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Meditation im Sonnenobservatorium

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Leipzig ist eine fast tausendjährige Stadt und liegt im sächsischen Mitteldeutschland. Sie sollte auch ein spiritueller Ort sein, hatte Wolfgang Nebsi von einem Bekannten aus dem Saarland gehört. Obwohl Wolfgang ein gebürtiger Leipziger war, wusste er davon nichts. Ingolf aus dem Saarland meinte, dass diese Spiritualität an den vielen Linden in Leipzig liegen könnte, die im Stadtgebiet wachsen. Die Linden kannte Wolfgang natürlich. Ständig lagen ihre Blüten, Samen oder Blätter auf seinem Auto. Und er wusste selbstverständlich auch, dass der Name Leipzig von dem slawischen Wort Lipa für Linde abgeleitet sein sollte. Das hatte er mal vor vielen Jahren in der Schule gelernt. Dass daraus eine besondere Spiritualität herauszulesen war, konnte sich Wolfgang beim besten Willen nicht vorstellen. Er war inzwischen 35 Jahre alt und recht bodenständig. So ging er seiner Arbeit nach und lebte mehr im Jetzt.

Seine letzte Beziehung hatte sich vor ein paar Wochen in Luft aufgelöst und Wolfgang war nun sechseinhalb Jahre nach der Jahrtausendwende wieder einmal allein. Sein geplanter Urlaub an der Ostsee mit Sybille fiel damit auch ins Wasser. Es war ja ihre Ferienwohnung, in der sie den Urlaub verbringen wollten.

Nach einigem Überlegen entschied sich Wolfgang in diesem Jahr einen Wanderurlaub mit dem Rucksack zu machen, da er vielleicht nicht so schnell wieder Gelegenheit dazu bekam, allein, ohne Rücksicht auf eine Partnerin, Ferien zu machen. Schon als Kind hatte er den großen Wunsch gehabt, einmal völlig allein durch die Natur zu wandern. Doch damals scheiterte es am Verbot seiner Eltern, später an der fehlenden Ausrüstung und als Erwachsener dann an dem Ablehnen solch eines Vorhabens durch seine jeweilige Partnerin. Dieses Mal aber war die Situation so günstig und er wollte sich nun endlich seinen Kindheitstraum erfüllen.

Am 16. Juli 2007, es war ein Montag, wollte Wolfgang seine Wanderung durch die Natur beginnen. Nach einem umfangreichen Frühstück zu Hause brach er auf.

Zuerst fuhr er mit dem Zug bis Weißenfels. Im Waggon saß ihm ein älterer Mann gegenüber, der immer wieder seinen großen Rucksack und dann ihn selbst musterte.

„Ist irgendetwas mit mir oder dem Rucksack nicht in Ordnung?“, fragte Wolfgang leicht gereizt.

Niet! Nein! Ich mich wundern. Sie reisen mit große Sack“, sagte der Fremde mit starkem slawischen Akzent.

„Sie sind Russe?“, fragte Wolfgang zurück. „Das Niet war doch russisch?“

Der Mitreisende lächelte verlegen und entgegnete: „Da. Ich bin in Nähe von Moskau geboren.“ Dann fügte er schnell hinzu: „Aber ich besuchen nur Freunde hier in Deutschland.“

Nun musste Wolfgang etwas lächeln. Er schüttelte leicht mit dem Kopf und entgegnete: „Ich habe kein Problem mit Ausländern. Wer unsere Kultur akzeptiert ist mir willkommen. Wenn ich in einem anderen Land bin, muss ich doch deren Kultur und Gesetze auch achten.“

„Da!“, sagte sein Gegenüber bedeutungsvoll nickend.

Ein glückliches Lächeln huschte über Wolfgangs Gesicht. Er fühlte sich verstanden. Nun reichte er dem Russen die Hand und meinte: „Ich heiße Wolfgang.“

„Ich Wassili. Du verstehen Russisch?“

„Nur sehr wenig. Wir hatten zwar sechs Jahre Russisch in der Schule, aber keiner hat diese Sprache gern gelernt. Das hatte aber nichts mit dem russischen Volk zu tun! Es war der Zwang, die Sprache zu lernen. Heute habe ich mit Russisch kein Problem mehr. Dafür stört mich jetzt das Englisch, was wir bei jeder Gelegenheit aufgedrückt bekommen. Unsere Sprache wird von Englisch regelrecht unterwandert.“

Wassili nickte. „Ich kennen Problem. Überall viel Englisch. Aber wozu großen Sack?“

„Was für ein Sack? Ach, den Rucksack! Den brauche ich, denn ich will einen Wanderurlaub machen. Einfach so durch die Natur laufen und ansehen, was es Sehenswertes gibt.“

„Wo du willst beginnen?“

„Ich steige in Weißenfels aus und will an der Saale entlang erst einmal bis Naumburg und dann weiter nach Jena. Mal sehen, wie weit ich in den drei Wochen komme.“

„Oh, dann du besuchen Goseck. Das ist spiritueller Ort. Ähnlich wie Stonehenge in Britannien, aber viel älter.“

„Was? So etwas gibt es hier?“

Da! Wieso du nicht wissen? Du leben hier!“

„Ich habe noch nie etwas davon gehört“, gestand Wolfgang. „Wo liegt dieses Goseck?“

„Du haben Karta?

Wolfgang griff in seine Jackentasche und breitete eine Karte aus. Wassili suchte darauf, aber er fand sich nicht zurecht. „Wo Weißenfels?“

Wolfgang zeigte es ihm. „Hier ist Weißenfels und so will ich wandern.“ Dabei fuhr er mit dem Finger von Weißenfels immer auf der Saale entlang bis nach Naumburg und weiter. Da erhellte sich Wassilis Gesicht. Er tippte auf eine Stelle in der Mitte zwischen diesen beiden Städten leicht abseits der Saale. „Hier Goseck. Du müssen unbedingt sehen. Und du müssen fühlen! Starke Schwingung. Heute Montag. Wenn du haben Glück, dann du vielleicht ganz allein dort. Du müssen genießen. Wenn du allein, dann meditieren im Mittelpunkt von Kreis. Du dich wundern!“

Wolfgang sah Wassili durchdringend an. Jetzt fiel ihm ein, dass ihm mal eine Bekannte aus Petersburg gesagt hatte, dass jeder zweite bis dritte Russe spirituell sei. Offensichtlich war es Wassili auch.

„Und worüber werde ich mich wundern?“, fragte Wolfgang skeptisch zurück.

Da lächelte Wassili und meinte: „Genaues ich können nicht sagen. Wir am Wochenende dort und nicht allein. Aber Tochter spüren in Mitte etwas. Irgendwann ich werden in Woche dort hinfahren, um die Schwingung besser empfangen.“

„Du glaubst, dass man da etwas spüren kann, wenn man allein ist?“ Wolfgang hatte das ‚Sie‘ längst beiseitegeschoben. Redete Wassili ihn doch auch mit ‚du‘ an.

„Ganz sicher! Ich leider nicht so … sensibel. Aber Tochter spüren, auch wenn Touristen mit im Kreis. Du müssen unbedingt testen.“

„Du fühlst Schwingungen?“

Da, da! Du nicht?“

Wolfgang schüttelte den Kopf.

„Du werden fühlen. Müssen Geduld haben. Ich mich setzen in Mitte von Observatorium und in mich gehen, wenn ich allein. Dort sehr starke Schwingung, sagen Tochter. Ich vor einem Jahr dort.“

Da lächelte Wolfgang und sah seinen Gegenüber etwas spitzbübisch an. „Ich denke, du besuchst hier nur Freunde in Deutschland?“

Verlegen sah Wassili nach unten und erklärte: „Mein Dotsch … Tochter wohnen in Naumburg. Ich wohnen bei Sohn in Wurzen. Ich nicht wissen, wie du denken. Ich Ausländer!“

Etwas ängstlich sah Wassili jetzt Wolfgang an. „Wassili! Ich habe nichts gegen Ausländer. Doch ich muss jetzt gleich aussteigen. Bitte besuche mich, wenn du mal in Leipzig bist. Ich möchte gern mehr über diese Schwingungen wissen. Vielleicht spüre ich sie auch. Ich hoffe es. Hier ist meine Adresse.“ Er gab Wassili eine Visitenkarte von sich, packte die Wanderkarte ein und stand auf. Wassili stand ebenfalls auf, umarmte ihn und sagte. „Do swidanija! Ich bestimmt kommen.“

Im Weißenfelser Bahnhof verließ er den Zug und grüßte Wassili noch einmal, als dieser hinter der Scheibe stark gestikulierend an ihm vorüber fuhr. Immer noch schwang diese Ankündigung von den merkwürdigen Schwingungen in dem Observatorium in seinem Kopf. Ob da wirklich etwas dran ist? Na, ich werde es ja bald wissen, dachte Wolfgang. Für ihn stand es jetzt fest, dass er dieses Sonnenobservatorium erst verlassen wollte, wenn er eine Antwort auf diese Frage gefunden hatte. Goseck lag ja fast an seinem Weg und Zeit hatte er in Hülle und Fülle. Wolfgang wollte schon wissen, ob an dem, was Wassili sagte, wirklich etwas dran war.

Nachdem er die Saale erreicht hatte, ging er am nördlichen Flussufer stromaufwärts in Richtung Naumburg. Es war wunderschön an diesem sonnigen Tag die Natur zu genießen. Auf seinem Weg zwischen dem Fluss und den angrenzenden Feldern begegnete er kaum Menschen. Nach etwa zehn Kilometern sah Wolfgang schon von Weitem ein Schloss auf einem Berg stehen. Nach seiner Karte musste es das Schloss Goseck sein, was er da in der Ferne sah. Also verließ er das Saaleufer und bog in Richtung Schloss ab. Wassili hatte ihm doch erzählt, dass hier das älteste Sonnenobservatorium der Welt sein sollte, was da auf ihn wartete. Das aber konnte sich Wolfgang beim besten Willen nicht vorstellen. Davon hätte er doch bestimmt schon etwas gehört. Nun, jetzt war er hier und konnte der Sache auf den Grund gehen.

Hoch zum Schloss ging eine steile schmale Straße. Da sie für Fahrzeuge gesperrt war, begegnete Wolfgang auch hier niemand. Oben im Schloss von Goseck fand er im Schlosshof gleich links ein kleines unscheinbares Museum, in welchem die Geschichte des Sonnenobservatoriums sehr gut dokumentiert wurde. In diesem Museum hörte er von einem jungen Mann, dass das Sonnenobservatorium von Goseck das älteste bekannte Observatorium der Welt sei. Es wäre wohl über 3.000 Jahre älter als das bekannte Bauwerk von Stonehenge und es soll für die damaligen Menschen eine Art automatischer Kalender gewesen sein. Damit bestätigte dieser Wassilis Aussage. Das hatte Wolfgang nicht erwartet. Noch mehr versetzte es ihn in Erstaunen, als der junge Mann davon sprach, dass man direkt in der Mitte des Sonnenobservatoriums die Erdschwingungen spüren kann, wenn man genug Geduld hatte und allein in der Anlage war. „Und wenn dann noch im Graben um die Palisaden des Observatoriums Wasser steht, sind die Schwingungen besonders stark“, ergänzte der junge Mann begeistert. Wassili hatte also nicht übertrieben, dachte Wolfgang anerkennend.

Der junge Mann vom Museum erklärte Wolfgang nun auch, wie er am besten zum Sonnenobservatorium kam. „Da gehen Sie hier aus dem Schlosshof raus und bleiben immer auf dieser Straße. Am anderen Ende von Goseck sehen Sie dann rechts einen Parkplatz und links einen Weg, der direkt zur Anlage führt. Sie können es gar nicht verfehlen! Goseck ist nicht groß.“

Da Wolfgang aber immer noch sehr skeptisch war, nahm er sich fest vor zu testen, ob diese angeblichen Schwingungen echt waren oder nur ein Wunschdenken von diesen spirituellen Leuten. Zeit hatte er ja genug.

Am Nordrand des Dorfes fand Wolfgang den Weg, der zur Anlage führte. Sie stand auf einem ehemaligen Feld. Inzwischen war es schon Abend, als er vor den drei Hinweistafeln stand, die sich am Zugang zum Observatorium befanden. Im Hintergrund sah er auch schon den kreisrunden Erdwall, in dem ein Palisadenkreis stand. Das war also die fast siebentausendjährige jungsteinzeitliche Kreisgrabenanlage. Wolfgang wusste natürlich von dem informativen Gespräch im Museum, dass sie erst nach dem Jahr 2000 nachkonstruiert wurde.

Nun betrat er das Sonnenobservatorium und sah sich erst einmal alles genau an. Dabei verpflegte er sich aus seinem Rucksack mit zwei Brötchen und einer Wurst. Es war Abend und er hatte Hunger. Es störte ihn auch nicht, dass außer ihm noch drei andere Besucher in dem Observatorium waren.

Die Anlage bestand aus einem großen Palisadenkreis in dem sich ein zweiter kleinerer Palisadenkreis befand. Der Innere hatte bestimmt einen Durchmesser von siebzig Metern. Der äußere Kreis war vom Inneren vielleicht vier Meter entfernt. Außerhalb des äußeren Palisadenkreises schloss sich ein Graben an, der wiederum von einem Erdwall eingeschlossen wurde, den Wolfgang schon von Weitem bemerkt hatte. Zu seiner Begeisterung bemerkte er, dass im Graben, der das Observatorium umschloss, Wasser stand. Dann woll’n wir mal sehen, ob mich diese merkwürdigen Schwingungen auch erreichen, dachte Wolfgang. Aber vorher wollte er sich die Anlage genauer ansehen.

Im Observatorium erkannte Wolfang mehrere Unterbrechungen der Palisadenkreise. Das waren also die Messpunkte, durch die die Sonne an ganz bestimmten Tagen von der Mitte des Kreises bei Sonnenauf- oder untergang zu sehen war. Leider gab es Mitte Juli keine Messpunkte. Also lohnte es sich nicht bis zum Sonnenuntergang zu warten. Wolfgang hätte gewartet, denn es war nicht mehr viel Zeit bis die Sonne unterging.

Inzwischen war er ganz allein in der Anlage. Nun wollte er die Akustik testen, die es in der Anlage laut Wassili und dem jungen Mann vom Museum geben sollte. Er klatschte laut in die Hände und es klang wirklich wie in einem guten Konzertsaal. Wolfgang war überrascht. Das hatte er nicht erwartet, denn die Anlage war ja nach oben offen! Dann versuchte er es auch mit rufen. Wieder hörte er einen ungewöhnlichen Hall. Irgendwie hatte diese Anlage eine tolle Akustik, stellte Wolfgang fest und schüttelte mit dem Kopf. Wie war das nur möglich?

Nachdem er sich nun alles genau angesehen hatte, beschloss er in der Mitte zu meditieren, wie ihm das Wassili empfohlen hatte. Wer weiß, ob er noch einmal eine so günstige Gelegenheit finden würde.

Direkt in der Mitte des inneren Palisadenkreises war eine quadratische Metallplatte, auf dem die Sonnenmesspunkte des Observatoriums erklärt wurden. Auf diese Metallplatte setzte sich jetzt Wolfgang und versuchte irgendwelche Schwingungen zu spüren. Dabei kam ihm sein schwerer Rucksack zu gute, den er auch noch im Sitzen auf dem Rücken trug. In dieser sitzenden Stellung diente er ihm hervorragend als Rückenlehne. Wolfgang lauschte gespannt mit geschlossenen Augen, aber außer einem ungewöhnlichen Kribbeln bemerkte er nichts. Von irgendwelchen Schwingungen war nichts zu spüren. Aber er erinnerte sich auch, dass Wassili immer betonte, dass er auch Geduld haben müsse. Also blieb er in dieser sitzenden Stellung und horchte auf die Vögel, deren Gesang vom nahen Wald herüber klang. Das beruhigte ihn so sehr, dass er einschlief.

Plötzlich erwachte Wolfgang. Es war inzwischen schon stockdunkel. Er stand auf und sah sich um. Von den hölzernen Palisaden war nichts mehr zu erkennen. Dafür sah er die Silhouette eines Gebäudes vom Dorf, welche sich deutlich vom Himmel abhob. Hoffentlich komme ich jetzt noch in der Herberge unter, die unten im Schloss war, fragte er sich angstvoll. Und er lief schnell in die Richtung, in der er am Nachmittag das Schloss mit der Herberge gesehen hatte.

Im Dunkeln kam ihm die Gegend fremd vor. Nichts erinnerte an das, was er noch vor Stunden gesehen hatte. Das beunruhigte ihn aber nicht, denn er hatte schon öfters erlebt, dass manche Gegenden im Dunkeln ganz anders wirkten als im Hellen.

Trotz der fehlenden Orientierung fand er fast wie durch ein Wunder die Herberge, die er aber auch anders in Erinnerung hatte.

Eine ältere freundliche Dame öffnete ihm die Tür. „Ist es möglich, dass ich diese Nacht hier schlafen kann?“, fragte Wolfgang besorgt.

Die Dame antwortete lächelnd mit leichtem Akzent in der Stimme: „Ja, wenn Sie wollen.“

„Und ob ich will!“

Die Dame führte ihn durch das Gebäude und erklärte dabei: „Bei uns schlafen mehrere Personen in einem großen Raum. Da gehen wir jetzt hin. Aber bitte sehr leise sein und kein Licht machen. Die anderen schlafen schon.“ Wolfgang nickte und sagte ihr, dass er niemanden stören wolle und es so machen wolle, wie sie sagte.

Sie zeigte ihm in dem Raum gleich gegenüber von der Tür ein freies Bett und ging. Wolfgang konnte in dem fast dunklen Raum im Hintergrund noch weitere Betten erkennen; aber mehr nicht. Da er trotz der angeschlafenen Meditation im Sonnenobservatorium todmüde war, zog er sich aus und legte sich gleich in Unterhose ins Bett. Er schlief sofort ein.

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