukunft des Ordens ein.

Wir hatten in Malta die Aufgabe, die vergangenen Jahre zu evaluieren und für alle Brüder ein Dokument vorzubereiten, das in frischer Weise aufzeigen sollte, zu welchen zeitgemäßen Formen des Dienstes und „zu welcher Hoffnung“ franziskanisch inspirierte Menschen in der gegenwärtigen Zeit berufen sind (vgl. Eph 1,18). Eine Insel ist ein geeigneter Ort, um weite Horizonte in den Blick zu nehmen. Ich sagte zu Beginn: „Visionen sind wie Sterne im Dunkel. Du kannst sie nie erreichen. Aber wir können uns auf sie als Wegweiser verlassen.“ Meine Grundüberzeugung damals wie heute noch ist ja: Visionen im biblischen Sinn sind mehr als klug erdachte menschliche Pläne. Visionen kommen aus der Tiefe, aus „Geistes Gegenwart“ in jedem Menschen. Eine Vision ist eine Quelle neuer Dynamik und der Beginn eines neuen Aufbruchs.

In Geistes Gegenwart

Helle Andenken aus der Kindheit – Lerchen in azurblauen sommerlichen Morgenstunden. Irgendwo zwischen Gras, Korn und Pflanzen schaffte mein Vater im weiten Areal. Ich träumte gern vor mich hin, schliefim Heu und lauschte auf die Laute und Stimmen ringsum. Immer wieder stieg eine Lerche mit einer jubelnden Melodie senkrecht in die Höhe, verweilte wie an einem Faden hängend Momente in der Luft, die vor Hitze zu zittern begann, um sich dann wie ein Stein fallen zu lassen und sich wieder irgendwo am Boden unsichtbar zu machen. Momente vollkommenen Daseins, reiner und ungetrübter Gegenwart, sinnlicher Erfüllung. Sie fließen in der heutigen Erinnerung dahin wie von Schwingen getragene sanfte Klaviermusik von Chopin oder Rachmaninow. Das ist wohl das wahre Glück, nicht nur der frühen Jahre – ich bin in der Welt, und die Welt ist in mir. Alles ist gut. Gott ist nicht fern. Wie eine warme Sonne umhüllt er seine Welt – und auch mich.

Aus meiner Kindheit und Jugend im Dorf klingt auch oft das Lied vom Auferstehungsgottesdienst am ganz frühen Ostermorgen um fünf Uhr herüber: „Der Leib ist klar – klar wie Kristall – Rubinen gleich – die Wunden all.“ Auch von meinem Leben in meiner Ordensgemeinschaft und meinen Pilgerfahrten auf den Straßen der Welt nehme ich unzählige Momente von Licht und Glück und Erwartung und Lebensbejahung mit. Zuweilen scheint es mir, dass ich wieder auf einem Flug nach China bin, und vor meinen Augen tut sich ein Schwindel erregendes Bild auf, ein „Durchblick“ durch gewaltige, von der Morgensonne beschienene Wolkengebirge, auf die hohen Gipfel und in die tiefen Schluchten des Himalaya. Dann wieder höre ich noch heute das unaufhörliche Geplauder des kleinen afrikanischen Bruders Kizito, Student an der Fakultät des Ordens in Lusaka. Er wollte mich unbedingt beim Jogging am Rand der Savanne begleiten, „damit du“, wie er bibelfest erklärte, „nicht auf Schlangen trittst und deinen Fuß nicht an einem Stein verletzt“ (Ps 91,11 f.). Da ist weiter die Erinnerung an den Novizen Luis Martín, der am Pool in Querétaro (Mexiko) über mein Wohlergehen zu wachen hatte, während ich mich von den Reisestrapazen erholte. Oder jene Miniklinik in David, einer Kleinstadt in Panama, wo mir am Abend ein argentinischer Chirurg (der mich sogleich freundschaftlich duzte) eine schmerzhafte Entzündung behandelt hatte und wo ich darauf eine ruhige Nacht verbrachte. Der afro–amerikanische Bruder, Francisco – genannt „el negrito“ – war in jener Nacht mein Schutzengel.

Ja, viele freundliche Gesichter von Männern und Frauen, viele Erfahrungen von befreiender Gnade begleiten mich bis heute. Mit zunehmendem Alter besuchen mich jedoch auch andere Bilder, Erinnerungen an Wunden im eigenen Leben wie von Welt und Kirche. Da ist stellvertretend jenes unbeschreibliche Bild von Schlamm und zerstörten Häusern und weit ins Land gespülten Schiffen, das ich bei einem Besuch unmittelbar nach dem Tsunami vom Jahre 2004/2005 in Banda Aceh (Sumatra) vor mir sah. Meine nächtlichen Traumbilder sind unruhiger geworden. Sind das Assoziationen an imaginäre, vielleicht innerlich befürchtete Tsunamis und andere Katastrophen, in meinem Leben, in meiner Familie, in Kirche und Orden? Manchmal sehe ich Labyrinthe und verschlossene Türen, schwarze Löcher und wirres Durcheinander.

Wahrscheinlich ist Innehalten, d.h. ein kontemplatives Ver-Innerlichen, das der ständigen Gegenwart des Geistes gewiss ist, der beste Weg, helle wie auch belastende Lebenserfahrungen zu hüten, ohne Nostalgie und ohne Traurigkeiten. Für mich ist auch das Schreiben ein Ort bzw. ein Raum für Klärung, ja Reinigung. Für die Erfahrungen von unverhoffter und unverdienter Gnade, von Zuwendung, Schönheit, Geistes Gegenwart möchte ich Dank sagen. Schwieriges möchte ich nicht verdrängen, sondern einordnen in Zusammenhänge, die sich mir, wie ich hoffe, noch zunehmend erschließen werden. Kann man überhaupt anders leben und glauben, ohne den Klang von heller Morgenmusik?

Johann Wolfgang von Goethe hat gesagt: „Wer sich des Guten nicht erinnert, der kann auch nicht hoffen.“ Einer meiner Lehrer, der Franziskaner Johannes Bendiek, war als Student mit seinem Professor, dem Philosophen Peter Wust (1884–1940, sein bekanntestes Werk ist „Ungewissheit und Wagnis“) befreundet. Seine letzten Jahre verbrachte Johannes als Seelsorger in einem Schwesternhaus in Münster. Bei einem Besuch kurz vor seinem Tod fragte ich ihn, wie es ihm gehe. Er antwortete mit Worten seines Lehrers, der ihm, selber von schwerster Krankheit gezeichnet – er hatte ein Kiefer- und Zungenkarzinom – gesagt hatte: „Mir geht es sehr schlecht. Genau genommen aber bin ich glücklich. Also will ich es immer ganz genau nehmen.“

So möchte ich es halten: Beim Erinnern in Geistes Gegenwart verändert und entwickelt sich mein Glaube. Überall sind Spuren des Lebens. Wenn man ihnen nicht nachgeht, verwischen sie. Wenn man ihnen aber nachgeht, dann entsteht nicht Vergangenes neu, sondern es entsteht Zukunft. Schreibendes Erinnern vor allem wirkt – so habe ich es gelesen und so möchte ich es gern glauben – dem biologischen und spirituellen Altern entgegen. Es nimmt versunkene Melodien wieder auf, es komponiert auch neue Weisen und in neuen Tonarten. Düfte, Klänge und Gerüche von damals öffnen mir Türen ins Heute und ins Morgen. Und wenn die Überfahrt meines Lebens unruhig bleiben sollte, so hoffe ich doch auf einen ruhigen Abend und eine sichere Ankunft.

Ich finde einen Tagebucheintrag, den ich während eines Besuches in Esztergom (Ungarn) gemacht habe: „Die Ferien und der Feiertag in der Heimat liegen hinter mir. Es war schön in der Gemeinde von Sankt Vit. Es hat mir gutgetan. Ich habe meine Heimat neu sehen und lieben gelernt. Die Tage im Westfälischen waren wie ein schönes Kapitel Leben. Ich bin dankbar. Jetzt aber suche ich wieder das Weite.“

Ist es gerecht, die Heimat mit dem Gefühl von Beengung in Verbindung zu bringen? Wurde es mir zuweilen eng? Ich liebte meine Familie, die taufrischen Morgenstunden im Dorf mit dem Geschmack des nahen Waldes, wenn wir, in den ersten Jahren noch in Holzschuhen, zur Schule und zuvor zur Schulmesse gingen. Das Dorf meiner Kindheit, das ist die Erinnerung an die alte Zwergschule mit ihren drei Klassenräumen, die Kirche am Wald, vor der wir vor Beginn der Schulmesse herumstanden, Jungen und Mädchen sauber getrennt schon vor der Tür, dann auch im Kirchenschiff. Das Dorf, das ist der warme Ackerboden im frühen September, wenn wir uns durch „Kartoffelsuchen“ ein Taschengeld verdienten. Das Dorf, das waren und das sind die sonnenwarmen Brombeeren an den Buschhecken. Das Dorf, das ist das Moos für die Krippe, das ich mit dem Sohn des Küsters, auch er hieß Vitus, aus dem Wald holte. Das Dorf, das ist die Erinnerung an das nicht mehr existierende elterliche Fachwerkhaus mit einem großen Garten, mit den Rosen und Astern, die meine Mutter darin zog, und den großen Blumensträußen, die sie am Tag vor einem Hochfest zur Kirche trug.

Wieso zog es mich denn fort in die Welt und in die Weltkirche? Wahrscheinlich hat mich der frühe Tod meiner Mutter ein wenig heimatlos gemacht. Ich wollte auch einfach mehr lernen, als in der Dorfschule möglich war. Mehr von der Kirche erfahren, als im Umkreis unserer barocken Pfarrkirche sichtbar war. Wahrscheinlich hat mich das Beispiel einer Tante inspiriert, die in Brasilien und später in den USA lebte. In Houston und auch in West Paterson (New Jersey) habe ich sie besucht. Dann waren da auch zwei Ordensleute. Einer war Missionar in Japan, dessen gelegentliche Besuche ich später in Tokio erwidern konnte. Der andere kam 1944 im Bombenhagel auf Dresden ums Leben, war aber in den Erzählungen in der Gemeinde immer anwesend. Und dann gab es noch den „Weißen Vater“, der ebenfalls „Vitus“ hieß, ein Missionar in Ostafrika, der uns während seines Heimaturlaubs gleich mehrere Schulstunden hindurch mit seinen Erzählungen in Spannung hielt. Ja, ich habe mich im Dorf und in der Kirche, so wie sie damals waren, beheimatet gefühlt. Zugleich aber war ich auf dem Weg.

Und dann war da ein Erlebnis von Enge und Bigotterie, das mich nachhaltig irritierte und zugleich in eine andere Richtung wies. Meine Mutter hatte mir an einem Freitag wie immer das Pausenbrot mitgegeben. Sie hielt sich weiß Gott gewissenhaft an alle damaligen kirchlichen Vorschriften, hatte aber an diesem Tag vergessen, dass kein Fleisch gegessen werden durfte. Auch ich bemerkte nichts und begann, das leckere Stück in der Pause zu verspeisen, ausgerechnet vor den Augen der Lehrerin, Fräulein K. Die hatte mich schon einmal darauf angesprochen, ob ich nicht einen geistlichen Beruf ergreifen wolle. Sie hegte entsprechende Erwartungen. Umso größer ihr Entsetzen: „Ausgerechnet du. Ich falle aus allen Wolken.“ Ich war zornig. Nicht nur, weil sie mir das Brot fortnahm, das ich nun erst recht gern gegessen hätte. Ich wusste vor allem, dass dieser Tadel ungerecht war – vor allem meiner Mutter gegenüber –, und ich ahnte, dass es Gott wenig kümmern müsste, welche Maßstäbe eine ältliche Lehrerin aus Sankt Vit anlegte.

Seither leitet das biblische Motiv, dass der Mensch wichtiger ist als der Sabbat (Mk 2,27 par.), mein Leben, meine Wege und mein Suchen. Und ich erfuhr deutlicher als zuvor, wo Heimat ist. Nicht nur da, wo du die Bäume kennst, sondern wo auch die Bäume dich kennen.

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