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Polarfieber
ОглавлениеArmena Kühne und Thomas Hocke
Ich – das ist ein Stück Bayern. Ich! Das ist die gute Luft, sind die wilden Bäche und die schroffen Berge!
Als Junge, am Spitzingsee angelnd, träumte ich Träume, die mit den Wolken in die Ferne zogen. Träumte von Abenteuern; Abenteurer bin ich geworden.
Leiter eines Hilfskonvois nach Bosnien, River-Rafting im Grand Canyon, Teilnehmer an der Friedensdemo in Berlin gegen den Irak-Krieg und Bezwinger der Rushhour auf der A 8 vor München.
Die verbliebenen Ziele schreibe ich auf Karteikarten: die Kannibalen auf Papua-Neuguinea, Kamelritt zu den Tellerlippenfrauen in Äthiopien, Höhlenmenschen auf Borneo anschauen, allein durch Russland und Südamerika radeln, Nordpol und Südpol erobern. Streiche den Nordpol, zwei Pole sind geschummelt.
Ich lege die Karten in einen Topf, halte mir die Augen zu und ziehe eine. Es ist der Südpol.
Zum Glück sind Geoffrey und Einar zu Hause, als ich anrufe. Einen Trip auf Scotts und Amundsens Spuren schlage ich vor – die beiden sind sofort dabei.
Das Reisebüro verspricht Exklusivtransport bis zu einer chilenischen Antarktisstation, das Weitere heißt »Kleingruppen-Individual-Package« und bedeutet, man ist sich selbst überlassen. Wir treffen uns in London. Geoffrey kann den Bus nehmen, Einar kommt mit einem Kutter von Oslo her und ich starte in München, Flughafen Franz Josef Strauß.
Drei Tage später betreten wir das Land, in dem die Sonne dreißig Tage nicht untergeht, wenn man den Fehler macht, im bitterkalten antarktischen Sommer dorthin zu reisen. Die Eiswüste glitzert im Sonnenschein wie ein endloser Teppich aus funkelnden Diamanten.
Auf Skiern, jeder mit einem Schlitten im Schlepptau, marschieren wir los. Wir schwitzen bei minus zweiundzwanzig Grad; also packen wir die oberste der drei Schichten Thermokleidung, die wir tragen, auf die Schlitten.
Dann kommt diese Nacht. Ich wache von einem gewaltigen Heulen auf und weil die Zeltwand knattert wie ein loses Segel im Orkan. Es ist ein Orkan. Ich rüttle die anderen wach. Zu dritt hängen wir uns an die Seile und halten das Zelt, das sich selbstständig machen will, mit aller Kraft am Boden. Nach Stunden beruhigt sich die Lage etwas, aber es schneit ununterbrochen.
»Wer geht raus, das Zelt freilegen?«, frage ich.
Die beiden anderen sehen sich an.
»Bin ja schon weg«, murmelt Geoffrey und holt eine Schaufel. »Dafür darf ich aber in der Mitte schlafen!«, ruft er und ist – weg. In der Mitte ist es am wärmsten – und am sichersten, wenn der Schnee gegen die Außenwände drückt.
Wir müssen im Wechsel schlafen und Schnee schaufeln, immer mehr davon türmt sich um das Zelt herum auf, nach einigen Tagen hat man den Eindruck, es sei direkt vom Himmel in einen weißen Krater gefallen.
Am siebten Tag des Ausharrens ändert sich die Lage.
»Leute, es hat aufgehört. Es ist ganz still.«
»Klar, dass sich das Wetter gerade zur Teezeit ändern muss!«, bemerkt Geoffrey spitz.
»Blöd. Das Buch ist gerade so spannend!«, mault Einar und schaut von James Micheners »Alaska« auf.
Wir graben uns den Weg frei und sehen das Tageslicht als schmutziges Grau. Das Thermometer zeigt vierzig Grad minus und der Atemhauch ist dichter als der Novembernebel im Erdinger Moos. Zeit, die Bayernflagge am Schlitten zu befestigen.
Ich – das ist auch ein Stück Freistaatpatriotismus.
»He, das war nicht ausgemacht!«, entrüstet sich Geoffrey. »Ich hab keinen Union Jack dabei.«
»Ich hab auch nichts mitgenommen. Aber Amundsens Norwegerkreuz ist sicher noch da«, bemerkt Einar.
Wir ziehen weiter. Man kann auch sagen, wir fräsen uns durch den Neuschnee.
Um uns von der Eintönigkeit der Grau-in-Grau-Szenerie abzulenken, zählen wir unsere Schritte. So haben wir das Gefühl, vorwärts zu kommen.
»Wie weit bist du?«, frage ich Geoffrey, der neben mir geht.
»Siebentausendachthundertvierundzwanzig. Und jetzt shut up, sonst verzähl ich mich.«
»Ich hab erst viertausendneunhundert. Du mogelst. Du müsstest ja schon kilometerweit voraus sein.«
»Ich bin bei achthundertvier«, meldet Einar von schräg hinten.
»Was?«, rufen Geoffrey und ich.
»Ich fang immer nach tausend neu an. Leider ist mir entfallen, beim wievielten Tausend ich bin. Die Kälte lässt es oben etwas klemmen.« Er tippt sich an die Stirn.
Ich schaue auf unsere Spuren. Geoffrey macht viel kleinere Schritte als ich, obwohl wir beide gleich groß sind. Wie unökonomisch! Aber ich habe heute keine Lust auf Diskussionen. Nach einem Tag Schweigen schneide ich ein unverfängliches Thema an. Ich beginne. Wie immer, denn Geoffrey ist zu sehr mit Frieren beschäftigt, um die Konversation zu starten, und Einar ist von Natur aus wortkarg.
»Wisst Ihr, woran ich gerade gedacht habe?«, frage ich. »An Schweinshaxe mit Semmelknödeln.«
»Komisch. Ich hab von einem frischen Elchfilet geträumt«, sinniert Einar. »Und du, Geoffrey?«
Geoffrey schweigt betreten. Aufgrund seiner Herkunft hatte er sicher einen kulinarischen Alptraum.
Wir schlagen das Zelt auf, nehmen jeder drei Vitaminpillen und eine Tasse Tee. Wegen der Verzögerung im Schneesturm müssen wir darauf achten, genug Nahrungsmittel für den Rückweg zu behalten.
Am nächsten Tag lassen Geoffreys Kräfte nach. Zweimal kippt er fast um, sagt aber nichts.
Wir verlangsamen. Ich sehe es Einar an: Er denkt, die Engländer und der Südpol passen einfach nicht zusammen. Die Bayern haben bis jetzt keine Erfahrung damit, das macht es für mich leichter. Und außerdem ist für mich Schnee eben Schnee und es ist mir egal, ob ich aufwärts oder landeinwärts kraxele. Ich bin ein Stück unverfälschte Natur, von Hause aus.
Während Einar und ich das Zelt aufbauen, hören wir einen Schrei. Leise – Schnee dämpft alle Geräusche auf einen Bruchteil ihrer üblichen Lautstärke.
Wir finden die Spur von Geoffreys Schlitten, die plötzlich aufhört. Wir legen uns hin und schauen über den Rand der Eisspalte, in die Geoffrey mitsamt dem Gefährt gerutscht ist. Sie ist schmal; der Schlitten hat sich an der Öffnung verkeilt und verhindert dadurch, dass Geoffrey in der Tiefe verschwindet.
Mit aller Kraft ziehen wir unseren Freund heraus – aber den Schlitten müssen wir aufgeben, die Gefahr, dass er uns mit in die Tiefe reißen wird, wenn wir ihn bewegen, ist zu groß. Ich träume von einer Expedition mit Hunderten von Leuten und acht Polarhunden vor jedem Schlitten.
»Es war die Hölle«, murmelt Geoffrey. Die Augen von einem, der just dem Tod von der Schippe gesprungen ist, schauen mich an.
»Die Hölle kommt, wenn die Fressalien alle sind!« Einar stapft unwirsch zum Zelt.
»Ich glaub, ich stürze mich doch in die Spalte. Dann habt ihr einen Esser weniger«, schlägt Geoffrey vor.
»Mach bloß keinen Quatsch!« Ich gebe ihm einen Klaps auf die Schulter.
Als wir ins Zelt treten, sehen wir, wie Einar über dem Spirituskocher einen Flachmann wärmt.
»Eigentlich wollte ich den alten Wacholderschnaps von meiner Großmutter fürs Ziel aufheben. Aber jetzt feiern wir Geoffreys Rettung damit.«
»Oh ja, gute Idee!«, rufe ich.
Bald ist die Stimmung wieder besser und wir freuen uns auf den Pol.
26. Januar. Es ist so weit! Ja, kalt war’s. Aber es gab keine weiteren Störungen auf der Route, also erfinde ich auch keinen Schmarrn. Ich bin ein Stück Bayern, und guad is.
Wir müssen einige Fetzen älterer Expeditionen wegräumen, dann wird die Bayernflagge eingepflanzt.
»Schreibt eure Namen darauf!«, schlage ich vor.
»Das ist ein Stück Kameradschaft!«, ruft Geoffrey.
»Der Filzstift ist eingefroren!«, bemerkt Einar.
Geoffrey schaut auf die Uhr.
»Teezeit! Wir wärmen den Stift mit Wasser auf.«
Zwei Stunden später sind unsere Namen auf dem Flaggentuch mit den weißblauen Rauten verewigt. Ich denke darüber nach, wo uns das nächste Abenteuer hinführen könnte.
»Jungs, was haltet ihr von einer Kneipentour durch Äquatorialguinea, im Sommer?«