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»Frohe Zukunft«

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Eine gute Viertelstunde vom Dorf Sperlingsfeld entfernt und nur durch einen verwilderten Schlosspark von den ersten Häusern des Ortes getrennt, steht mitten zwischen Heidekraut und Weidenröschen auf einer Waldwiese ein lang gestrecktes einstöckiges Gebäude mit zwei kleineren Seitenflügeln rechts und links.

Schon wenn man auf der nahen Landstraße daherkommt und in einen schmalen Seitenpfad einbiegt, blitzt und leuchtet es durch die Bäume und Sträucher hindurch: helles Mauerwerk, blinkende Fensterscheiben, grüne Fensterläden. Ja, wer hätte gedacht, dass aus der alten, ehedem zum Schloss gehörenden verfallenen Baracke noch einmal etwas so Freundliches und Schönes entstehen würde? Es sind aber auch Fachleute gewesen, sozusagen Leute »vom Bau«, die hier für ihre Kinder ein Ferienheim errichtet haben, die Betriebsangehörigen vom VEB Bau aus Sternstadt.

Eines Tages, es ist nun schon über ein Jahr her, kamen sie auf zwei Lastkraftwagen angefahren, und dann ging es los. Da wurde eingeebnet und abgetragen, gemauert, gesägt, gezimmert und gestrichen, und jedes Wochenende kamen sie wieder zum freiwilligen Arbeitseinsatz nach Feierabend. Niemand schloss sich aus, die Kinder sollten ein Ferienheim bekommen, das sich sehen lassen konnte. Darin waren sich alle einig, und deshalb gedieh auch der Bau so rasch und so schön.

Auseinandersetzungen gab es eigentlich nur darüber, wie das Heim benannt werden sollte. »Zwergenhöhle« schlugen die einen vor, weil hier doch die Kleinen ihren Einzug halten sollten, aber andere meinten, »Sperlingslust« sei besser, weil man mit den Bewohnern von Sperlingsfeld gute Freundschaft halten wolle und es hier immer recht lustig zugehen solle. Schließlich fand der alte Meister Finke-Emil das Richtige. »Nennt es doch ›Frohe Zukunft‹, Freunde«, sagte er, »denn …, na ja, ihr versteht mich schon, wie ich das meine.«

Ein guter Gedanke! Es gab plötzlich keine Einwände mehr, denn jeder wusste, Finke-Emil hatte an jene Zeiten erinnern wollen, in denen es einst bitterschwer gewesen war, Arbeiterkindern Ferienglück und eine frohe Zukunft zu schaffen.

So hängt nun also über der großen Eingangspforte zum Mittelbau ein Schild und verkündet mit großen Buchstaben:

FROHE ZUKUNFT

Ferienheim des VEB Bau Sternstadt

Onkel Max, der das Heim betreut, lässt immer, wenn ein neuer Kindertransport angemeldet ist, eine dicke Girlande aus Tannengrün und Heidekraut flechten. Er steigt selbst auf die Leiter und windet die Girlande um das Schild. Dann zieht er auf dem Vorplatz die Fahne am Mast empor und läuft schleunigst zur Landstraße hinüber, denn schon hört er in der Ferne die Omnibusse hupen, die mit Sack und Pack sechzig neue Gäste bringen, die schon auf der langen Fahrt nicht mehr gewusst haben, wohin sie mit ihrem Ferienübermut sollen. Das Gewimmel und Gejauchze, wenn die Busse schließlich bremsen und die Türen geöffnet werden!

An einem Tag im August, als der zweite Durchgang eintrifft, sind auch Ursula, Iris, Jutta, Angelika und die Schwestern Inge und Ingrid unter den sechzig, die aus den Omnibussen drängen und sogleich ein Wetthüpfen über die aufgebauten Koffer veranstalten.

»Ruhe!«, ruft der Lagerleiter. »Wollt ihr wohl mit dem Gehopse aufhören!«


»Ach, Onkel Max, schimpf doch nicht!«, beschwichtigt ihn die kleine pausbäckige Jutta und lacht ihn so vergnügt an, dass er das Zanken vergisst.

»Wir sind doch so fröhlich!« Sie springt über den allergrößten Koffer. Der Koffer gehört Angelika, die eine gewaltige Leseratte ist und mindestens ein Dutzend Bücher mitgeschleppt hat.

Der Lagerleiter, der sonst daheim in Sternstadt den ganzen Tag als Buchhalter nur mit Zahlen um sich wirft, wischt sich den Schweiß von der Stirn und blickt sich hilfesuchend nach den Gruppenleiterinnen um. »Nun kümmert euch mal bitte um eure Kinder!«

Am schnellsten hat Dora Mühlberg erfasst, was hier nottut. Kein Wunder auch, sie ist siebzehn Jahre alt, geht noch zur Oberschule, leitet aber in ihrer Freizeit eine Pioniergruppe, zu der auch einige der Mädel gehören, die jetzt hier wie ein toller Bienenschwarm umherschwirren. Diese Mädchen sind es auch gewesen, die daheim so lange gebettelt haben, bis sich Dora entschloss, als Helferin mit ins Ferienheim zu kommen. Dora ist beliebt bei ihnen, weil sie so heiter ist, jeden guten Spaß mitmacht, aber auch nachdrücklich auf Ordnung hält, wenn die Wogen allzu hoch schlagen.

Auch jetzt klappt alles wunderbar. Dora erwischt die übermütige Jutta an einem ihrer kurzen Rattenschwänze und ruft: »Aufgepasst! Ich bin der Rattenfänger. Mir müssen alle folgen!« Und siehe da, in bunter Reihe, Jungen und Mädel durcheinander, eins dem andern auf den Fersen, so windet sich eine fröhliche Schlange durch Gebüsch und Gesträuch, und die sechzig halten leidlich geordnet ihren Einzug.

Mit Hallo erstürmen sie die Schlafsäle und nehmen lärmend von den zugewiesenen Betten und Schränken Besitz. Die acht Mädchen der Gruppe V beziehen ein helles, freundliches Zimmer und beginnen sogleich, ihre Koffer auszupacken. Ursula, der dunkle Lockenkopf, und die schlaksige, dünne Iris gehen daheim in die gleiche Klasse, beide wohnen in ein und derselben Straße und sind unzertrennliche Freundinnen. Auch die gescheite, besonnene Angelika und die immer vergnügte Karla sind Schulfreundinnen und besuchen die Karl-Marx-Schule am andern Ende der Stadt. In ihrer Parallelklasse sitzen Jutta und das gutmütige Sabinchen. Die Schwestern Inge und Ingrid wohnen in einem Dorf nahe der Stadt.

Angelika hält einen Stoß Bücher zwischen Leib und Kinn geklemmt mit beiden Armen fest und stöhnt: »Ich habe keinen Platz mehr im Schrank!«, als schon alle andern längst mit dem Auspacken fertig sind.

Iris thront auf ihrem Oberbett, kaut Petersbirnen und baumelt mit den langen, nackten Beinen. »Wozu schleppst du auch eine ganze Bibliothek mit, als ob’s im Lager keine gäbe?«, spottet sie und fragt gleich darauf: »Hast du jetzt Zeit?« Angelika blickt auf. »Warum?« Iris springt von ihrem Thron und hält der anderen den Birnenstiel vor die Nase. »Kannst mal den Pinsel zum Maler schaffen.«

»Quatsch!«

Jutta schreit plötzlich begeistert: »Oh! Zeig mal her, hier ist doch ›Das doppelte Lottchen‹ dabei. Das musst du mir mal borgen!«

Hastig reißt sie das Buch aus dem Stapel. Die übrigen Bücher kommen ins Rutschen und poltern zu Boden. Schimpfend und aufgebracht schubst Angelika Jutta zur Seite. Die gleitet aus und fällt vor die eintretende Gruppenleiterin hin, die ihr lachend aufhilft.

»Was ist denn hier für ein Krach?«, fragt Dora Mühlberg. »Seid ihr schon mit Einräumen fertig? Dann geht einstweilen und spielt auf der Wiese. Es ist noch eine Stunde Zeit bis zum Abendessen.«

Gruppe V stiebt mit wehenden Haaren davon, zuletzt Angelika, die schnell noch ihre Bücher aufs Bett geworfen hat. »Wir spielen Haschen!«, ruft Ursula, als sie kaum aus der Tür sind, und schlägt Iris leicht auf die Schulter. »Du bist der Haschemann – los, fang mich doch!« Sie rennt davon, wie aus der Kanone geschossen.

Trotz ihrer Storchbeine holt Iris Ursel nicht ein, weil diese Haken schlägt wie ein Hase. Erst am Waldrand lässt Ursula sich erschöpft zu Boden fallen, und sogleich liegt Iris über ihr. »Jetzt hab’ ich dich!« Sie umklammert Ursula mit den Armen, und beide balgen sich wie junge Katzen.

Inge, fast zwei Jahre jünger als Ingrid, ist der Schwester zuliebe in die Gruppe der Elfjährigen aufgenommen worden. Sie hockt mitten im Heidekraut und flicht sich einen Kranz. Ihre Schulfreundin Marlies, die zur Gruppe III gehört, kommt auf sie zugerannt, einen großen Strauß Erika im Arm, und ruft: »Hilf mir doch pflücken! Wir brauchen Blumen für den langen Tisch im Speisesaal.«

»Erst muss ich meinen Kranz fertig haben«, lehnt Inge ab und versucht, ob er schon groß genug ist.

Iris springt über Ursula hinweg und lässt sich zwischen die roten Heideblüten fallen. Ein Zitronenfalter flattert auf und wird von der übermütigen Ursel zu fangen versucht, bis er sich hoch in die Lüfte schwingt.

Am Waldrand, dort wo die Heideröschen blühen, liegen Angelika und Jutta bäuchlings am Boden und lesen.

Karla steht kerzengerade auf den Händen neben ihnen und fordert: »Guckt mal her, ihr Leseratten! Guckt doch mal! – Schnell! – Ob ihr das auch könnt?«

Jutta hebt nur kurz den Kopf und behauptet: »Klar kann ich das, ich kann sogar Radschlagen!« Angelika aber lässt sich überhaupt nicht stören.

Karla senkt den Oberkörper zur Brücke herab, ihr blonder Zopf kitzelt das Gras. »Kriecht mal durch!«, verlangt sie. »Seid doch nicht so langweilig!« Jutta aber grunzt nur unwillig. »Lass uns doch. Es ist gerade so spannend.«

Sabine kommt über die Lichtung gerannt. Ihre großen blauen Augen, die hell aus dem sanften Gesicht leuchten, lachen vor Freude. »Ich habe eine Schnecke mit Häuschen gefunden. Seht mal her!« Behutsam öffnet sie die Hand. Karla springt auf und tritt neugierig zu ihr. »Zeig mal, Biene!« So wird Sabine nämlich meist genannt.

»Wie hübsch!«

Die beiden Leseratten lassen sich auch durch die Schnecke nicht dazu bewegen, die Nasen aus den Büchern zu heben. Vor der »Frohen Zukunft« tummeln sich nun auch die Kinder der anderen Gruppen. Ein paar Jungen spielen Fußball, andere turnen über am Boden liegende Baumstämme. Einige Mädchen streiten sich um Wippe und Schaukel. Die Jüngsten hocken im Sandkasten.

Wenn es nach den Kindern gegangen wäre, so hätte auf diesen ersten Nachmittag überhaupt kein Abend zu folgen brauchen. Über ihren Spielen vergaßen sechzig frohe Ferienkinder Zeit und Stunde, aber die Sonne hielt auf Ordnung.

Am abendlichen Himmel verkroch sie sich hinter einer Wolke, und als sie dann ein ganzes Stück tiefer wieder zum Vorschein kam, ertönte vom Hause her der Gong, der zum Nachtessen rief.

Marlies und ihre Freundinnen stellten eben die letzten Vasen mit Heidesträußen auf die weiß gedeckten Tische, als die ersten Kinder in den Speisesaal drängten.

Hohe Berge von Wurst- und Käsebroten wurden von den Küchenhelferinnen herbeigetragen und schmolzen im Handumdrehen zusammen wie ein Schneemann in der Frühlingssonne.


Und gut schmeckte die frische Milch! Als zuletzt ein leckerer Pudding aufgetragen wurde, jubelten alle im Chor.

Ursula war so satt, dass sie sich kaum noch rühren konnte und zu faul war, sich umzudrehen, als Jutta ihr über den Tisch hinweg zurief: »Sieh dich mal um! Hinter dir hängt ein Bild an der Wand.« Iris, die neben ihr saß, wandte sich neugierig um. Ein großes Gruppenfoto schmückte den Raum. Lachende Kindergesichter schauten sie aus dem Rahmen an. Einen Teil der Fotografierten kannte Iris. Aufspringend tippte sie einem dicken Jungen auf den Bauch. »Das ist doch der Dieter, und das ist Jochen, der geht mit meinem Bruder in eine Klasse. Und hier, Gertrud aus unserer Straße.«

Nun drängten sich auch noch andere Kinder um das Bild, und fast alle entdeckten bekannte Gesichter.

Onkel Max rief ihnen zu: »Das sind eure Vorgänger vom letzten Durchgang. Kommt, setzt euch wieder auf eure Plätze, dann erzähle ich euch, wie sie die Zeit hier verbracht haben.« Er hatte plötzlich ein großes, dickes, in rotes Leinen gebundenes Buch vor sich liegen, das hob er hoch, als die Kinder wieder Platz genommen hatten und neugierig zu ihm hinblickten.

»Ist das ein Märchenbuch?«, erkundigte sich Inge. »Liest du uns jetzt Geschichten vor?«

Der Heimleiter schüttelte den Kopf. Kleine Lachfältchen lagen um seinen Mund, als er verkündete: »Es ist das Buch der guten Taten.«

Dann schlug er es auf. »Ihr habt in eurer Schule wohl auch eins und wisst, dass alles eingetragen wird, was ihr Kinder Gutes tut.«

»Ach, keine Märchen!«, seufzte Inge enttäuscht.

Onkel Max überhörte den Einwand und begann vorzulesen. Da vernahmen nun die sechzig Neulinge erstaunt und überrascht zugleich, wie die Kinder vor ihnen im Heim ihre Ferienzeit genutzt hatten. Heidelbeeren und Lindenblüten waren gesammelt worden. Eine Mädchengruppe hatte das Bügeln erlernt, einige Kinder ein Hausgärtchen angelegt, andere der Produktionsgenossenschaft bei der Heuernte geholfen. Fünf Jungen hatten einem Arbeitsveteranen das Feuerholz gehackt. Der dicke Dieter, den Iris auf dem Foto erkannt hatte, war sogar ein Lebensretter gewesen. Ein Kleinkind war von ihm aus dem Dorfteich gezogen worden.

»Seht ihr!«, rief Onkel Max. »Die vor euch haben hier nicht nur gespielt und Sport getrieben, sie haben nebenher auch viel Gutes getan.« Er machte eine kleine Pause und fügte dann hinzu: »Neugierig bin ich, wer von euch die besten Taten vollbringen wird …«

»Ich!«, meldete sich Heinz, einer der größten Jungen. »Onkel Max, sag mal, was muss ich denn da tun?«

Der Heimleiter lächelte. »Ja, lieber Freund, gute Taten können nicht befohlen werden, die müssen aus uns selber kommen.« Heinz zog einen schiefen Mund und kratzte sich hinterm Ohr. Sein Nachbar klopfte ihm auf die Schulter und tröstete: »Uns wird schon was einfallen. Mein Name soll auch in dem roten Buche stehen.«

»Meiner auch!«, rief ein blondes Mädchen. »Ich finde das fein, wenn dann alle anderen Kinder, die nach uns hierherkommen, lesen können, wie fleißig ich war.«

Dora Mühlberg zog die Stirn kraus. Der Ehrgeiz der blonden Lore missfiel ihr. »Tust du denn nur Gutes, um dafür gelobt zu werden?«, wollte sie fragen. Doch da wurde sie von Ursula angestoßen. »Du, wir machen da doch nicht mit?«, fragte die kleine Schwarzhaarige. »Wir sind doch zum Spielen hier und nicht zum Arbeiten.« Auch diese Worte ärgerten Dora, doch ehe sie antworten konnte, rief der Heimleiter über die Köpfe aller hinweg: »Ich denke, als Erste tragen wir hier Marlies und ihre Freundinnen ein, weil sie unseren Speisesaal so schön mit Heidesträußen geschmückt haben.«

Die Mädchen erröteten vor lauter Freude; die meisten Kinder stimmten Onkel Max fröhlich bei, denn auch ihnen gefiel der Blumenschmuck; nur einzelne Stimmen murrten: »Das bisschen Erika! Das hätten wir auch gekonnt.«

Onkel Max zog seinen Füllfederhalter aus der Brusttasche und schlug das rote Buch auf.

Während er noch schrieb, fragte ein Mädchen: »Gibt es auch Preise?«

»Die beste Gruppe bekommt eine Torte, und die besten Einzelsieger im Wettbewerb der guten Taten erhalten Buchprämien«, versprach der Heimleiter.

»Eine Torte!«, rief Heinz und forderte seine Freunde auf: »Die müssen wir uns verdienen, Jungs! Das ist etwas für uns.« Gleich darauf erkundigte er sich: »Was für eine Torte? Buttercreme oder mit Früchten und Schlagsahne?«

»Oder Schokoladentorte?«, wollte ein anderer wissen, und ein Mädchen warf ein: »Nusscreme ist auch was Gutes!«

Als Onkel Max lachend entgegnete: »Die Siegergruppe darf wählen«, jubelten alle. Nur Iris flüsterte Ursula ins Ohr: »Wenn ich heimkomme, lass’ ich mir von meiner Mutti eine Torte backen, dazu lade ich euch alle ein.« Die beiden Freundinnen waren sich einig: Es lohnt nicht, sich für den Wettbewerb anzustrengen. Schließlich hatten sie sich auf Ferien und Faulenzen gefreut. Spielen wollten sie und schwimmen. Arbeiten? Gute Taten vollbringen? Pah, das sollten mal die anderen tun, die Dummen, die Wichtigtuer. »Wir wollen unsere Ferien genießen.« Sie stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen an und zwinkerten sich vergnügt zu.


Ursula jagt eine Diebin

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