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1. Töten und genießen – sich selbst und andere

Drei Tage lang lag ich im Koma. Ich wurde auf dem Weg auf die andere Straßenseite an der Fußgängerampel, die auf Grün umgesprungen war, von einem LKW erfasst, dessen Fahrer seine Gelbphase noch schaffen wollte. Das Letzte, was ich vor dem Aufprall sah, war das weiße Frontblech, das plötzlich mein gesamtes Blickfeld einnahm. Dann war alles dunkel – eine ungewisse Dauer lang. Doch nach einiger Zeit sah ich wieder etwas – fremde und gewohnte Umgebungen und Personen, die ich teilweise persönlich kannte, teilweise nur von Fotos oder der Lektüre nach, mit der ich mich irgendwann einmal in den vergangenen fünfzig Jahren beschäftigt hatte.

Nach einer kurzen Phase der Orientierung fand ich mich zum Beispiel auf der Finca Vigía wieder, dem Anwesen auf Kuba, das einst der US-amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway zuerst mit Martha Gellhorn und dann mit Mary Welsh bewohnte. Oder sollte ich besser ‚bewohnt‘ schreiben? Denn als ich dort ankam und auf die Veranda ging, saß er mit Aristoteles und einer jungen, hübschen Frau, die ich zuerst nicht erkannte, um einen runden Tisch und aß mit ihnen zu Mittag. Es gab in Knoblauchöl gebratene Forellen, gekochte Kartoffeln und gegrillte Tomaten. Hemingway sah mich von weitem kommen und winkte mich lächelnd heran.

Er sprach mich auf Italienisch an, was ich ohne Probleme verstand. Doch aufgrund der verschiedenen Sprachen, die ich im Laufe meines Komas mit den verschiedenen Personen sprach, übersetze ich hier alles auf Deutsch, da ich von kaum einem Leser erwarten kann Italienisch, Spanisch, Aramäisch, Russisch, Latein, Altgriechisch, Dänisch, Französisch und Englisch gleichermaßen perfekt zu beherrschen. Ich habe in meinem Leben nur einen kleinen Teil dieser Sprachen gelernt; aber im Koma verstand ich sie alle.

„Komm ran, fremder Mann!“, sagte also Hemingway. „Setz dich und iss mit uns die besten Forellen, die es auf Kuba gibt! Wie heißt du?“

„Mein Name ist Holger Kiefer. Ich komme aus Deutschland.“

„Oh, della Germania. Ich war einmal dort. Ist schon lange her. Und es war nicht schön. Österreich hat mir besser gefallen. Aber egal. Komm, setz dich! Darf ich dir meine große Liebe vorstellen: Contessa Adriana Ivancich. Und zu meiner Linken, den kennst du vielleicht: Aristoteles. Ich nenne ihn aber meistens nur Aris – nicht zu verwechseln mit dem Airmarshal Harris. Das war ein Schwein; hat Tausende von Frauen und Kindern ermorden lassen. Das macht man als guter Soldat nicht. Aber er hat es gemacht. Nein, das ist Aris. Wir sagen hier alle ‚du‘ zueinander. Also: Adriana, Aris und Ernest.“ Dabei zeigte er bei jedem Namen mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf die entsprechende Person. „Adriana und Aris! Das ist Holger.“

Wir begrüßten uns lächelnd, während ich mich zwischen Adriana und Aris setzte. Ernest ließ von einem Bediensteten noch ein Service bringen und schenkte mir einen leichten Rosé ein. Wir prosteten uns alle zu und aßen die restlichen Forellen. Ich war sehr erstaunt darüber, dass ich hier mit Hemingway und Aristoteles zusammen an einem Tisch saß, verhielt mich daher zunächst ruhig und genoss das Essen. Die Sonne schien, und es zogen ein paar weiße Wolken am Himmel vorüber. Es war angenehm warm – vielleicht 24°C – und die leichte Brise erfrischte das Gesicht und ließ die Blätter der Weinpflanzen an den Stützen und auf dem Dach der Pergola, unter der wir saßen und so vor dem direkten Sonnenlicht geschützt waren, hin und wieder rascheln. Aus dem Haus klang leise und unaufdringlich kubanische Musik zu uns heraus.

Nachdem alle ihr Besteck auf die Teller gelegt hatten, fragte Ernest, ob es geschmeckt habe und alle satt seien. Wir bestätigten und lehnten uns zurück. Ich fragte, ob ich eine Zigarette rauchen dürfe und bot nach der Erlaubnis des Hausherrn Adriana und Aris eine an. Adriana lächelte mich freundlich an und zog eine aus der ihr dargebotenen Schachtel. Dabei betrachtete ich ihr feines und schönes Gesicht. Sie hatte einen schmalen, ovalen Kopf, der mir bei Frauen so gefällt. Ihr Mund war eher klein, und die Lippen schmal, doch fehlte der kleine Amorbogen in der Oberlippe nicht. Ihre Nase war schmal und gerade mit einer unscheinbaren Wölbung, die ihre aristokratische Herkunft verriet. Vom Mittelscheitel wellten ihre dunklen Haare zu beiden Seiten bis knapp über die Ohren. Ihre Augenbrauen waren dunkel und verliefen schmal und symmetrisch. Nachdem Adriana die Zigarette in den Mund gesteckt hatte, ließ sie sich von mir Feuer geben und schaute mir während der gesamten Prozedur offen und direkt in meine Augen. Ich erwiderte ihren Blick und verbrannte mir dabei fast die Finger. Ernest und Aris winkten ab. Sie waren beide Nichtraucher.

„Holger, hast du schon einmal einen Menschen getötet?“, fragte Ernest. Auch Adriana und Aris blickten mich jetzt erwartungsvoll an. Ich war überrascht und überlegte, ob ich wahrheitsgemäß antworten sollte. Das dauerte zwei oder drei Sekunden, aber dann sagte ich: „Ja, aus Versehen.“

„Aus Versehen?“, fragte Adriana nach.

„Ja. am Ende stellte der Richter ‚Notwehr‘ fest und sprach mich frei.“

„Wie ist das passiert?“, fragte Ernest.

„Also: Es war auf einer Party. Der Andere machte sich an meine Freundin heran und wollte sie küssen. Als sie ihn abwehrte, wurde er grob, packte meine Freundin kräftig im Nacken und presste ihr seine Lippen auf ihren Mund. Ich stand ein paar Meter von ihnen entfernt und unterhielt mich gerade mit einem Bekannten, als ich die kurzen Aufschreie von zwei umstehenden Mädchen wahrnahm und mich umdrehte. Ich ging natürlich sofort zu ihm und riss ihn von meiner Freundin weg. Daraufhin lächelte er mich nur verächtlich an und begann sofort auf mich einzuschlagen. Allerdings konnte ich seine Angriffe immer abwehren. Als er nicht aufhörte, gelang es mir mit den ausgestreckten Fingern meiner rechten Hand einen Volltreffer unter sein Sternum zu platzieren.“

„Autsch.“, sagte Ernest.

„Ja. Leider.“, fuhr ich fort. „Er öffnete seinen Mund und bekam keine Luft mehr. Einen kurzen Moment stand er starr vor mir und glotzte mich stumm an. Dann fiel er nach vorne über und blieb liegen. Die gerufene Ambulanz stellte nur noch seinen Tod fest.“

„Das tut mir wirklich leid.“, sagte Adriana.

„Ja, mir tut es auch leid.“, antwortete ich.

„Ich meine: Es tut mir Leid um dich, nicht um ihn.“, verdeutlichte sie.

„Nicht um ihn?“, vergewisserte ich mich.

„Nein. Er hat doch angefangen, nicht wahr?“ Ich nickte. „Na also. Wenn der Provokateur stirbt, ist es nicht schade um ihn; und es muss auch keinem leidtun.“

Aristoteles schaltete sich ein: „Ich finde, Adriana hat Recht. Jeder kann wütend werden. Doch nicht immer ist so eine Reaktion wie bei dir angebracht. Man sollte sich natürlich unter Kontrolle haben. Aber dieser Andere hat nicht nur deine Freundin – überhaupt eine Frau, die wohl schwächer als er war – sexuell belästigt und genötigt, sondern auch dich körperlich angegriffen. Und du hattest das Recht deiner Freundin Nothilfe zu leisten und dich zu verteidigen. Du musstest ihn vielleicht nicht gleich töten; aber es ist nun einmal passiert. Mir scheint, dass in dieser Situation Ort, Zeit und Anlass zugleich gegeben waren, um einen Angreifer rechtmäßig unschädlich zu machen. Was denkst du, Ernest?“

„Stimme vollkommen zu, Aris. Ein klassischer Verteidigungsfall, bei dem nun einmal der Schwächere, aber Aggressivere verloren hat. Sein Pech, wenn er die Lage nicht einschätzen kann. Du hast vollkommen richtig gehandelt, Holger. Mach dir keine Sorgen! Es gibt Schweinemenschen auf dieser Welt. Und dieser Andere war einer davon. Es ist nicht schade um ihn. Ich habe im Krieg zwölf Menschen getötet – töten müssen, weil sie mich töten wollten. Also auch eine Art von Notwehr. Die ist im Krieg ein Dauerzustand für alle Beteiligten.“

„Aber Kriege sollte es überhaupt nicht geben.“, warf Adriana ein.

Alle stimmten sofort zu. Aristoteles fügte noch an:

„Das Bedauerliche an Kriegen ist eigentlich immer, dass sich die Soldaten im Grunde genommen gegenseitig nichts vorzuwerfen haben, außer dass sich manchmal die gegnerischen Armeen auf fremdem Gebiet aufhalten, wo sie ja nichts zu suchen haben. Aber das ist schon der zweite oder dritte Schritt. Den ersten Schritt haben immer die Politiker zu verantworten – und das sind oft auch nicht immer die Politiker, die einen Krieg beginnen, sondern oft genug diejenigen, die einen anderen Staat provozieren oder durch Zwang unter Druck setzen. Man müsste die Politiker aller beteiligten Staaten zur Rechenschaft ziehen und nicht nur diejenigen, die am Ende den Krieg verlieren. Es würden sich alle Politiker dreimal überlegen, ob sie einen Krieg provozieren – egal ob sie ihn allein oder mit Alliierten gewinnen können.“

„Mal wieder auf den Punkt gebracht, Aris.“, sagte Ernest. „Politik ist heutzutage leider oft genug ein mieses, verkommenes Geschäft, das zu Lasten der normalen und friedliebenden Bürger praktiziert wird. Aber lasst uns über etwas Anderes reden! Schließlich sind wir hier auf der Finca Vigía – keine Politiker, keine Lügen, keine Kriege.“

In dem Moment kam mein Bruder Ralf – wie ich vor einer guten Stunde – die Treppe zur Veranda herauf und begrüßte uns lächelnd.

„Hey, Ralfi! Schön dich zu sehen.“, rief Ernest; und ich wunderte mich, dass er meinen Bruder, den ich hier nicht erwartet hatte, bereits kannte. Es stellte sich heraus, dass die beiden sich einmal beim Angeln kennen gelernt hatten und danach in der Floridita-Bar nach einigen Daiquiris gemeinsam abgestürzt waren. Das erzeugt eine gewisse Bindung – sowohl bei Männer als auch bei Frauen – sowohl das Angeln als auch der gemeinsame Absturz in einer Bar.

Ralf brachte außer sich selbst und einer Flasche irischen Whiskey noch eine junge, zierliche Frau mit. Sie reichte ihm bis an die Schultern und hatte langes, glattes, flachsblondes Haar und blaue Augen, ein schmales Gesicht und ein sehr hübsches und freundliches Lächeln. Sie trug ein weißes, knielanges Kleid mit weitem Ausschnitt, so dass ihre wohlgeformten, hellbraunen Brüste bis auf die Warzen für jeden Menschen sichtbar waren – ein Anblick für die Götter, aber auch für alle Anwesenden einschließlich Adriana, die Linda besonders lange und wohlmeinend in Augenschein nahm.

„Oh, und wen bringst du da mit?“

„Das ist Linda. Sie kommt aus Spanien und promoviert hier in Havanna in Medizin.“

„Und mit welchem Schwerpunkt?“, fragte Aristoteles.

„Palliativmedizin und Methoden des sanften Freitods.“, antwortete Linda mit einem sanften Lächeln.

„Dann müssen wir uns später unbedingt darüber unterhalten. Das interessiert mich sehr.“

„Mich auch.“, warf Ernest ein.

„Mich auch.“, sagte ich

„Und mich auch.“, ergänzte Adriana.

„Mich natürlich auch.“, sagte mein Bruder lächelnd. „Aber vorher lasst uns etwas trinken! Was trinkt ihr gerade?“

Er stellte die mitgebrachte Flasche Whiskey auf den Tisch und ließ sich und Linda von dem Bediensteten zwei Weingläser und eine neue Flasche Rosé bringen. Gegessen hätten sie schon, begegnete er Ernest auf seine Frage nach ihrem Hunger. Und deswegen konnte der Bedienstete die Teller abräumen und den Käse und die Weintrauben auftischen.

Wir unterhielten uns zunächst darüber, was wir am vergangenen Tag und in der vergangenen Nacht gemacht hatten. Ralf und Linda waren angeln gegangen, hatten sich am Gestade außerhalb Kubas mehrmals körperlich geliebt – also gefickt – und nebenbei ein paar herrliche Soffrados gefangen, die sie am Abend im Garten gegrillt hatten, wonach sie im Freien eingeschlafen und erst mit dem Ruf des Sonnenvogels gegen fünf Uhr aufgewacht waren. Aristoteles erzählte, dass er früh zu Bett gegangen sei und einen Traum gehabt habe: Er hatte von einer Weltkonferenz der Philosophen geträumt, deren Ziel es wäre Kriege unter den Völkern für alle Zeiten auszuschließen. Er habe vorgeschlagen einen Weltsicherheitsrat zu installieren, der jegliche Art von militärischer Auseinandersetzung mit Todesstrafe belegen solle. Außerdem müsse es einen Weltwirtschaftsrat geben, der die Weltwirtschaft gerecht regelt und dafür sorgt, dass alle Länder auf der Welt gerecht behandelt werden. Es würde zwar beide Instanzen schon geben, erklärte er. Aber so, wie sie arbeiteten, gäbe es keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Beide wären durchgängig korrupt und würden ihren Aufgaben geschweige denn den Belangen der Menschen nicht gerecht.

Adriana und Ernest hatten den ganzen Tag mit dem Boot auf dem Meer verbracht: angeln, schlafen, lesen, sprechen – was man ebenso zu zweit auf einem Boot macht. Ich konnte mich nicht erinnern. Alles war wie ausgelöscht. Damit war ich der Einzige, der nichts an Erfahrung von gestern beitragen konnte. Das war mir irgendwie unangenehm. Aber die anderen gingen nicht weiter darauf ein. Stattdessen sollte nun Linda erläutern, was sie genau in ihrem Beruf tut. Und sie erzählte:

„Also in der Palliativmedizin geht es darum, den sterbenden Menschen mit schweren, in der Regel unheilbaren Krankheiten so lange wie möglich ein schmerzfreies Leben zu ermöglichen. Wir kümmern uns um ihn.“

„Was heißt ‚kümmern‘?“, fragte ich.

„Naja, es geht natürlich in erster Linie darum, die Schmerzen, die er durch seine Krankheit hat, zu lindern. Dafür gibt es eine ganze Reihe an Medikamenten, also Schmerzmitteln. Aber wir versuchen auch die Menschen zu beschäftigen und psychisch zu betreuen. Vor allem ist das Ziel ihnen ihre Ängste und Verzweiflung zu nehmen.“

„Ja, das ist sehr wichtig.“, sagte Aristoteles. „Die Angst vor dem Tod und dem Sterbenmüssen ist bei den meisten Menschen die größte. Man muss sich halt mit ihm anfreunden.“

„Anfreunden?“, fragte Adriana überrascht.

„“Ja, anfreunden.“, wiederholte Aristoteles. Wir müssen uns mit ihm beschäftigen, und zwar nicht erst, wenn er schon vor der Tür steht, sondern am besten ein ganzes Leben lang.“

„Aristoteles hat Recht.“, sagte Linda. „Viele Menschen sind zunächst so verzweifelt, weil sie den Gedanken an den Tod ihr ganzes Leben lang zur Seite geschoben haben. Und nun steht er plötzlich unwiderruflich da und lässt sich nicht mehr abwimmeln. Und dann bekommen die Menschen Angst.“

Linda erzählte noch eine Weile von den Leuten, mit denen sie zusammenarbeitet: Psychologen, Theologen, Physiotherapeuten und Pflegern – und natürlich den Angehörigen, soweit diese dazu bereit sind.

„Also geht es auch um Beschäftigung und Beistand.“, warf Ernest ein.

„Ja, so ist es.“, antwortete Linda.

„Sei mir nicht böse, Linda!“, fuhr Ernest weiter fort. „Aber ist das nicht etwas für Menschen, die keine eigenen Ideen haben?“

„Wie meinst du das?“, fragte Linda nach.

„Na ich meine: Ich brauche keinen Freizeitplan – auch nicht, wenn ich sterbe. Erstens konnte ich mich stets selbst beschäftigen. Und wenn es dann so weit ist – ich meine, wenn ich nichts Vernünftiges mehr machen kann, weil die Schmerzen zu groß werden oder ich mein Augenlicht verliere oder andere aussichtslose Situationen eintreten, dann habe ich meine Winchester, um dem Graus ein Ende zu setzen.“

„Du kannst aber nicht jedem Alten eine Winchester schenken, Ernest, damit er sich erschießt. Oder?“, gab Adriana zu bedenken. Ich musste kurz prusten.

„Nein. Du hast Recht, Liebes. Erstens kann damit auch nicht jeder umgehen. Und zweitens bezweifle ich, dass die meisten den Mumm haben auch abzudrücken.“

„Aber dafür habt ihr doch auch eine Lösung, oder?“, sprach Ralf und lenkte das Gespräch damit in die andere Richtung.

„Ja, für den Exitus gibt es natürlich auch Medikamente. Und wenn der Kunde es wünscht, bekommt er sie auch. Wir setzen ein Schriftstück auf, das seinen unwiderruflichen Willen bezeugt, fügen die Beweisschrift eines Arztes hinzu, indem es heißt, dass der Kunde entgegen des ärztlichen Rates es vorzieht sofort zu sterben, und dann können wir ihm die Mittel zur Verfügung stellen. Wann er sie im Endeffekt einnimmt, ist ihm überlassen. Manche machen es sofort; manche lassen noch ein paar Tage vergehen.“

„Entschuldige, Linda!“, meldete sich Aristoteles. „Du sprichst von ‚Kunden‘ und nicht von ‚Patienten‘?“

„Ja.“, antwortete Linda. „Das hat sich bei uns so durchgesetzt, weil die Menschen es so wollen. Sie wollen keine Patienten sein. Das Wort ‚Patient‘ hört sich oft so an, als lägen die Leute im Krankenbett und bedürften intensiver Pflege, weil sie fast alles nicht mehr selbst erledigen können – wie ein Patient mit gebrochenen Extremitäten zum Beispiel. Aber die meisten leben ihr Leben ja weiterhin selbstständig – gehen zur Toilette und waschen oder duschen sich, essen, trinken, machen Spaziergänge und so weiter. Sie bezahlen ja auch für alles. Und wenn die Krankenkassen bezahlen, haben sie vorher die Krankenkassen bezahlt. Also verlangen sie auch die gewünschte Leistung, die den Freitod beinhaltet.“

„Eine Dienstleistung also?“, fragte Adriana.

„Ja, wenn du so willst.“, antwortete Linda.

„Das finde ich gut.“, bemerkte ich. „Viele Leute möchten sterben, wissen aber nicht wie. Und, wie Adriana schon sagte, haben die meisten keine Winchester oder keine Pistole oder verfügen nicht über die Medikamente, an die nur schwer ranzukommen ist. Dann probieren sie einiges aus und scheitern vielleicht, werden in die Psychiatrie eingeliefert und vom Sterben abgehalten.“

„Richtig. Oder stürzen sich von Brücken oder werfen sich vor Züge und belasten dadurch nur unnötig das Leben anderer – zum Beispiel Kinder, die gerade unter der Brücke spielen oder am nächsten Tag die gebrochenen Knochen und das herausgespritzte Gehirn entdecken – oder die bedauernswerten Zugfahrer, die oft ihren Beruf nicht mehr ausüben können, wenn sie einmal den Kopf eines Suizidanten mit den Rädern ihres Zuges abgetrennt haben.“, sagte Ralf.

Linda ergänzte: „Wir wollen auch solche Szenarien verhindern. Jeder soll das Recht haben, sein Leben zu beenden.“

„Ich habe gehört, dass viele Menschen, die sich umbringen wollen, unter Depressionen leiden. Sollte man denen nicht vorher irgendwie helfen?“, fragte Aristoteles.

„Sollte man.“, antwortete Adriana. „Aber da sind wir bei einem anderen Thema, glaube ich. Wir haben ja die ganze Zeit von Menschen gesprochen, die eh bald sterben werden. Depressionen kann man auch als junger Mensch bekommen. Abgesehen davon stimmt es nicht, dass Leute, die sich das Leben nehmen wollen, alle unter Depressionen leiden, wie das so oft in den Medien vermittelt werden soll.“

„Das ist eigentlich ein ganz anderes Thema, oder?“, fragte ich. „Linda! Haben die Leute bei euch Depressionen?“ Linda dachte eine kurze Zeit nach. Dann sagte sie:

„Einige haben am Anfang Angst – wie ich ja auch schon vorhin gesagt habe. Aber ich würde es nicht als Depression bezeichnen. Es ist etwas Anderes, ob Du Dein Leben so oder so abschließen sollst, oder ob dich zum Beispiel irgendwelche Situationen, die nicht leicht zu ertragen sind, aus der Bahn werfen und dich mutlos und traurig werden lassen. Manche Menschen schaffen es einfach nicht aus eigener Kraft, nach einem Rückschlag wieder Fuß zu fassen, weiterzumachen und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.“

Adriana sagte: „Es ist natürlich etwas Anderes, ob du mit 14 deine erste unglückliche Liebe erfährst oder mit 82 den Schlusspunkt erreicht hast. Oder würdest du einer Vierzehnjährigen auch die Winchester in die Hand drücken, Ernest?“, neckte sie ihn.

Ernest nahm die Spitze auf: „Wenn sie damit umgehen kann, warum nicht? Vielleicht überlegt sie es sich im letzten Moment auch noch anders, wenn sie das Ding schon in der Hand hat, und erschießt mich, weil sie wütend darüber wird, dass ich sie in die ewigen Jagdgründe schicken und nicht bemitleiden wollte. Das wäre dann so etwas wie Erziehung zur Selbsterziehung. Oder?“

„Ein interessanter Gedanke!“, äußerte Aristoteles. Das erinnert mich an einen Vorfall in unserer Stadt. Ist schon über zweitausenddreihundert Jahre her: Ein Vater schickte einmal seinen sechzehnjährigen Sohn, der zu nichts zu gebrauchen zu sein schien, in eine Höhle, um sich dort umzubringen. Er gab ihm ein großes Messer mit, das er sich in den Leib rammen sollte. Der Vater wählte ein besonders großes und stabiles Messer, das dem Jungen unnötig lange Schmerzen ersparen sollte. Als der Junge in der Höhle stand, dachte er darüber nach, wo er das Messer ansetzen sollte – am Hals, also die Carotis durchtrennen, oder unter dem Sternum und damit die Aorta zerfetzen. Er ritzte mit dem Messer zunächst seinen Körperumriss in den Stein und stand diesem Abbild gegenüber. Er ahmte die Bewegungen an den entsprechenden Stellen nach und wollte auf diese Weise ein gewisses Training erhalten. Beim dritten Durchgang rammte er das Messer auf Höhe seiner Spiegel-Aorta so heftig in den Stein, dass ein größerer Brocken aus der Wand fiel. Er sah das herausgeschlagene Stück genauer an und entdecke, dass es auf der Rückseite eine Schicht Gold enthielt. Er war auf eine Goldader gestoßen.“

„Wow! Das nenne ich mal Glück in letzter Sekunde, oder?“, fragte Ernest.

„Kann man so sagen, Ernest.“, antwortete Aristoteles.

„Wie geht die Geschichte weiter?“, wollte Adriana wissen.

„Tja, gut. Gut ist sie weitergegangen.“

„Ist er ein reicher Mann geworden? Und hat er sich an seinem Vater gerächt?“, fragte Ralf.

„Nein. Warum sollte er sich an seinem Vater rächen wollen. Der hatte nur im Sinne der damaligen Zeit gehandelt. Wenn aus einem Sohn nichts wurde, hatte der Vater das Recht, den Sohn selbst zu töten oder ihn irgendeinem sicheren Tod auszuliefern. Das war Gesetz. – Nein. Es kam anders.“

„Der Sohn ist ein reicher Mann geworden,“ sagte Linda, „und Vater und Sohn haben sich vergeben und wurden gemeinsam die reichsten Männer der Umgebung.“

„Nein. So ist es auch nicht verlaufen. Der Junge hat begriffen, dass er das gesamte Gold nicht ohne Hilfe abbauen konnte. Der Berg und die Höhle gehörten der Gemeinde. Es wäre also gar nicht sein Eigentum gewesen. Er hätte es melden und vielleicht auf Vergebung vonseiten des Vaters hoffen können, den gefundenen Reichtum aber zu einhundert Prozent abgeben müssen. Also entschied er sich so viel Gold aus dem Berg zu kratzen wie er tragen konnte und machte sich auf die Reise. Er überschritt die Grenzen mehrerer Länder und ließ sich am Ende dort nieder, wo ihn von seinen Verwandten und Bekannten mit Sicherheit niemand würde finden können. Von dem Gold, das am Ende übrig blieb, konnte er einen Weinberg und ein Haus kaufen und lebte seit dem vom Weinanbau. Natürlich musste er alles lernen und viel arbeiten. Aber er fand Gefallen daran, durch diesen Glücksfall alles allein bewerkstelligen zu können und endlich sein Leben selbst bestimmen zu können. Sein Wein wurde nicht nur in der Region, sondern auch in allen angrenzenden Ländern bekannt. Man erzählte sich sogar, dass der Vater diesen Wein gekauft und sich über den Namen sehr gewundert hat, denn es war sein eigener Familienname. Aber bevor er herausfinden konnte, dass es sein Sohn war, der diesen Wein produzierte, verstarb er im Alter von 82 Jahren, ohne seinen Sohn noch einmal gesehen zu haben.“

„Eine tolle Geschichte.“, fand Ernest.

„Und was lehrt sie uns?“, fragte Ralf.

Ich antwortete: „Dass man loslassen muss – sowohl der Vater vom Sohn, als auch der Sohn vom Vater.“

„Und“ – so Adriana – „dass der Vater den Sohn vielleicht nicht dauernd bevormunden sollte – und auch nicht die Tochter.“

„Richtig“ – reagierte Linda – „und auch nicht die Mutter den Sohn oder die Mutter die Tochter.“

„Hipp hipp hurra!“, tönte Ernest und erhob sein Glas. Tod den Müttern und Friede den Vätern!“

Wir feierten die Auferstehung der Kinder und waren froh keine Kinder unserer Eltern mehr zu sein. Es war auch der Zeitpunkt gekommen sich etwas abzulenken. Linda, Ralf, Adriana und ich gingen zum Schwimmbad hinunter, um uns abzukühlen. Wir zogen uns aus und sprangen nackt ins Wasser. Niemandem wäre eingefallen an irgendeine Badekleidung zu denken, die wir auch gar nicht zur Hand hatten. Es passierte einfach – so wie eine verheiratete Frau behauptet, die über Monate hinweg mit ihrem Chef geschlafen hat: „Es ist einfach passiert.“

Ernest und Aristoteles blieben oben. Ernest wollte seinem Gast die Trophäensammlung, also die ausgestopften Tierköpfe, in seinem Haus zeigen und die entsprechenden Geschichten dazu erzählen – wie er sie erworben hatte und was vor dem Schuss in ihm vorgegangen war, wie schwierig vielleicht der eine oder andere Schuss und wie lebensgefährlich die eine oder andere Situation gewesen war. Wahrscheinlich tauschten sie auch noch andere Erkenntnisse und Lebenserfahrungen aus. Aristoteles war vielleicht nie zur Jagd gegangen; aber wahrscheinlich hatte er geangelt oder war sogar mit dem Boot zum Fischen hinausgefahren. Und wahrscheinlich haben sie sich auch über das Töten von Tieren im Allgemeinen unterhalten – aber wahrscheinlich nicht so lange, weil sie es beide befürworteten.

Nach einer knappen halben Stunde gingen wir vier vom Schwimmbad wieder zur Veranda, um unseren Gastgeber nicht zu verärgern. Er hatte uns ja schließlich nicht eingeladen (war es überhaupt eine Einladung?), damit wir uns ohne ihn vergnügen. Beide, Ernest und Aristoteles, lächelten uns entgegen, als wir oben ankamen und fragten, ob es sich gelohnt habe. Wir antworteten affirmativ und lobten die Gelegenheit sich abkühlen zu können.

Ernest fragte, ob wir eine Spritztour nach Havanna unternehmen möchten, um vielleicht in einer Bar ein paar Cocktails zu trinken oder einem Hahnenkampf zuzuschauen. Es lehnten außer Aristoteles jedoch alle ab, so dass wir auf der Finca blieben und uns wieder an den Tisch auf der Veranda setzten. Ernest vertröstete Aristoteles auf den nächsten Tag, an dem sie zu einem Hahnenkampf fahren würden. Und wenn er wolle, könne er dort auch illegale Wetten eingehen und auf einen der Hähne setzen; Ernest würde ihm die entsprechenden Tipps geben. Aristoteles war sichtlich erfreut und vergaß seine momentane Enttäuschung.

Wir kamen noch einmal auf den Freitod zurück. Das heißt, ich stellte einfach die Frage in den Raum, wie sich jeder der Anwesenden umbringen würde. Dabei wollte ich auch einen Rat erhalten, um für mich die beste, sprich angenehmste Methode herauszufinden. Zuerst fragte ich daher Linda, ob sie mir bei Gelegenheit oder eben, wenn es so weit ist, die entsprechenden Medikamente zur Verfügung stellen könnte.

„Das kann ich tun.“, sagte sie. Es ist zwar nicht so einfach, dir ohne Weiteres etwas zukommen zu lassen, aber möglich. Jedoch werde ich das auch nicht machen, nur weil du gerade Lust hast dich zu töten. Du musst mir in dem Moment schon erklären, warum ich sie dir geben sollte. Hast du denn einen Grund dein Leben zu beenden?“

„Nein, im Moment nicht. Ich war auch noch nie depressiv und werde es auch nicht werden. Wenn ich mal sehr traurig bin, schenke ich mir einen Whiskey ein und trinke ihn – vielleicht auch zwei oder drei. Dann schlafe ich eine Nacht drüber und bin am nächsten Tag schon weniger traurig. Und sehr bald ist diese Traurigkeit auch wieder entschwunden. Ich habe das zum Beispiel nach dem Tod meines Vaters und meines Hundes getan. Eine halbe Flasche Whiskey – und gut ist.“

„Mein Reden.“, bestätigte Ernest.

„Nicht der schlechteste Weg.“, gab Aristoteles zu.

Ich fuhr fort: „Ich möchte nur eine sichere Option haben, wenn ich zum Beispiel gelähmt bin oder blind oder dement werde.“

„Das kann ich verstehen.“, sagte Linda. Wir zwingen niemanden so lange wie es irgendwie geht durchzuhalten – auch ohne gesundes Bewusstsein. Im Gegenteil: Gerade bei Demenz geben wir sehr schnell die Medikamente frei, weil wir sonst auch Probleme mit dem schriftlichen Willen und der ärztlichen Bescheinigung bekommen. Aber wie gesagt: Ich muss diesen Zustand bei dir schon selbst sehen beziehungsweise begutachten.“

„Das finde ich sehr gut.“, meldete sich Adriana. Es gibt ja auch viele Menschen, die mit dem Suizid nur drohen und andere damit unter Druck setzen wollen.“

„Die sollte man standrechtlich erschießen.“, warf Ernest – sichtlich alkostimuliert – in die Runde. „Die blöffen ja nur.“

„Mit dem zweiten hast du Recht, Ernest. Mit dem ersten aber nicht.“, antwortete ihm Adriana.

„Diese Leute brauchen“, erklärte Linda, „in erster Linie jemanden, der ihnen zuhört und Wege aufzeigt. Und da leider oft die eigenen Angehörigen das nicht mehr leisten, müssen Seelsorger oder Psychologen sich darum kümmern.“

„Traurig, aber wahr.“, gab Aristoteles zu Bedenken.

„Gut. Ich möchte nochmal auf meine Eingangsfrage zurückkommen: Welche Methode würdet ihr wählen?“

„Ich habe meine schon erwähnt: Ich hole meine Winchester.“

„Das wissen wir bereits, Ernest.“, sagte Adriana in ruhigem, neutralem Ton. Was würdest du machen, Ralf?“, fragte sie meinen Bruder.

Er dachte ein paar Sekunden nach. Und niemand unterbrach ihn in seinem Denken; niemand wollte vorher seine Methode äußern. Alle warteten. Denn es war seine Zeit. Überhaupt kam es niemals auf der Finca Vigía dazu, dass jemand einen anderen, der gerade redete oder nachdachte, darin unterbrach. Wir warteten stets die Antwort ab.

„Am liebsten würde ich ja in meinem Gemüsebeet oder unter einem meiner Olivenbäume einfach umfallen – Herzinfarkt oder so. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn meine Frau mich beim gemeinsamen Schwimmen leicht unter Wasser drückt, wenn meine geistigen und körperlichen Fähigkeiten nicht mehr ausreichen mich dagegen zu wehren. Wir haben das schon besprochen. Aber wenn das alles nicht eintritt, werde ich mir einen Cocktail aus Eisenhut, Einbeere und Rainfarn, Rum und Zucker bereiten.“

„Das klingt nach einem naturverbundenen Verfahren und passt zu dir.“, sagte ich zu meinem Bruder. Ich hoffe bei mir auch auf Herz- und Hirnschlag – ist bei Karl Kraus zum Beispiel gleichzeitig eingetreten. Eins von beiden würde mir aber auch schon reichen, wenn es denn tödlich ist. Ansonsten bin ich mir noch nicht sicher. Ich würde mich gern erschießen, habe aber keine Waffe.“

„Kann ich dir besorgen.“, rief Ernest herüber. „Was willst du? Einen Revolver? Eine Pistole? Sag Bescheid! Innerhalb von einem Tag hast du es.“

„Wenn also Medikamente oder Pistole nicht zur Verfügung stehen, werde ich wahrscheinlich das große Küchenmesser nehmen und mir die Carotis durchtrennen. Nicht schön und eine Sauerei verursachend, aber die letzte Möglichkeit – vielleicht sogar mit dem Sprung von einer Brücke verbunden, um sicherzugehen.“

„Ich würde mich aufhängen.“, sagte Adriana leise und emotionslos.

„Aber Liebes! Warum solltest du dich umbringen wollen?“, fragte Ernest ernsthaft besorgt.

„Wegen dessen, worüber wir uns hier unterhalten: aussichtslose Situationen und Endstationslagen. Ganz einfach. Denkst du, ich würde das nicht zustande bringen?“

„Natürlich würdest du das.“, antwortete Ernest. „Aber ich möchte das nicht.“

„Vielleicht bist du dann ja auch gar nicht mehr da, Liebster.“, gab sie zu bedenken. Linda, meine Liebe! Wie würdest du es machen?“

Linda dachte auch ein paar Sekunden darüber nach; und alle erwarteten ihre Antwort mit Spannung.

„Adriana hat schon Recht: Aufhängen ist eine effektive Methode. Aber man muss etwas beachten. Denn ein langsames Ersticken ist nicht mein Ziel. Doch wenn man lange genug fällt, bricht das Genick. Und das bringt den schnellen Tod. Ja, vielleicht würde ich mich auch aufhängen. Aber ich habe ja meine Medikamente. Und das ist viel entspannter. Du nimmst sie ein und dämmerst weg – ohne Schmerzen, ohne Angst, ohne große Umstände. Und du, Aristoteles?“

„Ich liebe das Meer.“, begann der große Philosoph. „Und im Grunde genommen mache ich aktuell auch nichts Anderes als immer weiter auf das Meer hinauszuschwimmen, bis ich keine Kräfte mehr habe. Ich würde einfach ins Meer gehen und hinausschwimmen, immer weiter hinaus und nie zurück. Irgendwann bist du so schwach und hast keine Kräfte und damit auch keine Möglichkeit mehr lebend zurück an Land zu kommen. Deine Muskeln versagen einfach, und du ertrinkst.“

„Das soll auch ein schöner Tod sein.“, sagte Ralf. „Zumindest berichten Überlebende davon, dass sie keine Schmerzen empfunden hätten, sondern das Nichtatmen im tiefen Blau als äußerst angenehm, ruhig und entspannt wahrgenommen hätten.“

„Ja, das denke ich mir auch so.“, erwiderte Aristoteles. „Ich habe mit ehemalig Ertrinkenden gesprochen, die durch einen Delphin oder Tümmler wieder ans Ufer transportiert wurden. Sie hatten in keinem Moment Angst – weder vor dem Tier noch vor dem Tod. Es schien alles in seiner Ordnung zu sein. Es war sehr angenehm, sagen sie. Deswegen würde ich diese Art wählen.“

Wir diskutierten jeweils in Zweier- oder Dreiergruppen noch eine Weile die verschiedenen Methoden und Möglichkeiten sich das Leben zu nehmen, bis Ernest irgendwann mit einem Kugelschreiber an sein Glas stieß und um Aufmerksamkeit bat.

„Ladies und Gentlemen! Ich habe Hunger. Würden Sie bitte freundlichst die Güte haben und mir zeitnah mitteilen, durch welche gastronomischen Ereignisse mein Koch in der Lage sein könnte ihnen ein durchaus unvergessliches kulinarisches Vergnügen zu bereiten! Außer Fasan und Meeresche können wahrscheinlich alle Wünsche erfüllt werden. Zögern Sie nicht mir Ihre Gedanken mitzuteilen. Ich werde meinen Koch entsprechend instruieren.“

Eben noch ganz im Gespräch über mögliche Freitodmethoden vertieft dachten nun plötzlich alle darüber nach, was sie am liebsten essen würden. Und nach der üblichen Freizone des ruhigen und ungestörten Nachdenkens kamen auch schon die ersten Vorschläge, die eigentlich Wünsche waren.

Nachdem ich ‚Calamares in aceite de ajo‘ ausgesprochen hatte, wurde die ganze Szene mit allen Personen wie mit einem Zoom sekundenschnell in die Ferne objektiert und verschwand hinter einem plötzlichen Schwarz.

Viele Tode - ein Leben

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