Читать книгу Das Urteil oder der Gegenmensch - Hildegard Knef - Страница 5
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ОглавлениеIm Wagen wird mir mulmig, achterbahnmulmig. Überm Wolfgangsee hängt weißer Nebel, von den Blättern tropft es, als regnete es aus Zweigen und Ästen, wir fahren den aufgeweichten Weg zum furchterregenden Asyl, zum letzten gemieteten, bis zum Richtfest zu bewohnenden. Es hat ein Gespenst, dreißig unbewohnbare Zimmer, keine Heizung, rauchende Biedermeier- und Rokokoöfen, den säuerlich modrigen Geruch, der an Grüften, Champignonkeller, schimmliges Gemäuer erinnert. Die Wände sind rissig und trophäenbeladen, Hirsch- und Rehbockköpfe strecken dürftige oder wuchtige Geweihe in düstere Flure, werfen unter funzligen Geweihlampen garstige, sich kreuzende Schatten; auf unwohnlichen Wohnraum stieren um die Jahrhundertwende verendete Büffel herab, zwischen verschlissenen Ledersesseln, deren Sitze altersschräg und uneinnehmbar, ragen mannshohe Elefantenzähne hervor, dazwischen, sorgsam verteilt, stehen und hängen ausgestopfte Schwäne und Perlhühner, deren Federn im Zugwind aufflattern, als setzten sie zum Flug an. Auf sargschwarzer Truhe stapeln sich Zeitschriften der Jahre 1919–1930, auf mottenzerfressenem Kartentisch liegt ein grünspaniges Gästebuch, das den verschlungenen Dank des Kaisers Franz Joseph vorweist.
Andreas klurrt durch den Gang. Sein schwarzgefärbtes Haar wedelt um das faltige, griesgrämige Gesicht, die uralte dunkelgrüne Bedienstetenschürze schlabbert um seine Hosenbeine. Wie immer murmelt er vor sich hin, beendet Unverständliches mit lauthals Verständlichem: »Mir san a Sozialstaat. Ma darf net mehr arbeiten. In meinem Alter hab’ ich nix mehr nötig und scho goar nix, wenn s’ ka Durchlauchten san.«
Er gehört ins Furchterregende, wie die berstenden Schränke, die vollgestopft mit zerbröselndem Leinen, henkellosem Meißen und Weinlaubmuster, silbernen Bestecken, Armeen von Saucieren. Andreas lebt tagelang in verschimmeltem Loch, das er sein Zimmer nennt. Den Vorschlag, es gegen ein luftigeres, weniger verschimmeltes einzutauschen, nimmt er mit abschätzendem Blick entgegen, untersagt dem unblaublütigen Volk Verbesserungsvorschläge. Dann greift er zum Reisekorb, enteilt, taucht wieder auf, enteilt aufs neue.
Neben gewohntem Modergeruch stinkt es nach Verbranntem, Versengtem. Andreas hat seinen Ofen geheizt. Es schwelt. Die Klappe ist geschlossen. Andreas plant Mord. Selbst Juliane, auf oberster Stufe der steilen Treppe stehend, kann an der Freudlosigkeit des Hauses nicht rütteln. Juliane ist prall, vollbusig, hellblond, männerverrückt, sechzigjährig und strömt zeitweilig übermäßige Lebensfreude und Vitalität aus. Augenblicklich strömt sie. »Die Schlange!« brüllt sie, daß Schwanenfedern schweben, Geweihe knirschen, der morsche Boden gleich einer Hängematte zu schwingen beginnt. »Das göttliche Kind hat die gräßliche, grauenvolle Schlange gesehen.« Sie rollt die Augen, schüttelt das Haupt, schlägt mit breiter, derber Hand auf die Stirn, daß man meint, sie müsse zersplittern. »Das göttliche Kind« winkt, ruft »Mama«, wendet sich wieder dem Julianeschen Schauspiel zu. »Was soll man machen, was soll man machen?« röhrt jene wie von Sinnen und zerrt am dichten, im Nacken verknoteten Haar. Eine 30-Watt-Birne bescheint hohe Backenknochen und kurze, gerade Nase. Das Gesicht ist glatt, die Haut rosig. »Das Schlabberkram hab’ ich operieren lassen, ritsch ratsch, futsch war’s«, hatte sie, kaum bei uns eingetroffen, gesagt und stolz die Narben hinter den Ohren vorgezeigt. Sie steht schnaufend, einer Wagnerheroine bei Aktschluß nicht unähnlich, und hält eine Schaufel. »Mit diesem Ding hier bin ich auf sie los.« Morsch wie alles, so auch die Schaufel, löst sich selbe vom Stiel, poltert lärmend die Treppe hinunter. Gelähmt stehe ich, biete ihr mein Schienbein dar. »O Gott, o Gott«, schreit Juliane, »was für ein Leben, was für ein Haus.« Als sei es das Startzeichen für den Auftritt, nähern sich zwei orientierungslose Fledermäuse, beginnen über ihrem Blondhaar zu kreisen. Der markerschütternde Schrei befördert mich die Treppe hinauf, da liegen wir, Kind und Köpfe notdürftig mit Händen bedeckend, als wichen wir Tieffliegern aus. »Frau Gräfin haben gerufen«, quietscht es aus der Tiefe. Andreas steht greisenhaft kichernd, den Blick auf Juliane gerichtet, die als einziges Mitglied der Mietfamilie dem Adel zugehört und also seines Interesses würdig. Sie wedelt mit der Hand, als vertreibe sie Fliegen, flüstert in mein Ohr: »Er säuft. Ich rieche das sofort. Mir kann man da nichts vormachen.« Keuchend erhebt sie sich, schlägt die Jacke übers Haar, dreht erfolglos an ausgeleiertem Lichtschalter, verschwindet ins Schlafzimmer. Ich höre manches am Boden zerschellen, vernehme Kreischen, dann hilflos schluchzendes Gelächter; prustend erscheint sie, meldet die Vertreibung eines Fledermauspulks.
Vor einem Vierteljahr war sie zu uns gestoßen. »Ich heiße Juliane«, hatte sie gesagt, »ich bin Alkoholikerin. Seit fünf Jahren trocken.« Sie hatte mich angestrahlt, als hätte ich zur Heilung beigetragen. »Warum sagen Sie „ich bin“, wenn Sie seit fünf Jahren nicht getrunken haben?« hatte ich ahnungslos gefragt. »Weil es so ist«, rief sie und rang in altmodischer Theatergebärde die Hände; »Alkoholiker bleibt Alkoholiker, ob er trinkt oder nicht. Ich bin Mitglied der AA. Sie hat mich gerettet.« Abkürzungen durchforschend, war ich auf fremdländische Fluglinien, Automobilclubs, auch Sportvereine gestoßen. Angesichts meiner Ratlosigkeit hatte sie drei Hefte, auf denen »Alcoholics Anonymous« zu lesen stand, aus einem Lacklederbeutel gezogen und, mit dem Zeigefinger auf den Boden weisend, »Sie haben mich aus der Gosse gezogen« gerufen. »Aus der Gosse«, hatte sie wiederholt und die Augen geschlossen, als sähe sie noch immer unratumspülte Rinnsteine und Gullygitter vor sich. Doch dann hatte sie kurz aufgelacht und das Gesicht mit einem Spitzentaschentuch, das sich in ihrer großen Hand lächerlich ausnahm, betupft. »Geld brauche ich nicht«, hatte sie, den Kopf in den Nacken werfend, gesagt, »was ich brauche, ist Arbeit und ein ausgefüllter Tag.« So blieb sie. Wir unterliegen ihrer Zeiteinteilung, die sie um vier Uhr früh aufstehen und um acht zusammenbrechen läßt; ihrer frenetischen Häkelei, die uns mit Schals und Decken für Jahrzehnte versieht; ihren Perioden wilder Lebenslust, die sie mit »Ich bin ab heute wüst« einleitet und die unversehens in taumelige Depression umschlagen; ihrem unbeirrbaren Zwang, in dürftigen Kammern zu hausen, als müsse sie Buße tun; der panischen Suche, bei Ankunft in jedweder Stadt, nach dem Sitz der ortseigenen »AA« und deren abendlichen Treffen der Geheilten und Nicht-Geheilten sowie dem manischen Bedürfnis, einen Motorroller zu besitzen und auf ihm täglich mehrmals wilde, lärmende Runden zu drehen. Ihre nur selten und stockend vorgetragene Lebensgeschichte beginnt: »Ich war reich, ich war schön, ich hatte alles. Mann, Kind, Gesundheit. Dann kam der Krieg, der elende Krieg, und nahm mir alles. Nach acht Jahren Gefangenschaft, nach Polen und Sibirien fing ich an zu trinken.« Der Morgen bricht an mit einem AA-Satz: »Ich muß jeden Tag etwas Gutes tun. Ich bitte Gott um die Gnade, mir Kraft zu geben. Ich darf nicht sagen, daß ich nie wieder trinke. Ich darf nur sagen, daß ich heute nicht trinke.« Berichte über »die Zeiten der Gosse« bleiben beharrlich distanziert, als spräche sie von einer ihr flüchtig bekannten Person; nur an Tagen, da sie »wüst«, identifiziert sie sich mit jener Juliane, die der Trunksucht ergeben. Dann zerrt sie an imaginären Ringen, schleudert sie hohnlachend und mit weitausholender Geste unsichtbaren Kumpanen vor die Füße, schreit: »Nehmt sie. Nehmt alles.« Alsbald stimmt sie, ungeachtet des ständig plärrenden Transistorradios, eine vielstrophige Hymne an, die entweder larmoyant oder gleich einem Schrei der Verzweiflung durch Küche und umliegende Räumlichkeiten hallt. So sitzt sie inbrünstig singend, die geschwollenen Beine auf Kissen gelagert, bis das begrenzte Repertoire aufgebraucht. Den letzten Versen versagt sie den anfänglichen Einsatz, wendet sich bereits dem zellophangeschützten, peinlich fleckenlosen Kochbuch zu, dessen nur einen Teelöffel Alkohol erfordernde Rezepte dick durchgestrichen und unleserlich gemacht sind. »Ein Tropfen und ich bin im Hades«, sagt sie. »Der Alkoholiker« – nie »die Alkoholikerin«, als sei die Sucht maskulinen Genen anzukreiden –, »der Alkoholiker kann nicht aufhören, bis er in der Gosse liegt.« »Die Gosse« wiederum mittels des zu Boden gestreckten Zeigefingers anschaulich gemacht. Verfehlt das Absingen der Hymnen, eine beschwichtigende Wirkung auszuüben, springt sie, die Kissen gleich Bällen von sich stoßend, auf und ruft, ans Fenster eilend, das schmerzdurchdrungene: »Ich brauche Achmed!« Doch vor Achmed ist zu warnen, von Achmed gilt es abzulenken, denn Achmed löst bestürzende, langanhaltende Depressionen aus. Achmed, ein Araber, in Pittsburgh ansässig, ist, so sieht man auf vergilbten, runzligen Fotos, ein sanft blickender Herr unbestimmten Alters. »Ich habe ihn geliebt«, flüstert Juliane, die Bilder an den mächtigen Busen pressend, »fünf Jahre lang habe ich ihn geliebt. Gekocht habe ich für ihn, Tag und Nacht. Er wurde fett.« Der Griff lockert sich, dumpfes Schweigen befällt sie, der Ausdruck wird untröstlich und reuig, Achmed wandert ins Seitenfach des stets paraten Lackbeutels. »Fett«, sagt sie, entrüstet auf den Beutel starrend, und beginnt den Kopf erst langsam, dann schneller und schneller hin und her zu werfen, bis sie, bleich und schwankend am Fensterbrett Halt suchend, das erste einer zahllosen Kette von »Achmeds« haucht.
Doch jetzt steht Juliane beherrscht und die Lage überblickend vor der Schlafzimmertür und spricht gebieterisch: »Das Fenster ist geschlossen, die Fledermäuse entfernt, Sie müssen ins Bett.« Willenlos folgen Mutter und Tochter, obwohl uns vor knochenharten Matratzen und deren festgefügten Kuhlen, die zur starren, unverrückbaren S-Haltung zwingen, graut. Hinzu kommt, daß die Stunde nicht weit, da der ehemals feudale Jagd- und Sommersitz sein beängstigendes Eigenleben entfaltet; das Gruselige, zur Tageszeit lachhaft, nimmt mit Einbruch der Dunkelheit entnervende Formen an. Das mürbe Haus, dem Verfall geweiht, läuft nächtens Amok, steigert sich von einschüchternder Bewegung zu rachsüchtigem Tumult. Türen öffnen sich grundlos und knirschend, Vorhänge wehen, obwohl die Fenster verriegelt und die Nacht windstill, Klinken klappen auf und nieder, im obersten, seit Jahrzehnten unbewohnten Stockwerk dröhnt, poltert und wütet es. Der Verdacht, daß Andreas, abgefeimt und durch und durch verbiestert, nächtliche Scherze treibt, erweist sich als kränkende Unterstellung; auch die von Experten vorgenommene Suche nach Siebenschläfern, Ratten und ähnlichem Getier erbrachte nichts. Der Briefträger – laut Juliane ein unrettbarer Fall von Alkoholiker – weigert sich, selbst bei Tag und anheimelndem Sonnenschein, den Fuß auf die Schwelle zu setzen, läßt, hinter vorgehaltener Hand und in demütigem Abstand vom Haus haltend, wissen, daß man Bescheid wisse im Dorf und anderswo um die finsteren Geister, die da geistern. »Was ist mit der Schlange?« frage ich, zwischen feuchten Decken Platz genommen habend. Ihr Blick fällt auf den Rauch einer unausgedrückten Zigarette. Entsetzen weitet die Augen, reißt die kurzen schwarzen Wimpern auseinander. »Teufelszeug, Satanskram!« schreit sie und läßt Streichhölzer, Schachtel, Kippe in Schürzentasche fallen. Nach erniedrigender Pause rutscht sie auf den Bettrand, murmelt: »Schlange, Schlange«, stiert geistesabwesend auf ihre breiten Knie. »Die AA hat ein Treffen. Vor übermorgen bin ich nicht zurück.« Sie spricht abgehackt, als lese sie einen unverständlichen Text. Schwerfällig erhebt sie sich, sagt, wie ein Erblindeter über meinen Kopf hinwegsehend: »Im Wohnzimmer war sie, zwei Meter lang ist sie. Was sie wohl im Wohnzimmer wollte? Der Andreas sagte, sie lebe im Garten.«
Zwei Tage später hämmert sie ans Haustor, stürzt aufgemöbelt in den Flur, juchzt: »Fabelhaft, fabelhaft. Neben mir saß ein Professor. Zehn Rückfälle in drei Jahren. Diesmal wird er’s schaffen. Ein neuer Tag, ein neues Leben. Juliane ist wüst.« Schon schleudert sie kiloschwere Töpfe, rammt den Besen in morsche Hockerbeine, singt Hymnen, schnippelt Gemüse, stürmt davon, wirft sich auf ächzenden Motorroller, das pralle Gesäß hängt beidseitig gleich zwei gefüllten Taschen über den Sattel; so kurvt sie durch Pfützen und Matsch, befiehlt Andreas, auf handgroßem Rücksitz Platz zu nehmen, dreht mit dem abscheulich Kreischenden schonungslose Runden um drei Müllkübel. Abends erscheint sie rüschenumflattert, taumelig torkelig, wünscht zu telefonieren. »Ein Privatflugzeug, wenn ich bitten darf«, schreit sie grandios und knallt den Hörer, daß die Muschel bricht, dann kauert sie auf zerwühltem Bett, stößt langanhaltende klagende Laute aus.
Die magere ältliche Frau, die einem wackligen Volkswagen entsteigt, sagt: »Ich möchte sie holen. Ich gehöre zur AA.« Juliane, mit verschwollenen Augen und zerkratzten Händen und Armen, wirft Wollknäuel, Koffer, Kleider, Schuhe, singt: »Ich brauche Liebe, nur ein wenig Liebe«, schlägt mit der Stirn gegen einen Achtender, folgt gefügig der Mageren, eine Ginflasche im Arm. Unbeholfen tattrig kriecht sie in den Wagen, drückt ihr tränenüberströmtes Gesicht gegen das Fenster. Wir sehen den hüpfenden Lichtern nach, packen Koffer, verlassen Haus, Andreas, Geister.
Die Pension liegt oberhalb einer Tankstelle. Es ist Spätsommer. Die Kegelbahn ist in Betrieb, schwedische Touristen singen unter Anleitung eines deutschen Reiseführers »Warum ist es am Rhein so schön?«. Es riecht nach Knoblauch, nach ausgelassenem Schmalz und ranzigem Öl. Die Klosettspülung röhrt seit Stunden. Um drei Uhr früh ziehen sie johlend, eine Conga-Reihe formend, Treppen und Flure entlang. Abends wartet Ungeheuer plus Wächter. »Während der Behandlung brauchen Sie Ruhe, viel Ruhe«, sagt der Primarius-Wächter und überläßt mich seinem Rotgeränderten, der da rattert, schweigt und frißt.
Vor der Tankstelle stehen ein Mann und eine Frau, sie trägt mein Kopftuch, drohend heben sie die Fäuste. »Die Drachen«, murmeln wir gleichzeitig. »Die Drachen« umschleichen Quartiere, bewegen Buschtrommeln, üben sich in Erpressung und Groll, planen Gewalt. »Gesocks«, denke ich, erschrecke vor meinem Zorn, vor der Vulgarität.
Ich wollte Erfolg, wollte »den gemalten Vogel«, wollte ihn, dessen Gefieder Mißtrauen, Neid, Heimtücke erweckt, ihn, der nach Feindseligkeit und Ausrottung schreit. Suspekt und ausnutzbar, ergiebig und wasserköpfig, Herrlichkeit und Beute. »You have haunted eyes«, hatte Tennessee Williams in Chicago gesagt. Verfolgte Augen. Verfolgt von wem, von was? Und plötzlich – vor den Zapfsäulen, die an öder Realität kaum zu überbieten, verschiebt sich der beiläufig aufgenommene Hintergrund, wird irreal, unfaßbar, wird von Reklameschild bis zur staubigen Topfpflanze hinter fleckigem Fenster zum von Tönen überspülten, an den Rändern sich auflösenden Bild. Selbst die Gesichter verzerren sich, doch ihre Verzerrung scheint erheiternd und keineswegs furchterregend. Und für einen Augenblick glaube ich aus meiner Zeit, aus meiner Existenz zu fallen. Die gespannten Schultern geben nach, die immer präsente Angst setzt aus, ich betrete eine leichte, kuriose, gewaltlose Welt, strebe einer schwerelosen Heiterkeit entgegen, aus der ich meine und aller anderen Ängste – selbst das Urteil – interessiert, doch emotionslos betrachte. Doch kaum dem Wagen entkommen und über eine Hintertreppe das Zimmer erreichend, falle ich über die Kiesel der Gewohnheit, die unbeweglich und unverschiebbar im Weg liegen.
An einem Montag, der zugleich der erste Januar war, schlurrten die Drachen in unser 1900 Meter hohes Schweizer Leben. Mit ihnen begann dieses Jahr 1973, das Jahr des Urteils, das Jahr des Kastanienbaums, das Bertha-lose Jahr. Denn Bertha, seit nahezu zwei Dekaden der Familie verbunden und ganz und gar zugehörig, hatte uns verlassen. Zum zweitenmal. Ungestraft verläßt Bertha nicht. Denn kaum war Bertha »unbekannt verzogen«, brach der Damm, gewährte den Strohmännern übellauniger Mächte Zugang zur möblierten Zurückgezogenheit in Alt-Engadiner Stuben. Bertha ordnet, greift ein, wehrt ab, selbst in ozonarmen Höhen. Bertha aus Thüringer Hügelland mit Waldbestand, vor 17 Jahren dürr, nun üppig und auch rheumatisch, beginnt jedwede Tätigkeit mit »So«, beendet mit »So«, eröffnet, schließt ab mit »So«, sagt Köpfe zählend, Uhren prüfend ihr abendliches »Nu machen wir ins Bette« und noch ein »So«. Berthas Schritte auf noch immer schlanken, wohlgeformten Beinen sind wettervoraussagend: Grotesk, wie jene des Albatros, melden sie: Miserabel; leichtfüßig schwebend: Man kann hoffen. Bertha also bricht aus nach Streit, dem der Mißmut einer dauerhaften Albatroszeit vorausgegangen, hinterläßt bleistiftgeschriebene Zettel und Chaos. Unbemuttert, ausgeliefert, rundrum verzweifelt, fragt man: Wo ist Bertha?
Just da schlurrten die Drachen ins Leben, wie sie wohl schon häufig in das Leben anderer geschlurrt waren; nur diesmal schien die Beute fetter, krankheitsbenagt, wehruntüchtig und allemal geeignet, verspeist zu werden. Die Bekanntschaft, aus Kindheitstagen herrührend und deshalb mit dem plumpen Du beschwert, gab Anlaß für einen fatal verhängnisvollen und gerade aus der Mode kommenden Kommune-Gedanken, obwohl ich wußte, daß die beiden zur Gruppe jener am Rande mancher Berufe und zumeist auf Pumpe Lebenden gehörten, die der Arbeit nichts abgewinnen und stets das zerknirschende »Das Schicksal hat uns mißhandelt« im Munde führen. Da war Libby: groß, schwerknochig, roßhaarig. Ihre röhrenförmigen Beine geben den Eindruck, die außerordentlich seltsam geformten Füße in den Boden zu pressen. Die Wölbung der Sohle, den Bedürfnissen eines Fußes konträr, ist Schaukelstuhl- oder auch Löschpapierhalter-ähnlich, das heißt: Zehen und Fersen bleiben selbst im Stand leicht erhoben, überlassen die beträchtliche Traglast der gerundeten Fußmitte. So also schiebt sich Libby auf zumeist zweifingerbreiten Kreppsohlen durch ihr fünftes Lebensjahrzehnt. Ihre Langsamkeit erweckt Vertrauen, ihre massiven Hände, erschütternd ungeschickt, bewirken Mitgefühl, und obwohl sie ihren Einsatz in Sachen Haushalt, wenn auch brabbelnd und deshalb kaum verständlich, anbietet, plant sie keinerlei Betätigung. Außerdem weiß sie in den wenigen registrierbaren Fällen der Inanspruchnahme um die Wirkung ihres schrillen Schreis, der laut aufheulenden Verzweiflung, sobald die erste Kanne zu Bruch gegangen. Da verzieht sich der Mund nach Kinderart, ein Röcheln und Glucksen aus ungeloteten Tiefen eines scheinbar unerschütterlichen Leibes bricht sich Bahn, kulminiert in einem Laut, der an das Gebrüll eines Formel-I-Wagens erinnert. In die darauf eintretende Stille tropft viel Flüssigkeit aus Augen und Nase, die mittels eines aus dem Jackenärmel zutage geförderten Männertaschentuches aufgesogen wird. Noch lange wird sie Gesicht, Stirn, selbst das kurzgeschnittene graue Roßhaar scheuern, als müsse sie von plötzlichem Regenguß Durchnäßtes rigoros trocknen. Das durchweichte Tuch im Jackenärmel verstaut habend, steht sie und blickt geschunden über die mehr oder minder, doch allesamt gebeugten Häupter ihres betroffenen Publikums hinweg. Tröstungen nimmt sie entgegen, läßt jedoch durch leicht irritiertes Zusammenziehen der Brauen wissen, daß kein Trost, wie immer geartet, ihrer Leidensfähigkeit das Wasser reichen kann. Nun erst wendet sie sich ihren Zigarillos und einem wasserverdünnten Cognac zu.
Kaum eingetroffen, nahm sie am Küchentisch Platz, verfolgte unbewegt und schweigend die Vorbereitungen zur ersten Mahlzeit. Sie saß, die Beine so weit als möglich gespreizt, den ungewohnten, wahrscheinlich ihrer Vorstellung von Reisegarderobe angepaßten Rock über die Oberschenkel emporschiebend, als wolle sie Äpfel in der Schürze sammeln. Aufregung und Cognac färbten die linke Ohrmuschel rosa, die rechte beharrte auf Gelblichweiß. Die Ohren, erstaunlich wie die Füße, schienen nur flüchtig, gleich einem lose sitzenden Knopf, mit dem Schädel verbunden. Übergroß und flattrig, schlappten sie zwischen Haarbüscheln einher, gemahnten an Geheftetes. Meine Frage nach dem Befinden wurde mit krachendem »Ha« beantwortet. Die Ohren schlossen sich pendelnd dem »Ha« an. Alles miteinander beinhaltete Vorwurf. Je länger der einsilbige Protest unangefochten im Räume lebte, desto mehr gewann er an Bedeutung, und schon erschien die Frage dreist, uneinfühlsam, den wunden Punkt treffend. Ihre wuchtige Hand umklammerte das Glas, führte es bedächtig zum Mund. Die Annahme, daß ein kräftiger, maskuliner Schluck es leeren würde, erwies sich als falsch, denn Libby nippte, die Lippen schürzend, horchte sogleich, den Atem anhaltend, in sich hinein, als erwarte sie Anzeichen einer Vergiftung. Aufatmend und Zustimmung nickend setzte sie das Glas ab, begann mit der anderen Hand in den Taschen ihres Männerjacketts zu graben. Nach einigen Fehlgriffen fand sie, was sie gesucht: eine Hornbrille sowie ein von Gummibändern zusammengehaltenes Kartenspiel. Fachmännisch schnell und überraschend geschickt mischte sie, zog drei Karten, deckte die Bilder auf, sagte, Kreuz-Bube, Pik-As, Kreuz-Neun anstarrend: »Da ham wa den Salat.« Das derbe Gesicht verbreiterte sich unter trostlosem Lächeln, einen Zigarillo entzündend, nuschelte sie: »Wat soll’s. Seit wa Dresden mitjemacht ham, kann uns ooch die jroße Welt nich aschüttern. Übrigens, wie haste dir det mit Samson jedacht?«
»Wer ist Samson?«
»Unsa Kanarienvogel«, sagte sie, »daß det mit Samson und deinem Kater nicht jeht, is wohl klar.«
Da marschiert Hummi in die Küche. Er läuft nicht, er schlurrt nicht, er marschiert. Zielstrebig rasant ist sein Gang, als passe er sich dem Rhythmus italienischer Marschmusik an. Hummi ist klein, muskulös, kurzbeinig und von jener hitzigen Erregbarkeit, die einer besonders ungünstigen Phase des männlichen Klimakteriums zu eigen. Sein herzförmiges Gesicht, beherrscht von leicht vorstehenden Augen, ist altmodisch attraktiv, erinnert an Bilder der pikiert oder erstaunt blickenden Mädchen der frühen zwanziger Jahre. Hummis Profil hingegen ist gleich dem des Haubentauchers, scharf, angriffsfreudig, hieb- und stichfest. Noch immer thronte eine bademützen-ähnliche Kappe auf dem spärlichen, gekrausten Haar. Auch der lange karierte Mantel hing, wo er gehangen, als die beiden dem Zug entstiegen und die Weiterfahrt des ansonsten auf dem dörflichen Bahnhof nur kurz anhaltenden Zuges um etliches verzögerten. Minutenlang hatten sie Papprollen, Kartons, Seesäcke, riemenumschnallte Steppdecken und zu guter Letzt ein Vogelbauer plus Kanarienvogel gereicht.
Hummi heißt ebensowenig Hummi, wie Libby Libby heißt. Hummi ist Ottokar und Libby ist Erna. Am Anfang ihrer langjährigen Ehe hatten sie sich zu nämlichen Titulierungen verstiegen. Libby, so weiß ich, entstammt der Libelle, dem schnurrig dünnhäutigen Insekt, Hummis Beginn ist nicht nachweisbar. Überlegungen, ob Hummi von Hummel oder gar Hummer, wurden entkräftet.
Hummis Einmarsch vollzog sich unter schrillstimmigem: »Haste de Berje jesehn? Wat Majestätisches ham die.« Libby hob müde das Haupt, sagte, sich langsam erhebend und den schweren Tisch mit den Schenkeln von sich schiebend: »Mach hier keenen Laden auf. Ick war schon als Kind im Enjadin, jeden Somma im „Palace“«, und klurrte mit weitausholenden Röhren zum Eisschrank. Hummi riß demütig anbetend die Augen auf, als erfahre er eine Neuigkeit. Das Haubentaucherprofil schwenkte zu mir. »Unsere Libby«, brach es ekstatisch hervor, »‘ne Milljonärin könnt se sein, wenn de Verwandtschaft se nich betrogn hätte. Ne jeborne Milljonärin, det liecht im Blut. Keen Finga hätt se rührn müssn, ihr Lebn lang nich. Da war jrade dabei sind, haste ne Putzfrau?« Mein »Nein« ließ ihn verständnislos blinzeln. »Und noch eins«, sagte Hummi, nun geziert und um Präzision bemüht, »die Möbel gehen nicht. Ich meine, später ins eigene Haus, da haste wohl was Bessres. Wat isn det übahaupt, det helle Zeuch?« – »Arve«, grunzte Libby geringschätzig und zog ungeniert hoch. Hummis Kopf schnellte zur Tür, erstarrt stand er, lauschte einem kurzen hellen Schrei. Im Flur saß der Kater, selbstgefällig, aufgeplustert, von Federn umgeben. »Ick hab de Tür uffjelassn!« schrie Hummi und warf sich kreischend neben den verwaisten Käfig. Libby zerkleinerte Eisstücke, schob sie ins Glas, sah mich nach mehreren Schlückchen an. Ihre zu Schlitzen verkleinerten Augen nahmen Maß. »Die Frage is«, sagte sie mit einem Ausdruck, der Weisheit und Zynismus vereinigen sollte, »wird die Welt nu von Jut oder Böse rejiert?« und stampfte hinaus.
Das jämmerliche Zucken im Magen, das da signalisierte: »Es wird fürchterlich«, wurde zum Schweigen gebracht, denn dem Einzug der noch reisemäßig Verkleideten war in Bertha-losen Zeiten Schmähliches vorausgegangen. Da gab es einstens eine flinke, aufgeweckte, kochbereite Frau, die alsbald ihren fettwanstig-schläfrigen Geschiedenen in unser Heim lockte. Der saß oder lag, löste, zwischen Atlas und Lexikon geparkt, vielerlei Silben- und Kreuzworträtsel, gab Interviews, führte transatlantische Telefongespräche, ruhte aus. Verschüchterten Einwänden trat er kurzangebunden entgegen: »Wenn’s nich paßt, gehn wa beide.« Ihnen folgte eine herzig Muntere, die des Kochens überdrüssig und unheilbar kleptomanisch. Doch Oberwasser war in Sicht; denn eine Alte, rundlich adrett, mit Schalk in den Augen, erweckte Lebensmut und Zuversicht. Doch siehe, beim Anblick von Fisch verfällt sie epileptischen Krämpfen, enteilt sabbernd und Flüche murmelnd. Endlich trat ein Mann, fürstlichen Fensterputzdiensten entronnen und dem Verhungern nah, ins ruhelose Heim. Der wollte kochen, doch konnte nicht; selbst ein Kursus brachte nichts als Verbrennungen ersten Grades an Hand und Fuß. Kaum ausgeheilt, begann er, der Hungerpsychose Rechnung tragend, das Eßbare des Hauses unter seinem Bett zu stapeln und sich zu mästen, bis die Gelbsucht ihn befiel. Ihm, dem mein Mitleid gehörte, folgte eine politisch Engagierte, die zur Nachtzeit die Geschichte des Kommunismus studierte und tagsüber schlief. Noch ein Ehepaar, knackfrisch, doch wortkarg, im Gefolge zwei mordlustige Doggen, stieß sich an unserem Fernseher, der nur schwarz-weiß statt bunt, schalt uns der Ausbeutung und Gemütlosigkeit. Auch die nur stundenweis beschäftigte Witwe eines Kommerzienrats hinterließ Mißmut und Scherben, die den Restbestand unseres Geschirrs darstellte. Darauf eine Junge mit Stützstrümpfen und Blockflöte, Absolventin der Haushaltsschule im Württembergischen, erwies sich als heiratsbesessen und sexuell haltlos. Eine Sanfte, kaum Achtzehnjährige, verbringt familienverstoßen die letzten zur körperlichen Untätigkeit verdammten Monate ihrer ersten Schwangerschaft bei uns. Die Zeit meiner Schwangerschaft hingegen verbringen wir, scharfsichtig und unduldsam geworden, allein. Sogleich nach Geburt und Operation hinter jenen Fenstern, vor denen Maigrünes wächst und das Urteil Möglichkeiten ahnt, tritt eine staatlich geprüfte Säuglingsschwester ein, die der späten, doch unerfahrenen Mutter zur Seite stehen soll. Sie schüttet unbekümmert und entgegen jeder Regel Seifenpulver in Milchpulverdosen, vergiftet um Haaresbreite das soeben dem Inkubator entrissene Kind. Da platzte mir der Papierkragen, ich verzieh der nächsten die ungesicherte windelhaltende Sicherheitsnadel nicht und wies ihr, mit weit-gestrecktem, doch zittrigem Arm, die Tür.
Nun kam Bertha. Zum zweitenmal trat sie ein und auf: unterm Arm die durchsichtige Tragtasche, in der Kater David wutgeschüttelte Saltos schlägt, rundherum vier rote Koffer, ein gerahmtes Bild, auf diesem Bertha, dünn, mutlos blickend, in Wasserfarbe konterfeit, anno 64. »Nu ja«, sagte sie, und natürlich auch »So«, nahm Küche in Augenschein, leerte Fächer, füllte Abfalleimer, zermalmte vorgeröstete Gulaschzwiebeln, Pudding- und Kuchenpulver zu unköstlichem Brei, schüttelte die frischfrisierten, festgefügten Wellen, sagte nochmals: »So«, als hätte sie eine kurze, wenn auch anstrengende Reise hinter sich gebracht, und nahm den noch ungewohnten Platz am Kinderbett ein. Doch dann, viereinhalb Jahre später, nach Albatroszeit, Krach, Tränen: Auszug. Neues Entsetzen, altes Chaos. Nun Hummi, nun Libby und das ekelhafte Zucken im Magen, das da fragt: Wo ist Bertha? Doch Hummi und Libby nehmen Besitz, füllen aus, verurteilen mittels leeren Vogelbauers, das gleich einem Mahnmal steht und Schuld spricht. Die weitläufige Wohnung mit ihren von Bergen verdüsterten Zimmerchen beginnt unter Klurren und Marsch zu beben. Koffer, halb ausgepackt, verstellen den langen, engen Flur, erinnern an Tournee, an tägliche An- und Abreise, rote und lila Schleier, über unschmucke Lampen geworfen, tauchen knorrige Arve in Nachtclublicht; Tische und Regale, verstellt vom Inhalt mehrerer Reiseapotheken und zerfledderten Ausgaben ungezählter antiker Gesundheitslexika, lassen auf intensive Eigenbehandlung schließen. Der Morgen turbulent, das Kochen einer warmen Mahlzeit zum Zentrum der Existenz erhoben, verdammt der Nachmittag zu Schweigen und lautlosem Schreien. Sie entspannen, ruhen, lassen schmoren in eigenem Saft, denn da waren die ersten einer Kette von Forderungen, die auf bockbeinige Ablehnung gestoßen: a) Putzfrau, b) Zweitwagen, c) Abonnement etlicher Zeitschriften, d) weltweite Fotorechte an Hausherrn, an Kind, an arbeitsamer Mutter und Frau, die dank mancherlei öffentlicher Berufe: als da Schauspiel, Chansonsingen, auch Bücherschreiben, Gegenstand der Presse. Hummi, eigenen und kaum nachprüfbaren Aussagen zufolge einst Kriegsberichterstatter bei Dnjepropetrowsk, plante mit wohl Schwarzmarktzeiten entstammender zopfig heimeliger Kamera Bilder aufzunehmen und sie an deutsche Hausfrauenblätter zu verteilen. Man muß es Hummi zugute halten, er war auf verschlagene Art und Weise geschäftstüchtig und bis zu einem gewissen Grade fair, denn er schlug eine 90:l0- Teilung mit seinen Modellen vor.
Krisen eskalieren und überschneiden sich; unübersehbar, unüberhörbar wird vor Aug und Ohr gehalten, daß die prahlerische Unabhängigkeit der berufstätigen Frau Fiktion. Inmitten bedrückender Tage, die voll der Melancholie, rufen meine kriegsversehrten Nacken- und Rückenwirbel zum Angriff. Bar jeder Hoffnung, suche ich nach einem Helfer, finde Prof. H., Gelenks- und Knochenspezialist, Operateur, in Paris aufgewachsen, sorbonnegeschult, nach Klinikweihe in Rom und Boston heimgekehrt ins Land der Berge und Skiunfälle.