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Sozialisation prägt normatives Verhalten

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Kinder lernen das Regelwerk, in dem sie Erwachsene imitieren. Sie spielen mit Autos oder Puppen. Sie kopieren Verhaltensweisen, wenn sie Vater-Mutter-Kind spielen. Die Erwachsenen dienen als Vorbilder. Beim Federballspiel stellten sich in meiner Jugend die Jungs vor, sie seien Boris Becker und die Mädchen taten, als seien sie Steffi Graf. Durch Imitation übten wir unsere zukünftige Rolle.

Mit begleitenden erzieherischen Maßnahmen lernen Heranwachsende, sich gruppenkonform zu verhalten. Richtiges Verhalten wird belohnt. Falsches Verhalten wird sanktioniert. Wenn ich als Kind auf dem Dachboden in die alten Kleider meiner Oma schlüpfte und dazu die Pumps meiner Mutter anzog, dann durfte ich so nicht auf die Straße gehen, denn ich verhielt mich für einen Jungen, auch wenn das Ganze nur ein Spaß war, nicht normgerecht. Die Mädchen hingegen durften sich dazu auch noch die Fingernägel lackieren. Als ich es einmal tat, setzte es Hiebe.

So wird normatives Verhalten antrainiert, um sich gemäß den gesellschaftlichen Normen zu sozialisieren. Wir lernen unsere Rollen, so wie ein Schauspieler eine Theater- oder Filmrolle lernt. Der große Unterschied liegt darin, dass wir unsere Rolle ein Leben lang spielen sollen. Wir lernen unsere Rolle so gut, weil unser Gehirn im Gegensatz zu dem im ersten Kapitel beschriebenen Gazellenkitz noch weitgehend unbeschrieben ist. Wir können uns leicht an jede vorgegebene Kultur anpassen. Dass die Anpassungen sich neuronal manifestieren, macht die gelernte Rolle so prägend. Bei Kindern funktioniert das besonders gut. Sie wissen noch nichts und müssen sehr viel lernen. Sie nehmen alles unkritisch auf, was Erwachsene ihnen bei-bringen. Durch die permanente Wiederholung verbunden mit Lob und Tadel schleifen sich die gelernten Verhaltensmuster ein und bilden eine, der Kultur, in der sie leben, entsprechende Identität (9).

Die Sozialisation ist ein lebenslanger, interaktiver Prozess, der alle kulturellen Aspekte verarbeitet. Sie kennzeichnet die permanente Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Die Sozialisation bestimmt unsere Identität, unser Selbstwertgefühl und unsere Fähigkeiten (10). Wenn individuelle Interessen nicht gefördert werden, weil sie gesellschaftlich nur für einen anderen Stand oder ein anderes Geschlecht als wichtig angesehen werden, dann können die mit einem Interesse verbundenen Potentiale auch nicht entwickelt werden.

Mädchen sind noch heute in einigen Gesellschaften nicht des Lesens und Schreibens mächtig, nicht weil sie dümmer sind als Jungs, sondern weil die Jungs vorzugsweise Schulen besuchen und die Mädchen stattdessen früh verheiratet werden.

Wie viele große Denkerinnen mögen der Welt entgangen sein, weil die gesellschaftlichen Kategorien in den meist patriarchalen Gesellschaften Mädchen keine Chance gaben, ihr Potential zu entwickeln? Wie viele große DenkerIinnen mögen unentdeckt geblieben sein, weil Arbeiterkinder, gemäß den Standesregeln, der soziale Aufstieg unmöglich war?

Wir sind, was wir sind, durch die Gesellschaft und ihre Kultur. Wir nutzen ihre Artefakte und werden durch sie bewertet. Unsere Identität und unser Verhalten werden dadurch bestimmt, wie wir gesehen und eingestuft werden.

Weil das Votum unserer Umwelt so wichtig ist, neigen wir dazu, die Mode zu mögen, die auch unsere Freunde und Bekannten gut finden. Unser Urteil ist nie objektiv. Wir bewerten immer unter dem Einfluss unserer Sozialisation.

Als meine Mutter Ende der 1950er Jahre Hosen anziehen wollte, war ihre Mutter strikt dagegen. Sie sagte, Frauen sähen in Hosen wie gerupfte Hühner aus. Nur unanständige Frauen würden Hosen anziehen. Hosen, sagte sie, passen einfach nur Männern. Für Frauen hat Gott den Rock gemacht.

Wenn jemand mit einem Dresscode bricht, dann wird das schnell als unästhetisch empfunden. Die Leute meinen dann, objektiv ihren Geschmack zu äußern. Tatsächlich beurteilen wir durch die Brille unserer Prägungen, die fest in uns verankert sind. Deswegen stehen wir allem Neuen eher skeptisch gegenüber. Menschen empfinden häufiger konservativ als progressiv.

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