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Diesmal fällt Weihnachten aus
ОглавлениеElke Schleich
Diesmal fällt Weihnachten aus, hatte sich Anne geschworen. Sie würde die Tür hinter sich abschließen und erst am 27. wieder öffnen. Das Telefon würde sie lautlos stellen, ihre E-Mails nicht abrufen, am besten gar nicht erst den Computer starten.
»Du bleibst wirklich allein zu Hause?«, fragte Melanie sie noch einmal, als sie sich verabschiedete.
»Hundertprozentig.«
»Falls du’s dir doch anders überlegst oder nur mal quatschen willst, ruf mich an.«
»Ja«, sagte Anne und lächelte kurz, »danke fürs Angebot.« Sie war froh, als Melanie das Büro verließ.
Eine Stunde lang versuchte sie, sich auf die Statistik für die Produktserie ,Glückliches neues Jahr‘ zu konzentrieren. Aber heute war nicht der Tag für Glückskleesortimente und rosafarbene Schweinchen. Also würde sie Schluss machen und ihre Einkäufe erledigen.
Im Supermarkt dudelte das Lied vom rotnasigen Rentier Rudolph. Hinter der Käsetheke bediente eine Frau mit Weihnachtsmann-Mütze und an der Kasse gab es »schöne Feiertage!« mit auf den Weg. Bloß raus hier, dachte Anne.
Endlich hatte sie alles im Kofferraum. Als sie den Motor startete, meldete sich ihr Handy. Sie nahm es aus der Handtasche und schaute aufs Display: Sebastian. Anne drückte ihn weg.
Mit ihm war sie fertig. Neben einer angeschrammten Seele hatte er ihr einen Berg Schulden hinterlassen. »Was willst du eigentlich? Es waren gemeinsame Anschaffungen für unsere gemeinsame Zukunft.« Was nichts an der Tatsache änderte, dass Anne allein den Kredit für das Auto abzahlte, das er zu Schrott gefahren hatte. Nie wieder würde sie eine Bürgschaft unterschreiben. Anne schluckte die aufkommende Bitterkeit hinunter.
Während sie nach Hause fuhr, fielen die ersten Regentropfen und Anne empfand einen Hauch von Genugtuung. Wenigstens der Wetterbericht schien zu halten, was er versprochen hatte.
Gegen Mittag des 24. Dezember war sie mit ihren Vorbereitungen fertig. Ein Turm aus DVDs mit Filmen, die sie immer schon hatte anschauen wollen, wetteiferte mit dem Bücherstapel aus der Stadtbibliothek um die Gunst, für Ablenkung sorgen zu dürfen. Den Platz im Gefrierfach teilten sich Tiefkühlpizzas mit verschiedenen Baguettesorten – das ideale Anti-Weihnachtsessen.
Anne hatte vom Hängeboden die prall gefüllten Schachteln heruntergeholt, die aus der Zeit stammten, als Fotografieren untrennbar mit dem Entstehen von Papierbildern verbunden war, und sie neben die drei frisch gekauften Alben auf ihren Schreibtisch gestellt. Sämtliche Kleidungsstücke, an denen ein Knopf fehlte, sich ein Stück Naht löste oder sonst etwas zu richten war, hingen außen am Schrank. Anne warf ihnen jedes Mal, wenn sie vorbeikam, einen finsteren Blick zu. Sie hasste Näharbeiten. Genauso wie Schuhe putzen. Trotzdem standen ihre 27 Paar in der Diele aufgereiht und warteten darauf, von fünf Sorten Pflegecremes und ihren fleißigen Händen auf Hochglanz poliert zu werden.
»Aber nicht jetzt«, murmelte Anne, als sie in ihren Filzpantoffeln durch die Diele zum Bad schlurfte.
Sie nahm die azurblaue Flasche ,Südseeträume‘ und goss reichlich aus ihr ins Wasser.
In dem Moment schrillte die Türglocke.
Anne blieb auf dem Wannenrand sitzen, ohne sich zu bewegen.
Erneutes anhaltendes Klingeln. Sekundenpause. Wiederholung.
Anne krauste die Stirn.
Und wieder. Noch kürzer diesmal die Klingelpause.
Penetrant!
Mit einem Ruck sprang sie hoch, lief zur Tür und riss sie auf.
»Tach!«
Automatisch griff Anne an den Ausschnitt ihres Bademantels und raffte ihn noch mehr zusammen. »Du?«
»Ich wollte dir sagen, dass ich komme, aber du bist nicht rangegangen.«
»Ich will meine Ruhe.«
»Aber Anne, warum so hart? Wir haben Weihnachten, das Fest der …, ich meine, das Fest des Friedens auf Erden und …«
»Stopp!« Sie fuhr sich durch ihr ungekämmtes Haar. »Spar dir die Mühe. Weiß deine Hanka, dass du hier bist?«
Sebastian trug einen langen Wildledermantel mit Lammfellbesatz. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine Rechte in der großen Manteltasche steckte, die sich merkwürdig wölbte. Wortlos zog er seine Hand heraus und streckte Anne ein kleines graues Fellbündel entgegen.
»Für dich. Zu Weihnachten.«
Anne wich einen Schritt zurück. Sie starrte das Katzenkind an. Das Katzenkind blinzelte. Es hatte blaue Babyaugen. Anne blinzelte aus einem Reflex heraus zurück.
»Nun nimm sie schon!«
Sie löste sich aus dem Blick, sah stattdessen Sebastian an.
»Das tue ich ganz bestimmt nicht.«
»Aber du magst Katzen doch so gern.«
»Kannst du dich vielleicht vage daran erinnern, dass ich einen Vollzeitjob habe? Aber was red ich!« Wieder griff sie in ihr Haar, schaute zur Seite. »Und nun rück raus, was willst du wirklich?«
»Oh Anne, immer noch so direkt.« Er setzte das Kätzchen auf den Fußboden.
»Also los, du hast drei Sekunden. Einundzwanzig …«
Die kleine Katze startete einen Angriff auf den Bommel an Annes rechtem Pantoffel. Anne verbiss sich ein Schmunzeln.
»… zweiundzwanzig …«
»Bitte, Anne, sei doch nicht so …«
» … dreiund …«
»Okay, okay! Kannst du mir 200 Euro leihen?«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Weißt du, ich hatte viele Ausgaben in jüngster Zeit – unerwartete. Und Außenstände. Gestern sollte was zurückkommen davon, aber man hat mich im Stich gelassen und nun hab ich noch kein Weihnachtsgeschenk für Hanka.«
Sie fühlte die Wut aus dem Bauch bis in die Haarwurzeln steigen. Trotzdem riss sie sich zusammen und zog behutsam den Pantoffelfuß zurück, der mit Feuereifer von spitzen Krallen bearbeitet wurde. Ein letztes Mal erwiderte sie den Blick aus babyblauen Augen, bevor sie zu Sebastian sagte: »Es ist besser, wenn du sie wieder mitnimmst«, und leise die Tür schloss.
Wenig später lag sie in Schaumwolken voller Südseeträume, die Lider geschlossen. Doch es waren nicht palmengesäumte, herrlich weiße Strände, die sich vor ihr auftaten. Zuerst tauchte das Gesicht der Katze auf. Die runden, erstaunt schauenden Augen, darüber auf der Stirn ein M aus heller gefärbtem Fell, als hätte es ein Maler mit wenigen Pinselstrichen hinterlassen. Was machte Sebastian wohl nun mit ihr?
Ein neues Bild tauchte auf. Eines aus der Reihe ,Woran ich eigentlich nicht denken will‘: eine winzige Tanne, die sie vor einem Jahr mit ihm zusammen geschmückt hatte. Das Bäumchen war seine spontane Idee gewesen, aber er hatte den Schmuck vergessen. Die Geschäfte waren längst zu, als sie begannen, aus Alufolie Sterne zu basteln und mit Sekundenkleber Fäden an Walnüssen zu befestigten. Selbst der Sektflaschenkorken hing schließlich, mit silbernem Nagellack verschönert, an einem Zweig. Und als draußen die Glocken zur Christmette riefen, zündeten sie zu einem Herz geformte Teelichter zu Füßen ihres Weihnachtsbaumes an, setzten sich auf den Boden davor und küssten sich lange. Dann hatte Sebastian ein Kästchen aus der Tasche geholt, ihr in die Augen geschaut und die Frage gestellt …
Jäh unterbrach die Türglocke ihre Erinnerungen. Anne fuhr aus dem warmen Wasser hoch, verharrte.
Ein zweites Mal. Sehr viel dezenter als Sebastians Klingelattacke. Dennoch glaubte sie an einen neuen Anlauf seinerseits.
Na, warte!
Sie stieg aus der Wanne, trocknete sich eilig ab und schlüpfte in ihren Bademantel.
Wieder riss sie die Tür auf.
Nicht Sebastian stand vor ihr, sondern die alte Frau Schröder von nebenan. Anne hatte seit ihrem Einzug vor zwei Jahren höchstens fünf oder sechs Sätze mit ihr gewechselt.
»Entschuldigen Sie die Störung.« Schon glitt deren Blick von Anne ab, hetzte hierhin und dorthin, wagte sich doch noch einmal zurück. »Ich dachte …« Und war wieder weg, die Stimme anscheinend auch.
»Guten Tag, Frau Schröder!« Anne ließ sich die Überraschung nicht anmerken. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Ich dachte nur«, sie steckte sich eine Strähne mit dem Haarkämmchen fest, »vielleicht ist es Ihre.«
Etwas verhuscht war sie Anne ja immer schon vorgekommen, wurde sie nun auch wunderlich?
Langsam drehte sich Frau Schröder um. »Aber wo ist sie jetzt hin? Vorhin saß sie noch auf Ihrer Fußmatte und miaute.«
Anne starrte auf den Rücken der Alten, die Anstalten machte, die Treppe zum nächsten Stockwerk hochzusteigen.
Das Katzenkind? Hatte der verdammte Kerl es einfach dagelassen?
Weiter kam sie nicht in ihren Überlegungen, denn so, als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre, sprang etwas Graugetigertes die Stufen von der ersten Etage herauf, lief mit steil aufgerichtetem Schwanz auf sie zu, wölbte den Rücken und drückte sich an ihre Beine.
Anne spürte ein warmes Glücksgefühl. Am liebsten hätte sie die kleine Katze mit in die Wohnung genommen, doch das verbot sie sich energisch.
»Äh …, Frau Schröder.«
Die alte Frau wandte sich um. »Ach, da ist sie ja!« Sie kam zurück, ging ächzend in die Knie. »Du bist so eine Schöne«, murmelte sie und nahm das Kätzchen auf den Arm. Das streckte eine Vorderpfote aus und begann zu schnurren.
Anne hatte die Szene still beobachtet. Und mit einem Mal schien ihr die Lösung ganz einfach zu sein. »Ich glaube, sie will bei Ihnen bleiben«, sagte sie.
Frau Schröder schaute zu ihr hoch, in ihren Augen leuchtete es kurz auf. Doch der Funke verglomm genauso schnell, wie er aufgeblitzt war, und der Blick verschwamm.
Anne schluckte.
Die Alte richtete sich schwerfällig auf, räusperte sich. Während sie das Kätzchen unterm Kinn kraulte, sagte sie leise: »Mimi war die letzte.«
Später vermochte Anne nicht mehr zu sagen, was es war. Die Hoffnungslosigkeit dieses Satzes? Oder doch eher das Schnurren, vereint mit diesem Babyblick in Blau? Sie führte Frau Schröder samt Katze sanft in ihr Wohnzimmer, bot ihr Platz auf der Couch an und setzte Teewasser auf.
»Sie mögen doch Tee, nicht wahr? Ich nur abends, morgens brauche ich Kaffee. Aber Tee mag ich nur mit viel Zucker oder noch besser Kandis.« So schwatzte sie drauflos, als wenn sie sich selbst von ihrem Tun ablenken wollte.
Sie zog sich schnell an und als sie mit Tassen und Kanne auf dem Tablett ins Wohnzimmer zurückkam, lag die Getigerte zusammengerollt auf dem Schoß ihrer Nachbarin.
Anne stellte ihre Last auf dem Tisch ab und lächelte.
Frau Schröder lächelte zurück.
Und dann erzählte sie von Mimi.
***
»Nein, ich war am Heiligen Abend doch nicht allein.«
»Wie jetzt? Du hast dich doch nicht etwa wieder mit diesem …«
Anne konnte förmlich Melanies entrüstetes Gesicht vor sich sehen. Sie unterbrach mit einem glucksenden Lachen. »Keine Sorge, Sebastian ist endgültig abgehakt. Obwohl … Er hat mir ein bezauberndes Weihnachtsgeschenk gemacht.«
Melanie am anderen Ende der Leitung schnaubte. »Ich hab’s gewusst!«
»Nicht wie du denkst. Ich hab’s auch gleich weiterverschenkt, obwohl …«
»Nicht schon wieder obwohl!«
» … obwohl ich mich sofort in sie verliebt hab.«
»Ich verstehe nur Bahnhof.«
»Macht nichts. Melanie, ich muss Schluss machen, bin bei meiner Nachbarin zum Sauerbraten eingeladen und vorher will ich zur Tanke, Futter besorgen. Was isst eure Katze am liebsten?«
»Thunfisch mit Makrele. Aber …«
»Super, hoffentlich haben sie das. Also Melanie, schöne Weihnachtstage!«
Anne legte auf. Auf dem Weg ins Schlafzimmer streckte sie den aufgereihten Schuhen die Zunge heraus. Sie nahm die Kleidungsstücke eines nach dem anderen vom Schrank und hängte sie hinein. Dabei summte sie das Lied von red-nosed Rudolph.