Читать книгу Jahrgang 1963 - Eine Kindheit unter dem Einfluss der Kriegsgeneration und progressiven 68er - Holger Hähle - Страница 5
Wilde Kinder sind hyperaktive Kinder
ОглавлениеMeine unendliche Lebensenergie musste raus. Alles war so neu und so aufregend. Die Überschwänglichkeit, mit der ich auf alles Neue zuging, führte zu einer Dynamik, die das Denken zu kurz kommen ließ. Agieren kam vor dem Denken, erst recht aber vor dem Nachdenken. In Ruhe zu überlegen und abzuwägen, dazu hatte ich meist keine Zeit.
Klar passierten mir deshalb eine Menge Fehler. Viele Dinge gingen zu Bruch. Auch der sachgemäße Umgang schützte bei mir vor Schäden nicht. Immer wieder brauchte ich Pflaster. Kleine Verletzungen durch ungeschicktes Verhalten, meist waren es Stürze, gehörten zum Tagesablauf.
Im Schulunterricht war ich berüchtigt für meine häufigen Flüchtigkeitsfehler. Da lachte dann auch schon mal die ganze Klasse. Ein ständiger Kommentar von Lehrern, Eltern, Großeltern und Tanten war: „Eigentlich kann der Holger das, aber da war er mal wieder sehr flüchtig.“
Und das stimmte. Ich kam meist zu Lösungen. Aber es dauerte schon mal etwas länger. Oft brauchte es mehrere Anläufe und viele Umwege. Das bedeutete aber noch nicht, dass ich etwas einmal Gelerntes dann immer richtig machte. Vergessen konnte ich genauso schnell, wie ich Fehler machte. Manchmal waren auch andere Reize einfach stärker. Dann war es nicht so, dass ich etwas Neues nicht können könnte. Es fehlte nur die nötige Aufmerksamkeit, weil das Interesse gewechselt hatte.
Toben konnte ich nicht genug. Es tat so gut, meine unendliche Lebensenergie ein bisschen rauszulassen. Den anderen ging es doch auch so. Klar ging dabei ständig etwas zu Bruch. Meist war ich dann verantwortlich. Die anderen waren da schon geschickter. Bei Tollpatschigkeiten wurde meist über mich gelacht. Bremsen taten mich meine Missgeschicke aber nicht. Aufrichtiges Mitleid verflog schnell. Mein Elan trieb mich weiter. Noch abends im Bett drängte es mich, mit meinem Bruder weiterzutoben. Es fiel schwer, mit der immer noch hohen Restenergie Ruhe zu finden. Statt Schäfchen zu zählen, suchte ich Ruhe, indem ich mir Geschichten erzählte und Pläne schmiedete für den nächsten Tag. Das regte die Fantasie an, löste Begeisterung aus und lenkte meinen Tatendrang. Ein gutes Einschlafmittel war das nicht. Obwohl ich brav gegen sieben Uhr nach dem Sandmännchen zu Bett ging, lag ich oft noch wach, wenn meine Eltern, meist gegen 23:30Uhr, die Treppe auf dem Weg in ihr Schlafzimmer hochkamen. Wenn sie die Tür zum Kinderzimmer einen Spalt öffneten, um zu sehen, ob wir friedlich schliefen, stellte ich mich einfach schlafend. Die Schwierigkeiten beim Einschlafen machten morgens beim Aufstehen keine Probleme. Ich begrüßte den neuen Tag mit einem Sprung aus dem Bett. Endlich passierte wieder was. Jetzt war es daran, die Pläne des Abends umzusetzen.
Angeblich sei ich zappelig. Ich fand allerdings, dass ich nur manchmal zappelig war, wenn mir das Adrenalin ging. Es ging auch ganz anders.
Wenn ich mit meinem kleinen, einjährigen Brüderchen spielte, war ich ruhig und einfühlsam. Ich ging sehr behutsam mit ihm um. Wenn er schlief, legte ich mich zu ihm und versuchte den sehr leisen Atem zu spüren. Das war sehr entspannend. Wie klein musste die Lunge sein, die so einen Hauch hervorstieß.
Noch mehr Ruhe musste ich beim Beobachten von Tieren zeigen. Wenn ich auf bestimmten Waldwiesen im Gras vor Mauselöchern lag, konnte ich so ruhig sein, dass nach langem Warten tatsächlich Mäuse rauskamen und sich beim Krabbeln durch ihre lichten Grastunnel beobachten ließen. Erwachsene kriegten so etwas natürlich nicht mit.
Dafür, dass Erwachsene ständig eine Meinung von mir hatten, kannten sie mich recht wenig. Manchmal hatte ich den Eindruck; wenn es ein Problem gab, dann lag es bei ihnen. Manche Erwachsene waren einfach leicht reizbar und ungeduldig. Sie neigten zu Nervosität und Hysterie.
Manche Erwachsene waren einfach so alt, dass ihnen jeglicher Bezug zur Kindlichkeit abhanden gekommen war. Ich meine nicht das Alter nach Jahren, sondern eine bestimmte, altersbedingte Gesetztheit. Das führte zu einer Mentalität, von der auch Erwachsene in erschreckend frühem Alter erfasst werden konnten.
Einer meiner Kumpels glaubte, dass das sogar schon für seine große Schwester galt, die schon Mofa fahren durfte und permanent genervt war und schon mal wegen seines Verhaltens ausrastete.
Stressresistenz war keine Eigenschaft, die Erwachsene auszeichnete. Die Erwachsenen waren sich bei ihren Entscheidungen trotzdem sehr sicher. Die Diagnose Hyperaktivitätsstörung für mein Verhalten, war oft schnell zur Hand. Der eigenen mangelnden Stressresistenz gaben die berufenen Gutachter kein Gewicht bei meiner Beurteilung.
Häufig kam das Urteil von Erziehern, die durch stilvolle Kleidung, Eitelkeit und gefühlte Wichtigkeit auffielen. Entfernt erinnerten sie an die Kinder, die beim Spielen immer die Bestimmer sein wollten. Sollte ihre in Mode gekommene Diagnose vor allem ihrem Ansehen dienen und sie kompetent wirken lassen? Wollten sie mit ihrer Diagnose auch ihr extrovertiertes Geltungsbedürfnis befriedigen, indem sie zeigten, dass sie über den pädagogischen Tellerrand hinaus blicken konnten und voll auf der Höhe der Zeit und der wissenschaftlichen Erkenntnis agierten? Es waren immer die gleichen Personen, die in ihrer gefühlten Wichtigkeit immer und zu allem sofort eine Meinung parat hatten. Zwei von ihnen wurden später tatsächlich auch zu Schulleitern.
Von den Anamnesen dieser Lehrer war ich jedenfalls sehr enttäuscht. Ich hatte es ihnen mehrmals sagen wollen. Jedes Mal wurde ich mit einem gnädigen Lächeln abgewürgt.
Zu meinem nachhaltigen Trost, gab es einen Erwachsenen, der meinen Standpunkt teilte. Das war mein Hausarzt. In meinem Alter war das natürlich ein Pädiater. Dr. Lindgen konnte den Klagen meiner Eltern, die diese mit Sorgenmine bereitwillig von den Erziehern und Lehrern übernommen hatten, sehr geduldig zu hören. Verständnis hatte er auch. Handlungsbedarf sah er nie.
Jedenfalls sollte die Einschulung später erfolgen, dann hieß es plötzlich am Ende der vierten Klasse, ich solle besser nicht ein Gymnasium besuchen. Letztlich tangierte mich ihre pädagogische Fachsimpelei nicht. Ich konnte mich sowieso nicht durchsetzen.
Meinen Weg würde ich trotzdem konsequent weitergehen. Ich würde weiter den Wald hinter unserem Haus erforschen und später ein Naturwissenschaftler werden. Das würden die Erwachsenen nicht verhindern können. Und so wird es kommen. Als ich viele Jahre später während meiner Promotion in meine Heimatstadt komme, um meine Eltern zu besuchen, war ich beim Gang über den Markt versucht, das einem alten Lehrer auf die Nase zu binden. Ich entscheide mich, es bleiben zu lassen. Irren ist menschlich. Das gilt auch für Erwachsene mit pädagogischer Fachbildung. Ein Problem bleibt es trotzdem, weil nun mal Kinder damals wie heute, Erwachsene als Vorbilder nehmen und sich gerne zum Volltrottel machen, wenn die Erwachsenen signalisieren, dass das ein zutreffendes Prädikat ist.