Читать книгу Sozialisation - Herrmann Veith - Страница 6

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Einleitung

Mit dem Begriff der „Sozialisation“ verbindet sich die Vorstellung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Menschen aufwachsen und leben, ihre Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig beeinflussen. Neben der Familie und der Schule werden in der Regel Freunde, Peergruppen und Medien als die wichtigsten Bedingungsfaktoren des biografischen Lernens wahrgenommen. Die Tatsache jedoch, dass man selbst im Alltagshandeln unentwegt in sozialisatorisch wirksame Praktiken verstrickt ist, gerät bei dieser umweltzentrierten Betrachtungsweise sehr leicht in Vergessenheit.

Stellen Sie sich deshalb einmal folgende Situation vor: Sie steigen gut gelaunt in eine U-Bahn und wünschen den Mitfahrenden einen „schönen guten Morgen“. Sehr wahrscheinlich wird Ihr Gruß unerwidert bleiben. Das heißt aber nicht, dass er wirkungslos war – im Gegenteil. Wenn Sie sich umsehen, werden Sie entdecken, wie einige Fahrgäste schon längst dabei sind, ein Spontanpsychogramm über Ihre Person anzufertigen: Musiker, Zeitungsverkäufer, Obdachloser, Fahrkartenkontrolleur? Da nichts von alledem auf Sie zutrifft, ist der Fall für die anderen schnell erledigt: „Stadtneurotiker!“ Sie nehmen diese Typenzuschreibung ganz intuitiv zur Kenntnis und fühlen sich mit einem leichten Anflug von Peinlichkeit und Kränkung missverstanden. Ohne dass auch nur ein Wort gewechselt wurde, sehen Sie sich aufgefordert, Ihre Heiterkeit hinter der umgänglicheren Maske demonstrativer Gleichgültigkeit zu verbergen. Man wünscht, in der kalten Behaglichkeit der morgendlichen Rushhour einfach nicht gestört zu werden. Darum gibt man Ihnen schweigend zu verstehen, dass Ihre Begrüßungsformel deplatziert ist und Sie mit Ihrer beschwingten Art zu weit gegangen sind, wenn auch nur geringfügig, aber immerhin. Sie haben nichtsahnend eine ungeschriebene Norm der Massengesellschaft übertreten und die Anonymitätsregel verletzt, die das Leben der Großstadtmenschen von solchen Bekanntschaftsritualen entlastet. Ihr Fauxpas wird Ihnen allerdings verziehen, vorausgesetzt, Sie sind bereit, auf Anschlusshandlungen zu verzichten und lautlos in der Menge abzutauchen.

Es sind gerade diese winzigen Normverstöße, welche die immense Wirkmacht alltagspraktischer Ordnungen anschaulich werden lassen. Denn würde man sich nicht darauf verlassen können, dass die Menschen, denen man tagtäglich begegnet, unsere Sicht der Welt und der darin geltenden Regeln zumindest ungefähr teilen, wäre der kommunikative Orientierungs- und Verständigungsaufwand nicht zu bewältigen. Mit jedem Schritt vor die Wohnungstür würde man in das Laufrad einer sich schier endlos drehenden Fragemaschinerie einsteigen: „Wie geht es Ihnen?“, „Was machen Sie?“, „Wo wollen Sie hin?“ – oder noch irritierender: „Wer sind Sie eigentlich überhaupt?“ Damit nicht genug, denn schon nach wenigen Sekunden würde man selbst den anderen mit den gleichen Fragen auf die Nerven gehen.

Bekanntermaßen handeln wir jedoch unter den Normalitätsbedingungen unserer Alltagspraxis etwas anders. Wir wissen, dass Fremde sich in der U-Bahn nicht grüßen müssen. Zur erfolgreichen „Kommunikation“ genügt der unverwandte Blick ins Leere. Es reicht, einfach so zu tun, als ob sich die Art, wie wir uns verhalten, von selbst versteht –und tatsächlich verhalten sich alle so. Dass dieses so funktioniert, ist die Wirkung von Sozialisation. Man kennt intuitiv die Normen und Prinzipien, die „regeln“, was zu tun ist, und man weiß, welche Relevanz dabei andere Menschen und Dinge haben. Wir wissen, ohne uns darüber Klarheit zu verschaffen, dass wir „Individuen“ und „Subjekte“ sind –eine für andere Gesellschaften unvorstellbare Form des In-der-Welt-Seins. Wir senden starke Ich-Botschaften, wenn wir uns über objektive Sachverhalte unterhalten. Wir fordern die Anerkennung unserer persönlichen Rechte, wenn wir uns mit anderen über soziale Praktiken verständigen und sprechen mit großer Ernsthaftigkeit über unsere subjektiven Erlebnisse. Auch das ist in anderen Kulturen keineswegs selbstverständlich. Ganz offenbar bewegen wir uns, in dem, was wir tun und denken, in gesellschaftlich vorgespurten Bahnen. Wir haben im praktischen Miteinander gelernt, wie „man“ sich verhält und was „man“ wie gebrauchen darf. In einigen Fällen geschieht dieses, wie in der U-Bahn, ganz indirekt und beiläufig, in anderen werden konkrete pädagogische Absichten und Verhaltenserwartungen wirksam.

Tatsächlich bilden und entwickeln sich unsere Handlungsfähigkeiten und damit in Verbindung unser Selbst- und Weltverständnis in den unterschiedlichen sozialen Praktiken, in die wir vom ersten Lebenstag an eingebunden sind: Kaum ist man geboren, wird man gemessen und gewogen. Während die Eltern noch damit beschäftigt sind, das Individuelle an ihrem Kind zu entdecken, hat die Verwandtschaft längst das Familientypische ausgemacht: „Die Fingerchen hat sie von der Oma, die Haarfarbe von Opa, als er noch jung war.“ Die Bekannten interessieren sich für das Geschlecht und kommentieren den Namen, das Klinikpersonal überwacht den Gesundheitszustand, die Behörden bescheinigen die Geburt, der Stadtanzeiger will ein Foto und die Babybranche wirbt mit ihren Begrüßungsgeschenken um Kundschaft. So folgen alle Abläufe einer bestimmten Ordnung, und jeder macht sich gemäß der Eigenlogik des Sozialsystems, dem er sich zugehörig fühlt, sein ganz spezielles Bild von dem Neuankömmling.

Wie Säuglinge dieses rührige soziale Treiben und Einbinden um sie herum erleben, lässt sich – auch aus wissenschaftlicher Sicht – nur hypothetisch rekonstruieren. Können Babys ihre Mitmenschen schon als Personen erkennen oder empfinden sie nur ihre eigenen, mit ersten sinnlichen und kulturellen Bedeutungsfragmenten angereicherten leiblichen Aktivitätszustände? Klar ist aber, dass ihnen die Welt durch ihre Bezugspersonen nahe gebracht wird. Im wechselseitigen Geben und Nehmen der ersten Lebensmonate lernen sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, wie man sich in der Gegenwart anderer sinnvollerweise verhält. Sie übernehmen die körperlichen Bewegungsschemata ihrer Handlungspartner und stellen sich mit ihrem ganzen Organismus physisch, psychisch und pragmatisch auf ihre Umwelt ein. Als Kleinkinder entwickeln sie sodann ganz allmählich die Fähigkeit, ihr eigenes Verhalten an den Absichten und Erwartungen ihrer Handlungspartner auszurichten und die elementaren Ordnungszusammenhänge ihrer Lebenswelt zu verstehen. Sie entdecken physikalische Kausalzusammenhänge, soziale Regelmäßigkeiten und kulturelle Sinnstrukturen. Je mehr die Heranwachsenden dabei lernen, ihre eigenen Tätigkeiten zu reflektieren und selbstbestimmt zu handeln, desto komplexer werden die Formen der sozialisatorischen Auseinandersetzung mit der Umwelt und der eigenen Person.

Definition

Von Sozialisation spricht man in diesem Zusammenhang, weil sich die Persönlichkeit mit ihren Sprach- und Handlungsfähigkeiten stets unter historischen Kulturbedingungen in gesellschaftlich strukturierten Lebenswelten entwickelt.

Dieses Buch richtet sich an all diejenigen, die einen ersten, aber nicht oberflächlich bleibenden Einblick in die Grundfragen der Sozialisationsforschung gewinnen möchten. Das ist deshalb nicht ganz einfach, weil sich dieses Forschungsfeld quer über den gesamten Bereich der sozial- und humanwissenschaftlichen Disziplinen erstreckt. Darüber hinaus gibt es kein einheitliches Theoriekonzept, sondern viele verschiedene, sich teilweise auch widersprechende Erklärungsansätze. Warum das so ist, wird deutlich, wenn man sich das Ziel der modernen sozialisationstheoretischen Diskussion vor Augen führt.

Kernaussage

Sozialisationstheoretiker wollten und möchten verstehen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Verinnerlichung sozialer Normen individuelle Autonomie ermöglicht, oder aber zur Entwicklung eingeschränkter Handlungsfähigkeiten führt.

Ausgehend von der Frage, warum in den Sozialwissenschaften nicht nur von Entwicklung, sondern von Sozialisation die Rede ist (Kapitel 1), wird ein analytisches Rahmenmodell beschrieben (Kapitel 2), mit dessen Hilfe das Zusammenspiel von gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungsbedingungen anschaulich dargestellt werden kann. Darauf aufbauend werden in den Kapitel 3, 4 und 5 die unterschiedlichen Vergesellschaftungspraktiken in den wichtigsten Sozialisationskontexten – Familie, Schule und Peergruppe – skizziert. Ein kleiner Exkurs zur Rolle der Medien leitet über zu den Grundfragen der Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung (Kapitel 6). Was dabei als „normal“ gelten kann, ist, wie in Kapitel 7 gezeigt werden wird, keineswegs selbstverständlich. Zur Weiterbeschäftigung mit den angesprochenen Themen findet sich am Ende eines jeden Kapitels ein Informationsteil mit allgemeinen Literatur- und Websiteempfehlungen. Im Glossar schließlich werden einige für das Thema Sozialisation wichtige Grundbegriffe erklärt.

Kernaussage

Wer im Erziehungs- und Bildungsbereich beschäftigt ist, übernimmt für andere Menschen Verantwortung. Die Entscheidungen, die in der pädagogischen Praxis zumeist schnell und vor allem zielsicher getroffen werden müssen, bedürfen dabei stets der fachlichen Begründung und Legitimation. Zur professionellen Planung, Beurteilung und Auswertung von Handlungsstrategien in den unterschiedlichen Praxis- und Berufsfeldern ist deshalb theoriegeleitetes Wissen über den Sozialisationsprozess unerlässlich.

Sozialisation

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