Читать книгу Das Urteil oder der Gegenmensch - Hildegard Knef - Страница 6

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Prof H. ist lang, jung, breithüftig, kurzsichtig, ungelenk und für einen Schweizer auf betörende Art redselig. Seinen Mantel in die Ecke schleudernd, die graublonde Mähne schüttelnd, als müsse er sich aus Spinnweben freikämpfen, beginnt er in der Wohnung auf und ab zu galoppieren. »Das Land der Etrusker«, röhrt er und wirft streitsüchtige Blicke durchs Fenster, »knöcherne, grauenvolle Etrusker zwischen knöchernen, grauenvollen Felsen. Ihre Toten haben sie im Stehen begraben.« Er reckt sich, knallt mit dem Kopf gegen den niedrigen Türrahmen, macht deutlich, wie es sein muß, im Stehen begraben zu sein. Der Schlag dämpft den Zorn, gesenkten Hauptes und geniert lächelnd, fügt er lahm »Selbst ihre Sonne ist hölzern« hinzu. Er reißt Libby-Schleier von Lampen, entfernt Schirme, schaltet ein, dreht das Licht hin und her, sagt, peinlich berührt und sinnlos um sich sehend: »Sie müssen sich ausziehen«, und bleckt die Zähne den Bergspitzen entgegen, als plane er Gewalttätigkeit. Größtmöglichen Abstand einhaltend, umkreist er mich, springt unvermutet zurück, preßt sich gegen die Wand, als müsse er Platz schaffen, den Raum erweitern, Bewegungsfreiheit erzwingen, ruft verstört: »Nicht, daß Sie denken, ich sei hier geboren.« Er zerrt die Brille von der Nase, reibt sie am Hemdsärmel, hält sie vor die Augen, setzt prustend und nickend die Einkreisung fort. Er trabt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf seitlich geneigt, als lausche er dem heimlichen Knarzen schlechtsitzender Knochen und Wirbel. Unsichtbar, weil hinter mir, vernehme ich Händeklatschen, dann die sich fast überschlagende Stimme, die »Ihre linke Gesäßfalte ist niedriger als die rechte!« brüllt. Er springt in Sicht, forscht Nase an Nase: »Hatten Sie Kinderlähmung?«

»Ja.«

»Na also«, schreit er, breitet die Arme aus, taumelt rückwärts, rammt die Wand.

Gebannt beugt er sich vor, als sei er auf der Spur eines brillant geplanten Verbrechens, die Fragen knattern gleich einem Maschinengewehr: »Wann hatten Sie die Lähmung?«

»Als Kind.«

»Sie wurden geröntgt?«

»Oft.«

»Nichts gefunden?«

»Nein.«

»Die Gesäßfalte?«

»Was?«

»Hat keiner geseh’n, daß die Gesäßfalte niedriger?«

»Nein.«

»Daß ein Bein kürzer?«

»Auch nicht.«

»Ist es denn die Möglichkeit.« Er bedeckt das Gesicht mit beiden Händen, dreht sich zum Fenster, murmelt, die Berge durch gespreizte Finger fixierend: »Lassen Sie sich nicht mehr röntgen, man kriegt nur grüne Haare davon.« Er läßt die Hände fallen, stürmt zur Tür, greift seinen Mantel, fährt mit rechtem Arm in linkes Ärmelloch, verfängt sich in Futter und Taschen, müht sich geduldig, zerstreut, öffnet, den Ausgang suchend, Schrank-, Küchen-, Toilettentüren, lacht dröhnend und dankbar, als sei er Publikum des altbewährten Abgangsklamauks, ruft, die Treppen hinunterhoppelnd: »Kommen Sie morgen in meine Klinik.«

Die septicalgescheuerte Rumpelkammer ist sein Büro, vollgestopft mit Regalen, Tischen, Stühlen, Telefonen, Büchern, Zeitschriften. Er stakst, von Wänden und Möbeln behindert, gleich einem gefangenschaftskollrigen Kranich, sieht angeekelt auf eine steile, himmelverstellende Bergwand, sagt: »Wollen Sie mein Haus? Ich geb’s Ihnen. Ich muß hier raus, weg von den Etruskern.« Er reißt das Fenster auf, der Wind spuckt Schneekörner herein, zerrt an Gardinen, schiebt Rezeptblöcke vor sich her, rührt um. Er knallt das Fenster zu, ruft: »Na bitte«, als sei die Notwendigkeit seines Anzugs bestätigt.

Nachdem eines der zahlreichen Telefone zum viertenmal geklingelt, nimmt er den Hörer auf, als könne der augenblicklich explodieren, horcht wortlos und mißtrauisch, brüllt abschließend: »Aber ja doch«, legt ihn nasekräuselnd zurück. Mit dem Zeigefinger in Schneeflockenpfützen rührend, sagt er: »Haben Sie Zeit für einen kleinen Test?«

»Was für ein Test?«

»Möchte wissen, ob ein Nerv gequetscht ist.« Die Schultern heben sich, die Arme baumeln, der Blick über Brillenrand täuscht Harmlosigkeit vor. »Wie lange dauert das?«

»Eine Stunde.«

»Wie spät ist es?«

Überrascht sieht er auf, befühlt Handgelenk, auch Unterarm, schließlich Ellbogen, sagt: »Ich hab’ meine Uhr vergessen«, wühlt unter Blättern und Blöcken, findet schmale goldene Schreibtischuhr, klopft, schüttelt, sagt: »Und die steht.« Die Finger zwischen die Zähne schiebend, sitzt er, sieht mich freundschaftlich beifällig an: »Vergessen Sie auch immer die Uhr umzubinden?«

»Ich hab’ keine, ich frag’ lieber.«

Sein Lachen gluckst, bricht aus, reißt seinen Kopf zurück. »Nein, so was«, ruft er und nickt außer sich vor Freude einem mitschußligen Uhrenlosen zu. Sich auseinanderfaltend, nimmt er meinen Arm, zieht mich zur Tür hinaus und über einen der trübseligen Krankenhausflure mit ihren grämlichen Gummibäumen, Infusionshaltern und Bänken.

Ein zierlicher, kindlich aussehender Arzt mit italienischem Akzent und ebensolchem Namen erhebt sich, lauscht den Ausführungen des Prof. H. in Schwyzerdütsch, setzt mich neben ein elektronisches Ungetüm, sagt leis und sanft lächelnd: »Ein kleiner Stich, später kribbelt es.« Er schiebt zwei stricknadeldicke Kanülen in die Halsmuskeln, dreht Schalter, klappt Hebel, das Ungetüm knirscht, pfeift, speit kurvenbemalte Bänder. Angeseilt hocke ich, schicke flehentliche, doch unbemerkte Blicke in sämtliche Richtungen; Stromstöße, mild und beständig, lassen mich beben und hüpfen gleich einem Pingpongball auf Wasserfontäne. Nach einer Zeit, die außerhalb der Meßbarkeit zu sein scheint, zieht er die Nadeln, klebt Pflaster, entläßt mich. Prof. H steht gedankenverloren an eine Mauer gelehnt, murmelt, die Kurve aufrollend und einreißend: »Im Grunde alles Quatsch; was Sie brauchen, ist ein Schuh mit höherem Absatz und später ein neues Hüftgelenk.«

Tagebuchnotiz, 29.6.1974

Die Gegenwart ist in Rage. Ich komme nicht um sie herum. Neuer Verdacht. Übermorgen werden sie mich röntgen. Das taten sie schon mal. In der Schweiz. Vor-Urteil. Und fanden nichts. Beim vierten Mal fanden sie auch nichts. Zwei Monate später, in Salzburg, ahnten sie, verzichteten auf Bilder, nahmen Messer. Jetzt wieder: Bedenken, bagatellisierte Bedenken und Röntgen. Messer noch nicht.

Da ist die Hepatitis, die reizbar schwelt, eine zum verdösten Protest gehörige Kriegshepatitis, unausgeheilte, übersehene, ungelbe Gelbsucht. Da ist sie, grinst leberschädigend, verdonnert zu Mickerdiät. Dann noch eins: Das Bauchfell. Da ist was verwachsen.

Ich gehe durch mein Haus und sage: Das ist mein Haus.

Ich gehe zu einer Party und denke: Wer könnte hier verurteilt sein?

Angst vor Narkose, vor Operation, vor Gewühle in vernarbten Venen, vor Schmerzen, vor Atropin, vor: Wache ich überhaupt noch auf?

Der leise Schlaf, aufspringen, an Tochters Bettrand sitzen, ins rabenschwarze Loch fallen. Verschlafen murmelt sie: »Hast du Schmerzen?«

Übermorgen weiß ich, ob sie mich zum 57. Mal operieren werden.

Tagebuchnotiz, 2.7.1974

Ich tat so, als sei’s gar nichts, zog Jeans und Dauerpullover aus, warf mich in Balmain. Nur hinterher, da überrumple ich meinen U-Boot-Kapitän, fall’ ihm um den Hals. Ich falle nicht um Hälse, doch gestern fiel ich ihm, meinem Mittler. Der Röntgenologe sah zu, verlegen irritiert: »Da ist nichts. In drei, vier Monaten schau’n ma noch mal nach. Aber der Darm, also heuer nix, aber dann müssn ma, da machn ma auf, zum sechsten Mal, sonst kommen S’ in der Nacht, und dann ham ma den Salat, a Darmverschlingung brauchn ma wie a Loch im Hirn.« – Was sagte Ludwig Marcuse? Da gibt’s die schicken und unschicken Krankheiten: Darm-nicht, Hämorrhoiden-nicht, kurzsichtig-ja, schwerhörig-nein, TBC-soso, Blinddarm-ja, Krebs-nein.

Dann zum Internisten. Er blättert in Lebertestzetteln wie ein Warenhausbesitzer in Kassenbons, hält undurchsichtigen Monolog: »Also Bilirubin – noja, Transaminasen san fast, noja, aber die Phosphatase.« Er schnalzt, als hätte er, Süßes erwartend. Saures geschmeckt. »Also Kalium, da frag’ ich, was hat denn das, also da könnt’ man doch, Thymoltrübung noja, Gamma GT ...« Ohr kraulen, durch mich durchsehen, weiter: »Elektrophorese, da ham ma’s, nun laßt sich red’n. In vierzehn Tagen kommen S‘ bitt schön noch mal. Diät lockern, aber ja, sonst fallen S’ aus’n G’wand, a Glas Wein, a bisserl Freud braucht der Mensch selbst bei der Hepatitis.«

Sie machen’s einem leichter hier, weniger kasernenhofig: Stramm gelegen, Maul halten, Akademiker spricht. Ich turne übers Krankenhausgelände, als sei’s mein Zweitheim. Ludmilla ist da, ein Drittel der Morgenenergie abgewirtschaftet: »Ja mei, was sagen S’, ich werd’ immer fetter, was macht man bloß? Besuchen S’ uns, aba dabehaltn wolln ma Sie nicht, wann’s geht.« Geschenkte Welt, geschenkte Stadt, geschenkter Tag. Salzburg USA-besetzt, zermürbt zerknittert, herablassend beeindruckt. Die Dicksten tragen weiße, enge Hosen, ihr Rouge bläkt wie Scharlachflecken. Noch immer die Schleierchen, die silber- und goldschimmernden Jacken auf alten Rücken, dazwischen ein paar mitgenommene angeödete Junge mit dem Wer-braucht-das-Gesicht.

Mein Buch haben sie gekauft, mein Buch haben sie gelobt, käuflich bin ich, käuflicher denn je an dem geschenkten Tag. Ich werde ihre Hüte, Hosen, Kameras, selbst ihre Stimmen lieben.

Am Abend nach dem Besuch bei Prof. H. folgten wir einer Einladung der Marina Agallo.

In einer der letzten Haarnadelkurven der oberen Suvrettastraße hatten sich ihre Wagen hoffnungslos ineinander verkeilt. Der weiße Rolls der Maharani stand quer; sein Kühler und Kofferraum von fast zwei Meter hohen Schneewällen bedrängt, ähnelte er einem gestrandeten Wal oder auch dem Rücken eines im Schnee versinkenden Elefanten. Hinter ihm keuchten zwei Bentleys, vier Cadillacs, sechs Mercedes, ein Porsche, zwei Rolls und zahllose Fiats. Die Juchzer aus geöffneten Wagenfenstern gehörten zum guten Ton; pingeliger Verdruß auf dem Weg zum allabendlichen Amüsement wäre undiskutierbar und pöbelhaft gewesen und der Unterwerfung leicht widriger Umstände gleichgekommen. Der zweite, an Festlichkeiten bedeutendere Teil der Wintersaison hatte begonnen, und beinahe alle, die hier warteten, gehörten jener Elite an, die entweder unfaßlich reich oder von bedeutungslosem, doch schmückendem Adel beziehungsweise von weltweiter Berühmtheit. Die Tür des Wals öffnete sich, ein dicklicher junger Mann ließ zwei weißbekleidete Beine heraushängen, setzte die Füße zaghaft auf die spiegelblanke Fläche und fiel ungraziös und hilflos mit den Armen rudernd auf das Eis. Der bodenlange, über die Schultern geworfene Nerz glitt gemächlich zwischen den Rädern der Bentleys hindurch und den steilen Weg hinab. Der Mann rappelte sich auf, zeigte, im Scheinwerferlicht stehend, ein am Nabel verknotetes offenes Hemd und breite Halsketten, an deren Enden pflaumengroße Brillanten hingen; sich an einen Markierungspfahl klammernd, streckte er eine beringte Hand zur Tür, half der zierlichen, seidenumwehten, rubinbeschwerten Maharani aus dem Wagen; gestützt von zwei Chauffeuren, torkelten sie lächelnd, die Hände zum königlichen Gruß erhoben, den Berg hinauf. Einer nach dem anderen verließ sein kuschelwarmes Gefährt und trippelte in seidenen oder samtenen Abendslippern auf einen scheunenartigen Bau zu, der vor mehr als fünfzig Jahren einer in St. Moritz ansässigen Engländerin als Teehaus gedient hatte. Obwohl die Gastgeberin, Marina Agallo, Frau eines der reichsten italienischen Industriellen, im Besitz eines prachtvollen Chalets, wäre es von unverzeihlicher Einfallslosigkeit gewesen, hätte das Fest, zu Ehren ihres Mannes und anlässlich seines fünfundfünfzigsten Geburtstages, im bequemeren und auch leichter zu erreichenden Eigenheim stattgefunden. Signora Agallo stand an der Tür des holzgetäfelten und bis zur Luftlosigkeit überheizten Raumes und begegnete der Ausgelassenheit ihrer Gäste mit befremdender Fahrigkeit und Nervosität. Ihr ansonsten schönes, gepflegtes, jedoch von Feinnervigkeit gezeichnetes Gesicht war aufgedunsen, ihr langgestreckter, wohlproportionierter Körper von unkleidsam blaurotem Chiffon verborgen. Signor Agallo war nicht da. Er kam immer zu spät. Ihm, dem Boeings, Learjets und Hubschrauber gehörten, konnte niemand nachsagen, je pünktlich gewesen zu sein; und wenn er erschien, ließ er durch die Hast, mit der er grüßte, aß, trank, sprach, ahnen, daß er bereits anderswo überfällig.

Signora Agallo rief, sich im Kreise drehend und den Inhalt ihres Glases verschüttend: »Er muß jeden Augenblick hier sein«, als könne seine Abwesenheit einen plötzlichen Aufbruch auslösen. Ein französischer Bankier in wappengeschmücktem Blazer murmelte: »Sie ist alt geworden«, und unterzog sie hinter gesenkten Lidern der saisonbedingten Jahreskontrolle. Ein jeder verglich, notierte Veränderungen, schloß eigene aus, stärkte sich in der Überzeugung, ein konservierter Zuschauer des Alterns zu sein, und führte ein verjüngtes Äußeres auf kosmetische Eingriffe zurück. Signora Agallo war offensichtlich das noch unoperierte Opfer eines natürlichen, wenn auch indignierenden Verfalls.

In unbeleuchteter Ecke saß, die kurzen Beinchen von sich gestreckt, in kinderkleiner Hand ein Martiniglas haltend, der außerordentlich sprachgewandte, von der Gesellschaft ungelesene und dennoch geschätzte amerikanische Schriftsteller H. C. Sein breitflächiges Gesicht, das wenig zu der eleganten, doch knirpsigen Gestalt paßte, war geschrumpft, als wolle er sich endlich den Gesichtern aller alternden Schriftsteller angleichen. Die zwischen den Brauen aufstrebenden Längsfalten zogen Muskeln und Haut zusammen, gaben erste Hinweise auf die Schriftstellern eigene Schrumpfung und Aufzehrung. Pergamentnahe Austrocknung scheint Erkennungszeichen aller Schreibenden zu sein; ihre Gesichter, frühzeitig geprägt von isolationsvergiftetem Zweikampf, als da: er und Gedanke, er und Worte, er und Blatt plus Schreibmaschine, er und er, sind aufgesogen, splittrig, benagt, zerknittert, bis nichts mehr übriggeblieben als ein sich selbst verzehrendes Viereck, das sich weiter und weiter entfernt von den größer, breiter und glatter werdenden Landschaften der Malergesichter. Selbst jene, die jung, bullig und schnurrbartverhangen, treten alsbald hinter Schnurrbart zurück, leben, selbst bei aufgehendem Taillenumfang schmal und schmäler werdend im feingezeichneten Muster dicht zusammenrückender Vertiefungen.

»Es ist das letzte Mal, daß ich hier bin«, sang er gedehnt mit seiner bestürzend hohen und nasalen Stimme und verfolgte interesselos den unaufhaltsamen Einzug der Gäste: »Die Höhenluft sagt mir nicht mehr zu.« Mit der Andeutung eines Nickens grüßte er die österreichische Prinzessin, deren Gesicht dank zahlloser kosmetischer Operationen bis zur Unkenntlichkeit ebenmäßig und bewegungslos geworden war. In die Dunstfäden vieler Zigaretten blinzelnd, sagte er: »In New York raucht kein Mensch mehr. Ich habe es aufgegeben. Die Entziehung war grauenvoll. Und das Schreiben wird zur Qual.«

Der, selbst Autorennen abholden Menschen, bekannte Formel-I-Fahrer trat ein, verharrte schweigend vor einem schwatzenden Kreis, peilte mit seinen eng zusammenstehenden Augen, die nicht annehmen ließen, daß sie irgend etwas außerhalb der eigenen Nasenspitze wahrnehmen könnten, einen fernen Punkt an. Das etwas freudlose, doch leutselige Gelächter des Prinzen von S., Vorstand eines zeremoniösen Ski-Clubs, rollte in gleichmäßigen Abständen über die Köpfe hinweg. Es tönte gleich einem Pausenzeichen, gewohnheitsmäßig und ohne besonderen Anlaß; ebenso beständig neigte sich der schmale, fast kahle Kopf über die Hände der Damen, verhielt jedoch in gemessener Entfernung vor dargebotenen Handrücken, ließ sie, von seinen Lippen unberührt, fallen. Konträr zum Luxus mancher Wagen war die Kleidung der Anwesenden, von kaum nennenswerten Ausnahmen abgesehen, auf Armeleutefummel oder fleckenbestückte Jeans mit Pophemden beschränkt. In den Polstern ihrer Rolls und Cadillacs nahmen sie sich aus wie per Anhalter reisende Semesterälteste. Der Großteil der nun fast vollständig Versammelten war italienischer Herkunft. Auch im Olymp der Saisonelite blieb man, obwohl kosmopolitbetont und vieler Sprachen, wenn auch oberflächlich, mächtig, vorwiegend nationalgebunden. Nur die Deutschen zogen zumeist den Umgang mit Engländern oder Franzosen dem der Landsleute vor. Im Falle einer robusten Industriellengattin ging die Distanzierung so weit, daß sie das Telefon im deutsch- und romanischsprachigen Engadin mit einem gezierten »Qui est là?«, das unverkennbar rheinischen Ursprungs, beantwortete. »Ich höre, sie hat Krebs«, sagte Bela, ein in New York lebender Ungar, der als gesuchter Innenarchitekt so manche prachtvolle Villa verschandelte, und blickte, den Mund widerwillig verziehend, zur beklemmend agilen Signora Agallo. »Sie war in der Mayo-Klinik.« Seine diskret geschminkten Lider hoben sich, die Iris schob sich himmelsuchend nach oben, dennoch griff er mit sicherer Hand nach einem dargebotenen Whisky-on-the-rocks, biß krachend in eines der großen Eisstücke. »Guido macht ihr Sorgen«, sagte er eisknatschend, »aber wann hat er das nicht.« Er lachte, als wüßte er weitaus mehr, als er zuzugeben bereit war. »Im Grunde hasse ich diese rendezvous annuels«, sagte er mit pfeilschnellem Blick auf einen jungen, verhungert aussehenden Norditaliener, dessen weißblondes Haar in sanften Wellen über magere Schultern hing. Er stand an eine Wand gelehnt und sah überaus gelangweilt in die Runde, jede seiner äußerst spärlichen Bewegungen gab den Eindruck, er lege Wert darauf, sich zu schonen. »Man spielt die unterbrochene und unzulängliche Pièce und fühlt sich wie seine eigene Urlaubsvertretung.« Bela leerte sein Glas, zog ein großes goldenes Zigarettenetui aus der Tasche der prallsitzenden Samthose und lächelte kokett, als wolle er klarstellen, daß ihm jedwede Ernsthaftigkeit abginge. »Man möchte die Veränderung aufhalten«, fuhr er fort und stemmte die kräftigen, etwas dickfingrigen Hände gegen eine imaginäre Wand, »es ist das gleiche mit den Städten«, der Blick wanderte scheinbar zufällig zum Weißblonden, verhakte sich am mädchenhaften Profil, »sie sollten bleiben, wie sie waren; ich wünsche mich an ihnen auszurichten und die Veränderlichkeit durch sie zu annullieren. Mit anderen Worten, ich verlange den Stillstand«, sagte er lauter als notwendig und zündete sich umständlich eine in Goldpapier gewickelte Zigarette an.

André hoppelte durch das Gewühl, er war wie stets außer Atem, rief, mokant die hellblauen Augen rollend: »Was für eine langweilige Saison, nicht ein einziger Skandal. Selbst der Schah sagte heute beim Déjeuner ...« Doch da riß es ihn herum. Die Arme in die Luft gestreckt, als wäre er im Begriff unterzugehen, warf er sich einer spillrigen Comtesse in exzeptioneller Abendrobe entgegen, schrie: »Ma chère amie«, ließ sie augenblicklich wieder los, murmelte, dem verhungerten Reglosen zugewendet: »Ist er nicht traumhaft, unser schöner Verschwiegener.« – »Er ist nicht verschwiegen«, gluckste Bela, »er hat nur nichts zu sagen.« André lachte beglückt, atemlos, den Kopf weit zurückgeneigt, zeigte prachtvolle weiße Zähne und auch zwei Klammern, die sie hielten. André, ein Wiener aus verarmtem, doch angesehenem Geschlecht, betupfte die von ständiger Aufregung geröteten Wangen, strich hastig über das makellos frisierte weiße Haar, senkte die Stimme zu kaum verständlichem Murmeln: »Also wirklich, wie konnte Marina diesen rouge Fetzen anziehen, sie sieht aus, als wäre sie auf einem stark befahrenen Teil der Autostrada tätig, und überhaupt, sie soll, du weißt schon, was, haben ...« Bela fischte ein Glas vom vorüberwandernden Tablett, sagte: »Unter derartigen Umständen sollte sie Schwarz tragen.« – »Und du bist ein petit con«, flüsterte André genüßlich und winkte dem ihn ignorierenden Blonden zu. »Hast du dich seinetwegen nicht fast einmal umgebracht?« fragte er und grinste infam. Bela preßte die Lippen zusammen, eine scharfe Falte zog sich von Nasen- zu Mundwinkel, doch sogleich lächelte er wieder, breit und behaglich, nur in den Augen blieb ein Rest von Drohung und Feindschaft. »Der Grund des Suizides ist egal, der Erfolg ist interessant.« – »Und deiner war, gottlob, erfolglos«, gurrte André und weitete die Augen in outrierter Gunstbezeigung. Bela ließ die halbgerauchte Zigarette zu Boden fallen, wartete, bis André sie ausgetreten hatte, nahm die untertänige Geste als Entschuldigung, zeigte sein wohlgemutes Lächeln, sagte: »Die Jugend wird aus der Mode kommen, wie das Alter aus der Mode gekommen ist, wie eben alles irgendwann aus der Mode kommt. Sogar wir.« Er zog die Wangenhaut zwischen die Backenzähne, senkte die Lider, zuckte mit einer Schulter; André wedelte mit den Fingern, als mache er Lockerungsübungen, rief: »Jugend. Erinnere mich nicht. Meine verbrachte ich im Gestapogefängnis. Damals gab es noch Helden.« Er bellte: »Helden«, daß es selbst den bisher schläfrig und sprachlos herumstehenden US-Popmaler aufschreckte. Sekundenlang hob sich das starre, kalkweiße Gesicht; die ziellos matten Drehungen des Kopfes ließen fürchten, daß die von dunklen Gläsern verdeckten Augen erblindet, dennoch vermittelte er das Gefühl, nicht ganz so arglos entkräftet zu sein, wie er vorgab. Der Ehrgeiz schien getarnt, die Zähigkeit hinter Unlust und Phlegma verborgen. Die beinahe kindliche Blasiertheit gab die Nachahmung preis, Nachahmung einer Epoche und ihrer äußerste Empfindsamkeit zelebrierenden Auserwählten. Der überaus Erfolgreiche und Amerikageprägte stellte sich als Enkel des Jahrhundertwende-Paris dar, als ein Nachfahr der Gides und Prousts, dessen Ambition, diesen ähnlich zu sein, am grandiosen Mißverständnis fehlerhafter Überlieferungen scheiterte.

»Kann mir jemand erklären, warum wir in diesem infernalischen Heustadl zusammenkommen?« fragte Bela und rieb seinen schweißbedeckten Hals.

»Angst vor Paparazzi und Streiks«, flüsterte André, verängstigt über seine Schultern blickend. »Der gute Guido wagt kaum mehr ein Restaurant zu betreten. Beim ersten Löffel Kaviar schreien sie Kapitalist.«

Bela sagte: »Degoutant« und: »Wenn es uns gutgeht, wissen wir erst, wie schlecht es uns geht.«

»Shaw«, rief André und pochte zurechtweisend auf Belas Brust. Der gähnte kieferknackend mit gespitzten Lippen, murmelte: »Wer sonst«, kniff die sich rötenden Augen zusammen, seufzte, mit dem Kinn zum Eingang deutend: »Auch das noch.«

Da hielt Lala Einzug. Sie einzuladen bedeutete, den Einzug in Kauf zu nehmen. Der stets exzellent geplante wäre diesmal fast unbeachtet geblieben, wenn sie nicht in der geöffneten Tür verharrt, bis ein jeder sich der Quelle des eisigen Durchzugs zugewendet. Sie stand, genoß Aufsehen und Erstaunen. Im letzten Winter noch war sie der ebenso belächelten wie gefürchteten Frau eines Vorstadttheaterintendanten ähnlich gewesen, die dank ihres Einflusses das lang entwachsene Fach der Naiven und der jugendlichen Salondame innehält. Die engen, silberglitzernden, zumeist mit schwarzen Federn besetzten Lastexanzüge hatten ihren einhundertsechzig Zentimeter kleinen Körper gleich einem Ekzem umspannt, sonnenbraunes Make-up und hellrot gefärbtes Haar hatten selbst den kostbarsten Schmuck unecht und vulgär erscheinen lassen. Doch seit ein scheuer höflicher Jüngling italienischer Abstammung in ihr Leben getreten, war eine Veränderung vor sich gegangen. Das nun weißblonde Haar hing glatt und kurzgeschnitten, das einstmals runde Gesicht war schmal, straff und von edler Blässe, ein schwarzer Hosenanzug, an dessen Jacke eine reversbedeckende Saphirbrosche steckte, hob sich wohltuend in seiner vortrefflichen Unauffälligkeit vom Wirrwarr des lottrigen Boutiquekrempels ab. Nichts deutete darauf hin, daß sie die 65 überschritten, vier Selbstmordversuche überlebt und vor kaum eineinhalb Jahren zum sechstenmal Witwe geworden.

Lala, alias Selma Kladtke, hatte ihren Weg gemacht. Selma, in Rangsdorf bei Berlin geboren, in Luckenwalde aufgewachsen, entsagte dem Alkohol, um einer angeborenen Geschwätzigkeit entgegenwirken zu können. Nur einmal hatte sie, möglicherweise berührt vom Berliner Tonfall der Autorin, zu Dom Pérignon und auch mehreren Cognacs gegriffen und die Geschichte der Selma Kladtke preisgegeben. Jene entstammte nicht, wie allgemein angenommen, der Verbindung Berner und luxemburgischer Familien, nein, Selma Kladtke war unehelich, ganz und gar besitzlos, mit unbedeutendem, beinahe kümmerlichem Aussehen zum Siegeszug angetreten. Der begann dürftig und wenig versprechend in einem Hutmachergeschäft am Spittelmarkt, Berlin Mitte, als stumpenbügelnde Zweithilfe. Nachdem sie enttäuschende Monate in sonnenlosem Winkel über heißen Eisen zugebracht, begab sie sich, eine geringfügige musikalische Begabung zum Anlaß nehmend, in die Hände eines ältlichen Alleinunterhalters, der ihr unter anderem einige gängige Lieder und elementare Griffe auf dem Akkordeon beibrachte. Das beschränkte Programm, auf Betriebsausflügen und Dampferfahrten erprobt, verführte sie, sich dem Publikum Berliner Kleinkunstbühnen zu stellen. Das Echo war lähmend. Die darauffolgende Eröffnung eines eigenen Hutsalons, finanziert vom Ersparten des Alleinunterhalters, zog die alsbaldige Schließung sowie die Auflösung des ehedem freundlichen Verhältnisses nach sich. Bedrängt, fand sie sich in zahlreichen, zum Teil nicht bekanntgegebenen Stellungen aller Art wieder. Der Abbruch einer Schwangerschaft fiel mit dem Anfang des Krieges zusammen. Kaum genesen, schloß sie sich den vorauseilenden Truppen an, zog singend und akkordeonspielend zwischen Narvik, Nordafrika und Südrußland umher, bis der enger werdende Kreis der wehrmachtbetreuten Gebiete den Aufbruch erwägen ließ. So trampte Selma Kladtke, Künstlerin, gebürtig zu Rangsdorf bei Berlin, im Mai des Jahres 1945 mit nur einem Pappkoffer und ohne Akkordeon über die Schweizer Grenze, heiratete sogleich einen alten, doch willigen Einheimischen, zeigte sich anstellig im Erlernen des Schwyzerdütsch und wurde, kurz nach Erhalt des helvetischen Passes, zum erstenmal Witwe. Sie hieß von nun ab Lala, und, befristet: Wäggeli. Ein Schweizer Millionär, vom Bankwesen aufgerieben, nahm sich der Trauernden an, machte sie alsbald zur Gemahlin und Erbin, verschied noch im gleichen Jahr. Ihm folgte ein südamerikanischer Milliardär – Zinn –, nach dessen Ableben sie sich das Versprechen gab, bei südamerikanischen Milliardären zu verweilen. Die Erbschaften, schier unermeßlich, mit Liegenschaften von Rio über New York, Zürich, Cannes, London bis Hongkong, erforderten umsichtige Verwaltung und höchsten Einsatz der Alleinerbin. Betrügerische Anwälte mußten alsbald einsehen, daß sie gegen Selmas wendische Entschlossenheit nichts auszurichten vermochten. »Wir Wasserpolacken lassen uns nich üba’s Ohr haun«, hatte sie, kokett ihre Herkunft herabmindernd, gesagt und das dritte waschbeckengroße Cognacglas mit einem Schluck geleert. »Eene hat’s ma ernsthaft versucht, ne Krankenschwester, die meinen Letzten gepflecht.« Die Erinnerung hatte den drollig herzförmigen Mund zum haßerfüllten Strich verzogen. »Aba der ha ick jezeicht, wo Bartel sein Most holt. Hat die doch den Ollen umjarnt, bis der nich mehr wußte, wo ihm wat steht.« Und prompt hatte der Gebreste begonnen, der ohnehin schwindenden Sinne nicht mehr Herr werdend, ein neues Testament aufzusetzen. Die Erbschleicherin wich, obgleich der Sieche rachsüchtig krähte, einer 70jährigen, an irdischen Gütern Desinteressierten; und so kam alles, nach einem letzten dramatischen Selbstmordversuch der Selma-Lala, zum gewohnten Ende. Mit den makellos manikürten Spitzen ihrer langen Nägel kleine Kreuze auf das blütenweiße Tischtuch zeichnend, hatte sie an jenem freizügigen Abend »Sie starben mir alle unta de Hände weg« gesagt und hilflos erstaunt aus kornblumenblauen Augen aufgesehen, bis ihr lautes, schepperndes Lachen die Harmlosigkeit zerfetzte. Es war das Lachen der dunklen Hausflure des Spittelmarkts, der schäbigen Tourneegarderoben, der eindeutigen Witze frauenloser Männer in feldgrauer Etappe. Geschüttelt vom Lachen ihrer Vergangenheit, hatte sie, vom Schluckauf kieksig unterbrochen, »bis jetzt ham die jezahlt, nu zahl ick« gesagt und auf den Tisch geschlagen. Sichvornüberbeugend, so daß ihr Kinn die Platte berührte, kam in verächtlichem Flüsterton: »Aba sone Dinga wie die hier, die ha ick nich jedreht. Ick meine, die ihren reichen Heinis fremde Bäljer untaschiebn. Ich kenne zwei, die ziehen de Jörn von irjendeenem uff und jloobn tatsächlich, det wärn die eijnen. Also so nu ooch nich.« Mit der indignierten Miene der ordnungsfanatischen Hausfrau hatte sie den Tisch nach Krümeln abgesucht und den herbeieilenden Kellner mit bedeutungsvollem Schrägblick gestraft. Sie wohnte im Gegensatz zu ihren nicht minder reichen Freunden, die es vorzogen, für dreißig Tage im Jahr in eigenen Chalets zu residieren, um Reisegesellschaften und allgemeiner Nachlässigkeit zu entgehen, im Hotel. Lala vielmehr gefiel sich in der Rolle der stets reisebereiten, unseßhaften, von weltweiten Verabredungen in Anspruch genommenen Frau und hatte sich, wohl unbewußt, den Tourneegewohnheiten ihrer Vor-Lala-Zeit gebeugt. »Nach Berlin bin ick nie wieda, ooch nach Deutschland nich, wat soll’s«, hatte sie achselzuckend gesagt – und plötzlich, in das schwerfällig skurrile Hochdeutsch einer Ausländerin fallend: »Meine wahrhaft große Liebe, ich konnte sie nicht heiraten. Er war ein Prinz. Intrigen trennten uns.« Salbungsvoll zögernd sprach sie, als sei sie die tragende Figur eines Courths-MahlerWerkes und eingedenk des Hochadels wortgestört. Schmollend sah sie in einen der großen Wandspiegel, unterzog sich selbstzufriedener Kontrolle, beobachtete Selma, der es dennoch nicht beschieden, ihr Leben als Prinzessin zu beenden. Mit einer wehmutsvollen Grimasse erhob sie sich, dankte den Obern des Grillroom mit leichtem Nicken des Kopfes, trennte in Bruchteilen der Sekunde Selma von Lala, durchquerte mit sicherem Schritt die Halle, bat in glaubhaftem Schwyzerdütsch um Schlüssel und Weckruf, besprach in ausgezeichnetem Französisch Wetter und Zustand der Pisten, betrat den Fahrstuhl und entschwand, ihr Geständnis weit hinter sich lassend.

Doch jetzt, anläßlich ihres Auftritts in Agallos gemietetem Heustadl, teilte Lala, die wiederum Verwandelte, strahlend mit, daß sie sich entschlossen, in den kirchlich gesegneten Stand ihrer siebenten Ehe zu treten. In den gemäßigten Jubel fel der Hausherr Guido Agallo. Er fegte durch die Tür mit jener Vehemenz, die auf Polizeiaktionen schließen läßt, schüttelte einige Hände, griff zum Glas, drehte den Kopf in diese und jene Richtung, ermöglichte jedem, einen Blick auf das kühne Profl zu werfen. Er war von der frohsinnig theatralischen Selbstsicherheit, die ansonsten nur Amateuren zu eigen. Nichts hatte er gemein mit dem Großteil der Mächtigen, die eher schüchtern und bis zum Stottern verlegen und denen Zusammenkünfte außerhalb des eigenen Konferenzsaals eine Pein. Guido Agallo genoß die schmachtende Verehrung der Frauen, die neidvolle Nichtbeachtung der Männer, und seine Ruhelosigkeit schien ein Teil des Genusses und nicht, wie man annehmen möchte, das gern gesehene Zeichen dafür, daß unendlicher Reichtum unendliche Unzufriedenheit mit sich brächte. Ungeachtet der salopp teuren Kleidung, ähnelte er einem alternden Matineeidol, das noch immer an kleineren Bühnen ein hochgelebter Gast. Zweifellos war es das Wissen um seine Macht, das ihm große Persönlichkeit und hinreißenden Charme unterstellte. Bei jenen, die in Unkenntnis seiner Position, hätte das leutselig überhebliche Gehabe eher ein Lächeln nachsichtiger Irritation heraufbeschworen. Die momentane Freude und Dankbarkeit, die ihm entgegenschlug, bezog sich jedoch auf die Tatsache, daß man endlich essen könnte. Noch trank er, legte leger einen Arm um die Taille eines Mädchens, das bisher unentdeckt und dem ehernen Kreise fremd, das kurzum: eingeschleust. Der heißhungrige »Das-ist-meine-Chance-hier-gibt’s-was-zu-holen«-Blick verriet, daß sie jenem Schwarm angehörte, der den Superreichen folgt wie Groupies den Rockgruppen, wie Huren, Stricher, Hoteldiebe den Saisons. Das betont schürzenhafte Kleid, die sechsfngerbreiten Sohlen der Sandalen, das zu modische Make-up mit weißgetöntem Oberlid und schwarzumrandeten unteren Wimpern sowie violettrotem Lippenstift und Nagellack war zu illustriertenbeeinflußt, um den Maßstäben der Clique zu entsprechen. Marina Agallo wußte, daß man sie beobachtete, daß ihre Reaktion gehütetes, cliquenbeschränktes Tagesgespräch sein würde. Die Hoffnung auf einen saisonwürzenden Skandal vorläufig zunichte machend, bat sie, leicht schwankend, doch zwanglos lächelnd, zu Tisch. Die uralte Principessa setzte sich als erste. Sie ließ sich fallen, wo sie gestanden, zog die rot-weiß karierte Serviette vom rot-weiß karierten Tischtuch, stopfte einen Zipfel zwischen Rock und Bluse und wartete in geduckter, doch unbeweglicher Haltung auf den ersten Gang. Auf Außenstehende, die keine Gelegenheit hatten, sich an ihren Anblick zu gewöhnen, mußte sie wie ein erschütternder Pflegefall wirken. In dem von losen gelben Hautfalten umhangenen Gesicht hatten ungezählte Jahrzehnte jedwede Merkmale verwischt, und weder vermochte man in ihm Weisheit von Erschöpfung, noch Güte von Boshaftigkeit zu unterscheiden. Doch der schonungsbedürftige Eindruck, den sie machte, war trügerisch. Sie gehörte zur Saison wie der Schnee, die Berge, die ozonarme Luft, wie Diners und Soupers. Ihr langer dürrer Hals schien ausschließlich von einem handbreiten Perlenkollier zusammengehalten, dennoch sackte er nach jedem Bissen in sich zusammen, um bei erhobener Gabel gleich dem Kopf einer vorwärtsstrebenden Schildkröte hochzuschnellen. Zwischen den Bissen hob sie die breiten grauen Lider, sah um sich, als wolle sie bestätigt wissen, daß sich nichts verändert habe und daß es nichts gab, das ihr nicht bekannt, das sie nicht erlebt und deshalb eines Blickes für würdig befände. Wie sie da saß, ließ sie kaum einen Zweifel aufkommen, daß ihr auf Essen, Verdauung und Winterreise beschränktes Leben erfreulicher war als das emotions- und konkurrenzbetonte derer, die sie bedauerten. Die Vielfalt ihrer Hautbündel versetzten den Hausgast der Agallos, einen kosmetischen Chirurgen aus Südamerika, in Bestürzung. Geradezu brünstig starrte er sie an, nahm ihr gegenüber Platz. Nur einmal schweifte er ab, wandte sein Interesse der hemmungslos schlingenden Gemahlin eines italienischen Bankpräsidenten zu, bellte in unvermutetem Deutsch: »Jetzt hab’ ick ihr den Arsch jenäht, und die frißt, bis de Narben knallen.« Auf die Frage, wo er die Sprache erlernt, sagte er, sein Cherubsgesicht zum strahlendsten Lächeln verziehend: »Von meinem Masseur. Der is aus Balin«, und beugte sich sogleich dem mürben Gehänge der alten Principessa entgegen. Nach einer Reihe weicher Rülpser verkündete sie mit wabernder, doch durchaus hörbarer Stimme: »Es ist das letzte Mal, daß ich hier bin. Die Kälte ist grauenvoll.« Nur die Eingeschleuste reagierte und quiekte ein unbemerktes »Furchtbar«, denn sie konnte nicht wissen, daß die Principessa seit fünfzehn Jahren dasselbe sagte. Obgleich ihre Abwesenheit der Saison keinen Schaden zugefügt, so hätte es dennoch Verrat bedeutet, zu Hause zu bleiben oder gar den Ort mit einem anderen zu vertauschen. Das Abmagern der Clique wäre der Auflösung eines gefährdeten letzten Brückenkopfes gleichgekommen. Zu ihrer Rechten saß ein österreichischer Fürst, der bisher schweigsam gewesen und nun unvermittelt die Vorzüge des vegetarischen Essens, der Enthaltsamkeit überhaupt – ausgenommen, und dieses betonte er in mehreren Sprachen, die sexuelle – hinaustrompetete. Man ließ ihn mit jener Gutartigkeit gewähren, die man der kurzfristigen Aggressionsphase eines ansonsten freundlichen Kindes zugesteht. Mit dem Ausdruck maßlosen Widerwillens schob er das Kalbfleisch auf den Salatteller, wo es wie Erbrochenes lag, und lamentierte endlos über die Zersetzung des Menschen mittels Fleischaufnahme. Er war der einzige im Raume, von Eingeschleusten abgesehen, der im Arbeitnehmerverhältnis lebte, und zwar als Einkäufer eines Frankfurter Warenhauses. Fürderhin zeichnete er sich durch die Art der von ihm gewählten Transportmittel aus; er kam per Bahn und nicht, wie alle andere, per Privatjet. Er, der keine Wahl, schrie rotangelaufen und der Hysterie nahe: »Wo soll man heute leben? New York ist vergiftet, Paris erstickt, Rom ist der Tod und London ...« Er zögerte im Bewußtsein, daß er mit dem englischen Königshaus, wenn auch entfernt, so doch verwandt. Ermattet, faltete er die kleinen, derben Hände, reckte in letzter rechthaberischer Geste das kantige Kinn. Dem emphatischen Appell wurde keinerlei Beachtung geschenkt. Nur Françoise, die Frau des berühmten Psychiaters, schritt zur Tat. Sie verknotete das bis zur Taille reichende Blondhaar, legte den tiefen Ausschnitt ihres Kleides frei, entleerte das Rotweinglas zwischen strammen Brüsten, zog den Kopf des endlich Verstummten mit festem Griff zu sich herunter, rieb mit dessen silbergrauer Krawatte den rotweingebadeten Busen, gurrte ein unwiderstehliches »Je t’aime« und stieß ihn heftig und bar jeder Zärtlichkeit auf seinen Platz zurück. »Köstlich, köstlich«, schrie André vom unteren Ende des Tisches und schlug aufgeregt mit den Armen, als wolle er ein Huhn imitieren. »Wo ist überhaupt unser Grieche?« rief Françoise, vom Beifall ungerührt. »Ich kenne ihn, ich kenne ihn«, quiekte die Eingeschleuste, und die verräterische Begeisterung in gelangweilte Kritik umkehrend, fügte sie naserümpfend »Der ist doch ein Zwerg« hinzu. »Nich, wenn er uff seinem Jeld steht«, murmelte der Südamerikaner im Masseur-Deutsch und grinste seine vom üppigen Mahl schläfrig gewordene Principessa an.

Ein explosionsartiger Knall ließ jede Bewegung einfrieren. Sie saßen, mit eingerasteten Muskeln, in ihren Tätigkeiten aufgehalten. Herr Börti, zu Ehren der Agallos als Maître d’ fungierend, sprang mit gewaltigem Satz zur Tür. Börti, dem der Posten des Bürgermeisters als auch die Führung eines exklusives Restaurants oblag, war Karate- und Jiu-Iitsu-Meister, Oberst der schweizerischen Armee und, so tuschelte man voll erotisierter Hochachtung, während des Krieges ein von der Gestapo gesuchter und nie gefundener Spion. Börtis Sprung brachte Leben ins Leblose. Stühle kippten, der Fürst stelzte mit todesverachtender Miene zum Fenster, André griff erbleichend zur tablettengefüllten Tabatière, der alte Cognac-König Bonato kicherte greisenhaft und schüttelte aufgeregt die Batterie seines Hörgeräts, selbst die Principessa, aus ihrem Nickerchen geschreckt, räusperte sich dröhnend und rief mit einer Stimme, die an einen verbeulten Gong erinnerte: »Man ist seines Lebens nicht mehr sicher.« Den Aufruhr zum Anlaß nehmend, wechselte Guido Agallo den Tisch, schob einen Stuhl neben die Eingeschleuste, legte scheinbar zufällig seine Hand in ihren Nacken; sogleich begann Marina mit hocherhobenen Armen einen Fandango-Rhythmus zu klatschen. Zwei Kellner nickten verschreckt, eilten hinaus, kehrten mit einem ponchoumwedelten Trio zurück. Mürrisch schleppten sie sich in den überhitzten Raum, stimmten, Flüche zischend, ihre Gitarren, nahmen klurrend Aufstellung, fletschten gleich wutentbrannten Gorillas die Zähne und gaben sich übergangslos ekstatischem Geheul und Gestampfe hin. »Olé«, brüllte Françoise und trampelte, daß der Boden bebte. Der ohrenzerreißende Tumult schien Sicht und Vorsicht zu nehmen, denn Bela strich, nunmehr gänzlich ungeniert, dem dösig vor sich hin starrenden Norditaliener über den gekrümmten Rücken, der Hausherr hing mit geöffnetem Mund an der dargebotenen Kehle der Eingeschleusten, die Principessa puhlte hinter nachlässig gehaltener Serviette mit güldenem Zahnstocher im Gebiß. Die Bedrohung schien vergessen, bis Herr Börti, mit Einhalt gebietender Geste im Türrahmen stehend, »Alles in Ordnung, es waren Halbwüchsige mit alten Silvesterknallern« rief. Das mexikanische Trio, offensichtlich des Deutschen kundig, fuhr nach der mit Applaus aufgenommenen Meldung im unterbrochenen Liede fort, nahm, sobald es geendet, den gleichen mürrischen Ausdruck an und klurrte, Zigaretten anzündend, hinaus. In die Pause trat Dr. Mario Albertini. Er sah seine Patienten der Reihe nach an, ließ den Schafspelz von den Schultern gleiten und sang ein schmetterndes »Viva«. Sein langes knochiges Gesicht wies erste Anzeichen von Trunkenheit auf. Marina lief ihm entgegen, umschlang seinen Hals; eine Gavotte probierend, stürmten sie auf ein vorbeischwebendes Käsebrett zu, hielten schwankend und schnaufend aneinander fest, stopften eine Unzahl von Käsehäppchen in sich hinein, erst dann nahm Dr. Albertini den gereichten Whisky zu sich. »Käse, meine Lieben«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger, »braucht der Mensch wie Lebenslust, wie Liebesfreud, wie Sonnenschein.« Der ergeben lauschende Kreis wurde durch des Fürsten Reklamationen betreffs eines Pfefferminztees abgelenkt. Verbittert in seine Tasse starrend, rührte er laut und unermüdlich, ließ vernehmen, daß in Beuteln verpackter Pfefferminztee eine Zumutung. Dr. Albertini sprach gelassen über die Mißfallensäußerungen hinweg, denn er war beim zweiten Whisky und damit bei seinem Lieblingsthema angelangt. »Unser Börti«, ließ er hören, »ist ein pickelharter Bursch. Mit ihm ist nicht zu spaßen. Selbst die Deutschen wären gescheitert. Sie haben uns gefürchtet. Wir waren präpariert. Wir hätten Verdächtige erschossen, unsere Paßstraßen gesprengt, unsere Häuser verlassen, wir hätten gekämpft. Schon Napoleon sagte: „Diese Schwyzer muß man loben.“« Doch da schlug der Lärm des gekräftigten Trios über ihm zusammen. Auf den Bänken begannen sie, die mexikanischen Weisen mißachtend, untergehakt die Oberkörper hin und her zu werfen. Sie schunkelten, anfänglich uneinheitlich in der Richtung und Außensitzende von der Bank stoßend, dann sich angleichend in immer schneller werdendem Tempo mit weit zurückgelehnten Köpfen. Die Frau eines Reeders machte sich frei, erklomm den eilends geräumten Tisch und hopste, den midilangen Rock schürzend, eine unzulängliche Polka, stürzte sich in die Arme eines töricht gackernden Lords, beendete die Darbietung unter frenetischem Beifall mit einer Anzahl kurzer hoher Schreie. Die auf rustikale Umgebung ausgerichtete Heiterkeit geriet aus den Fugen, als hätten Alkohol, Hitze, Lärm und kurzfristige Angst den Wall des Rituals eingerissen. Die Erregung schien pubertärer Hemmungslosigkeit entgegenzutreiben, dennoch entstand der Eindruck, daß die Überreiztheit affektiert, freudlos und verstiegen, als wolle man in einer Epoche hausbackener Vulgarität auftrumpfen, übertrumpfen und seine Unbürgerlichkeit auf lüstern angestrengte Weise kundtun. Die Freuden der Macht wurden pappig und banal wie Samstagabendklopperei, wie Striptease in der Küche, wie Eckkneipengesang. Und schon hatte die Stunde der Entblößung geschlagen. »Rumba«, ein ältlicher zerknitterter Trinker, dessen eher schwerfälliges Berner Gemüt von seinem Unberechenbarkeit vortäuschenden schiefäugigen Gesicht und dem playboyhaft witzlosen Beinamen aufs ärgste überfordert wurde, stellte allwinterlich seine belastete Maskulinität bei waghalsigen Skeletonrennen unter Beweis; nun öffnete er, wenn auch zögernd, das Gurtband seiner Hose, bot einen übel zugerichteten Bauch dar, brüllte: »Damit bin ich Sieger geworden.« Er machte eine unbeholfene Bewegung, die ein in der Kurve schleuderndes, herabsausendes Gefährt darstellen sollte. Dr. Albertini blinzelte beeindruckt, rief: »Pickelhart, die Burschen«, und angelte nach Käse und Chivas-Regal-Flasche. Auf eine Ecke zuwankend, lüpfte die Frau eines Verlegers das zeltähnliche Gewand, offerierte viel weißes Fleisch und feine rote Narben um große, straffe Brüste, lallte, auf den südamerikanischen Chirurgen weisend: »Er ist ein Engel. Er ist ein Genie. Er hat mich zur Siebzehnjährigen gemacht. Ich kann’s mit jeder aufnehmen, selbst mit dem Flittchen, das der hier«, und damit zerrte sie den teilnahmslos grinsenden Gemahl herbei, »das der hier«, wiederholte sie und beutelte seinen Arm, »zweimal wöchentlich beschläft. Neunundzwanzig ist sie. Mit der nehm’ ich’s noch lange auf. Vierzigtausend Dollar und ich war wieder jung.« Bei »Vierzigtausend« zuckte der Gebeutelte wie unter Peitschenhieben zusammen, sein Versuch, sich freizumachen, mißlang. Mit einem »Du kannst mich am Arsch lecken« stieß sie ihn auf die winzige Tanzfläche. »Doch das hier«, flüsterte sie vertraulich und wies auf kurze, tiefrote Striche hinter den Ohren, »das weiß der nicht. Seh’ ich nicht aus wie zwanzig?« Françoise klammerte sich an Dr. Albertinis Arm, schlürfte sein Glas leer, rief mit tuscheschwarzen Tränen in den weiten, schön geschnittenen Augen: »Sag mir, was Leben ist. Sag mir, was es bedeutet. Hat es einen Sinn? Ich denke nach.« – »Wir gehen in den Club, wir gehen in den Club«, sang ein dürftiger, dann stark und stärker werdender Chor. »Der Club« war die Diskothek des Dorfes, einem Warteraum der »Air India« bei Kurzschluß nicht unähnlich, in dem zwei gelangweilte weißbrotbleiche britische Mädchen mit unfaßlicher Lautstärke öde Rockplatten leiern ließen. Fußmatten als Schlitten benutzend, begannen sie einzeln oder zu zweit die steile Suvrettastraße hinunterzurodeln. Hinter der dritten Kurve riß das lustvolle Kreischen ab. Die Rufe wurden krächzig und verängstigt, der gurgelnde Schrei nach einem Arzt ließ Dr. Albertini hochschnellen und mit Pelz und Tasche zum Ausgang hasten. Vor einem Baum lag die ungarische Gräfin mit blutverschmiertem Gesicht und ausgekugelten Schultern. Romanische Unflätigkeiten ausstoßend, machte sich Dr. Albertini ans Werk. Die im Haus Verbliebenen zeigten sich mäßig betroffen. Guido Agallo, auch die Eingeschleuste waren nirgendwo zu sehen. Das Trio klimperte nachlässig und verhalten, packte schließlich die Gitarren und Ponchos, zog pelzvermummt von dannen. Gedämpft plante man den nächsten Sommer, lud mit dem Ausdruck ernst zu nehmender Aufrichtigkeit zu sich ein, unterstellte, daß der Aufgeforderte eingeweiht und keinesfalls der Einladung nachzukommen gedachte, beließ es für etwa töricht Leichtgläubige bei: »Sie müssen uns in Griechenland besuchen« oder »Wir erwarten euch an der Côte« oder »Schwört, daß ihr nach Sardinien kommt«. Das Jaulen der Krankenwagensirene unterbrach ein letztes Mal die wiederkehrende Sorglosigkeit, mit einem »Quel dommage« lauschte man dem schwächer werdenden Ton des sich entfernenden Wagens, rief alsdann zum Aufbruch und zur Wiedervereinigung im »Club«. Bela, an die Tür seines Mercedes gelehnt, brüllte: »Ich verbring’ den Sommer im Salzburgischen. Hab’ genug von euren dreckigen Meeren.« Die österreichische Erzherzogin eilte auf ihn zu, rief mit ihrer grellen Stimme, der ein steter Unterton von Gereiztheit beiwohnte: »Du kannst mein Haus haben. Es ist entzückend. Und mitten im Wald.« – »Wieviel?« bellte Bela. »Bitte?« fragte sie spitz, rügend, als müsse sie sich verhört haben. »Wieviel?« wiederholte Bela und grinste. In ihrer perlenbestickten Tasche wühlend, ließ sie ein oboeähnliches Lachen hören, sagte: »Du bist unmöglich.« Doch Bela beharrlich und nun aggressiv: »Also wieviel?« – »Im Monat sechstausend«, sagte sie und sah hochmütig über ihn hinweg. »Sechstausend was? Zloty, Dinar, Schilling?« – »D-Mark natürlich«, rief sie, nun offensichtlich unwirsch. Belas Kopf kippte zurück, sein Atem zog in steiler Säule aus dem weit geöffneten Mund, er stand gleich einem röhrenden Hirsch, schrie prustend und sich auf die Schenkel schlagend: »Ihr nehmt sie immer noch aus, die Bürgerlichen, nur auf die neue Tour.« Verblüfft sah sie um sich, als suche sie Hilfe, drehte sich hastig und fast die Balance verlierend weg, schob sich hinter das Lenkrad ihres Fiats und fuhr mit jaulender Kupplung den Berg hinunter.

Marina stand im Türrahmen, vom Licht einiger verglimmender Schneefackeln beleuchtet. Ihr Gesicht war glasig wie aufquellender Sago. Später, vor den Badezimmerspiegeln ihres Hauses, würden Hektik und Haltung einreißen, sie würde allein sein mit ihrer Krankheit und ihrem Sterben und sich ausgestoßen sehen aus ihrem Kreis. Sie wird mit ihren langen Fingern die tiefen Falten nachzeichnen, sich ein wenig Selbstmitleid zugestehen und der üblichen Dosis Schlaftabletten ein oder zwei hinzufügen. Vielleicht wird sie überrascht oder verbittert begreifen, daß es den Kreis nie gegeben, daß selbst ein in gemeinsamer Not geschlossener sich in gemeinsamem Wohlleben als eine lose Reihe erweist, die jederzeit bereit ist aufzurücken, neu einzugliedern. Gebrechliches abzustoßen, den wehrlos Gewordenen in die Flucht zu schlagen.

»Euch scheint’s ja jutjejangen zu sein«, bellte Libby bei Whisky hockend und auf ihre grämliche Weise noch immer putzmunter. Ohne Zweifel, sie hatten gewartet, um in der Stunde der Müdigkeit und des unbezähmbaren Schlafbedürfnisses Grundsätzliches zu erläutern. Auch Hummi näherte sich, in einen geräumigen Pyjama gehüllt und mit jenem rechthaberischen Keifton, der auf ein längeres, attackevorbereitendes Gespräch schließen ließ. Offensichtlich überzeugt, daß der Reichtum der italienischen Gastgeber auf den Eingeladenen abgefärbt, begannen sie, sich gegenseitig unterbrechend oder betont devot den Vortritt lassend: »Wir sind zu dem Entschluß gekommen, daß wir einen Vertrag brauchen, notariell beglaubigt, einen ...« – und hier wich das Gestelzte dem gewohnten Blubberton – »kurz und klein, eenen lebenslänglichen Vertrach.« Ich lauschte dem berlinerisch gezogenen »Vertrach«, fiel wie stets dem Laut zum Opfer, konnte Primitiv-Infames nicht in Einklang bringen mit heimischem Jargon, voll der sentimentalen Assoziationen, hoffte, wenn auch rapide abnehmend, daß wahrhaft Bedrohliches durch die Sprache der Kindheit entschärft und somit beinahe belustigend.

»Janz nebenbei, hier braucht man Jefahrenzulage. Det müßt a ooch bedenken. Da war’n wieda anonyme Anrufe, und eener hat an de Tür je-scharrt, war sicha n Einbruchsvasuch. Denn war eener hier, der sacht, er heeßt Peter, is’n Freund, wollte warten. Eena von eure Nassauer. Den ham ma rauskomplementiert.«

Die Nassauer erkennen ihre Nassauer, sie verteidigen ihr Revier wie die Huren ihre Ecke, wie der Hund seine Schüssel, sie begegnen ihnen mit der Empörung der Bedrohten, der Angegriffenen, um ihre Existenz Bangenden, kurzum: Sie kennen ihre Pappenheimer.

»Also wat is?« fragte Libby, die Röhren stramm zusammenklappend und den letzten Schluck aus der Flasche in ihr Glas schüttend. »Lebenslängliche Kochverträge gibt’s nicht.«

»Ausjebeutet. Wenn de nischt hast, wirste ausjebeutet.« Libby rieb vehement die Brillengläser, der Mund verzog sich zum Kleinkindweinen. Glucksend bahnte sich der Ausbruch an. »Sozialstaat«, donnerte es, von Bitterkeit durchtränkt. »Wo bleibt unsere Rückvajütung?« Die Anklage wurde breitfächrig, schon mußten SPD, CDU, CIA, MWD, auch die Infamie westdeutscher Banken herhalten. Hummi rang die Hände, er rieb Außen- und Innenflächen, daß man annehmen mußte, er schrubbe Teerflecken, während das Haubentaucherprofil vor- und zurückschnellte, als suche es Nahrung, dann tauschten sie einen Den-letzten-beißen-die-Hunde-Blick, erhoben sich gleichzeitig, schnieften synchron, verließen den Raum. Primitive Schläue umwallte sie gleich einem Bodennebel, sie schienen die beängstigende Menge zu symbolisieren, die sich in Haß und List, die sie ihr »Unglück« und »Schicksal« nennen, zusammentut, um auf ihre machtlose, gierige Weise zu stören und zerstören. Lenkbar und gefährlich, ausschließlich aus bebilderten Wochen- und Tageszeitschriften ihre Informationen beziehend, gehörten sie zu jenen, ohne die diktatorische Systeme undenkbar. Gleich Greisen lebten sie von einer großen Vergangenheit, die, obgleich erdacht, dennoch Basis ihres Grolls geworden, und gleich Märtyrern schienen sie schier besessen von der Überzeugung, daß sie »gut« und die Welt »schlecht«. Sie erinnerten mich an Agenten, die ich während meiner Filmschauspielerzeit gehabt, an manche, die solcherart mein Leben gestreift und auch eingetrübt und die von Ferne gesehen der Komik nicht entbehrten, in der Nähe jedoch Erheiterung in Entsetzen umschlagen ließen.

Am nächsten Nachmittag war ich bei Dr. Mario Albertini angesagt. Er war nicht da, Skibrüche, Katzenjammer, Liebeskummer, auch Grippen aller Art und Herkunft sowie Schwätzchen bei Whisky oder Gin hielten ihn zumeist davon ab, seinen Vereinbarungen nachzukommen. Vor dem Fenster seines Ordinationszimmers, das einem Anwaltbüro ähnlicher war als einer Arztpraxis, winselten zwei Baukräne. Ein gemächlich murksender Bagger blökte zwischenzeitlich, die heftigen Rufe italienischer Arbeiter bellten über den Lärm hinweg. Auf dem schweren Renaissancetisch standen eine englische Kaminuhr, sechs silbergerahmte Fotos, die ausnahmslos Pferdeköpfe zeigten, sowie eine Messingschale mit Einladungskarten. Nichts deutete auf den Dr. med. hin. Dr. Mario Albertini liebte Pferde, Geselligkeit, seinen Beruf– so sagte er – und den Gedanken, eine große Familie zu haben. Offensichtlich liebte er den Gedanken mehr als die Familie selbst; denn vor allem liebte er Frauen, schöne, knabenhafte, wenn möglich eurasische Frauen. Er liebte sie unbekehrbar, schülerhaft und, obgleich platonisch, so doch zum Leidwesen seiner eigenen, die frühzeitig scharf und zänkisch geworden war. Sie hatten nach fünfundzwanzigjähriger Ehe den zähen und unnachgiebig bitteren Punkt erreicht, an dem sie ihre Unzufriedenheit mittels kleinlicher Nörgeleien kundtaten. »Am Donnerstag letzter Woche...«, würde er sagen, um mit einem mokanten »Dein Gedächtnis ist besorgniserregend, es war ein Freitag« korrigiert zu werden. Seine oft prahlerischen und langatmigen Anekdoten entlockten ihr nur noch ein freudloses, beinahe angewidertes Lächeln, sein mangelhaftes Englisch unverhohlene Schadenfreude und schnippisches Besserwissen. Manchmal waren ihre Augen verweint und der herbe, beherrschte Mund zittrig und lose. Dann entschuldigte sie sich überhöflich und wortreich und überließ die Betreuung der Abendgesellschaft ihrem Mann und zwei muffligen Butlers, die in zu großen weißen Handschuhen und abgeschminkten Clowns nicht unähnlich das Essen servierten. Dennoch, man ging gern ins Albertinische Haus, das altmodisch und brav und dem jener unvermeidliche Hauch schweizerischer Unterstapelei anhaftete: klapprige Lampenschirme, verblichene Bezüge und wacklige Sessel scheinen erforderlich, um Ererbtes und Vermehrtes abzuleugnen. »Ich hätte so gern einen Chauffeur«, hatte der alte Bankier beim Besteigen seines Opels geflüstert, »doch was würden die Nachbarn denken? Die würden denken, der gibt ja an.«

Türenschlagen und langanhaltender Husten ließen wissen, daß Dr. Albertini mit einstündiger Verspätung seine Praxis betreten. Wie immer breitete er die Arme aus, wie immer war er gekleidet, als befände er sich auf dem Weg zu einem Londoner Club und nicht in die Sprechstunde eines im karnevalesken Skiort residierenden Arztes. Nach posaunigem »Via« und »Hallo« ließ er die Arme fallen, gleichzeitig, als bestünde eine direkte Verbindung von Arm- zu Gesichtsmuskulatur, fiel auch das lautlose Lachen zusammen. Ein verästeltes Netz von Längsfalten glitt über die gebräunten Wangen und verlieh dem bisher markig Jovialen den Ausdruck bissiger Unduldsamkeit. Stöhnend nahm er Platz, rief: »Was haben wir auf dem Herzen?« Das »wir« löste einen ablehnenden Mechanismus aus, es setzte Aggressionen in Bewegung, forderte zur Kritik an weitverbreitetem, degradierendem Krankenhausgeschwafel auf.

»Ich habe Fieber seit Wochen und Bauchschmerzen seit Wochen.«

Der erstaunte, doch ungläubige Blick war, obwohl bekannt und fast erwartet, dennoch alarmierend. Er besagte: »psychosomatisch«, er schien meine sich in der Öffentlichkeit abspielenden Berufe plus Namen von der Stirn zu lesen, gleich aufleuchtendem Spruchband; auch der Vermerk »hysterisch« war deutlich erkennbar. Das Erstaunen wich einer professionell amüsierten Güte, die, von einem besänftigenden »Aber, aber« unterstrichen, die beängstigende Isolation, die mich oft vor den Schreibtischen der Arzte befallen, verdichtete. Denn hier – so hatte ich erfahren – verläßt sich selbst der Anspruchsvolle und scheinbar Intelligente auf staubig Überliefertes, auf Schauspieler-Sänger-Schreiberling-Vorurteil, verfällt der Laie dem Aberglauben, daß solche Berufe Wankelmütigkeit voraussetzen, auch Abschweifung, Ausschweifung und Labilität, selbst Darstellungszwang in privatem Bereich. Die Unterschätzung des kurzgehaltenen Berichts manifestierte sich im: »Na, na, so schlimm wird’s doch nicht sein.« Mein störrisches »Es ist« irritierte, die Güte wurde entzogen.

»Dieser Kran«, raunzte er verbittert und rieb sein langes Ohr, »seit Wochen bauen die.« Seine Aufmerksamkeit wendete sich Kran und Bagger zu. In das hohe Jaulen hinein sagte er: »Streß, meine Liebe, Streß ist die Krankheit unserer Zeit. Ein untrüglicher Wegweiser der physischen Gesundheit ist das Haar. Und Ihres ist prachtvoll. Gute Rasse.«

»Es ist nicht das Haar, es ist der Bauch«, quakte ich, nun hoffnungslos verkrampft, und hoffte einem Aufschrei, dem ein Weinkrampf folgen könnte, Herr zu werden.

Er entnahm seinem Krokodillederkoffer den Blutdruckmesser, entrollte ihn langsam, preßte den kleinen schwarzen Ball, bis das Band prall gefüllt, sagte, die Lippen zum Kinderkußmund schürzend: »Niedrig, sehr niedrig. Doch das ist exzellent. Am Schlaganfall werden Sie nicht sterben.« »Es gibt andere Todesarten.«

»Depressionen, nichts als Depressionen. Gehen Sie spazieren, atmen Sie unsere schöne klare Luft. Leben genießen, das ist es, das will gelernt sein. Die Temperatur? Wer hat keine? Kleiner Virusinfekt. Werden Darmflora im Auge behalten. B-12 für den Aufbau, Sympatol für den Blutdruck, Euphren fürs Hirn und Zuckerwasser am Bett. Und in vier Wochen sind wir wie neu.«

Das Urteil oder der Gegenmensch

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