Читать книгу Maier im Kaukasus - Holger Kraatz - Страница 7
1. Aufbruch nach Georgien
Оглавление1
Bevor Maier an die Südgrenze Russlands geschickt wird, muss er einen Abstecher nach Brüssel machen, ins Basislager, wo er seit einem Monat seinen Mann stehen muss. Sein Arbeitsplatz befindet sich in der bayrischen Botschaft - das heißt, in der Vertretung des Freistaates Bayern bei der EU, so ihr offizieller Name.
Maier ist Dolmetscher, und muss in Sekundenbruchteilen wissen, worum es geht und worauf ein Gespräch hinausläuft.
Er kann es, weil er die Sprachenwelt liebt, was sehr wertvoll für seinen Arbeitgeber ist. Aber nur, wenn er sich dabei an die Richtlinien hält, was ihm einiges abverlangt. Denn seine zweite Welt ist eine sportliche, in der die Protagonisten doch eher zusammenarbeiten und sich während eines Radrennens keine Luftpumpen in die Speichen rammen. Und genau deshalb muss er manchmal über seine Kompetenzen hinausgehen, denkt er, und halt nicht ganz so übersetzen, wie es gemeint war.
Genauso geschah es dann auf seinem ersten Auslandseinsatz vor 3 Wochen in Warschau, doch es kam raus, was ihn fast den Job gekostet hätte. Stahl, sein Chef, hat ihn darauf ins Achtung gestellt, vor allen anderen. Das sollte Maier eine Lehre sein.
Seine berufliche Laufbahn startete direkt nach dem Masterstudium, in einer der Legebatterien über dem Saal des Brüsseler Europaparlaments, wo zwar weniger Plenarsitzungen als im offiziellen Europaparlament in Straßburg stattfinden, dort jedoch die wichtigen Ausschuss- und Fraktionssitzungen mit Nähe zur Kommission, zum Ministerrat, zum Austragungsort des EU-Gipfels, und seit erstem Dezember zu den Hauptbüros des EU-Ratspräsidenten und der EU-Außenministerin.
Die Arbeit in der Zentrale kostete viel Kraft und war viel zu schlecht bezahlt - Simultanübersetzungen in komplexen Fachbereichen, kaum Einarbeitungszeiten, Fließbandarbeit verbunden mit ungeheurer Konzentrationsfähigkeit über Stunden hinweg wurden da von ihm abgefordert, dazu die vielen langweiligen Diskussionen, die die emotional Aufgeladenen um ein Vielfaches übertrafen, kurzum: Es war eine harte Schule, 5 Jahre lang.
Aber er hat diese Zeit bestanden, ja überstanden - und viel gelernt über die Menschen. Reden wurden geführt von Politikern, deren unterschiedliche nationale Denkmuster die Kritik am Verhalten anderer nicht nur bunter machten, sondern, leider, wieder auch alte Ressentiments untereinander zuließen. Scheinbar längst überwunden sorgten diese von so manchem, vor allem nach Ausbruch der Finanzkrise, als wiederkehrender Tinnitus für einen häßlichen Grundton unter Franzosen, Briten, Griechen, Deutschen, ... da boten sich mit den Russen und Ukrainern auch mal andere Probleme, was zynisch gesagt, für eine willkommene Abwechslung sorgte. Und er durfte dafür mehrmals im Jahr nach Straßburg reisen, zu den Sitzungen des Europarats.
Diese Ausflüge waren es auch, die seine Neugier auf die ehemalige Sowjetunion darauf, wie die einzelnen Staaten generell zum Westen stünden und wie sie heute konkret Handel und Wirtschaft mit der EU trieben, beflügelten. Und genau dieses Bedürfnis, seine heimliche Liebe, kann er nun hautnah ausleben. Seit genau einem Monat begleitet er bayrische Delegationen aus Industrie und Politik in den Osten - das vielleicht letzte bezahlte Abenteuer eines bayrischen Beamten.
2
Es beginnt am Montag, den 6. September 2010, im Münchener Hauptbahnhof. Die Uhren zeigen 7 Uhr 23 und Maier springt in die letzte Türe seines ICE, die bereits zu piepen beginnt. Ihm ist heiß geworden nach dem Sprint von der U2 zu Gleis 14, das ging beinahe schief. Und wäre die Katastrophe gewesen. Die Konferenz in Brüssel heute Nachmittag ist hochkarätig, mit bayrischem Wirtschaftminister und einem Vorstandsvorsitzenden, und seinem Chef natürlich.
Noch aus der Puste werden ihm gleich alle auf seine rote Birne starren, und das ausgerechnet in diesem Abteil, in der ersten Klasse, wo so viele Schnösel sitzen, doch da muss er jetzt durch. Sein Herzschlag ist gleich wieder bei 60, doch die Adern an der Schläfe brauchen immer ein bisschen länger. Sie sehen gefährlich aus - als platzten sie gleich wie Weißwürste, wo man wieder mal nicht aufgepasst hat, weil Telefon oder Tür oder noch schnell Bier aus dem Keller holen. Oder aus lauter Ungeduld, weil die Dinger einfach nicht richtig warm werden und alle schon warten: Am Schluss nochmal zu hoch aufgedreht, wieder alles falschgemacht.
Drei Türen weiter erreicht Maier endlich sein Abteil, vier Stunden später Köln, wo er umsteigen muss - der Zug rollt schon über die Rheinbrücke. Maier geht es gut, er genießt die Aussicht auf den Dom, wenigstens kurz, denn nur knapp zwei Stunden später wird er bereits in Brüssel sein. Die Unterlagen, die ihm das Sekretariat gestern noch durchgefaxt hatte, hat er so gut wie durch, und bis auf den Jahrhundertfund in Turkmenistan war, wie er denkt, wenig Neues.
War wenig Neues.
15 Uhr 2, Ankuft im Gare Centrale - Centraal Station, es regnet in Brüssel. Maier hat noch Zeit bis drei Viertel vier und geht zu Fuß, die 30 Minuten an der frischen Luft werden seinen Kopf freimachen. Parc Leopold - Leopold Park, da muss er hin, zum Regierungsviertel der EU. Auf dem Weg dahin kommt er vorbei am Palast der schönen Künste, dann weiter durch den Parc de Bruxelles, an dessen Rand der Königspalast steht, gleich daneben der Palast der Akademien, danach Richtung Osten die Rue Belliard - Belliard Straat entlang, wieder eine großzügige helle Strasse.
Wie lange das noch gut geht hier?
Maier will nicht auf den häufigen Niederschlag hinaus. Es sind ja eigentlich zwei Staaten, weshalb fast alles doppelt und zweisprachig ausgewiesen wird. Im Norden leben die Flamen, deren Sprache quasi niederländisch ist, im Süden die zum Großteil französischsprachigen Wallonen. Wallonien ist heute die wirtschaftlich schwächere Region, da sie sich zu lange auf ihrer Kohle- und Eisenindustrie ausgeruht hatte - nicht wenige im Norden hätten wohl wenig dagegen, alleine weiterzumachen. Deren eigene Kultur, Sprache und wirtschaftliche Eigenständigkeit tragen nicht dazu bei, die Bereitschaft für Transferzahlungen gen Süden zu erhöhen.
Getrennte Wege gehen, wie einst die Tschechei und die Slowakei, ist als Notlösung immer im Raum, nur wer kriegt dann den König? Und wer die Nationalelf? Und wer die Hauptstadt? Und wem von beiden soll sich der kleine Streifen Land im Osten des Landes anschließen, wo deutsch gesprochen wird?
Maier muss einen Schritt zulegen, es ist schon halb vier durch. Nach einigen Blöcken moderner Bürogebäude biegt er rechts hinein in die Rue Wiertz - Wiertz Straat. Einen Bau aus Stahl und Glas weiter ist er auch schon da, und er staunt.
Nur schlichtes Messing: 'Vertretung des Freistaates Bayern bei der EU, Rue Wiertz 77'.
Doch dahinter, fast versteckt hinter viel Grün und einigen Bäumen, da ist sie: Die bayrische Zentrale in Brüssel, ein richtiges kleines Schloss. Es sieht zwar noch ziemlich neu aus, weil insgesamt zu gut renoviert, aber trotzdem sehr schmuck - vor allem inmitten all der Glas- und Stahlpaläste im Quartier Léopold - Léopoldswijk.
Maier klingelt und sieht sich immer noch beeindruckt im Viertel um: Das versteckte Juwel grenzt tatsächlich an den Paul-Henri Spaak Bau, das Gebäude des Europaparlaments.
Unglaublich, dass es das Nachbargrundstück ist.
2000 Quadratmeter Bayern mittendrin. Von dort zu Fuß zu den Sitzungen schlendern, ist gelebter Luxus der Gemütlichkeit, und ein Luxus der Präsenz - schier unbezahlbar, im Innenkreis zu sein. Wie das damals wohl gelaufen ist, die Sache mit dem Grundstückskauf?
Der Pförtner braucht heut' wieder.
Einen Wachhund hat er hier noch nie gesehen, dafür einen kleinen steinernen Löwen auf einem Sockel, gleich neben der Einfahrt, der, aufgerichtet, mit seiner rechten Tatze lässig auf dem Staatswappen lehnend und - wie es scheint - ein sehr zufriedenes Dasein führend, sich nicht über zu viel Arbeit beschweren kann, genau wie der Pförtner.
Als ob er es gehört hätte, geht es auf, das Tor, und er kann passieren - vorbei an den vier Fahnenmasten, die in einem Karree links der Auffahrt aufgestellt sind. Weil es keine Zufälle gibt, erscheint dem Besucher die bayrische Flagge zuerst, links daneben die Deutsche, und hinter der Bayrischen entlang der Auffahrt die Europäische, und wieder links daneben die Belgische. Vor dem Gebäude parken einige BMWs und Audis - entweder Dienstwagen oder Patriotismus. Maier geht die Stufen hinauf durchs Portal, wo ihn der Portier mit einem herzlichen 'Grüß Gott, hamm's a scheene Anreis ghabt, Herr Maier?' empfängt.
- Freili, merci. Bin des letzte Stück'l z'Fuaß ganga. Und bei Eana? Pass'd ois?
- Ja, dankschee da Nachfrog, lacht er zufrieden, und weiter-
- Hamm's Glück ghabt, I glab, es wead boid wos gebn.
Er zeigt auf den Himmel, der immer grauenhafter wird, und immer dichter an dunklen Stellen. Schnell größer werden die rußfarbenen Flecken, die über sie hinweg ziehen wie eine fliegende Horde Milka-Kühe in einem Schwarz-Weiß Fernseher. Doch die erste Donnerwolke nähert sich ihnen nicht von oben.
- Da sind sie ja, Herr Maier. Es wird Zeit! Sie mit Ihrer Flugangst. Ich hoffe, Sie haben die sehr lange Zeit im Zug wenigstens genutzt und sich meine Unterlagen durchgesehen!
- Das ist ja eine freundliche Begrüßung, Herr Stahl.
So ist er, sein Chef - Leiter der bayrischen Botschaft. Immer sachlich, und, für Maier das Schlimmste: Mit ihm kann er keinen Spaß machen, es ist immer irgendwie gezwungen. Sein preußisches Blut, seine harte Erziehung und nicht zuletzt seine Unfähigkeit, sich zu ändern, oder zu denken, es nicht zu dürfen, zeichnen dafür verantwortlich. Er ein Opfer der damaligen Zeit? Nein, so sieht er sich nicht - es war halt einfach so: Sehr früh hat er Verantwortung übernehmen müssen und wollte seinem Vater nach dessen Kriegserlebnissen ein pflegeleichter Sohn sein, ihn stützend und dabei auf seine eigene Kindheit verzichtend.
Diesem hat er eine weitere Eigenschaft zu verdanken - seinen unbedingten Willen zu überleben. Kurz vor Kriegsende hatte der Vater der Ostfront Lebewohl gesagt und war zunächst vor der eigenen, dann vor roten Armee geflohen, quer durch Deutschland nach Bayern, um sich lieber den Amerikanern zu ergeben. Ein sehr heikles Unterfangen war das, die Flucht lebensgefährlich, denn es gab überall Standgerichte und Erschießungskommandos für Deserteure, und er musste ja desertieren - er konnte ja nicht als Soldat so einfach durchs Land reisen, alle vier Stunden irgendwo klingeln und sagen 'Wie geht's? Habt's an Kaffee? Und a bisserl Wurst?'.
Marschbefehle waren so gut wie unfälschbar und zu leicht überprüfbar, er musste sich also als Zivilist durchschlagen, unrasiert und ungepflegt, als alternder Landstreicher, was dem Ausgemergelten in den Lumpen, die er trug, sogar tagsüber abgenommen wurde. Trotzdem machte er das Meiste nachts und viel zu Fuß, nie im Zug, und leicht humpelnd. Eine Peter Verwandler Alexander - reife Leistung muss das gewesen sein, und ihm die Gefangennahme durch die Amerikaner in Pegnitz/Oberpfalz wie eine Erlösung.
Schon bald nach dem Krieg wurde er wieder freigelassen, ging nach München und verliebte sich in eine waschechte Einheimische, die es damals noch zahlreich gab. Sie heirateten einander und stemmten gemeinsam ihren Neuanfang, nachdem sie beide alles verloren hatten. Er durch die Flucht, und ihre Familie durch den vorletzten Bombenangriff - beide Mietshäuser und die Metzgerei in Neuhausen waren explodiert.
Zwei Jahre später kam dann Maiers Chef auf die Welt, und als Erstgeborener fühlte er noch mehr Verantwortung, als ihm lieb war - für seine beiden Geschwister. Nach der Schule durften alle drei studieren, damals alles andere als selbstverständlich, und nur möglich durch die ungeheure Kraft und den starken Willen der Eltern, die die drei bereits in der Schule forderten und immer unterstützten. Als dann '68 kam, war Stahl nicht in Schwabing beim Demonstrieren im Café oder zugekifft in der Kommune, sondern bastelte an seiner Karriere und trat in die regierende Partei Bayerns ein.
Maiers Kollege Brunner hatte ihm das von Stahls Herkunft gesteckt, mit der Bemerkung, ihn habe es gewundert, dass er, der Alte, selber davon angefangen hätte, von seinem Vater zu erzählen. Daran hält sich Maier seitdem fest - als Lichtblick, dass sich die verkrampften ersten vier Wochen nicht bis zu dessen Pensionierung durchziehen und er vielleicht noch heuer ganz normal mit ihm reden können wird.
Was er außerdem von Brunner weiß, ist, dass Stahl vor seinem jetzigen Posten der Vorsitzende des Ausschusses der Regionen in Wirtschaft und Verkehr hier in Brüssel war - ein sehr mächtiger Ausschuss, in dem es um sehr sehr viel Geld geht, keine 500 Meter entfernt vom bayrischen Schloss. Wie er zu diesem Posten kam, das will Maier noch herausfinden - auch, um ihn besser zu verstehen.
Was bei Stahl nicht verstanden werden muss, sondern Gesetz, ist seine Autorität, ja, sein autoritärer Führungsstil, surprise, surprise. Sein Auftreten wirkt durch das Weglassen von Gestiken und seinen strammen Gang stets kühl und berechnend, und reiht sich nahtlos seinem Sprachstil an, der seit Jahrzehnten, ja seit er sprechen kann, erfolgreich seine Geringschätzung für Adjektive und Ausschmückungen zum Ausdruck oder gerade nicht dazu bringt.
In die Ecke 'Oberlehrer' kann man ihn aber nicht drängen, zu sympathisch und onkelhaft kommt seine Stimme daher, sehr klar und tief, ähnlich der vom 'Siebten Sinn' - man glaubt ihm einfach, fährt langsamer, und gemeiner noch für seine Diskussionsgegner: Das, was er von sich gibt, ist so gut wie immer sehr überlegt, hat Hand und Fuß. Er verkörpert also die Rolle des Vaters, des Felsens, eines Souveräns, so souverän, dass er bei den meisten seiner Mitmenschen einen starken ersten Eindruck hinterlässt, was gerade in Verhandlungen, von denen schwere auf die Bayern zukommen werden, außerordentlich hilfreich sein wird.
Ja, sein Chef, Jakob J. Stahl, 62, scheint nach dieser Beschreibung ein Jemand zu sein, bei dem man sehr früh aufstehen muss. Und es kommt noch dicker: Er ist nicht nur diszipliniert im Vermeiden von Adjektiven und spielt Tag und Nacht moralische Instanz, nein. Er kann auch Bazi und Schlitzohr - vererbt von seiner Mutter, die sich nie was g'schissn und einfach g'macht hat, die eine unglaublich starke Frau war.
Stahl also ein Amigo? Nein! So weit wollen wir nicht gehen, das ist er nicht, aber wenn es der Sache dient, sprich dem Land, dann ist ein Kuhhandel schon mal drin, und sogar oft unvermeidbar, wo es doch alle so machen.
Maier hält sehr viel von seinen Chef, und er weiß, er muss eine Menge auf dem Kasten haben, sonst wäre er jetzt nicht da, wo er ist. Die Bayern loben keinen nach Brüssel weg wie manchen Segelbootliebhaber, hier muss repräsentiert werden. Kein leichter Job, aber wahnsinnig interessant, und Maier ist ab jetzt dabei. Dankbar ist er, dass sich dieses Tor für ihn geöffnet, und heilfroh, dass die Tür des ICE dieses Tor nicht jäh wieder verschlossen hat.
Er will hier sein Bestes geben.
3
- Wir können gleich loslegen - in Ihrem Büro?
- Ja, kommen Sie. Ich will Sie gründlich einweisen, bevor es losgeht.
Er biegt vor ihm rechts ab, in den langen Korridor, ausgeschmückt mit Bildern von Bayerns ehemaligen Ministerpräsidenten, alle CSU, bis auf einen, Wilhelm Hoegner, SPD. Der Ausreißer wurde im Herbst 1945 von den Amerikanern ernannt und war dann nochmal im Amt für 3 Jahre von '54 bis '57 mit einer Koalition aus 4 Parteien ohne CSU.
Vorbei also an Fritz Schäffer (die ersten 4 Nachkriegsmonate), Wilhelm Hoegner, Hans Ehard (insgesamt 10 Jahre), Hanns Seidel (mehr als 2 Jahre), Alfons Goppel (16 Jahre), Franz Josef Strauß (10 Jahre), Max Amigo Streibl (fast 5 Jahre), Edmund Äh Stoiber (gute 14 Jahre) und Günther Beckstein (ein Jahr). Ob dessen Nagel im Herbst '08 bereits nach der ersten Hochrechnung in die Wand geschlagen wurde? Auch Erhard und Adenauer tauchen jetzt auf, Schwesterpartei. Stahl schließt seine Tür auf.
- Schießen Sie los, Herr Maier. Ich will sichergehen, dass Sie alles verstanden haben.
Ich hab' meinen Turnbeutel nicht vergessen.
Maier schießt noch auf dem Weg zum Schreibtisch los-
- Herr Stahl, aus Ihren Unterlagen geht hervor, dass wir unsere bayrischen Interessen im Kaukasus und Zentralasien enorm ausweiten könnten. Es geht dabei um die Versorgungssicherheit unseres Landes mit Öl und Erdgas, um langfristige Lieferverträge und mögliche Pipelinebauten durch den Kaukasus mit unserer Beteiligung, was uns zum einen einen Großauftrag bescheren, zum anderen endlich weniger abhängig von Russland machen würde.
Nachdem sich Maier gesetzt hat, wartet er einen Moment, bis Stahl das Zeichen gibt, er solle bitte fortfahren, und fährt dann fort-
- Folgende zwei Umstände haben uns diese Chance eröffnet:
Unweit der Küste Turkmenistans wurde vor 3 Tagen ein gewaltiges Öl- und Erdgasvorkommen entdeckt: Die Bohrungen lassen vermuten, dass es zu den größten der Welt gehören könnte, doch die Größe allein lässt uns nicht automatisch zu einem Mitspieler werden. Wir haben leider nur sehr wenig Erfahrung und Kontakte in dieser weit entfernten Region, und die anderen sind schon seit Jahren vor Ort, maßgeblich Großbritannien, Norwegen und die USA mit ihren großen Ölgesellschaften, neben Frankreich, Italien und Japan.
Dann China: Seit Dezember strömt turkmenisches Erdgas nach Osten, die Auslastung ist am Anschlag, und eine zweite Leitung mit Einspeisung aus dem neuen Fund wäre mehr als willkommen, genau wie das Öl: Eine, gar zwei Ölleitungen entlang der Erdgastrasse nach China sind leicht vorstellbar, und auch Indien wird sich diesmal durchsetzen wollen.
Schließlich Kasachstan und Iran, die allein durch ihre geographische Nähe enormen Einfluss ausüben und natürlich auch ins Geschäft kommen wollen, als Nachbarn quasi. Iran bietet sich wie immer als Transitland an, mit der kürzesten Strecke zu einem Weltmeer, dem Persischen Golf, oder dem Golf von Oman, während die Kasachen betonen werden, für Turkmenistan immer noch das wichtigste Transitland zum bisherigen Hauptabnehmer Russland zu sein.
Maier steht unter Feuer, was er unbedingt verborgen halten will, doch irgendwo muss es raus, muss sie hin, die Energie. Der Überdruck entlädt sich gegen die Oberschenkel, die er ähnlich fest mit seinen Händen umklammert wie ein Flipperspieler kurz vor dem Rauswurf wegen Sachbeschädigung.
- An Wettbewerb mangelt es in dieser Region also kaum, doch das Unangenehmste kommt noch: Zu allem Überfluss haben unsere 'Brüder' in Berlin, ich meine die Beon AG, in Kooperation mit der russischen PromGaz die Quellen dort ja überhaupt erst entdeckt. Ein extrem starkes Bündnis ist das, und hinzu kommt, dass PromGaz, eigentlich ein Erdgasproduzent, sich als mächtiger Staatskonzern nicht mit Öl-Oligarchen herumärgern muss - sie kaufen das Know-How für die Erschließung der Ölquelle einfach dazu und schaffen an. Beon und PromGaz sind hier klar im Vorteil - sie werden uns kaum die Hand reichen und uns vom Kuchen abgeben wollen. Wenn sie den Segen Aschgabats einmal haben, wird alles Öl und Erdgas über Russland nach Europa fließen und somit Russlands Rolle als Supermakler zementieren.
Wenn Maier weiter so Gas gibt, wird er bald in Unterzucker kommen.
- Kurzum, die schiere Größe der turkmenischen Quellen hilft uns nicht weiter.
Der zweite Umstand ist aber, und da liegt unsere große Chance: Die Amerikaner bitten uns um Hilfe, für sie einzuspringen. Die Amerikaner! Und das ausgerechnet im Ölgeschäft! Freiwillig fragen sie uns aber nicht.
Schuld daran hat die drohende Zahlungsunfähigkeit der in Boston ansässigen Centrifugge, die ein Mitglied jenes Öl-Konsortiums im Kaukasus ist, das seit mittlerweile vier Jahren das Öl vor Aserbaidschans Küsten aus dem Boden holt und durch die größte Pipeline dieser Region pumpt, von Baku über Georgien bis ans türkische Mittelmeer. Von dort geht es weiter mit dem Schiff nach Europa, in die USA und nach Japan.
Centrifugge muss schnell zu Geld kommen und ist gezwungen, ihr Tafelsilber zu verkaufen, um nicht in die Insolvenz zu rutschen. Eine Mitgliedschaft in diesem Öl-Konsortium Kaukasus, dem ÖKK, wäre für uns wie ein Sprungbrett nach Turkmenistan, ja nach ganz Zentralasien.
Stahls Dolmetscher hält kurz inne, schnauft durch und lässt seine Oberschenkel los.
- Doch selbst ohne Sprung ins turkmenische Rohstoffparadies würde sich die Investition bereits lohnen - die Kosten für Centrifugges Anteile würden sich mittel- bis langfristig amortisieren, denn das Öl aus Baku wird noch einige Jahre fließen.
Centrifugges 20 Prozent am ÖKK stehen also zum Verkauf - und sie würden am liebsten an die bayrische Ahorn AG und den Freistaat verkaufen, zu je 4 Milliarden Dollar. Ich sage am liebsten, weil die Ahorn AG über das notwendige Kapital verfügt und mindestens ein Fünftel der Anteile sofort auf den Tisch legen könnte. Und der Freistaat ist trotz Alpe Adria Abenteuer noch kreditwürdig - er könnte seinen Anteil von 4 Milliarden ohne weiteres über Anleihen finanzieren.
Jetzt wär' ein Snickers gut.
- Unsere Liquidität ist ein großer Vorteil, aber:
Erstens muss beim Verkauf von Anteilen dieser Größenordnung das ÖKK mehrheitlich zustimmen, doch das wäre nicht das Hauptproblem: Die vier großen Parteien Großbritannien, Norwegen, Aserbaidschan und die Türkei wären mehr als bereit, selber einzuspringen und Centrifugges Anteil unter sich aufzuteilen, um mehr zu verdienen, ihren Einfluss auszubauen und Fördermengen noch stärker kontrollieren zu können.
Und zweitens haben die schlauen Georgier noch eine Klausel eingebaut, nämlich ein Vetorecht für den Fall, dass der Pipelinebetreiber in ihrem Land wechseln sollte, in diesem Fall also Centrifugge.
Ohne amerikanische 'Überzeugungsarbeit' wird beides nicht zu schaffen sein.
Maier greift zur Wasserflasche und bietet Stahl an, ihm nachzuschenken, der aber dankend ablehnt. Unser Held fährt noch während des Einschenkens fort mit einer Frage, die er gleich selber beantwortet.
- Doch warum ist die Ahorn AG den Amerikanern am liebsten? Ausgerechnet ein ausländisches Unternehmen und nicht eines aus ihrer Heimat?
Sie scheinen keine Wahl zu haben, denn die beiden anderen Big Player Xon Mobile und Chevy sind verhindert. Xon Mobile, weil sie weder Ressourcen noch Kapital frei haben - alles ist in Saudi Arabien, den Vereinten Arabischen Emiraten, in Alaska und im Irak gebunden. Sie hatten enorm investiert, als die Preise im Sommer 2008 explodiert sind, und die sind heute noch lange nicht da, wo sie schon einmal waren. Doch sie können nicht von heute auf morgen ihr Kapital von dort abziehen, das geht nicht so schnell. Und Öl ist sowieso schon wieder am Steigen, ihre Cash Cows werden schon wieder ordentlich Milch geben.
Der zweite Player, Chevy, dessen Mehrheitseigner der amerikanische Staat ist, ändert seine Strategie. Sie suchen mit Hochdruck nach neuen Quellen, die nicht so schwierig erreichbar und politisch brisant sind. Die eben nicht unbedingt in Zentralasien und am Persischen Golf liegen, wo sie schon lange nicht mehr oder eigentlich noch nie mit offenen Armen empfangen wurden. Es passiert gerade eine Bewegung weg vom Orient, quasi eine Um-Orientierung.
Maier wartet kurz, aber, wie zu erwarten, ignoriert sein Chef dieses Wortspiel, sitzt weiter oberlehrerhaft da.
- Buchstäblich viel näher liegen für sie neue Bohrungen in ihrer eigenen Heimat, und auch bald wieder vor der Küste Floridas. Oder kanadischer Ölsand, dessen Gewinnung bei hohen Preisen rentabel wird - die Vorkommen dort sind gigantisch. Und dann das beginnende Fracking im großen Stil, beim Erdgas.
Noch was pikantes, und wichtiges zum Erdgas aus Baku: Das wird im Augenblick, genau wie das Öl des ÖKK, von Baku über Georgien in die Türkei geleitet, entlang derselben Trasse! Jedoch gibt es für's Erdgasgeschäft ein eigenes Konsortium, mit fast identischer Besetzung wie im ÖKK, nur dass anstelle der USA die Russen und die Iraner mitbeteiligt sind. Die westlichen Mitglieder von ÖKK und Erdgas-Konsortium müssen sich also auch noch intern durchsetzen gegen Russland und den Iran, damit die turkmenischen Bodenschätze dann auch wirklich in Richtung Westen gehen.
Beide Konsortien werden auch neue Leitungen bauen müssen: Denn weder die bestehende Öl-, noch die Erdgasleitung würde von ihren Durchmessern her für den großen Fund aus Turkmenistan ausreichen. Sogar zwei neue Röhren für Öl, und zwei für Erdgas müssten gebaut werden.
Maier macht nochmal eine Pause, und nur der einsetzende Regen ist zu hören, der immer lauter wird. Es platzt aus den Bäuchen der Milkakühe heraus wie kleine Aliens, die wenig später gegen die Fenster prallen. Der Aufschlag der Tierchen hallt blechern durch den großen Raum, in die große Leere hinein - schuld sind die Bodenfliesen und die spartanische Möblierung, die sich Stahl genau so gewünscht hatte. Keine Vorhänge, kein Teppich, nicht einmal die Stühle sind bepolstert, nichts. Und keine Adjektive. Draußen auf dem Korridor ist jetzt auch Funkstille, es ist 16.35. Schon Feierabend bei den Kollegen?
- Machen Sie ruhig weiter.
Wer weist hier eigentlich wen ein?
- Auch wenn unsere Ausgangslage nicht die beste ist, so ist es doch eine große Chance für Bayern, mitzustreiten im großen Gerangel um die Bodenschätze dieser Region. Mitzustreiten im großen Spiel.
Er muss grinsen, denn Bayern ist bisher fast immer gescheitert, wenn es darum ging, nach Größe zu streben. Und die Welt von damals war noch um einiges überschaubarer. Warum sollte es ausgerechnet diesmal anders sein? Und ausgerechnet bei einer Neuauflage des Great Games?
- Die Ahorn AG hat nicht nur international Erfahrung im Öl - und Erdgastransport, sondern auch eine gefüllte Kasse - immer noch eine Ausnahme in der jetzigen Situation. Und sie hat gerade ein großes Projekt mit Norwegen in der Nordsee beendet und wieder eine Menge Facharbeiter, Ingenieure und Maschinen frei - praktisch könnten sie sofort Mitglied im ÖKK werden und für Centrifugge einspringen.
Auch für den Hauptgewinn Turkmenistan kann es reichen: Sie wären nämlich auch kreditwürdig für den Kauf eines Anteils am neu entstehenden Konsortium, und sie hätten die Kapazität, die zwei neuen Öl- und Erdgaspipelines in deren Auftrag durch Georgien zu bauen, vorausgesetzt natürlich, TurkmenGaschi, die staatliche Mineralölgesellschaft Turkmenistans, entscheidet sich für eine Kooperation mit dem Westen. Die haben natürlich das letzte Wort.
Dass Stahl so wenig sagt, verbucht Maier nun schlicht als Erfolg und unterbricht seinen Fluss nicht mehr, setzt zum Endspurt an.
- Bayern ist für die Amerikaner alles andere als das geringste Übel bei der Partnerwahl, sondern sogar von Nutzen. Für sie besitzen Großbritannien und Norwegen bereits zu große Anteile und sollten unter keinen Umständen die absolute Mehrheit erlangen. Und die Türkei, genau wie Aserbaidschan, wäre von den USA nicht so leicht beeinflussbar wie Bayern - wir wären ja neu in der Region.
Ganz draußen wären die Amerikaner natürlich nicht - sie bleiben beteiligt an Großbritanniens und Norwegens Mineralölgesellschaften, es ist ja alles ineinander verzahnt. Außerdem verfügt der amerikanische Staat mit seiner Holding USSOil noch über 5% der Anteile am ÖKK. Sie wird aber größte Schwierigkeiten haben, mitzupokern und Centrifugges Anteile zu erstehen, weil es durch den Kongress erst genehmigt werden müsste. Kein leichtes Unterfangen bei der gigantischen Staatsverschuldung, der momentanen Knappheit der Mittel und der schon angesprochenen hohen politischen Brisanz in dieser Region. Eine Entscheidung würde sich also hinziehen und wäre nicht sehr wahrscheinlich.
Snickers sind aus, Maier.
Das soll ich Dir glauben, Du Geschichtenerzähler? Und was ist mit Twix?
- Zeit hat das Konsortium aber nicht, es muss voll handlungsfähig sein und braucht seine verlässlichen Geldgeber, eine gefüllte Kriegskasse, um geschlossen auftreten zu können bei einem Neuerwerb - geschlossen insofern, als es sich beim ÖKK um überwiegend westliche Konzerne handelt und die Rohstoffe nach Westen gehen sollten, ja müssen, damit unserer Wirtschaft nicht in 10, 20 Jahren die Grundlage entzogen wird. China und Indien warten nicht auf uns. Sie würden - verständlicherweise - alles Öl und Erdgas für sich selbst beanspruchen wollen und die Rohstoffe gingen in die andere Richtung.
Doch nicht nur deswegen braucht das ÖKK eine schnelle Lösung: Der Druck rührt auch daher, dass Betrieb und Wartung des georgischen Pipelineabschnitts ausgerechnet bei Centrifugge liegt oder lag. Hier muss also eiligst eine Lösung gefunden werden, wer für die Technik garantieren kann. Jeder Tag Stillstand hätte einen Umsatzverlust von 77 Millionen Dollar zur Folge. Jeder Tag! Und ...
- Gut, Herr Maier, Sie können aufhören, vielen Dank. Ich merke, Sie sind vorbereitet.
Maier ist sprachlos. So viel Lob hatte er nicht erwartet, und natürlich sieht ihm Stahl das sofort an.
- Denken Sie aber nicht daran, sich jetzt bequem einzurichten. Was Sie sich in Warschau geleistet haben, da haben Sie eine Grenze überschritten.
Keine Regung, nichts.
Stahl verzieht tatsächlich keine Miene, nicht einmal beim Rügen. Prompt ernster wird sein Ton-
- Die Welt ändert sich täglich und ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich stets auf dem Laufenden halten, Herr Maier.
Maier nickt gelassen und kann tief durchschnaufen. Das anfangs dicke Eis, das nach seinem Schnitzer in Polen noch dicker geworden war, ist endlich endlich gebrochen. Seine Hände lösen sich erst jetzt von den Oberschenkeln und die Bauchmuskeln geben nach.
4
- In einer Viertelstunde treffen wir uns mit Bayerns Wirtschaftsminister Alfons Doppler und dem Vorstandsvorsitzenden der Ahorn AG, Dr. Heinrich Schönleben, im großen Konferenzzimmer. Gehen wir schon einmal hinauf - dort will ich meine Erfahrungen, die ich mit unseren Gesprächspartnern bisher gemacht habe, mit Ihnen teilen.
Er öffnet seine Bürotür und lässt Maier den Vortritt.
- Auch der Verbandspräsident der bayrischen Wirtschaftsverbände, Ludwig Kleingarten, hat auf meine Anfrage hin noch kurzfristig zugesagt. Er wird auch für mich neu sein.
- Vielen Dank, dass Sie mir so viel Vertrauen schenken.
Stahl schließt sein Büro ab und auf Maier auf.
- Sie können sich gleich noch einmal beweisen. Der Kaukasus und die gesamte Region scheint ja ihr Steckenpferd zu sein. Leiten Sie doch die Konferenz ein und klären die Anwesenden über die Ausgangslage auf. Es ist eine Präsentation vorbereitet, die Sie den Herren vorführen können. Ich werde dann später übernehmen.
- Gut.
Steht das eigentlich in meinem Arbeitsvertrag?
Sie gehen wieder an den Bildern vorbei. Adenauer, Erhard. Und jetzt taucht endlich Kohl auf. Maier sieht ihm beim Vorbeigehen noch nach, fasziniert davon, wie er auch in 2D eine Aura ausstrahlt, für die manche 4D oder Geruchsfernsehen bräuchten. Am Gewicht allein kann es doch nicht liegen? Gemessen am Durchmesser, nicht des Rahmens, sondern des Kopfes, wird er nur von Strauß geschlagen, dessen Haupt, genau wie seines, das ganze Bild bestimmt. Zumindest überm Hals hat sich der Schweinsbraten gegen die Königsberger Klopse durchgesetzt.
Der große Konferenzraum befindet sich im letzten Stockwerk. Maier bleibt dicht hinter Stahl, der immer zwei Stufen auf einmal nimmt. Es sieht so aus, als wolle er ihn, den Jungen, abhängen, oder verhindern, dass er ihn überholt, was auf den schmalen Stufen bei der Geschwindigkeit ohne Unfall nicht möglich wäre. Er ist ziemlich durchtrainiert, so wie er mit seinen 62 Jahren die Treppe nach oben hastet und dabei ganz normal weiteratmet - kein Pfeifen, kein Röcheln, nichts.
So schnell wird er mich nicht los.
Maier ist auch gut in Form. Reiner Spaß am Sport war es aber nicht, und ich will, während sie nach oben laufen, kurz erzählen, wie es dazu kam. Auslöser war die statische Tätigkeit in der Übersetzungskabine, die darin bestand, den ganzen Tag das Hirn anzustrengen, viel zu sitzen, Kaffee, zu sitzen, wieder zu sitzen. Und dabei nach unten zu glotzen, um die Gesichtszüge und Grimassen zu erkennen, die beim Übersetzen helfen, der Nuancen wegen, und der oft bissigen Ironie in den Worten ... er sah die Redner aber kaum, wenn sie am anderen Ende des Plenarsaals auf ihrem Platz standen und ins zu tief eingestellte Mikro sprachen, nicht selten auch fluchten, flüsterten, nuschelten, lispelten und zuweilen auch ganz deutlich redeten.
Da freute er sich, das heißt, nicht er, sondern sein Körper, wenn er nach der Arbeit an irgend etwas sein Zuviel an Kraft entladen konnte, sonst wäre er innerlich explodiert. Ideal war da das Laufband, was aber nicht so ungefährlich ist, wie es scheint - vor allem, wenn Du als Mann im Studio nicht anders kannst, als an den oft atemberaubenden Körperformen vieler Studiokolleginnen haftenzubleiben, die gerade rechts vom Spinning kommen und alle direkt vor Dir Richtung Dusche gehen. Den Kopf also, ihnen folgend, nach links drehend, bewegen sich Deine Beine dabei wie von Geisterhand nach rechts. Minimal zwar, aber ein Fehltritt auf den Rahmen des Laufbandes genügt, um das Gleichgewicht zu verlieren und den Abflug nach hinten anzutreten - im schlimmsten Fall ist hinter Dir die Wand. Auch gut, beinahe ein Klassiker, wenn Du vorher noch die Geschwindigkeit erhöht hast, um mehr Eindruck zu schinden.
Das Band hält zwar sofort an, wenn es kein Gewicht mehr spürt, und Du bist auch schnell wieder oben auf, schaltest es ein und tust so, als ob nichts passiert wäre - in der Hoffnung, keiner hat es gesehen. Leider eine große Illusion. Denn den Knall hört jeder, nur Du nicht. Und Du hast auch überhaupt keine Schmerzen, so aufgepumpt mit Adrenalin.
Spätestens nach 3 Minuten aber stellst Du das Band ab, das reicht zum Gesichtwahren, um dann möglichst unauffällig die Bestandsaufnahme in einer möglichst unauffälligen Ecke vorzunehmen. Beim Blick auf die blauen Flecken kommen auch schon die Schmerzen, aber erst nach dem Hinschauen. Um sicherzugehen, dass es auch wirklich weh tut, nochmal mit beiden Daumen draufgedückt - das tut ja wirklich weh!
Stahl öffnet den Konferenzraum. Er drückt die beiden Flügeltüren gleichzeitig auf, die mit dem genau richtigen Schwung links und rechts in den Stoppern einrasten - sie springen nicht wieder zurück. Er geht auf die lange Fensterfront zu, entlang welcher vier große Gauben nebeneinander eindrucksvoll die mittlerweile hell erleuchteten Stahl- und Glaspaläste der Parlamentsbauten der Europäischen Union zeigen, die nun in der Dunkelheit einige Meter höher erscheinen als bei Tage. Maier sieht durch die Front nach oben.
Das hier muss von oben wie eine Luxusgarage aussehen.
Eher wie ein kleiner Bauernhof, ein Immenhof - es ist ein Areal aus Hauptgebäude und zwei Nebenbauten, nur ohne Ponys. Stahl macht die Oberfenster auf, damit es durchzieht. Maier hilft ihm dabei und wird leicht nass durch den prasselnden Regen, der vom Wind nach innen gedrückt wird.
- Gute Idee, das macht frisch.
Ich brauch' gleich volle Konzentration.
Maier bleibt nicht im Regen stehen, tritt vom Fenster weg und lässt seine Augen neugierig durch den sehr repräsentativen Raum wandern. Beim Umschauen stechen ihm, beinahe versteckt in der Ecke, links neben den Flügeltüren, ein gutes Dutzend weißer Rollen ins Auge - es sind Landkarten.
Da sind ja Landkarten!
Es kommen ihm schöne Erinnerungen an den Erdkundeunterricht in den Sinn, nicht nur der neu erlernten Länder und Weltmeere wegen, sondern vor allem, weil der so oft ausgefallen ist.
- Herr Stahl, Sie erlauben, dass ich kurz die Karten durchsehe. Eine Karte von Zentralasien könnte für die Besprechung sehr nützlich sein, als Übersicht, parallel zum Beamer.
- Sicher, Herr Maier. Wenn Sie sie nicht finden, das Kartenlager ist nebenan.
Er geht die Rollen eine nach der anderen durch und flüstert die außen angbrachten Namen leise vor sich hin.
- Deutschland ... Nordafrika ... Mittelamerika ... Südostasien ... Bayern 1806 ... Bayern 1815 ... Bayern heute (1985) ...
Da ist schon mal eine!
- Southwest Asia.
Maier macht sie kurz auf, um sicherzugehen, und ja-
- Die Karte ist schon mal ideal, Herr Stahl, jetzt brauchen wir nur noch eine Übersichtskarte, am besten eine von der ...
Maier hofft, eine Karte jenes Imperiums zu finden, von dem Putin sagt, dessen Zusammenbruch sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen.
- Perfekt! Da ist Nummer zwei: Sowjetunion (1939-1989). Ich hänge sie gleich an den Ständer, die andere klebe ich direkt darunter.
Während er sie wieder zusammenrollt, um sie so leichter am Ständer anzubringen-
- Gut, Herr Maier, in der Zwischenzeit weise ich Sie in unsere Gesprächspartner ein. Bisher zwei Mal hatte ich mit jedem zu tun, jedoch nie mit beiden gleichzeitig. Wirtschaftsminister Doppler kennen Sie ja aus den Nachrichten: Er ist 56 Jahre alt und macht einen sehr bodenständigen, ich hätte beinahe gesagt, erzkonservativen Eindruck. Unterschätzen Sie das aber nicht, er ist herumgekommen in der Welt. Seine zunächst vorsichtige Art erscheint vielen zu passiv, ja ängstlich. Er wird oft nicht ernst genommen, vor allem auf Bundesebene.
Tja, das Grundproblem.
- Wenn er aber eine Rede in rhetorischer Manier eines Cicero hinlegt, und das in absolutem Business-Englisch, ebben die Zweifel schnell ab. Aber leider erst dann.
Maier kann dem nur zustimmen und ihm fällt gar nicht auf, dass Stahl gerade eben Emotion zeigte. Er ist zu beschäftigt mit dem Versuch, die Querstange des Kartenständers langsam nach oben zu schieben: Es quietscht, und die Rolle, die eingeklemmt zwischen seinen Beinen lagert, beginnt, hinter ihm nach unten zu rutschen, wodurch es vorne natürlich nach oben geht.
- Der Vorstandschef der Ahorn AG, Dr. Schönleben, ist ein Münchner Kindl. Er ist Jahrgang '66 und in der High-Society aufgewachsen. Der Vater ist lange Jahre Diplomat in Madrid gewesen, die Mutter bis heute Teilhaberin einer Privatbank. Was sein Antrieb ist, weiß ich nicht genau - vielleicht ist es der Spaß an sich. Ich glaube nicht unbedingt, dass er die Welt verbessern will, ich hatte sogar den Eindruck, er scheint geradezu süchtig nach Spaß zu sein.
Stahl macht eine Pause, wirkt nachdenklich.
- Er liebt es, im Mittelpunkt zu stehen?
- Ja, aber er ist dabei kein Dampfplauderer, Herr Maier. Und er hat sich nie auf seinem leichten Start ins Leben ausgeruht, ist sogar noch ehrgeiziger als sein Vater.
Er legt eine zweite Pause ein, dreht sich zur Fensterfront und entscheidet, dass es genug an frischer Luft ist. Während er die Scheiben schließt, hat Maier Gelegenheit, die Öse der Rolle mit voller Aufmerksamkeit, aber immer noch umständlich, in den Haken des Ständers zu fummeln - was vorher wesentlich leichter gewesen wäre, vor dem Hochschieben.
- Verbandspräsident Kleingarten ist nur ein Jahr älter als Dr. Schönleben, aber, wie ich vermute, grundverschieden. Er wird genauso sein, wie man sich einen Verbandspräsidenten vorstellt: Ein Funktionär, der von seiner Wichtigkeit sehr überzeugt ist - ohne ihn darf nichts laufen. Um an diesen Posten zu gelangen, muss man sich durch endlose Schichten von Vereinsmeiern schneiden, die in allen Verbänden sitzen und alle Recht haben wollen, oft gar nicht der Sache wegen. Man muss selber Vereinsmeier sein, sonst gibt man vorher auf.
- Sind Sie selbst in einem Verein, Herr Stahl?
- Nein. Nie gewesen.
- Und Ihr Parteibuch?
- Also, Herr Maier! Erwarten Sie etwa, dass ich darauf eingehe?
Maier hakt nicht ein, nur die Karte, die endlich da ist, wo er sie hinwill.
- Kleingartens Kontakte sind für uns Gold wert - seine kurzen Wege garantieren uns eine hohe Geschwindigkeit, an Informationen zu gelangen, vor allem an Insiderwissen. Er darf bei der Konferenz nicht fehlen. Ich bin froh, dass er so kurzfristig kommen kann.
So, die Karte ist drin und ich glaub', auch richtig herum. Den Spaß von damals kann ich mir heute nicht erlauben. Jetzt nur noch die andere unten drankleben.
- Danke für die Einführung, Herr Stahl.
Auch wenn es Maier mittlerweile gewohnt ist, Menschen von seiner Kompetenz zu überzeugen, die doppelt so alt sind wie er - seine Hände zittern leicht beim Kleben, er hat Lampenfieber, denn die Herren sind gleich da. Geballt hochkarätig, und auch noch aus der Heimat - da darf erst recht nichts schiefgehen. Die Erwartungen an den Außen-, bzw. Horchposten in Brüssel sind unglaublich hoch.
Stahl geht zum Telefon und ruft den Empfang an, während Maier zufrieden mit seiner Klebearbeit die beiden Karten zu einer großen Rolle zusammenrollt.
- Wenn Dr. Schönleben und der Herr Wirtschaftsminister da sind, schicken Sie sie bitte in den Obersten. Sie kennen sich bereits hier ... wie, bitte? Sie sind schon auf dem Weg? Gut. Geben Sie mir aber Bescheid, wenn Herr Kleingarten da ist. Ich werde ihn persönlich abholen.
5
Stahl legt kopfschüttelnd auf, weil er solche Überraschungen nicht mag. Er will informiert werden, wenn jemand kommt, das ist ja wohl das Mindeste, als Hausherr. Und ihm bleibt nicht einmal Zeit, sich darüber zu ärgern. Noch während er den Hörer auflegt, treten die beiden Männer auch schon in den Saal.
- Wir sind in der gleichen Maschine gesessen. Grüß' Sie, Herr Stahl!
- Guten Abend, Herr Wirtschaftsminister, Herr Dr. Schönleben. Ich freue mich, dass Sie beide hier sind. Ich will Ihnen gleich meinen Dolmetscher für Osteuropa, Herrn Maier, vorstellen.
Nach einem kurzen Hin und Her der Hände klingelt das Telefon, Kleingarten ist eingetroffen. Stahl eilt nach unten, bevor der auch noch auf die Idee kommt, sich nicht abholen zu lassen, während die drei am vorderen Tischende Platz nehmen, an der bayrischen Tafelrunde. Die beiden Fluggäste setzen sich Maier gegenüber hin und führen ihre Unterhaltung fort, was ihm Gelegenheit gibt, die beiden eingehend zu mustern.
Dr. Schönleben trägt einen dunklen Maßanzug, dazu keine Krawatte, den obersten Hemdknopf lässig geöffnet - eigentlich wie sonst auch, wenn man ihn in den Medien sieht. Er strahlt und hat blitzweiße Zähne, kurzum: Er macht eine sehr gute Figur und scheint zufrieden mit sich und der Welt.
Daneben Doppler, zwischen normal und guttenbergeitel, mit Maßanzug und Schlips durchgestylt, würde er, selbst wenn er dürfte, den oberen Knopf niemals auflassen. Zu sehr ist er in seiner konservativen Rolle gefangen, was ihm als Staatsdiener bisher nicht geschadet hat. Sein Kopfhaar ist voll, wurde jedoch seit seinem 50. Geburtstag deutlich heller und heimgesucht von der grauen Diva, innerhalb nur eines Jahres, was seiner Jugendlichkeit allerdings nicht schadet. Er macht einen sehr aufgeweckten, wachen Eindruck, aber niemals vorpreschend, sondern erst einmal abwartend, weshalb er sehr ruhig wirkt, wieder im Gegensatz zum Doktor, den wiederum eine Unruhe umgibt, die Maier als ständige Aufbruchsstimmung deuten will.
Als ob er das gehört hätte, hält der Sunnyboy für einen Moment inne. Er und der Minister haben ihr Gespräch beendet und fangen ihrerseits an, ihr Gegenüber zu mustern.
Okay, jetzt bin ich an der Reihe. Ein gutes Zeichen, schon nach einer Minute.
Wie sehr diese kurzen Augenblicke des sich Beschnupperns zu vollen Sekunden werden, zu einem Männlichkeitsritual gar, wird sich gleich zeigen - wenn es überhaupt dazu kommt. Denn beide haben von Anfang an einen sehr lockeren Eindruck gemacht, sie scheinen sich sehr gut zu verstehen.
Und tatsächlich, sie binden Maier direkt in ihre Unterhaltung von eben ein.
- Hatten Sie auch in der Touristenklasse eingecheckt?
Maier ist überrascht darüber, dass sie nicht mindestens Business geflogen sind, sehr überrascht sogar. Und obwohl er das sympathisch von beiden findet, will er sich das nicht anmerken lassen, im Gegenteil-
- Nein, in der Ersten.
Die beiden sind im Nu still geworden, das Lächeln von Doppler hat sogar auf fassungslos umgeschalten. Maier fährt fort.
- Wegen der größeren Arbeitsfläche, aber in Wirklichkeit, ...
Maier beugt sich theatralisch nach vorne und wird derart leise, als wären sie nicht mehr unter sich und Stahl würde jeden Moment hereinkommen.
- ... weil man die Beine hochlegen kann. Ich bin froh, dass wir Dolmetscher diese Klasse endlich nutzen dürfen.
Doppler richtet sich schon auf, als wollte er was sagen, Maier will aber noch nicht auflösen.
- Auch ist das Essen besser. Und der Wein! Der Saint-Émilion rechtfertigt beinahe alleine die astronomisch höheren Kosten der Reise. Und man wird satt.
- Das ist mir neu, dass Beamte Ihrer Besoldungsstufe erster Klasse fliegen dürfen!
- Wieso fliegen? Ich bin mit dem ICE angereist.
Dr. Schönleben lacht laut auf, und auch dem Wirtschaftsminister entweicht die Anspannung, der sich nun wieder zurücklehnen kann - ihm kommt sogar ein kleines Schmunzeln aus. Er ist erleichtert darüber, dass seine Weltordnung wieder den Normen entspricht.
- Entschuldigen Sie, aber das konnte ich mir nicht entgehen lassen.
- Geht voll in Ordnung, Herr Maier. Haben Sie gut hingekriegt!
Dr. Schönleben nickt ihm immer noch erheitert zu, als die Tür aufgeht und die erwarteten Herren hereintreten. Abrupt findet die Ausgelassenheit ihr Ende, die Stimmung dreht sich um, und der Raum kühlt gute fünf Grad herunter. Maier macht Kleingarten als Schuldigen aus, der mit ernster Miene auf die Männer zugeht.
Sie stehen auf, damit sie Stahl mit dem Neuankömmling bekannt machen kann - erst mit dem Wirtschaftsminister, dann mit Dr. Schönleben, dann mit Maier.
Immer schön die Rangfolge einhalten.
Kleingarten, mit gut einem Meter siebzig einen halben Kopf kleiner als die anderen, ist opulent. Seine Krawatte bildet wenig unterhalb des Windsorknotens bereits einen Viertelkreis um seinen Bauch, wirkt dadurch zu kurz. Nicht zu kurz kommt sein Haar, das in voller Pracht ins Auge sticht wie seine riesigen Finger, Wursthänden gleich, die Maier Mühe bereiten, beim Händeschütteln mitzuhalten, wie den anderen vor ihm auch. Und auch wenn Kleingarten nach dem Treppensteigen noch schwer und kurz atmet, mit ihm würde sich Maier nicht anlegen wollen.
Der muss ein Kraftwerk drunter haben.
Und er macht den Eindruck, als müssten sie froh sein, dass er hier ist. Es wird sich gleich zeigen, wie 'gut' er mit den anderen können wird - unser Held freut sich schon auf den kommenden Schlagabtausch. Das ist das Schöne am Dolmetschen, er muss niemandem was beweisen, kann vielmehr stets positiv überraschen. Understatement. Und das Beste: Viel Zeit zum Beobachten, aus allernächster Nähe, klasse! Ständig entdeckt er eine neue Eitelkeit, eine neue Facette meist männlichen Egos, und sobald eine attraktive Frau im Spiel ist, wird es erst richtig interessant.
Ein Platz in der ersten Reihe also, und noch dazu gut bezahlt. Maier ist zufrieden, auch ohne Flüge in der ersten Klasse - das würde ihn auch wundern, als Beamter seiner Besoldungsstufe.
6
Stahl geht zum Tischende und bietet Kleingarten den Platz links neben sich an. Der setzt sich hin, grunzt kurz und schnauft weiterhin laut ein und aus. Ihnen gegenüber nehmen Dr. Schönleben und der Wirtschaftsminister ihre vorigen Plätze ein, während Maier erwartungsgemäß gleich stehenbleibt, da Stahl ihm in Kürze andeuten wird, doch mit der Einleitung zu beginnen. Ohne auf sein Zeichen zu warten, geht er auf den Kartenständer zu und will ihn näher zum Konferenztisch rücken. Er wird dabei beobachtet.
War klar, dass es wieder quietschen muss.
Stahlöse und Haken reiben wie ein frisch verliebtes Paar vergnügt ihre nackten Oberflächen aneinander. Die kompakte Rolle spielt dabei den Verstärker, schwingt abwechselnd nach links und rechts und trifft Maier in der Abwärtsbewegung um ein Haar am Kopf, als der sich auf den Weg zum Beamer machen will. Nach Betätigung des 'On'-Knopfes gesellt sich unvorhergesehen zum Qietschen des Ständers ein sehr lauter Lüfter, der Zeugnis davon gibt, wie viel dicke Luft er in seiner Laufzeit ansaugen musste.
Das erste Slide deutet den Anwesenden an, worum es gehen wird:
'Chancen für Bayern im Kaukasus und Zentralasien - Rohstoffsicherung von Öl und Erdgas'. Rechts darunter 'Der bayrische Wirtschaftsausschuss zu Brüssel, 6. September 2010'. Ganz links unten als Logo der bayrische Löwe und die weiß-blaue Flagge.
- Meine Herren, bevor ich auf die Gründe eingehe, warum Herr Stahl Sie hierher gebeten hat, möchte ich kurz die Region vorstellen und die aktuelle Ist-Situation. Damit wären wir alle auf dem gleichen Stand.
Da keiner Einspruch erhebt, geht Maier zurück zum Kartenständer und lässt die Sowjetunion und Southwest Asia herunter.
- Mit Bildern fällt es leichter, die Zusammenhänge zu erklären, wenngleich es eine Region ist, die Sie sicher bereits gut kennen, so oft sie seit dem Georgienkrieg vom August Null Acht in den Medien erwähnt worden ist.
Links, auf beiden Karten, also der Kaukasus mit Georgien, Aserbaidschan und Armenien, die eine Schlüsselrolle spielen als Transitland für die Bodenschätze Bakus und jenseits des Kaspischen Meeres, leider aber auch als Sicherheitsrisiko.
Östlich davon, jenseits des Kaspischen Meeres, liegen Turkmenistan, darüber Usbekistan, und darüber das riesige und ölreiche Kasachstan. Neben Usbekistan, ein mittlerweile bedeutender Erdgasexporteur, befinden sich die Länder Tadschikistan und Kirgistan, die wegen ihrer wirschaftlichen Schwäche für uns nur eine Nebenrolle spielen werden.
Stahl, der bisher vor seinem Stuhl stehen geblieben ist, setzt sich nun hin. Seine Augen wollen am Ständer haftenbleiben, an den Karten, die immer noch leicht hin- und herschwingen. Das neue Slide, und seine Neugier jedoch ziehen seine Aufmerksamkeit zur Beamerleinwand hinüber.
- Hier sehen Sie zunächst die Zusammensetzung des Öl-Konsortium Kaukasus, kurz ÖKK, welches die größte Pipeline durch den Kaukasus finanziert hat, und das seit rund vier Jahren an der Ausbeutung des Öls vor Bakus Küste gut verdient. Am besten wird sein, ich zeige Ihnen zuerst das nächste Slide - eine Karte mit allen bestehenden, im Bau befindlichen und geplanten Pipelines dieser Region, für Öl und für Erdgas.
Beim genauen Hinsehen auf die Vorschau macht Maier plötzlich einen verärgerten Eindruck.
Schöne Stümperei! Die Karte ist von Null Sieben, nicht von 2010, da fehlen ja einige Leitungen. Die kann ich unmöglich zeigen!
Sein Chef merkt als Erster, dass was nicht stimmt, doch er wartet noch ab.
Was mach' ich jetzt? Dass Stahl das nicht aufgefallen ist. Oder hat er sich blind auf seine Researcher verlassen? Egal, wenn ich das Slide jetzt einblende, blamieren wir uns bis auf die Knochen.
Nicht, dass das Fehlen von fünf geplanten Röhren sofort auffallen würde, aber dann sicher die bereits seit Dezember eröffnete Erdgasleitung von Turkmenistan nach China und noch mehr - die schon seit Ewigkeiten bestehende Ölleitung von Baku über Russland ans Schwarze Meer. Außerdem ist die 2007 unten rechts Maier sehr peinlich.
- Meine Herren, ich will es anders angehen. Damit wir gleichzeitig Stimmverteilung in den Konsortien UND die Pipelines sehen können, lassen Sie mich schnell die relevanten Röhren auf der guten alten Landkarte einzeichnen. Dazu kann ich dann gleich was sagen.
- Gute Idee, Herr Maier. Auch dass sie zu den Röhren gleich was sagen wollen.
- Ja, einverstanden. So viel Zeit muss sein. Die Leitungen sind ja die Schlagadern der ganzen Region.
Beide Touristenflieger sind dafür, während Kleingarten nur dasitzt und mit seiner Uhr spielt.
Beim wichtigsten Slide geschludert. Das kostet Minimum 'ne Kiste Barolo, Freunde!
- Herr Stahl, sind Sie als mein direkter Vorgesetzter überhaupt damit einverstanden, dass ich in wenigen Augenblicken zwei politische Landkarten bayrischen Eigentums mit dicken Stiften 'erweitere'? Ich meine, danach werden unterm Strich einige Städte verschwunden sein.
Stahl zögert mit seiner Antwort nicht-
- Machen Sie nur, es ist ja der Sache dienlich.
Nach einer kurzen Pause allerdings, Maier hat gerade mit einem Plopp die Kappe des schwarzen Stifts abgezogen-
- Und wenn unser Projekt - erfolgreich ! - zu Ende gebracht sein wird, werde ich sie Ihnen auch nicht vom Gehalt abziehen.
Na also, geht doch.
Maier strahlt und will gerade mit dem Stift ansetzen, da-
- Sie beide machen es ja spannend!
Kleingarten lässt von seiner Uhr ab und will zu Wort kommen. Er betrachtet zunächst Stahl, dann Maier, und sieht mit verdächtigenden Blicken zu den anderen beiden hinüber, fragt mit sehr ernstem Ton-
- Oder wissen die anderen Herren etwa bereits Bescheid, worum es geht?
Was Maier so nicht erwartet hatte - Kleingarten hat erneut in sauberem Hochdeutsch gesprochen, nur leicht bayrisch eingefärbt. Doppler schüttelt den Kopf und fügt dem gelassen hinzu-
- Es ist doch gut, dass Sie alle nichts davon wissen. Selbst ich, der der Quelle am nächsten liegt, bin von Herrn Stahl noch nicht eingeweiht worden. Ich hoffe jedoch sehr, dass wenigstens er weiß, worum es geht.
Stahl erwidert Dopplers Blick mit einem Lächeln, denn ganz so stimmt es ja nicht, dass er von nichts weiß. Kleingarten bleibt unbeeindruckt, er verzieht keine Miene - des Ministers Versuch, die erste Anspannung aufzulockern, ist gescheitert. Stahl versucht es anders.
- Herr Maier, machen sie hin, damit sich die Spannung hier bald auflöst.
- Gut! Unter Druck arbeite ich am besten.
Maier nimmt den Zeigestab neben dem Kartenständer in seine Rechte und klopft damit zweimal auf die Beamerleinwand.
- Auf der Beamerleinwand zu Ihrer Linken sehen Sie die Besitzverhältnisse im ÖKK. Sie können sich die Zahlen schon einmal ansehen, ich komme gleich darauf zurück.
Besitzverhältnisse ÖKK:
25% - VP (Großbritannien)
20% - Centrifugge (USA)
20% - SACCOR (Aserbaidschan)
10% - Statusoil (Norwegen)
9% - TüPetro (Türkei)
5% - USSOil (USA)
3% - Entier (Frankreich)
3% - Dagip (Italien)
3% - Itouchi (Japan)
2% - GeoStream (Georgien)
100%
Maier beginnt, die erste Leitung auf die untere Karte einzuzeichnen.
- Die Ölleitung des ÖKK, die BTC (Baku-Tiflis-Ceyhan), verläuft von Baku aus Richtung Westen, knapp vorbei an der Krisenregion Bergkarabach, hinein nach Georgien, wo sie südlich von Tiflis weiter nach Westen führt und rund 150 km später nach Süden abbiegt in die Türkei, nach Erzurum. Von dort schließlich ans Mittelmeer, in die Hafenstadt Ceyhan, wo das Öl in Tanker gepumpt wird - für den Verkauf an den Westen.
Lassen Sie mich noch ein paar Details dazu erwähnen, um ein Gespür für die Größenordnungen zu bekommen.
Länge der Strecke: knapp 1800 km, vergraben in mindestens einem Meter Tiefe
Baukosten: damals rund 4 Mrd. US-Dollar
Kapazität: 50 Mio. Tonnen pro Jahr, entspricht etwa 1 Mio. Barrel pro Tag
Bauzeit: 3,5 Jahre
Erstes Öl: Mai 2006
Transportkosten: 5 Dollar pro Barrel
Pumpstationen: insgesamt 8
Lebenserwartung: ca. 40 Jahre
Fließgeschwindigkeit: ca. 2 Meter pro Sekunde
Kleingartens Gesichtsfarbe nähert sich Schweinsbraten 'medium', weil er Details nicht vertragen kann.
- Zum Vergleich - Die Leitung mit ihren 50 Mio Tonnen jährlich liefert gut ein Prozent der Weltproduktion und könnte damit über 40% des Verbrauchs von Deutschland abdecken.
7
Maier schaltet weiter zum Slide des wichtigsten Erdgas-Konsortiums im Kaukasus.
- Baku hat auch Erdgas zu bieten! Das Konsortium zur Ausbeutung dieses Bodenschatzes ist folgendermaßen aufgeteilt:
Besitzverhältnisse Erdgas-Konsortium:
25,5% - VP (Großbritannien)
25,5% - Statusoil (Norwegen)
10% - SACCOR (Aserbaidschan)
10% - PromPagi (Russland/Italien)
10% - Entier (Frankreich)
10% - SOOI (Iran)
9% - TüPetro (Türkei)
100%
Für die Erdgasleitung wählt er Rosa, was mittlerweile Kleingartens Gesichtsfarbe entspricht.
- Die entsprechende Leitung, die 2006 eingeweiht wurde, die South Caucasus Pipeline, oder BTE, startet ebenfalls in Baku, verläuft parallel zur Ölleitung und liegt ebenfalls unterirdisch. Sie geht nicht ans Mittelmeer, sondern endet in Erzurum - das Erdgas wird von dort in das türkische Erdgasnetz eingespeist. Hauptabnehmer ist momentan die Türkei, daneben Griechenland und auch Georgien, das als Transitland immerhin 5% kostenlos für sich beanspruchen darf, sozusagen als Maut.
Die Leitung hat eine Kapazität von 17 bis 20 Mrd. Kubikmeter pro Jahr, was annähernd einem Prozent der Weltproduktion entspricht und einem Fünftel dessen, was Deutschland verbraucht.
Kleingarten stöhnt.
- Und noch eine wichtige Bemerkung: Öl- und Erdgaskonsortium sind zwar getrennte Organisationen, aber eng miteinander verzahnt. Es sind ja fast immer dieselben Mitspieler, was die Nutzung desselben Korridors für Öl- und Erdgas erklärt, ebenso die damalige Übertragung der technischen Verantwortung auf dasselbe Projektteam für den Bau beider Pipelines.
Nach all den Details und Zahlen wird Kleingarten ungehalten. Er kennt die Größenordnungen und will endlich wissen, warum er hier ist. Stahl bemerkt es ebenfalls-
- Herr Maier, ich denke, es ist Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen.
- Herr Stahl, lassen Sie mich bitte die Rohre noch zu Ende einzeichnen, damit wir ganz sicher auf dem gleichen Stand sind!
Maier hat das eben in einem sehr bestimmenden Ton gesagt und ist genervt, dass nach nicht einmal fünf Minuten bereits die Eitelkeit eines einzelnen den Kurs bestimmen soll. Doppler und Dr. Schönleben sind alles andere als genervt über die Einleitung.
- Aber nur die wichtigsten, motzt Kleingarten laut.
- Es sind alle wichtig!
Der regt mich auf! Jetzt keinen Fehler machen, Maier, keine Schwäche zeigen. Einfach stur weiter, sonst bist' für immer der Depp.
Mit Absicht verlangsamt Maier nun sein Tempo. Seine Gestik wirkt bedacht, auch spricht er langsamer und zeichnet - fast gemächlich - nach und nach die übrigen 17 Ölleitungen ein.
Maier legt danach eine kurze Pause ein, um was zu trinken, und scheut dabei bewusst den Blickkontakt mit dem Unruheherd - darauf würde er nur warten, er, der seit Minuten hoch errötet seine eingerollte Zeitschrift in die Handfläche hineinklackt wie ein Baseballer seinen Schläger.
So ein Arsch.
Maier liegt ein 'Sind Ihnen die Farben zu langweilig?' auf den Lippen, was er aber nicht bringen kann. Er muss ruhig bleiben, die Sache jetzt durchziehen und stur mit den Erdgasleitungen weitermachen.
Zumindest nicht 'Segeln heute', sondern der Spiegel.
Das Klacken Kleingartens macht auch die anderen Teilnehmer nervös, vor allem den Doktor, der dem Treiben zunächst noch eine Weile zusieht.
- Jetzt zum Erdgas!
Nicht deeskalierend wirkt, dass Maier die Leitungen zum Teil zwei Mal einzeichnen muss - auf der unteren Karte, dann auch auf der oberen, der Übersichtskarte: Die nächsten 25 Röhren ziehen sich länger hin als gedacht.
In Kleingarten gärt es nun über, sein Klacken wird aggressiv, was der Doktor, den Maiers Leitungen sehr interessieren, sich nicht länger gefallen lassen will. Er ergreift das Wort.
- Hatten Sie zu viel Kaffee, Herr Kleingarten?
Nicht zur Beruhigung der Lage beitragend zeigt es dennoch kurzfristig Wirkung, was Maier Gelegenheit gibt, die letzten drei Leitungen aufzumalen. Kleingarten umfasst die Zeitschrift immer stärker mit seiner linken Hand und drückt sie zusammen, ohne den Doktor dabei anzusehen.
- Meine Herren, zum Schluss muss ich etwas zur letzten, zur sogenannten Nabucco-Erdgaspipeline sagen.
Kleingarten Überdruckventil greift, als er Maiers Stift wieder aufpoppen hört - er legt seine Rolle demonstrativ unsanft auf den Tisch, worauf die anderen drei am Tisch reagieren müssen. Sie bremsen ihn kollektiv ein, in einer konzertierten Aktion, mit einem verständnislosen, beim Doktor gar bösartigen Blick.
- Der Bau dieser Pipeline ist schon seit Jahren von deutschen, österreichischen, ungarischen, rumänischen, bulgarischen und türkischen Energieversorgern geplant und würde von den jeweiligen Regierungen mitgetragen, um zum einen mehr Unabhängigkeit von Erdgasimporten aus oder durch Russland hindurch zu erlangen, und zum anderen, um mit eigener Pipeline in petto als Mitspieler um die zentralasiatischen Rohstoffe ernst genommen zu werden.
Das Projekt ist in seiner Planungsphase weit fortgeschritten, erstes Erdgas soll bereits Ende 2014 nach Europa strömen, sprich: der erste Spatenstich wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Doch eine quälende Frage wird bleiben: Wo soll das Erdgas langfristig und zuverlässig, und genauso wichtig: in ausreichender Menge überhaupt herkommen?
Das Erdgas der politisch stabilsten Quelle - Aserbaidschan - wird bereits zu einem Teil von der Türkei, Griechenland und Georgien verbraucht. Hinzu kommt, dass seit Januar auch Russland und Iran diese Felder anzapfen, womit dort nicht mehr viel für Nabucco übrigbleiben wird, und mit Russland und Iran kommen wir gleich zum nächsten Problem: dem Problem der Konkurrenz.
Die Russen haben natürlich gemerkt, dass sie mit Nabucco umgangen werden sollen, und wollen mit South Stream gleich eine zweites Übel lösen: Ihre Abhängigkeit von der Ukraine als Transitland nach Westen.
Maier fährt seinen Zeigefinger entlang der South Stream durchs Schwarze Meer, dann über Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich.
- South Stream soll nur wenig später, 2015, in Betrieb gehen, und, wie Nabucco, in Baumgarten enden. Und es kommt noch schlimmer: Die Russen, die seit Januar Bakus Erdgas anzapfen, werden verdächtigt, den Aserbaidschanern absichtlich höhere Preise als etwa den Turkmenen zu bezahlen, nur um so überhaupt ins Geschäft gekommen zu sein und damit dem Nabucco-Konsortium das Erdgas wegkaufen zu können.
- Solche Bazis! kommt es vom Doktor.
- Da haben Sie Recht, Herr Doktor, die Angelegenheit ist hochpolitsch, kommentiert sein Nebenmann, und weiter-
- Mit Nord Stream, der Ostseepipeline, für die sich Altkanzler Schröder einsetzt, im Gegensatz zu Nabucco, für die sich Ex-Außenminister Fischer stark macht, wollen die Russen ihre Vormachtstellung weiter ausbauen, und damit nicht nur die Ukraine, sondern auch Polen umgehen, denen sie dann einfach den Gashahn abdrehen könnten.
- Richtig, Herr Doppler. Bereits 2012 soll die erste Ostseeröhre Erdgas nach Deutschland bringen. Nord Stream, genau wie South Stream, sind Konkurrenzveranstaltungen zu Nabucco, aber leider nicht die einzigen - da ist noch der Iran, der mit einer eigenen, der Persian Pipeline, ebenfalls am europäischen Markt teilnehmen will. Doch wird Iran, solange die Sanktionen anhalten, mit seiner Leitung nicht weiter als in die Türkei kommen. Und mit den Sanktionen fällt dieser, immerhin im Besitz der zweitgrößten Erdgasreserven der Welt, auch als Lieferant aus, was die Sache für Fischers Truppe nicht einfacher macht. Genau vor zwei Wochen wurde er nun offiziell von der Liste der Länder gestrichen, die Nabucco einmal befüllen sollen. An seine Stelle ist nun ein halbwegs stabiler Irak gerückt, die Nummer elf der Welt, mit zehn Mal weniger Erdgasreserven als der Iran.
Maier verlängert Nabucco von Erzurum aus in den Irak.
- Mit irakischem Erdgas also würde Fischers Leitung noch nicht voll genug.
Zentralasien, sprich Turkmenistan, die Nummer vier, zu gewinnen, ist daher für die Rentabilität von Nabucco Grundvoraussetzung. Und da gibt es gute Nachrichten, nicht nur für Nabucco, sondern auch für uns, womit ich die Ist-Situation beschließen will ...
Stahl ist Maier dankbar, das Tempo herausgenommen und konsequent seine Arbeit zu Ende gebracht zu haben. Wenn sein Mitarbeiter sich nicht durchsetzen kann, wie stünde er selbst dann da?
8
- Danke, Herr Maier, ich übernehme ab jetzt - und lasse die Katze aus dem Sack.
Während Maier umständlich versucht, sich lässig am Lehrerpult anzulehnen, bringt Stahl den Anwesenden die neue Situation nahe, wie Maier vorher ihm:
Gewaltiges Öl- und Erdgasvorkommen unweit der Küste Turkmenistans entdeckt.
Amerikaner bitten die Bayern, im ÖKK für Centrifugge einzuspringen, die kurz vor der Insolvenz steht und dringend Geld braucht.
Dann macht er, leicht begeistert, die Vorteile deutlich, die sich daraus ergeben können:
Versorgungssicherheit Bayerns mit Öl aus Aserbaidschan
Gleichzeitiges Verdienen am Verkauf des Öls
Gleichzeitiges Verdienen an Betrieb und Wartung des Pipelinestücks in Georgien
- Das ÖKK-Geschäft allein ist bereits rentabel, selbst wenn wir nicht an die turkmenischen Rohstoffe gelangen. Und falls doch, ergeben sich für diesen Fall weitere Vorteile. Ich zähle auf:
Versorgungssicherheit Bayerns mit Öl und Erdgas aus Turkmenistan
Gleichzeitiges Verdienen am Verkauf von Öl und Erdgas
Lukrativer Großauftrag durch Neubau von bis zu drei Pipelines durch den Kaukasus
In beiden Fällen würden wir uns von Russlands Stellung als Drehscheibe emanzipieren.
Stahl wechselt übergangslos, und immer noch leicht beschwingt, zu den Hürden, die er Ihnen nicht unterschlagen will...
Mehrheitliche Zustimmung des ÖKK notwendig.
Die vier großen Parteien des Konsortiums: Großbritannien, Norwegen, Aserbaidschan und die Türkei könnten den Anteil von Centrifugge unter sich aufteilen wollen.
Georgien hat Vetorecht, wenn der Pipelinebetreiber seines Landes wechselt.
Berliner Beon und PromGaz haben sehr großen Vorsprung in Turkmenistan.
China und Indien werden ebenfalls um Turkmenistan kämpfen.
Nachbarn Kasachstan und Iran wollen Streckenführung nach Westen verhindern.
...und setzt, bei diesen vielen Hürden wieder ernst geworden, zum Schluss-Plädoyer an:
- Die Amerikaner bieten uns ihre volle Unterstützung an, eine einmalige Chance! Sie sind unsere Dooropener fürs ÖKK, unserem Sprungbrett nach Turkmenistan. Und wir sind für sie die Idealbesetzung, da wir uns erstens in die westliche Schicksalsgemeinschaft harmonisch einfügen würden, zweitens liquide sind und drittens sofort einsatzbereit: Für den Pipeline-Betreiber in Georgien muss schnellstens Ersatz gefunden werden. Jeder Tag Stillstand hätte einen Umsatzverlust von 77 Millionen Dollar zur Folge. Jeder Tag! Und-
Genau wie vor einer guten Stunde Maier wird diesmal Stahl unterbrochen, mit einer berechtigten Frage von Kleingarten.
- Herr Stahl, ...
Angriffslustig beugt er sich nach vorne und greift nach der Illustrierten, rollt sie zusammen, als wolle er mit ihr zum Marsch blasen, und nimmt sich noch die Zeit, wieder nach hinten in seine bequeme Ausgangsstellung zu rutschen.
- ... angenommen, es wäre also in der Tat möglich, dass Bayern die Anteile am ÖKK erhalten täte. Wie wollen's denn das andere Ding in Turkmenistan zu diesem Zeitpunkt noch umdrehen? Wie ich das sehe, haben die Berliner die Nas'n vorn. Und wie wollen's dann TurkmenGaschi dazu bringen, plötzlich die Lager zum Wechseln, und auch noch mit Eana zammzumarbeiten? Haben's Ansprechpartner? Wen kennen Sie dort drunten eigentlich?
Er fokussiert Stahl direkt an und hält die Verbindung drei Sekunden lang aufrecht, bevor er sich dem Wirtschaftsminister zuwendet.
Ok, den Doktor lässt er links liegen, der ist ihm wohl zu sunnyboy. Und mich - mich mag er sowieso nicht mehr, aber des is mir Wurscht.
Kleingarten schwenkt wieder zurück zu Stahl, und, weil dieser noch schweigt, fühlt sich Maier in der Verantwortung, die Pause zu beenden und die Strategie des Wirtschaftsausschusses zu erklären. Kleingarten bekommt das mit und schlägt reflexartig mit seiner Zeitschrift in die linke Hand, doch Stahl ist es, der seinen Schützling nicht zu Wort kommen lässt.
- Herr Kleingarten, ich verstehe Ihre Zweifel - sie sind berechtigt. Doch hören Sie sich zunächst unsere Strategie an, die ich Ihnen allen jetzt vorstellen will.
Kleingarten richtet sich kurz auf, sinkt aber wieder in seinen Lederstuhl ein. Der Wirtschaftsminister und Dr. Schönleben sitzen beide aufrecht und berühren ihre Rückenlehnen nur leicht, Ersterer sitzt gar mit Block und Bleistift da. Sie warten auf Stahls Worte.
- Meine Herren, mir ist klar, dass sie alle als Macher nur ungern auf jemanden angewiesen sind. Ich meine angewiesen auf jemanden, der Ihnen nicht untersteht.
Stahl macht eine kurze Pause, um sich der Aufmerksamkeit aller zu versichern.
- Sie ahnen bereits, ich spreche von der amerikanischen Seite. Sie war es, die die Möglichkeit überhaupt erst an uns herangetragen hat, in Zentralasien eine wichtige Rolle zu spielen. Sie reichen uns die Hand - zwar nicht freiwillig, sondern aus einer Notlage heraus. Und wir stellen als verlässlicher Partner mit Finanzkraft und technischer Kompetenz eine Idealbesetzung dar.
Mir ist durchaus bewusst, dass sich die amerikanische Hilfe in einem halben Jahr wieder in Luft auflösen kann, aber im Augenblick können wir von ihnen profitieren, von ihren Verbindungen in dieser Region. Und wenn wir da einmal drin sind, können wir unser eigenes Netzwerk aufbauen, als Sicherheit, und um uns von ihnen zu emanzipieren.
Ich weiß, unsere Ausgangslage ist bestimmt nicht die beste - wir werden uns sehr beeilen müssen, und auch auf die nötige Portion Glück wird es ankommen. Trotz allem aber ist es eine sehr sehr große Chance und wir haben nicht viel zu verlieren, können jedoch viel gewinnen. Auch, weil die wenigsten mit uns rechnen.
Stahls Augen leuchten überzeugt, er ist seiner sicher. Und er hat wieder derart vorgelegt und mit seiner Präsenz eine Situation erschaffen, der man sich schwer entziehen kann, geschweige denn widersprechen. Auch die beiden Aufrechten scheinen Feuer gefangen zu haben, doch Kleingarten lässt das kalt-
- Gut, Herr Stahl. Also no amoi angenommen, Sie schaffen den Sprung ins ÖKK - was ich immer noch ned glauben kann, weil Norwegen und die Englända bestimmt ned begeistert sein werd'n von neuen Mitspielern. Und das, obwohl es ja - wie es vorhin so schön geheißen hat - eine westliche Schicksalsgemeinschaft ist. Und angenommen, Sie bekommen anschließend in der Tat an Termin bei der null berechenbaren turkmenischen Gaszentrale - glauben's wirklich, dass der amerikanische Einfluss ausreichen werd? In diesen Zeiten?
- Was bringt uns feiges Abwarten?
Der Doktor ist drauf. Frontalangriff!
Dr. Schönleben grinst Kleingarten nach seiner Attacke an, der das natürlich nicht auf sich sitzen lässt.
- Herr Dokta Schönlebm, san's a rechta Träuma, ge!
Des war's komplett mit Hochdeutsch. Aus.
Er lacht derb in Richtung des 'Doktas', visiert ihn direkt an und schlägt schon in Siegerpose seinen Spiegel in die linke Hand.
- Haben's scho amoi mit de Turkmenen zammagarbat? Wissen's, i konn Eana do a paar Gschicht'n erzählen von bayrischen Mittelständlern, die dort druntn nach kurza Zeit wieder aufgeb'n hamm. Und wissen's, warum?
Dr. Schönleben lacht ähnlich derb zurück, was die Stimmung am Tisch, die seit Kleingartens Eintreffen ohnehin schon angespannt war, an Schärfe zunehmen lässt. Sie zu diesem Zeitpunkt als gereizt zu beschreiben, wäre allerdings gelogen. Vergiftet trifft es besser und der Showdown steht unmittelbar bevor.
Die beiden könnten aus Maiers Sicht unterschiedlicher nicht sein - rechts Dr. Schönleben, der, wie Kleingarten glaubt, immer Glück gehabt hat im Leben und nie kämpfen musste. Links Kleingarten, der sich von Anfang an hochgebuckelt hat in den harten Banden der Verbände, und es nun jedem unter die Nase reibt, ja, zum bitteren Vorwurf macht, wie schwer er es hatte, wie wiederum Dr. Schönleben ihn sich vorstellt.
Was die beiden jedoch nicht wissen - sie verbindet mehr, als sie es je zugeben würden: Ihre enorme Abgeklärtheit in Grenzsituationen und der krampfhafte Ehrgeiz, nicht verlieren zu können, nicht ums Verrecken. Die beiden werden in Kürze einen Schlichter brauchen.
- Also schießen Sie schon los, Herr Kleingarten.
Dr. Schönleben atmet genervt aus.
- I hob gwusst, dass Sie des interressiert!
Kleingarten lacht wieder, lacht ihn geringschätzend aus und beachtet ihn nicht weiter, wendet sich hin zum Wirtschaftsminister, zu Stahl, und versucht, sich nach diesem emotionalem Zwischenspiel wieder im Hochdeutschen.
- Die Turkmenen sind kein sesshaftes, kein sehr zuverlässiges Volk. Zusagen sind nicht unbedingt bindend, was daran liegen mag, dass sie in ihrem Innern Nomaden blieben san - gewohnt, von heut' auf morgen zu lebm. Zu überlebm. So schnell ändert sich so a Volksseel'n ned. Nicht einmal Zarenherrschaft und dann die Sowjets hamm daran was ändern können. Und wenn Sie heut' mit die Verantwortlichen dort einen Deal abschließ'n, ohne vor Ort Druck machen zum können, dass sie ihn auch einhalten, dann werdn's zu deren Spielball. Mit andern Worten - sie san z'kloa, um zum Beispiel mit Sanktionen auf die Einhaltung der Verträge pochen zum kenna.
Klack, der Spiegel schlägt wieder zu.
- Auch alle westlichen Energieries'n zamma g'numma würd'n ned ausreich'n bei dene. Und die Amis werd'n boid aus Afghanistan obziagn, dann komma von do aus a koan Druck mehr ausüb'n.
- Haben wir ein Glück, dass wir mit Ihnen einen Geostrategen Güteklasse 1 an Bord haben! Ohne Sie würden wir glatt in unser Verderben laufen, kommt es vom Doktor.
- Sie lassen sich gar nix sag'n, richtig?
- Muss ich das?
- Sie soit'n!!
Die beiden sehen sich wieder in die Augen. Keiner rückt auch nur einen Millimeter aus dem Blickfeld des anderen ab.
Es ist sehr still geworden, bis auf den Beamer, der unbeeindruckt den Raum aussurrt - so sehr, dass man ihn gar nicht mehr wahrnimmt, als gehörte er schon irgendwie dazu. Maier fragt sich, wer von beiden zuerst aufgibt und sich als Erster dem Blick des anderen entzieht. Es erinnert ihn an eine ähnliche Situation, in der ein Blickduell fast 2 Minuten gedauert hatte. 2 Minuten! Der absolute Rekord bisher. Er wurde vor 3 Jahren in einem Ausschuss aufgestellt, zwischen einem Russen und einem Ukrainer, bei dem Maier für die deutsche Seite gedolmetscht hatte.
Das Männerritual bahnt sich weiter seinen Weg über den Konferenztisch, durch den Raum hindurch, der die Stille seit mittlerweile beachtlichen 30 Sekunden in sich aufgesaugt hat. In einem Saloon vor hundert Jahren wäre an dieser Stelle der Schlussstrich schon lange gezogen worden, und Revolver könnten sie sogar dabei haben bei der praktisch nicht vorhandenen Kontrolle unten beim Empfang.
Der Wirtschaftsminister spielt mit seinem Bleistift, sein weiß-kariertes Blatt ohne Rand ist immer noch leer. Er schwankt zwischen weiter aufrecht sitzen, abwartend in den Sessel sinken und blickt nach vorne zu Maier.
Was schaut der mich so an? Soll ich etwa was sagen? Soll er doch!
Maier steht halt wie ein Lehrer da, immer noch neben dem Beamer auf das Pult gelehnt - mit Zeigestab in der Hand, der wie eine Rute aussieht, mit der man früher zu laute Kinder verprügelt hatte. Sein Blick geht hinüber zu Stahl.
Eigentlich muss Stahl jetzt was sagen.
40 Sekunden, doch er sagt nichts, sitzt steif, ja beinahe scheintot und blass wie im Wartezimmer ausharrende Augenarztpatienten am Land. Was geht in Jakob Julius Stahl vor? Ist es Taktik?
Jay Jay passt eigentlich gar nicht zu ihm, wie er hier intern genannt wird. Es ist eher ein Zeichen dafür, ein Wink seiner Kollegen, dass sie ihn halt lieber als Jay Jay erleben würden statt dem viel ernsterem Jot Jot - seine bessere Laune quasi herbeijayend. Doch im Augenblick ist Stahl so weit entfernt von Lässigkeit wie die Berliner Vertretung vom EU-Parlament hier in Brüssel.
Dr. Schönlebens anfängliches Grinsen ist einer stählernen Miene gewichen, es liegt Verbitterung in der Luft, auch Ärger, Wut. Hat Kleingarten den falschen Nerv beim Doktor erwischt? Maier zählt immer noch mit.
..... 45 ..... 46 ..... 47 .....
Die Minute wird nicht mehr geknackt werden, denn einer macht Anstalten - es ist Dr. Schönleben. Dieser greift jetzt an, mit konzentrierter Stimme, hart und präzise, wodurch sie eine ordentliche Lautstärke erreicht.
- Ich sollte? Sie sagen mir, ich sollte?
Er schüttelt den Kopf.
- Wissen Sie, Herr Kleingarten, ich gebe nichts auf ihr Schwarz-Weiß, auf Ihre geschmacklosen Vorurteile oder auf Geschichten anderer. Auf Geschichten von Verlierern.
Das hat gesessen.
Jesse James hätte schon lange abgedrückt. Der Gegenangriff kommt aber noch, und er kommt verbal - Kleingarten lässt keine weitere Sekunde mehr verstreichen.
- Es wundert mi imma wieder, wie oana wia Sie nach oben foin hod kenna.
Kleingarten lacht dreckig, fasst sich an den prallen Bauch und hält sich dabei an seiner Krawatte fest, schiebt sie anschließend nach links und nach rechts, wie zum Reinigen einer Glaskugel, synchron zum gleichmäßigen OMMM - SURRR - OMMM - SURRR des Beamers.
Kleingarten beobachtet den Doktor genau, wie der nun darauf reagieren wird. Der Wirtschaftsminister hingegen sieht nochmal hinüber zu Stahl und will endlich eingreifen, da kommt der ihm aber noch zuvor. Und auch Dr. Schönleben kommt er zuvor, der gerade ausholen will zum großen Finale. Der Stahl-Riese erwacht, ihm reicht's. Ihm, der hier fast 20 Jahre älter ist als die beiden Kontrahenten - das hat er nicht nötig.
Er wuchtet seine Faust auf den Konferenztisch und springt aus seinem Stuhl, der zwei Meter fünfzig nach hinten wegfliegt, und das derart parallel, dass er nicht einmal umfällt. Er wird sehr laut.
- Reißen Sie sich zusammen!
Stahl stemmt seine Hände in seine Hüften wie ein alternder John Wayne, dem das Warten beim Augenarzt nach fünf Minuten bereits zu viel wird und sich, noch Mumm in den Knochen, vor der hilflosen Sprechstundenhilfe aufbaut.
- Wo sind wir denn hier, hmmm? Ich habe mir ihr pubertäres Spielchen nur aus Respekt vor Ihren bisherigen Leistungen über mich ergehen lassen. Und ich dachte, Sie wären für uns wertvoll, mit Ihrer Erfahrung. Doch nun muss ich mir überlegen, ob ich sie überhaupt noch dabei haben will.
Er macht eine Pause, sieht die beiden an, wartet, ja erwartet, dass die beiden zu ihm aufsehen. Und sie tun es auch binnen weniger Augenblicke und bezeugen ihm Respekt schon allein deshalb, damit es ihn nicht vor aller Augen zerreißt. Selbst der Beamer bekommt ein schlechtes Gewissen und surrt leiser.
- Warum sind Sie überhaupt hergekommen? Was bilden Sie sich ein!
Er unterbricht erneut, blickt bewußt an den beiden vorbei aufs Bild am Ende des Konferenzraumes, wo Übervater Strauß das ganze mitverfolgt hat. Kopfschüttelnd will er zur Fensterfront hinüber, um absichtlich laut ein Fenster zu öffnen und, um sein Hinüberschreiten deutlich von anderen Hinüberschritten zu unterscheiden, will er den Stuhl, den er noch direkt hinter sich wähnt, von sich wegstoßen, um den Jungspunden zu zeigen, wo der Hammer hängt.
Maier beobachtet seinen Chef, wie er nach hinten unten ins Leere greift und beinahe zu spät bemerkt, dass da kein Stuhl mehr sein kann. Der kauert noch ganz an der Wand und kann nicht als Stütze herhalten, worauf Stahl um ein Haar sein Gleichgewicht verliert.
Davon unbeeindruckt, wie John Wayne von den Ausreden der Sprechstundenhilfe, ändert er seinen Plan, geht ein paar Schritte im Raum umher und kehrt dann wieder derart kontrolliert an den Tisch zurück, als wäre es nie anders geplant gewesen. Seine Hände kleben immer noch an den Hüften.
Die jungen Kampfhähne bleiben erstaunlich ruhig und begleiten dessen Theatralik mit Aufmerksamkeit - sie sind noch immer überrascht vom plötzlichen Gefühlsausbruch eines sonst so ernsten Charakters wie Stahl. Doch kein Beben ohne Nachbeben, er würde sie am liebsten rausschmeißen, weil er mehr Professionalität erwartet hatte. Während John Wayne sich selber rausschmeißt und zum nächsten Augenarzt in die Stadt reiten will, kommt es ihm nochmal hoch.
- Wir müssen hier zusammenarbeiten. ZU - SAM - MEN - AR - BEI - TEN !!
Stahl schlägt bei SAM - MEN erneut auf den Tisch, diesmal nicht im Sitzen, sondern aus dem Stand heraus. Die Wucht des Aufpralls stellt den ersten Hieb weit in den Schatten, ist noch intensiver als vorhin, aber auch unkontrollierter. Als er seine Faust wieder vom Tisch abhebt - seine Energie für heute hat er vollständig im Tisch versenkt, wie John Wayne vorhin in der Sprechstundenhilfe, weshalb der seinen Plan, in die Stadt zu reiten, aufgegeben hat, weil er kurz vor Pasing wegen Müdigkeit vom Pferd gefallen war. Als Stahl also seine Faust wieder vom Tisch abhebt, lässt er sie fatalistisch und müde, wie 'Ach, macht doch, was ihr wollt', nach vorne wegschwingen, wodurch er sein volles Glas Wasser mit gerade so viel Kraft in Bewegung setzt, dass es fast den Kipppunkt erreicht, zum Stillstand kommt und dann doch, was physikalisch gar nicht möglich ist, nach vorne weiterbeschleunigt und auf dem Wirtschaftsminister niedergeht.
Der komplette Inhalt ergießt sich auf dessen Seidenkrawatte, Hemd und natürlich, in einem großen Finale, auf dessen Schritt. Der Begossene sieht betroffen zur Bestandsaufnahme nach unten, wo es deutlich kühler wird, da der kleine See, der sich dort herausgebildet hat, nicht seiner Körpertemperatur entspricht.
Stahl setzt nach-
- Wir MÜSSEN !!
Doppler ist ganz mit sich selbst beschäftigt, mit seiner Hose, seinem Pech und dem vielen Wasser. Und jetzt bricht es aus Dr. Schönleben heraus, er kann sich nicht mehr halten. Auch Kleingarten brüllt, lacht, ja, er fängt an zu wiehern und hält sich wieder den Bauch.
Maier als Unbeteiligter hat schon die ganze Zeit Spaß, doch dieser Höhepunkt übertrifft seine Erwartungen und es erwischt ihn warm - es kribbelt um die Bauchspeicheldrüse und er muss herzlich mitlachen und hofft, dass der Wirtschaftsminister noch lange so erstarrt seiner 149 Euro teuren Seidenkrawatte nachtrauert, wie sein Chef seiner Autorität.
Die Situation lässt die beiden Alten nun auch nicht mehr kalt, sie machen mit. Erst Doppler, dann Stahl, der sich nach wenigen Augenblicken für den Unfall entschuldigt. Der Graben scheint erst einmal überwunden, die Kleingarten-Schönleben Front hat sich soeben aufgelöst, das Ritual ist beendet. Beide konnten ihr Gesicht wahren, ohne einen Millimeter nachzugeben. Die Arbeit kann jetzt beginnen, was ihr Wirtschaftsminister sofort ausnutzen will und sich zu Wort meldet, mit kühlem Schritt und klarem Kopf.
9
- Herr Stahl hat Recht, wir müssen hier zusammenarbeiten!
Doppler legt, wie Stahl vorhin, eine Pause ein, eine kurze rhetorische, um dann herauszubeschleunigen, dass es einen in den Sitz presst. Seine Überenergie nach langem Stillhalten und sich Zurücknehmen wird am Gefühlsausbruch deutlich, der an seinen Fäusten am besten zu beobachten ist. Die ballt er zusammen, als wolle er, um Geld zu sparen, die Reste seiner Bleistift-Kohlemine zu Diamanten recyclen, für zwei neue Ohrringe, und streckt sie, weil noch Energie übrig ist, halb über den Konferenztisch nach vorne und wieder zurück wie zwei Bizepshanteln.
- Wir müssen an einem Strang ziehen. Es geht um die Zukunft, um unsere Energieversorgung und entsetzlich viele Arbeitsplätze für unser Land. Und wir müssen den großen Wurf wagen! ÖKK alleine reicht nicht! Bakus Öl wird nicht ewig sprudeln, nach gut 20 Jahren wird Schluss sein. Wir müssen nach Turkmenistan, für ein zweites Ölstandbein und Erdgassicherheit. Meine Herren-
Dopplers Fingerkuppen bohren sich weiter brutal ins eigene Fleisch, die sich, wenn sie so weiter machen, sich selbst von der Blutzufuhr abschneiden werden.
Was kommt nach Diamant?
- Ich brauche Ihre Kompetenz - Sie sind beide nicht durch Zufall dort, wo sie jetzt stehen.
Die Fingernägel haben beide Lebenslinien durchtrennt - zu seinem Glück irgendwo bei 53 Jahren, das juckt ihn nicht mehr. Trotzdem ist nun genug, er öffnet seine Hände und wirbelt sie durch die Luft.
Erst Steinmetz, jetzt Italiener.
Die schnelle Gestik verleiht ihm Lebendiges, ein Gefühl von Unmittelbarkeit und Nähe, ja von Zuversicht. Auch der Klang seiner Stimme und der Einsatz seiner Betonungen glückt gekonnt, als hätte er heimlich vorm Spiegel geübt. Doch es ist Begeisterung, welche ihn trägt, ihn fliegen lässt und so eine Stimmung produziert, als könnten sie es wirklich schaffen.
Der Wirtschaftsminister will sich die beiden nun einzeln vornehmen, dreht sich mit dem Stuhl nach rechts, ganz zu Dr. Schönleben, und beginnt absichtlich leise mit seinem nächsten Akt.
- Herr Dr. Schönleben, Ihre Ahorn AG ist die Idealbesetzung, um die Lücke zu schließen, die Centrifugge hinterlassen wird. Nicht nur ihr Ruf in dieser Branche ist hervorragend, sie ist obendrein noch liquide und könnte aus dem Stand heraus ein Fünftel der Anteile sofort bezahlen, was nicht nur Centrifugge den Allerwertesten retten würde.
Das ÖKK besteht, das weiß jedes Kind, aus milliardenschweren Unternehmen, aber locker aus der Hüfte kann es Centrifugge nicht ersetzen. Es muss als Gesellschaft noch die immensen Baukosten der Pipeline abstottern, und das wie üblich aus den aktuellen Einnahmen heraus, was schwierig wird bei niedrigem Ölpreis. Wie Sie wissen, ist der wegen der Wirtschaftskrise, die auf die Finanzkrise folgte, monatelang weit unter 60 Dollar je Barrel gerutscht, weshalb Zusatzkredite aufgenommen werden mussten. Und die Krise heute ist noch nicht überstanden.
In dieser Lage wäre ein längerer Ausfall von Centrifugges Abschnitt in Georgien eine Katastrophe, denn die Gläubiger wollen laufend Geld sehen, sie dürfen nicht verprellt werden. Man will auch in Zukunft noch neue Kredite aufnehmen, für andere Projekte.
Bis die Röhre abbezahlt ist, kann sich das ÖKK keinen großen Fehler leisten. Und wird sich über ihre Ahorn AG als stabilen, nicht insolvenzgefährdeten Partner freuen, der nach dem Einstieg auch noch Fleisch für weitere Investitionen hat, für den Poker um Turkmenistan.
Der Wirtschaftsminister ist gegen Ende noch leiser geworden und blickt den Doktor beschwörend an.
- Es hat sich ein Fenster geöffnet für uns, ja für Deutschland und Europa! Die Union hat einige neue Mitglieder bekommen, die selber kaum über fossile Rohstoffe verfügen. Der Druck, die Versorgung sicherzustellen, wird wachsen, während die Nordseereserven immer weiter schrumpfen. Uns bleibt keine Wahl, wir müssen uns in Eurasien behaupten, auf diesem gigantischen Kontinent.
Mit bebender Stimme beendet er seinen Appell, visiert sie alle an und landet am Ende wieder beim Doktor-
- Durch dieses Fenster jetzt nicht hindurchzusteigen wäre gröbst fahrlässig. Und ich will mich nicht einmal rechtfertigen müssen, es nicht versucht zu haben. Herr Doktor, überzeugen Sie Ihre Vorstandskollegen, damit wir schnell handeln können - auf Geschwindigkeit kommt es jetzt an. Kann ich mich auf Sie verlassen?
Maier kann leider nicht sehen, wie sehr Doppler den Doktor gerade anstarrt. Dessen Zustand ist an einem Punkt angelangt, an dem sich gut und gern die Vorstufe zur Manie ausmachen ließe und - tauschte man Anzug mit weißem Kittel - Doppler als durchgeknallter Psychodoc durchgehen würde. Der richtige Doktor, vom Rausch angesteckt, antwortet ihm, das war zu erwarten, wie ein Patient, der einfach nur raus will und ihm alles erzählen würde. Aber nicht, um ihm nach dem Mund zu reden, sondern: Weil für ihn noch nie was unmöglich war.
- Sie können sich auf mich verlassen, Herr Wirtschaftsminister. Es ist für uns eine großartige Chance, zu wachsen, und ich glaube kaum, dass sich meine Vorstandskollegen dagegen wehren werden.
Plötzlich aber greift er dem Magier am Oberarm...
- Dennoch, ich brauche Gewissheit. Wir müssen darüber erst abstimmen lassen.
...und lässt ihn wieder los. Die Notbremse hat er noch schnell eingebaut.
- Ich gebe Ihnen spätestens morgen Nachmittag Bescheid, wie stark meine Rückendeckung für dieses Projekt sein wird.
- Sehr gut! Seeehr gut! Ich danke Ihnen, Herr Doktor Schönleben!
10
Jetzt nimmt er Kleingarten in sein Blickfeld, den härteren Brocken, der ihm natürlich zuvorkommt.
- Hoit! I konn mia ned vorstell'n, dass mia sooo willkommen sein werd'n und alle nua auf uns wart'n!
Kleingarten ist gelungenes Kontrastprogramm zu Dopplers Feingeist. Dieser eine Satz ließ das zart durchdachte Gebilde des Ministers, das so schön im Raum umherschwebte, so schön in sich geschlossen, innerhalb von wenigen Millisekunden jäh zerplatzen und sich mit gewöhnlicher Brüsseler Konferenzzimmerluft vermischen.
Dass dem notorischen Neinsager gerade eben ein 'mia' herausgerutscht ist, verbucht Doppler als heimlichen Erfolg, ohne es sich anmerken zu lassen. Maier ist es nicht aufgefallen, zu groß ist seine Antipathie gegen ihn.
- Erstens, hamm die Öl-Dinosauria wirkli' koa Geld auf da hoh'n Kant'n? Konn i mia ned vorstell'n!
Und zwoat'ns, glauben's ned, dass Aserbaidschan es ned boid leid is', dass unserne 'westliche Schicksalsgemeinschaft', wie es vorhin so schön geheißen hat, im ÖKK des Sog'n hod, während die die letzt'n Reserv'n aus deram eig'nen Bod'n holen?
Der Wirtschaftsminister lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und versucht, seine Aura wiederzubeleben - mit leisen Tönen und einseitigem Monolog.
- Aserbaidschan wird es pragmatisch sehen, Herr Kleingarten. Es ist dem Westen sehr zugeneigt, als Gegenmacht zu Russland. Und ein Blick auf deren Haushalt zeigt, dass sie in den letzten Jahren enorm viel Geld ausgegeben haben für ihr Militär. Auch sind nicht wenige Steuerzahler aus Bergkarabach ausgefallen, die nach ihrer Flucht immer noch ihre Existenz aufbauen müssen und wenig zahlungskräftig sind - eine große Bürde, und gar nicht zu sprechen von dem Fünftel Land, das ihnen seit dem Waffenstillstand mit Armenien nicht mehr zugängig ist.
Ein guter Indikator sind auch die vielen Baustellen in Baku, die nur sehr langsam wieder Fahrt aufnehmen, wegen der viel geringeren Einnahmen aus Öl und Erdgas als vor dem Boom. So leicht wird es deren staatlichen Ölgesellschaft nicht fallen, die 8 Mrd. Dollar aufzubringen für Centrifugges Anteile, nicht einmal für die Hälfte wird es reichen.
Und glauben Sie mir, die Ölgesellschaften des ÖKK haben in den letzten Jahren enorm viel investiert und über ihre Verhältnisse gelebt, buchstäblich auf Pump. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein einzelner Mitspieler genügend Reserven hätte, sich die 20% alleine zu sichern und dann noch um Turkmenistan zu kämpfen. An neue günstige Kredite zu kommen, ist im Moment immer noch kein leichtes Unterfangen für Konzerne, die hohe Schuldenstände haben, außer es bürgte, wie beim Fast-Bankrott der Banken im November Null Acht, der Steuerzahler. Aber so schnell wäre das nicht durchzubekommen bei der Bevölkerung, nicht in der Ölindustrie, nicht bei deren Beliebtheit und 'Transparenz'.
Zugegeben, der Freistaat ist auch angeschlagen durch die Fast-Pleite seiner Landesbank, jedoch aufgrund seiner Wirtschaftskraft noch massiv kreditwürdig und somit in der Lage, günstig an Kapital zu kommen.
Was also bliebe ist, dass sich die vier großen Mitglieder des ÖKK den Anteil unter sich aufteilten, nur birgt dieses Szenario viel Streitpotenzial - und es könnte sehr viel Zeit kosten.
Er dreht sich kurz zum Doktor.
- Ich glaube fest, dass die Ahorn AG und unser Freistaat die Idealpartner für das ÖKK darstellen, die Übernahme der Anteile ginge absolut zeitnah über die Bühne.
Als hingen irgendwo Mikrophone, drosselt er nochmal die Lautstärke und schenkt erneut Kleingarten seine ganze Präsenz. Dessen Spiegel liegt seit einigen Minuten ruhig auf dem Tisch.
- Herr Kleingarten, wir brauchen Ihre Verbindungen, um für uns zu spionieren. Auch wenn ich das eben nicht so direkt gesagt habe: Sie verstehen, wie ich es meine: Bitte finden Sie heraus, wo die Berliner Beon steht, vor allem, was sie gemeinsam mit den Russen in Aschgabat ausgemacht haben.
Mit seiner rechten Hand beginnt er aufzuzählen-
Erstens, wie viele Anteile wollen Beon/PromGaz an der Öl- und Erdgasquelle besitzen?
Zweitens, wie lange wäre die Vertragslaufzeit?
Drittens, gibt es einen Festpreis für die Abnahme des turkmenischen Anteils der Bodenschätze? Turkmenistan besitzt ja kein eigenes Vertriebsnetz, ihr Anteil muss durch andere vertrieben werden. Wie hoch ist dieser Preis für Öl und Erdgas? Oder sind die Preise variabel nach Weltmarktlage?
Viertens, inwieweit darf TurkmenGaschi bestimmen, wieviel gefördert werden darf?
Fünftens, wann müssten Beon und PromGaz für ihre Anteile an den Quellen bezahlen? Noch bevor das erste Öl und Erdgas den Endkunden erreicht haben wird? Ich meine, gibt es eine Anzahlung?
Die rechte Hand reicht nicht mehr aus.
Sechstens, beteiligt sich TurkmenGaschi überhaupt an den Erschließungskosten und den Pipelinebauten?
Und siebtens, was macht der Nachbar Kasachstan? Verhalten sie sich neutral oder wollen sie selber mitspielen?
Aserbaidschan hat bisher nur einen Teilerfolg erringen können, die Kasachen davon zu überzeugen, einen Teil ihres Öls auch über das ÖKK zu verkaufen, also an Russland und China vorbei.
Der redet einfach weiter.
Kleingarten sieht den Wirtschaftsminister verwundert an, macht aber keine Anstalten, ihn zu unterbrechen. Hat es Doppler geschafft?
- Das kasachische Öl kommt heute mit Tankern über das Kaspische Meer nach Baku und wird dort in die Pipeline gepumpt. Es sind aber im Schnitt nur 100000 Barrel pro Tag, also kein richtiges zweites Standbein für den Fall, dass das aserbaidschanische Öl 2030, Johannes Heesters wäre dann 126, komplett aufgebraucht sein wird. Die 100000 Barrel entsprechen nur 3% des kasachischen Gesamtexports, der große Rest geht überwiegend nach Russland und seit letztem Jahr massiv nach China durch die fertige Pipeline.
Kasachstan wird schwer mehr an das ÖKK liefern können, denn sie müssen sich an ihre Lieferverträge halten, die meistens langfristig ausgelegt sind, was einmal mehr verdeutlicht, wie wichtig es ist, beim Rennen um Turkmenistan Erster zu sein!
Maier zweifelt, ob Kleingarten das alles herausfinden kann. Mancher Agent müsste da schon mit jemandem schlafen, um an Insiderinformationen zu kommen, aber Kleingarten? Unbeeindruckt hat der sich die Punkte auf dem Deckblatt seiner Zeitschrift notiert.
- Das müssen wir alles wissen, um TurkmenGaschi ein besseres Angebot machen zu können, eines, das sie nicht ablehnen können, und ohne dass wir uns gleichzeitig dabei übernehmen, uns quasi selber austricksen und unterm Strich nichts bleiben wird. Diese Informationen würden auch vom ÖKK mehr als begrüßt werden und wir stünden gut da. Es wäre der perfekte Einstieg!
Kleingarten schnauft und bäumt sich noch einmal auf.
- Und wos is' mid ...
- Also helfen Sie uns? schneidet diesmal Doppler das Wort ab.
Kleingarten zögert zunächst, doch er findet Gefallen daran, dass um ihn gebuhlt wird, ja dass sich Doppler für ihn richtig ins Zeug gelegt hat. Gönnerhaft schaltet er auf hochdeutsch zurück und beginnt, auf die Herren zuzugehen. Eine Zusage von ihm werden sie aber so schnell nicht bekommen.
- Wie Sie sehen, habe ich Ihre Fragen bereits notiert. Der Flurfunk in den bundesweiten Verbänden über Turkmenistans Fund ist bereits enorm.
- Bitte? Sie wussten schon davon?
Doppler ist verdutzt.
- Da sehen Sie mal! In meiner Position bekomm' ich stündlich Berichte herangetragen und kann auch inoffiziell bei Kollegen anderer Bundesländer nachbohren. Das können Sie nicht immer, Herr Wirtschaftsminister!
Kleingarten lacht - und reibt sich wieder den Bauch.
- Sie müssen den offiziellen Weg gehen, über ihre kleine FDP hinaus, und das kann schon mal dauern. Ich bin froh, dass ich hier bin.
Er grunzt zufrieden, als wären die Informationen über Beon in einem einzigen Telefonat zu klären, noch während der Konferenz, und streichelt wieder seine Viertelkreiskurve, diesmal unterhalb der Krawatte.
Im Rampenlicht zu stehen, liebt er, und das wird er auch, sobald er die Informationen zusammen hat. Und er soll sich auch freuen, hat er sich die Kontakte im gesamten Bundesgebiet erst mühsam aufbauen müssen und über 15 Jahre hinweg ordentlich pflegen - nicht umsonst also ist aus ihm so ein pfundiger Kerl geworden, bei den vielen Abendessen und Bierorgien, und schlimmer: den vielen Burgern zwischen den Anschlussflügen.
Er sieht sich selbst tatsächlich in der Rolle des Hauptakteurs, der endlich die Früchte seiner Arbeit ernten darf, nur dass in Wirklichkeit der Wirtschaftsminister die Fäden in der Hand hält und gerade eben genau die richtigen Knöpfe gedrückt hat und ihn benutzt. Er hat zu Anfang der Konferenz nicht umsonst so lange nichts gesagt und hat die beiden erst einmal machen lassen. Sein Block mit weiß-kariertem Blatt ohne Rand ist immer noch leer, hat sich aber doch verändert - er wellt sich nun entlang der Schneise, die Stahls Dammbruch geschlagen hat, und seinen Bleistift hatte es vorhin nach unten mitgerissen, wie ein Stück Treibholz.
- Herr Kleingarten, sie wussten also davon und haben unserem Ministerium nichts gemeldet?
- Nein, haben wir nicht. Wissen's, wenn wir alles an Ihr Büro weiterleiten würden, was meinen Sie, was da los wäre?
Er lacht wieder, während Doppler ernst bleibt.
- Ja, bitte! Auf die Antwort bin ich gespannt.
Kleingarten muss nicht lange überlegen, er antwortet ihm sofort.
- Ich merke, worauf Sie hinaus wollen. Aber wir sind keine Geheimniskrämer und verkaufen auch nicht Informationen an den Meistbietenden weiter. Sehen Sie, ich habe gute Leute, auch vor Ort, sogar in Zentralasien, die uns stündlich mit Informationen zusch ... schustern. Nicht, dass das schlimm wäre, aber ich kann doch nicht jede Meldung mit Priorität 1 behandeln und 'Streng geheim' draufkleben. Soweit zur allgemeinen Erklärung, wie es bei uns funktioniert.
Kleingarten meint 'bei uns' sich selber.
- Im speziellen Fall Turkmenistan - was glauben's, was wir glacht hamm, ois unsa Praktikant gmoant hod, der Fund kannt füa Bayern a Bedeitung hamm!
Der kann lachen.
Kleingarten ist sehr von sich überzeugt, von Selbstzweifel keine Spur. So einen Menschen erlebst Du eher selten im täglichen Leben, dagegen weitaus öfter in den oberen Etagen. Dagegen kommt der Wirtschaftsminister nicht an, er kann im Prinzip auch nicht viel gegen Kleingarten ausrichten, dessen Behörde ziemlich autark ist und sich nicht ausschließlich aus öffentlichen Geldern finanziert.
- Und woher wussten Sie's, Herr Stahl, wenn nicht von Herrn Kleingarten?
- Herr Wirtschaftsminister, hier in Brüssel laufen einige Kanäle zusammen.
Coole Antwort.
Maiers Chef gibt sich lässig, er will nicht heraushängen lassen, über welch' riesiges Netzwerk seine Behörde verfügt - das überlässt er lieber Kleingarten.
Wann bremst den endlich einer ein? Doppler! Stahl! Aufwachen!
Doch ist Maiers Wunsch überhaupt realisierbar, bei einem wie Kleingarten, wenn schon der Doktor nur ein Patt erzielen konnte? Stahl liegt tatsächlich ein 'Mir san a ned auf der Brennsupp'n dahergschwomma' auf den Lippen, doch er hat es nicht nötig, zu beweisen, dass seine Behörde der schlauere BIA (gesprochen Bih Ei Äi, bitte nicht Bier) ist, will sich nicht auf ein Kräftemessen mit Kleingarten einlassen. Eingebremst hat er ihn ja vorhin schon einmal und hatte seinen Respekt, kurz bevor das Glas umkippte. Er will nicht den Oberlehrer spielen, ihn erst einmal so sein lassen, wie er ist. Seine Aggressivität kann ja durchaus nützlich sein, wenn er denn nur auf die Richtigen losgeht.
- In diesem speziellen Fall Turkmenistan war es ein Amerikaner, der uns die Botschaft überbrachte.
Doppler nickt.
- Vielen Dank, Herr Stahl. Und auch Ihnen Danke, Herr Kleingarten - für Ihre ehrliche Antwort. Auch wenn ich mit damit nicht einverstanden bin.
Kleingarten schaut hinterfotzig drein, lässt dem Wirtschaftsminister aber das letzte Wort. Dieser trägt seine Niederlage mit Würde und beweist Größe, während Dr. Schönleben wieder zum Thema zurück will.
- Herr Wirtschaftsminister, ich muss Ihnen auch in die Suppe spucken. Wir haben keine Sicherheit dafür, dass ein einzelner Ölriese nicht plötzlich doch das nötige Kleingeld für die 20% aufbringt und wir dann wie die Deppen dastehen. Auch erwischt es uns, wenn sich die Mitglieder untereinander einigen und sich, schneller als erwartet, dieses Fünftel vom Kuchen einverleiben. Deshalb müssen wir vorsorgen. Wir brauchen für beide Fälle eine wasserdichte Strategie!
Die Strategie des einfach Weiterredens hat er sich von Doppler abgeschaut.
- Herr Stahl, Sie haben Recht - die Briten und Norweger, genau wie die Türken, könnten leicht für Centrifugge einspringen wollen. Inwieweit auch Aserbaidschan dazu in der Lage wäre, da muss ich passen. Vielleicht als reiner Geldgeber aus irgendwelchen Reserven, als technische Konkurrenz zu unserer Ahorn AG jedoch - das würde ihre bestehende Kapazität sprengen, da bin ich mir sicher. Wie verstehen sich denn die vier untereinander? Gibt es Intrigen? Können wir daraus einen Vorteil für uns ziehen?
Stahl geht sofort darauf ein.
- Guter Punkt, Herr Doktor, wir sollten auf alles vorbereitet sein. Lassen Sie mich den Anfang machen:
Die Türkei und Aserbaidschan werden geschlossen auftreten, weil sie wirtschaftlich eng zusammenarbeiten. Darüber hinaus sind sie auch eng verzahnt, weil, ähm ......... Herr Maier, können Sie hierzu etwas ergänzen?
- Richtig, die Türkei kann sehr gut mit Aserbaidschan und umgekehrt, weil sie viele Gemeinsamkeiten haben - was nicht immer zu Freundschaft führen muss, aber in diesem Fall schon:
Als Turk-Völker haben sie die gleichen Wurzeln, und bis auf wenige Ausnahmen eine identische Schrift. Grundlage ist für beide das lateinische Alphabet. Auch ist deren Sprache ähnlich, und ihr Glaube: Der Islam. Die Tatsache, dass in Aserbaidschan die Schiiten, in der Türkei die Sunniten die Mehrheit bilden, stellt kein Hindernis dar. Beispielhaft für die gute Zusammenarbeit ist der kleine Zipfel Aserbaidschan zwischen Armenien und der Türkei, der längst eingewoben ist in die türkische Wirtschaft.
Alle sehen auf die Karte und suchen die Autonome Republik Nachitschewan. Selbst Kleingarten macht Anstalten, sich nach vorne zu beugen.
- Und einen gemeinsamen Feind haben sie auch: Armenien. Dieses kleine christliche Land, so groß wie Belgien, macht es sich wahrlich nicht leicht in dieser Region, vor allem wegen der wohl noch lange ungeklärten Lage in Bergkarabach. Dazu will ich kurz noch was sagen, um die Region besser zu verstehen.
Maier wartet kurz, und, weil Kleingarten kaum die Augen verdreht-
- Schon im sich anbahnenden Zusammenbruch der Sowjetunion häuften sich Pogrome mit Dutzenden Toten sowohl in Armenien wie auch in Aserbaidschan, die gegen die jeweils andere Minderheit im eigenen Land gerichtet waren. Es folgten Ausreisewellen der Minderheiten, und die daraus folgende katastrophale Flüchtlingssituation heizte den Konflikt weiter an. Die Armenier haben im Winter '91/92 schließlich angegriffen und das überwiegend armenisch besiedelte Gebiet Bergkarabachs besetzt, sowie den Korridor Latschin zwischen Armenien und Bergkarabach, wodurch sie den Aserbaidschanern insgesamt rund ein Fünftel ihres Staatsgebiets wegnahmen. Die Kämpfe dauerten bis zum Waffenstillstand im Mai '94 und forderten circa 25000 Tote, ethnische Säuberungen und Vertreibungen liefen parallel auf beiden Seiten ab. Seit 1988 verließen 300000 Armenier Aserbaidschan, mehr als die doppelte Anzahl Aserbaidschaner verließ Armenien, eine Katastrophe für beide Länder. Der Waffenstillstand steht immer wieder durch Grenzscharmützel auf der Kippe und Armenien rüstet immer weiter auf, genau wie Aserbaidschan, wie der Wirtschaftsminister vorhin erwähnte.
Maier richtet seine Hand kurz auf Doppler.
- Die Armenier rechtfertigten den Überfall schließlich mit dem Gefühl zunehmender Diskriminierung durch die Aserbaidschaner in Bergkarabach. Dieses Berggebiet wurde damals durch Stalin aus Kalkül den Armeniern weggenommen und den Aserbaidschanern zugeschlagen, obwohl eine armenische Mehrheit dort lebte. Ein Mittel, um Zwiespalt zwischen den beiden Völkern zu schüren und somit über beide Gruppen leichter regieren zu können. 'Teile und herrsche' ging leider auf und funktionierte jahrzehntelang.
Die Besetzung hat das aserbaidschanische Turkvolk natürlich aufs Äußerste gedemütigt, und auch die Grenze zwischen Armenien und der Türkei ist seitdem gesperrt. Die Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei sind wegen des Streits um die türkische Anerkennung des Genozids von 1915-1917 noch immer emotional aufgeladen.
Stahl macht Anstalten, doch Maier kommt ihm zuvor, er ist fertig.
- Danke, Herr Maier, das genügt. Die Aserbaidschaner werden sich also mit der Türkei absprechen, das ist sicher. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen, Herr Doktor: Harte Verhandlungen ja, Intrigen nein. Ich glaube nicht, dass sich die Mitglieder im ÖKK gegeneinander ausspielen werden, man braucht sich gegenseitig und es hat die letzten Jahre gut funktioniert. Die bestehenden Verhältnisse sind akzeptiert.
Großbritannien und Norwegen besitzen mit ihren 35% mehr als ein Drittel der Stimmen, an ihnen vorbei gibt es nur schwer eine Entscheidung. Diese wiederum wollen die andere Größe Aserbaidschan und Türkei mit ihren 29% nicht vor den Kopf stoßen, aus Gründen der stabilen Zusammenarbeit untereinander. Vergessen Sie nicht, dass die Pipeline zum Großteil durch Aserbaidschan und die Türkei verläuft - ein erstrangiges Druckmittel im Fall der Fälle. Wie gesagt, man braucht sich.
Kleingarten wird unruhig, wie einer, der etwas nicht versteht. Er setzt an und wird dabei wieder lauter.
- Sie reden hier immer nur von den großen vier. Dass Georgien nicht von der Partie ist, leuchtet mir ja noch ein, die müssen erst wieder auf die Beine kommen. Aber was ist mit den Franzosen, Italienern und Japanern? Scheiden die etwa von vorn' herein aus?
Diese Gelegenheit lässt der Doktor nicht vorüberstreichen.
- Herr Kleingarten, was glauben Sie, warum die Amerikaner gerade auf uns setzen und eben nicht auf die Franzosen, Italiener und Japaner - und das, obwohl wir in der Region dann neu wären?
Kleingarten weiß darauf keine Antwort, wirft zum Erstaunen der anderen keinen Kommentar ein wie 'Sie werden es mir sicher gleich sagen.' und wartet auf Dr. Schönlebens Antwort.
- Gerade weil wir in der Region dann neu wären! Die Briten und Norweger sind für die Amis schon groß genug, und Aserbaidschan und die Türkei wären für sie kaum beeinflussbar, und noch weniger mit plötzlichen 49% der Stimmen.
Genauso wenig beeinflussbar wären Frankreich, Italien und Japan, ganz alte Hasen im Geschäft und erfahren in dieser Region. Da sind wir Bayern doch ideal, als gutmütiger Lapp für die Amis.
Der Doktor setzt ein Pokerface auf und schliesst seine Erklärung ab mit einer bayrischen Unabhängigkeitserklärung.
- Sobald wir aber drin sind, ha!, müssen wir schnell sein. Und raus aus der amerikanischen Abhängigkeit.
Stahl sieht zufrieden aus, wie die Konferenz läuft, ebenso der Wirtschaftsminister. Maier dagegen muss sich am Pult festhalten, weil er ahnt, dass es die nächsten Wochen in sich haben werden. Er ist in Gedanken versunken.
Also Liebe vergeht, Barrel besteht. Damit werden die Amerikaner bestimmt rechnen, dass wir sie bald nicht mehr brauchen wollen. Eigentlich gar nicht so schlimm, das nimmt ihnen den Druck von den Schultern und vielleicht können sie auch mal von uns profitieren, als starker Partner.
Kleingarten ist nicht überzeugt. Ihm gefällt nicht, dass alles so einfach sein soll.
- Mir gefällt nicht, dass alles so einfach sein soll - die Amis hauen auf den Tisch und die Briten spuren? Und was ist, wenn ein noch Unbekannter auftaucht, oder mir nix dir nix die Russen oder Iraner anklopfen und uns die Anteile vor der Nas'n wegkaufen? Immerhin sind die beiden Mitglied im Erdgas-Konsortium und somit gehört denen ein Teil vom Korridor, durch den auch die Ölleitung vom ÖKK geht. Politisch wäre es für beide doch ein Geniestreich, einen westlichen Investor draußen zu halten und obendrein noch die Amerikaner zu beerben.
- Herr Kleingarten, haben Sie noch nie gepokert und gewonnen? Gerade Sie?
Geschickt, wie der Doktor das anstellt, er spielt mit Kleingartens Ego. So leicht würde das Stahl und Doppler nie fallen wie dem Doktor, der als Sunnyboy in dieser Konstellation Narrenfreiheit genießt. Er will Kleingarten jetzt selbst aktiv ins Boot holen, auf seine Hilfe und Kraft nicht verzichten, und setzt noch einen oben drauf.
- Gerade Sie? Sie san doch der Oberbazi von uns!
Maier richtet sich auf und will die ganze Stimmung aufsaugen, denn er spürt, dass gleich ein großer Schritt auf dem Weg nach Turkmenistan geschafft sein wird, die Insbootholung Kleingartens. Dieser fühlt sich tatsächlich geschmeichelt, denn Oberbazi ist das größte Kompliment, was man einem Bayern machen kann. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zufrieden zu grunzen.
- Wir werden den Schatz heben, Herr Kleingarten, da lassen wir nix mehr anbrennen!
11
Maier will den Moment ausnutzen und springt, ohne was zu sagen, einfach zum nächsten Slide, auf der eine 20-Jahres-Kalkulation aufgestellt ist, für eine Beteiligung am ÖKK (Aserbaidschans Offshore-Ölfelder und Kaukasus-Ölpipeline), mit jeweils zu erwartenden Gewinnen, und wann sich das Geschäft amortisieren würde, Worst-Case, Best-Case usw.
I: 20%ige Beteiligung am ÖKK
Eine 20-Jahres Kalkulation (Überschlagsrechnung ohne Einbeziehung von dt. Steuern)
Als Miteigentümer aserb. Offshore-Ölfelder, Plattformen, BTC-Pipeline und Öl-Terminal Ceyhan.
Annahmen:
Konstante Fördermenge: 1 Mio. Barrel/Tag (Niveau von 2009)
Ölquelle kann noch 20 Jahre auf diesem Niveau ausgebeutet werden.
Geschätzter Gesamtkapitalwert des ÖKK: 40 Mrd. Dollar
Durchschnittlicher Ölpreis von 60 Dollar/Barrel
Beteiligungskosten in Höhe von 8 Mrd. Dollar, gedeckt aus 2 Mrd. Dollar Eigenkapital, 6 Mrd. Dollar Fremdkapital (Kredite und Anleihen).
Alle Kosten (Betriebskosten, Fremdkapitalkosten) werden aus den Öleinnahmen gedeckt.
Rückzahlung des Fremdkapitals durch jährliche Ratenzahlung von 900 Mio. Dollar (durchschnittlicher Schuldzinssatz: 7%) nach 9,3 Jahren.
Verfügbarkeit der Pipeline im Normalbetrieb: 96%, somit 350 Tage/Jahr
Kennzahlen:
1) Umsatz/Tag: 60,0 Mio. Dollar (2009)
minus Betriebskosten/Tag : 24,0 Mio. Dollar
(Förderung, Transport, Versicherung, Wartung, Abschreibung)
minus Abgaben an aserb. Staatshaushalt/Tag: 18,0 Mio. Dollar
2) Gewinn/Tag: 18,0 Mio. Dollar
3) Anteiliger Gewinn/Tag (20%): 3,6 Mio. Dollar
minus Fremdkapitalkosten/Tag (900 Mio. Dollar/360 Tage): 2,5 Mio. Dollar
4) Restgewinn/Tag: 1,1 Mio. Dollar
5) Amortisation der Beteiligungskosten bei Normalbetrieb ohne Einbeziehung des Restgewinns:
Für Fremdkapital: 9,3 Jahre
Für Eigenkapital (im Anschluss an die Rückzahlung des Fremdkapitals):
2 Mrd. Dollar/(350 Tage x 2,5 Mio. Dollar/Tag) = 2,3 Jahre
Gesamt: 11,6 Jahre (Break Even Point)
6) Umsatzrentabilität (Anteiliger Gewinn/Anteiliger Umsatz) ab Schuldenfreiheit: 3,6 Mio. Dollar/12 Mio. Dollar = 30%
Renditeszenarien:
Zu schlagende Rendite: 219% (bei Anlage der 2 Mrd. Dollar Eigenkapital zu durchschnittlich 4% Habenzins über einen Zeitraum von 20 Jahren: 2 Mrd. Dollar x 1,04 hoch 20 = 4,38 Mrd. Dollar)
1) Best-Case (Wahrscheinlichkeit 5%):
Laufzeit: 20 Jahre durchgängig
Gewinn, bis Break Even: 11,6 Jahre x 350 Tage x 1,1 Mio. Dollar/Tag = 4,47 Mrd. Dollar
Gewinn, ab Break Even bis zum Ende der Laufzeit: (20 Jahre - 11,6 Jahre) x 350 Tage x 3,6 Mio. Dollar/Tag = 10,58 Mrd. Dollar
Gewinn, gesamt: 15,05 Mrd. Dollar
Rendite für eingesetztes Eigenkapital (2 Mrd. Dollar): 15,05 Mrd./2 Mrd. = 752,5%
2) Real-Case (Wahrscheinlichkeit 65%):
Laufzeit: 17 Jahre durchgängig, 3 Jahre Totalausfall
Gewinn, bis Break Even: 11,6 Jahre x 350 Tage x 1,1 Mio. Dollar/Tag = 4,47 Mrd. Dollar
Gewinn, ab Break Even bis zum Ende der Laufzeit: (17 Jahre - 11,6 Jahre) x 350 Tage x 3,6 Mio. Dollar/Tag = 6,80 Mrd. Dollar
Gewinn, gesamt: 11,27 Mrd. Dollar
Rendite für eingesetztes Kapital (2 Mrd. Dollar): 11,27 Mrd./2 Mrd. = 563,5%
3) Worst-Case (Wahrscheinlichkeit 5%):
Laufzeit: 1 Jahr (Quelle versiegt, Quelle verstaatlicht, tektonische Verschiebung oder Krieg)
Verlust: 8 Mrd. Dollar - 1 Ratenzahlung (900 Mio. Dollar) + Schuldzins (420 Mio. Dollar) = 7,52 Mrd. Dollar
Stahl hat zum Slide mit der Überschlagsrechnung Kopien mitgebracht und beginnt, diese auszuteilen.
- Meine Herren, Sie erhalten von mir gerade die Überschlagsrechnung meines Wirtschaftsausschusses, wie eine Beteiligung am ÖKK funktionieren könnte. Herr Doktor, bitte fahren Sie fort! Ich wollte Ihren Fluss nicht unterbrechen.
Der Doktor hat seinen Appell an Kleingarten sowieso beendet, führt aber nach einem flüchtigen Blick auf die Leinwand seine Strategie weiter aus.
- Gut. Dann kommen wir mal zur Arbeitsteilung:
Die Amerikaner beweisen uns, dass sie es ernst meinen und überzeugen die Briten und Norweger, dass wir allein Centrifugge übernehmen - dann sind Franzosen, Italiener und Japaner automatisch raus, denn an Großbritannien und Norwegen kommen sie nicht vorbei. Eine Aufteilung der 20% unter den Mitgliedern wäre Blödsinn, weil das ÖKK unverbrauchte und kreditwürdige Mitspieler wie unsere Ahorn AG und den Freistaat dringend braucht.
Und wir - wir reden dafür mit den Türken und Aserbaidschanern!
Der Doktor ist jetzt richtig in Fahrt.
- Und was wir ihnen sagen, da habe ich eine Idee. Aber zuerst zum Business:
Nach dem Kauf der Anteile übernehmen wir, die Ahorn AG, selbstverständlich Betrieb und Wartung des bestehenden Pipelineabschnitts in Georgien, um daran zu verdienen. Ebenso natürlich am Gewinn des ÖKK.
Doppler versteht, wohin die Reise geht. Der Freistaat soll mit gleichen Teilen in die Investition wie die Ahorn AG, aber nicht an Betrieb und Wartung mitverdienen, sondern nur am Gewinn des ÖKK. Er würde es wohl genauso versuchen, wie der Doktor.
- Soweit zum Realgeschäft. Aber jetzt zu meiner Idee - sie ist so einfach.
Er hält kurz inne, um die Spannung zu erhöhen, und schenkt sich Sprudelwasser nach, das natürlich in der auftretenden Stille ordentlich blubbert, und weiterblubbert im Mund des Doktors, bevor es verschluckt wird. Die Runde muss noch warten, bis er diskret, aber nicht zu diskret aufgestoßen hat, und es aus ihm wieder herausblubbert.
- Optionen!
Der Doktor strahlt und zischt, als hätte er eben die Kernspaltung erfunden.
- Wir bieten ihnen an, sogar schriftlich, was wir noch gar nicht haben ...
Pause.
- ... nämlich an unserer Beteiligung in Turkmenistan mitzuverdienen!
Maier blubbert aus Versehen ein Slide nach vorne, auf der wieder eine 20-Jahres-Kalkulation zu sehen ist, diesmal für eine Beteiligung an Turkmenistans Öl und Erdgas, mit jeweils zu erwartenden Gewinnen und wann sich das Geschäft amortisieren würde, Worst-Case, Best-Case usw.
II. 10%ige Beteiligung am neu entstehenden Konsortium in Turkmenistan
Eine 20-Jahres Kalkulation (Überschlagsrechnung ohne Einbeziehung von dt. Steuern)
Als Miteigentümer der entdeckten turkmenischen Öl- und Erdgasquelle, entstehenden Plattformen und Pipelines durch Kaspisches Meer, Kaukasus und Türkei.
Voraussetzung:
Geglückte Beteiligung am ÖKK mit 20%
Annahmen Öl:
Geschätzte Fördermenge: 3 Mio. Barrel/Tag
Ölquelle kann laut OPEC-Beobachtern mind. 40 Jahre lang auf diesem Niveau ausgebeutet werden.
Geschätzter Kapitalwert der entdeckten turkmen. Ölquelle: 230 Mrd. Dollar
Annahmen Erdgas:
Geschätzte Fördermenge: 275 Mio. Kubikmeter/Tag
Erdgasquelle kann laut OPEC-Beobachter mind. 30 Jahre lang auf diesem Niveau ausgebeutet werden.
Geschätzter Kapitalwert der entdeckten turkmen. Erdgasquelle: 80 Mrd. Dollar
Annahmen Erschließung und Transport:
Geschätzte Kosten für die Erschliessung der Quellen: 2 Mrd. Dollar
Pipeline-Neubauten durch den Kaukasus für Öl und Erdgas: 6,5 Mrd. Dollar
Pipeline-Neubauten durchs Kaspische Meer für Öl und Erdgas: 5 Mrd. Dollar
Erweiterung Öl-Terminal Ceyhan: 0,5 Mrd. Dollar
Neubau Erdgas-Terminal Ceyhan: 1 Mrd. Dollar (würde entfallen, wenn Nabucco gebaut und Erdgas zum Endverbraucher führen würde)
Annahmen gesamt:
Geschätzter Gesamtkapitalwert der Öl- und Erdgasquellen: 310 Mrd. Dollar
Geschätzte Gesamtkosten Erschließung und Transport: 15,0 Mrd. Dollar
Durchschnittlicher Ölpreis von 60 Dollar/Barrel
Durchschnittlicher Erdgaspreis von 20 Dollar-Cent/Kubikmeter
Erstes Öl und Erdgas nach 2 Jahren
Beteiligungskosten an den Quellen selbst (turkm. Grund) werden erst fällig, wenn erstes Öl und Erdgas die Raffinerie/den Endverbraucher erreicht haben.
Beteiligungskosten in Höhe von 31,0 Mrd. Dollar komplett gedeckt aus Fremdkapital
Kosten für Erschließung und Transport werden aus dem Restgewinn des ÖKK gedeckt.
Betriebskosten und Fremdkapitalkosten werden aus den Öl- und Erdgaseinnahmen gedeckt.
Rückzahlung des Fremdkapitals durch jährliche Ratenzahlung von 5,0 Mrd. Dollar (durchschnittlicher Schuldzinssatz: 10%) nach 9,3 Jahren.
Verfügbarkeit der neuen Pipelines (Öl und Erdgas) im Normalbetrieb: 94%, somit 343 Tage/Jahr
Kennzahlen:
1a) Umsatz/Tag (Öl): 180 Mio. Dollar
plus
1b) Umsatz/Tag (Erdgas): 55 Mio. Dollar
1) Gesamtumsatz/Tag: 235 Mio. Dollar
minus Betriebskosten Öl/Tag: 56,5 Mio. Dollar
minus Betriebskosten Erdgas/Tag: 15,0 Mio. Dollar
minus Abgaben an turkm. Staatshaushalt/Tag: 23,5 Mio. Dollar
2) Gewinn/Tag: 140,0 Mio. Dollar
3) Anteiliger Gewinn/Tag (10%): 14,0 Mio. Dollar
minus Fremdkapitalkosten/Tag (5,0 Mrd. Dollar/360 Tage): 13,9 Mio. Dollar
4) Restgewinn/Tag: 0,1 Mio. Dollar
5) Amortisation der Beteiligungskosten bei Normalbetrieb ohne Einbeziehung des Restgewinns: 9,3 Jahre (Break Even Point) nach erstem Öl/Erdgas
6) Umsatzrentabilität (Anteiliger Gewinn/Anteiliger Umsatz) ab Schuldenfreiheit: 14,0 Mio. Dollar/23,5 Mio. Dollar = 60%
Renditeszenarien:
1) Best-Case (Wahrscheinlichkeit 5%):
Laufzeit: 20 Jahre durchgängig
Gewinn, bis Break Even: 9,3 Jahre x 343 Tage x 0,1 Mio. Dollar/Tag = 310 Mio. Dollar
Gewinn, ab Break Even bis zum Ende der Laufzeit: (20 Jahre - 9,3 Jahre) x 343 Tage x 14,0 Mio. Dollar/Tag = 51,38 Mrd. Dollar
Gewinn, gesamt: 51,69 Mrd. Dollar
Rendite für eingesetztes Eigenkapital (2 Jahre Restgewinn ÖKK): 51,69 Mrd./770 Mio. = ca. 67000%
2) Real-Case (Wahrscheinlichkeit 65%):
Laufzeit: 15 Jahre durchgängig, 5 Jahre Totalausfall
Gewinn, bis Break Even: 9,3 Jahre x 343 Tage x 0,1 Mio. Dollar/Tag = 310 Mio. Dollar
Gewinn, ab Break Even bis zum Ende der Laufzeit: (15 Jahre - 9,3 Jahre) x 343 Tage x 14,0 Mio. Dollar/Tag = 27,37 Mrd. Dollar
Gewinn, gesamt: 27,68 Mrd. Dollar
Rendite für eingesetztes Eigenkapital (2 Jahre Restgewinn ÖKK): 27,68 Mrd./770 Mio. = ca. 36000%
3) Worst-Case (Wahrscheinlichkeit 5%):
Laufzeit: 1 Jahr (Quelle versiegt, Quelle verstaatlicht, tektonische Verschiebung oder Krieg)
Verlust: 31 Mrd. Dollar - 1 Ratenrückzahlung (5 Mrd. Dollar) + Schuldzins (3,1 Mrd. Dollar) = 29,1 Mrd. Dollar
Natürlich haben alle das neue Slide bemerkt, worüber sich Stahl ärgert, ihm geht es jetzt zu schnell und sieht Maier irritiert an - 'Warum nicht eins nach dem anderen, Maier?'. Doch der bekommt die Gestik seines Chefs nicht mit, ist ganz im Bann des Doktors gefangen, in dessen festem Glauben, den Poker zu gewinnen, um ÖKK und Turkmenistan gleichzeitig.
12
- Optionen? So ein Schmarrn, lacht Kleingarten.
- Nein, kein Schmarrn! Ein Handel mit Optionen, der ganz normal vertraglich geregelt wird - ich erkläre es:
Die Türken und Aserbaidschaner stimmen nicht gegen unseren Beitritt zum ÖKK, und als Gegenleistung sagen wir ihnen vertraglich zu, falls wir einen Anteil an Turkmenistans Bodenschätzen erhalten, an unserem Anteil mitzuverdienen, und das folgendermaßen:
Wir würden zunächst die neuen Pipelinestücke durch unseren Zuständigkeitsbereich, durch Georgien, bauen, Betrieb und Wartung aber, und das ist die Option, wird anschließend von uns an eine türkische Firma abgegeben. Betrieb und Wartung sind ein profitables Geschäft und spielen nach 20 Jahren in etwa das gleiche ein wie der Bau einer Pipeline selbst. Und so eine Pipeline ist immerhin auf 40, 50 Jahre ausgelegt. Beim Bau schon könnten wir als weiteres Entgegenkommen deren Ingenieure einbinden, damit sie gleich eingewiesen sind.
Du musst nicht sehr empathisch sein, um zu erkennen, was wieder in Kleingarten vorgeht.
- Das wäre die Option für die Türkei. Die Aserbaidschaner könnten wir anders ködern - mit einer Option über Transportzüge im Wert eines dreistelligen Millionenbetrags beispielsweise, mit denen wir das Baumaterial für die Pipelines durch den Kaukasus bekommen. Nach Fertigstellung der Pipelines können sie die Züge für ihre eigene Wirtschaft behalten.
Diese beiden Optionen könnten sie anspornen, mit uns gemeinsam TurkmenGaschi zu überzeugen, die Rohstoffe über den Kaukasus nach Europa zu verkaufen.
Kleingarten kann sich nicht mehr zurückhalten. Er muss den Wackeldackel jetzt endlich einbremsen, denkt er. Genauso sieht er den Doktor die ganze Zeit vor sich, auf der Hutablage eines alten Mercedes-Benz verträumt mit dem Kopf hin- und herwackelnd.
- So ein Schmarrn. Warum bauen wir ihnen nicht gleich noch den Hafen von Baku aus, den sie dann auch gleich behalten können!
- Aber Herr Kleingarten!
Stahl interveniert beinahe väterlich.
- Selbstverständlich ist es ein Spiel, ein sehr ernstes aber: Es geht um lukrative Verträge, viel Geld und viel Zukunft, wie immer also. Glauben Sie mir an dieser Stelle, Herr Kleingarten - ich bin seit meinem 50. kein Freund dieser Spiele mehr, da wiederholt sich alles wie in einer Endlosschleife. Es ist doch immer das gleiche, der Gerissenste gewinnt, das heißt, der, der keine Schwächen zeigt.
In seiner kurzen Pause, die er macht, wird ihm gewahr, dass in seinem zynischen Tonfall selber Schwäche gelegen hat. Noch bevor sich Maier und die anderen Sorgen um seine Einsatzstärke machen können, reißt er sich wieder zusammen-
- Nennen Sie mir Alternativen, Herr Kleingarten. Die anderen werden es genauso machen und mit Optionen verhandeln, die sich auf den Ausgang von Planspielen gründen. Übrigens - mein Wirtschaftsausschuss hat in der Tat in Erwägung gezogen, dass der Freistaat als Investor beim dann notwendigen Ausbau des Ölterminals in Baku auftritt - diese Drehscheibe würde sonst aus allen Nähten platzen.
Gegen Ende ist Stahl eindringlich geworden, womit es ihm gelang, Kleingarten auf 120 runterzubremsen. Der Wirtschaftminister schließt sich seinen Worten an.
- Guter Vorschlag, Herr Stahl. Und Ihnen auch danke, Herr Doktor! Somit könnten wir alle glücklich machen und keiner fühlte sich übervorteilt. Was meinen Sie, Herr Kleingarten?
Kleingarten ist ganz und gar nicht überzeugt, strengt sich aber an - aus Rücksicht auf Doppler und Stahl - diesmal ohne Polemik auf die Optionen einzugehen.
- Vielleicht funktioniert der 'Plan' ja, aber nur dann, wenn Türken und Aserbaidschaner eine reelle Chance seh'n, dass wir selber auch an Teil der turkmenischen Rohstoffe bekommen. Und 40 Jahre? 20 Jahre? Des halten wir nicht durch, vor allem ned da drunten, wo 'zuverlässig' ein Schimpfwort ist. Und wer garantiert uns, dass die entdeckten Quellen überhaupt so lange sprud'ln werd'n?
Dr. Schönleben sieht sich wieder gefordert. Er hatte zwischendrin immer wieder zum Turkmenistan-Slide hinübergeschielt.
- Wir brauchen nicht einmal 12 Jahre und die Sache hat sich amortisiert. 40 Jahre sind auch mir zu optimistisch, da haben Sie Recht, auch wenn die OPEC-Brüder meistens richtig liegen. Wir von der Ahorn AG gehen mit größeren Sicherheiten vor, berücksichtigen mehr Messungenauigkeiten. Als sich mein Team die Zahlen angesehen hat, kamen wir auf mindestens 35 Jahre, bei durchschnittlicher Ölförderung von ...
- Stopp! Wussten sie etwa auch davon, vom Fund in Turkmenistan?
- Ja, Herr Doppler, so was bleibt nicht lange geheim. Von Centrifugge wusste ich aber nichts, ebensowenig davon, dass die Amis uns helfen wollen. Wir haben es in Turkmenistan mit einer Ölförderung von unglaublichen drei Millionen Barrel pro Tag zu tun. Das allein ist schon unglaublich! Und auch noch Erdgas. Hauptgewinn! 275 Millionen Kubikmeter pro Tag über mindestens 30 Jahre. Schauen Sie aufs Slide! Das macht pro Tag für Öl bei niedrig angesetztem Preis von 60 Dollar das Barrel 180 Millionen Dollar Umsatz. Täglich!! Es kann durchaus mehr werden. Heute liegt der Preis bei 77 Dollar. Dass das Erdgas bei Ihrer Kalkulation zu hoch angesetzt wurde, Herr Stahl, beunruhigt mich nicht weiter. Die angesetzten 20 Cent, somit 5 Cent höher als der aktuelle Preis, spiegeln wohl die Entwicklung der nächsten Jahrzehnte wider. Ihre Jungs vom Ausschuss werden sich schon was dabei gedacht haben.
Der hört sich gern selber reden.
- Das Erdgas wird uns zusätzlich 55 Millionen Dollar Umsatz generieren, macht also zusammen 235 Millionen Dollar. Täglich! Bei so einem idiotensicheren Geschäft, da müsste schon jemand die Erfindung des Jahrhunderts machen, um fossile Brennstoffe zu ersetzen. Und selbst dann dauerte es noch Jahre, bis die Wirtschaft darauf umgestellt hätte.
Kleingarten sieht immer noch nicht aus, als wäre er zufrieden damit, der Doktor muss nachlegen.
- Ich weiß, Umsatz ist nicht Gewinn.
Der Doktor zeigt wieder aufs Slide.
- Ich will, wie Ihr Ausschuss, Herr Stahl, davon ausgehen, dass ein Konsortium, das die turkmenischen Quellen kaufen und erschließen wird, Betriebskosten von ca. 70 Millionen Dollar am Tag hätte, zuzüglich der Abgabe an die turkmenische Staatskasse in Höhe von 10% des Gesamtumsatzes. Ich hoffe übrigens, Ihre Leute haben Recht, und Turkmenistan wird sich mit 10% begnügen. Die Aserbaidschaner halten, laut Ihrer Überschlagsrechnung I, die Hand weiter auf und nehmen 30%. Nach allen Abzügen, die immens sind, landeten wir immer noch bei einem täglichen Gewinn von 140 Millionen Dollar. Und würden wir Partner dieses Konsortiums mit, sagen wir, 10 Prozent, wie in der Kalkulation, dann wären das 14 Millionen Dollar jeden Tag! Genug, um die Kredite für die Beteiligung zu tilgen.
Kleingarten sieht nicht glücklich aus, ihm flößen die Milliardensummen Respekt ein, es flimmert.
- Die jährlichen Ratenzahlungen von 5 Milliarden Dollar erscheinen auf den ersten Blick hoch, ebenso der durchschnittliche Schuldenzins von 10%, höher als die 7% für eine Beteiligung am ÖKK. Ist aber klar, das Risiko ist einfach größer in Turkmenistan. Deshalb haben wir hier nur den marginalen Restgewinn von 0,1 Millionen Dollar täglich. Unsere Kreditgeber werden erwarten, oder besser: uns in den Arsch treten, die Kredite wegen des höheren Risikos so schnell wie möglich zurückzubezahlen.
Seine Augen leuchten wieder, er hatte in der Zwischenzeit das Jacket abgelegt. Die Wärme des Raumes hat auch das Hemd des Wirtschaftsministers schnell trocknen lassen, seine Hose ist aber immer noch klamm.
- Und 9,3 Jahre, nachdem das erste Öl und Erdgas verkauft wurde, haben wir das auch geschafft: Der Kredit wäre abbezahlt - und danach kommen die fetten Jahre: 14 Millionen täglich auf unsere Konten, das sind bei 343 produktiven Tagen im Jahr 4,8 Milliarden Dollar! Da ist der Preis für Centrifugges Anteile, unserem Sprungbrett, mit 8 Milliarden Dollar nicht überbewertet.
Der Doktor hält den Ausdruck Stahls in der Hand und deutet auf die Kennzahlen. Stahl greift nach der Initiative, um nicht alles von ihm erklären zu lassen. Schließlich sind es seine Zahlen, bzw. die Überschlagsrechnungen seines Hauses.
- Danke, Herr Doktor, ich übernehme ab hier und gehe einen Schritt zurück, zur ersten Kalkulation. Haben Sie die? Haben Sie das ÖKK-Papier?
Stahl wartet kurz ab, bis alle das erste Papier vor sich haben.
- Nach Abzug von Betriebskosten und Abgaben an Aserbaidschan blieben, wie Sie sehen können, 18 Millionen Dollar übrig, und anteilig 20% davon sind 3,6 Millionen Dollar täglich. Nach Zins und Tilgung von 2,5 Millionen Dollar täglich blieben uns 1,1 Millionen Dollar täglicher Restgewinn - diesen hätten wir auf jeden Fall, sofort nach dem Eintritt ins ÖKK. Und mit diesen 1,1 Millionen Dollar könnten wir uns in die turkmenischen Quellen einkaufen, und deren Erschließung finanzieren, sprich den Bau der neuen Förderplattformen, der neuen Pipelines, und, wenn alles nach Plan läuft, könnte aus diesem Topf - zur Beruhigung der Aktienbesitzer der Ahorn AG - sogar ein Teil der Dividende finanziert werden.
Stahl sieht zum Doktor, der ihm dankend zustimmt, dass er sogar an seine Aktionäre gedacht hat. Er nimmt dies gleich zum Anlass, Stahl wieder abzulösen.
- Ja, wenn alles nach Plan läuft. Doch daran glaube ich! Und ich glaube, dass es für die turkmenischen Quellen nur EINE neue Gesellschaft geben wird, also ein unglaublich mächtiges Konsortium für Öl UND Erdgas. Somit ginge es in einem Aufwasch und wir hätten bei BEIDEN Rohstoffen Mitspracherecht! Wir können es schaffen, unsere Partner im ÖKK sind stark! Und selbst wenn wir nicht selber zum Zug kämen und keinen Anteil erhielten, sondern nur unsere Partner, so würden die turkmenischen Rohstoffe doch durch den Kaukasus gehen und wir würden mit fast 100%iger Wahrscheinlichkeit vom neuen Konsortium beauftragt, die neuen Pipelines durch Georgien zu bauen - durch unseren Abschnitt - und verdienten mindestens am Bau mit.
Kleingarten scheint hin- und hergerissen und kann nicht anders, als die beiden Worst-Case Szenarien miteinander zu kombinieren.
- Und was passiert, wenn mia uns mit den 20% ins ÖKK einkaufen, danach unerwartens ins Gschäft mit TurkmenGaschi kommen und nur ein Jahr nach dem Bau der sauteuren neuen Pipelines doch von Aschgabat enteignet werd'n? Und am End' die aserbaidschanische Ölqell'n doch friera versiegt ois die OPEC meint, die ja ois zum wiss'n glabt? Dann hamm mir fabelhafte 7,5 plus 29,1, oiso 36,6 Milliarden Dollar in' Sand einigsetzt! Und sitz'n auf rost'nd'n Rohren in Georgien. Und wie steh'n wir dann do vor de ander'n? Ja, wia steh' i dann do?
13
Der Wirtschaftsminister reagiert als Erstes und glaubt, dass es Kleingarten in der Hauptsache ums Ego geht, um seinen Ruf - da kommen schnell Emotionen hoch. Er antwortet sofort, unbedingt noch vor Dr. Schönleben, bevor es sich wieder hochschaukelt.
- Herr Kleingarten, beim Worst-Case kann ich Sie beruhigen, der wird nicht eintreten. Die Aserbaidschaner arbeiten seit Jahren zuverlässig mit ihren Partnern im ÖKK zusammen. Ich will damit sagen, die vorausgesagten Fördermengen trafen bisher immer zu. Und sie gehen davon aus, dass ihre Ölleitung durch den Kaukasus noch mindestens 20 Jahre auf diesem hohen Niveau befüllt werden kann. Was aber immer sein kann, ist ein Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan. Und dann wäre tatsächlich die Leitung in Gefahr, weil sie sehr nahe am Krisengebiet Bergkarabach vorbeiläuft. Das wäre dann mein Worst-Case: Die Unterbrechung der BTC für Monate, vielleicht für Jahre. Und Worst-Case zwei: Ein neuer Krieg zwischen Russland und Georgien. Aber so schlimm ein Krieg auch wäre, es würde danach wieder weitergehen, die Leitungen wären bald repariert, das müsste man einfach aussitzen. Die Felder selber wären zu keinem Zeitpunkt in Gefahr, sie liegen offshore vor der Küste, da kommen die Armenier nicht ran. Auch ein mögliches Erdbeben in dieser Region würde nur die Leitung beschädigen, das Öl selber liegt nicht in einem tektonischen Graben.
Stahl schaltet sich ebenfalls ein, um Kleingarten zu beruhigen.
- Beide Worst-Cases kombiniert, der Mega-Worst-Case also, besitzen lediglich eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 0,25%, ein Vierhundertstel. Das kann man ausschließen.
Maiers Chef sagt das mit einer Ruhe und Sicherheit, die man nur mit viel Üben oder jahrelangem Krisenmanagement erlangen kann - Kleingarten ist inzwischen auf 110 runter.
- A zwoate und dritte Ölpipeline durch an Kaukasus is' klar - um die 3 Millionen Barrel zum Mittelmeer zum pumpen. Oba - wia kriegma des turkmenische Öl überhaupt nüber übers Kaspische Meer? Mit Tankern? Und wie werd des Erdgas transportiert? Da brauchts doch erst a Leitung, bei der Menge sogar zwoa Leitungen durchs Meer, oda? Und bau'n die a mia?
Der Wirtschaftsminister antwortet darauf und zeigt aufs Slide.
- Stahls Mannschaft hat in der 20-Jahres Kalkulation gleich die langfristige Lösung mit Pipelines am Meeresgrund vorgesehen. Kurzfristig gingen auch Öltanker. Fürs Erdgas jedoch ist eine Pipeline der einzig wirtschaftliche Weg, denn erst ein Erdgasterminal mit Kompressoren bauen und sich enorm teure Flüssigerdgastanker anschaffen, das kommt sehr sehr teuer.
Die für uns längeren Pipelines durchs Kaspische Meer bis hinüber nach Baku sind zwar von Nachteil, aber Chinesen, Russen und Iraner hätten auch nicht von heute auf morgen ihre Leitungen fertig. Die Strecken in Asien, die ziehen sich, und die Infrastruktur der Wüstengebiete ist nicht optimal erschlossen. Auch wenn ein Korridor nach China seit Dezember existiert und in Betrieb ist, das Aufstocken dieser Trasse mit neuen Leitungen würde bestenfalls in 2 Jahren abgeschlossen sein. Und die Russen wären nach Turkmenistan kaum schneller, genau wie die Iraner, die ihren Korridor zum Golf von Oman komplett neu erschliessen müssen.
In diesem Zetraum kriegen wir das auch hin, incl. Unterwasserleitung durchs Kaspische Meer, das durchschnittlich nur weniger als 200 Meter tief ist. Die weiterführende Trasse durch den Kaukasus ist ja bereits erschlossen und infrastrukturell gut erreichbar. Vier neue Rohre daneben einzugraben ist keine große Herausforderung und ginge parallel zum Unterwasserprojekt.
Kleingarten atmet tief ein und aus, und alle sehen ihn an. Er hält sein zusammengerolltes Magazin in der Rechten und schlägt damit in seine linke Hand. Klack. Klack. Klack. Zeitlupenklack.
Dann greift er um und nimmt es in die Linke, wischt mit seiner freigewordenen Rechten die sich abzeichnenden Schweißperlen aus seiner Stirn. Er ist beeindruckt der hohen Kaufsumme wegen, hat Respekt vor den Risiken und spürbare Angst vor dem Mega-Worst-Case.
Gleichzeitig will er kein Spielverderber sein, sondern sich selbst davon überzeugen, dass die Sache gut ist, in die er seine Kraft investieren soll. Maier glaubt inzwischen, es sei nicht nur sein Ego, sein Ruf, um den es hier geht. Er traut ihm auch viel Realismus und Nachhaltigkeit zu, ja, er zeigt mit seinen bohrenden Fragen eine Menge Verantwortung und will mit seiner Persönlichkeit das Projekt guten Gewissens mittragen und notfalls auch verteidigen können.
Kleingarten hat schon irgendwie Recht, so ganz ohne ist das alles nicht.
Warum verteidigt ihn Maier jetzt plötzlich?
Keine Ahnung.
Wie ein Trainer seine Mannschaft vor einem Angstgegner die Angst nehmen will, redet Stahl auf Kleingarten ein. Neue Argumente hat er keine mehr.
- Herr Kleingarten, ich habe großen Respekt vor Ihren Bedenken. Sie beweisen Ihr Interesse an einer zukunftsfähigen Strategie. Überschlafen Sie unsere Besprechung heute und entscheiden Sie morgen, ob Sie in diesem Ausschuss aktiv beteiligt sein wollen, oder nicht.
Mit 'aktiv' meine ich, mit allem, was dazugehört, also regelmäßigen Jour Fixen, von Höhen und Tiefen, und dass Ihr Name mit diesem Projekt verbunden sein wird. Alternativ können Sie uns auch zuarbeiten, Sie wären dann aus dem Schussfeld. Um Letzteres bitte ich Sie in jedem Fall, wir brauchen die Informationen aus Ihren Verband.
Kleingarten nickt erleichtert, bedankt sich für das entgegengebrachte Vertrauen und grunzt schon wieder zuversichtlich. Stahl ist in der Umkleide noch nicht durch und redet weiter, beschwört diesmal die ganze Mannschaft.
- Ich will noch einmal verdeutlichen, dass unser Hauptgewinn Turkmenistan unsere größte Unbekannte ist, und unberechenbar zugleich. Trotzdem - wir müssen es versuchen! 20 Jahre sind schnell rum, wir brauchen eine Perspektive nach Aserbaidschan, damit wir nach dem Versiegen der Ölfelder weiter an lebenswichtige Ressourcen kommen, sogar an Erdgas. Ich bin der festen Überzeugung, dass Aschgabat daran interessiert sein wird, sich unser Angebot anzuhören. Den Transit über Russland, unserem Hauptgegner, hat sich Moskau bisher bei bestehenden Pipelines vergolden lassen. Den Chefs von TurkmenGaschi ist das schon lange ein Dorn im Auge.
Stahl holt tief Luft, die Kabinenluft ist schwer geworden. Er will spürbar die Besprechung zu Ende bringen.
- Hier die nächsten Schritte: Die außerordentliche Sitzung des ÖKK findet aus gegebenem Anlass schon diesen Donnerstag in Baku statt. Klar ist, dass wir versuchen müssen, vorher möglichst mit allen Parteien des Konsortiums in Kontakt zu treten, uns bei ihnen vorzustellen und schon einmal vorzufühlen, was sie über uns denken. Vor allem wird es darauf ankommen, dass die Amerikaner Wort halten und uns wirklich unterstützen werden.
Ein Spaziergang wird es kaum werden, doch wir haben einen ersten wichtigen Trumpf in der Hand: Unsere Regierung, zusammen mit einem oberfränkischem Maschinenbauer, waren die ersten, die nach dem georgisch-russischen Krieg vor rund zwei Jahren ein Joint-Venture mit einem großen georgischen Staatskonzern geschlossen haben - eine sehr gute Referenz also.
Der nickt schon wieder, als wär' er dabei gewesen.
Kleingarten wird Maier langsam unheimlich - der hatte tatsächlich seine Hände im Spiel und weiß noch um die Details.
- Richtig, Herr Stahl. Viele Größ'n Georgiens war'n dabei und des Zusammenspui hod sehr gut hi'ghaut.
- Ja, daran können wir sie erinnern, wenn sie auf die Idee kommen, von ihrem Vetorecht Gebrauch zu machen.
- Ja, das könnten sie sich nur einmal leisten, ergänzt der Doktor. Und weiter-
- Das würden sich die anderen aber nicht bieten lassen, nicht von einem Staat, der nach dem Abenteuer mit Russland praktisch pleite ist. Deren Seriosität als zuverlässiges Transitland wäre erstmal dahin.
Stahl kommentiert diesen Einwurf nicht und setzt sein Schlusswort fort.
- Unser zweiter Trumpf ist die Option Turkmenistan. Beim Bau der vier neuen Pipelines durch Georgien kann die Ahorn AG nicht auf georgische Arbeitskräfte verzichten. Und auch die Türken, die nach Dr. Schönlebens Vorschlag die Leitungen anschließend warten, würden auf die Georgier zurückgreifen. Das bedeutet, es wird nachhaltige Arbeitsplätze für Georgien geben. Unter Umständen werden die Georgier uns gar bei den Türken und Aserbaidschanern unterstützen und ein Wort für uns einlegen - das werden wir gleich morgen herausfinden.
Er blickt hinüber zu einem irritierten Maier.
- Ach, Herr Maier, wir fliegen morgen Vormittag nach Tiflis. Für ein Treffen mit Georgiens Wirtschaftsminister. Danke, Herr Doppler, für Ihre Unterstützung in dieser Runde. Ich werde Sie morgen noch kontaktieren, um Ihren Eindruck vom kaukasischen Amtskollegen einzuholen, Sie kennen ihn ja bereits.
Doppler signalisiert ein 'Selbstverständlich, rufen Sie mich einfach an'.
- Morgen werden wir auch auf unsere amerikanische Kontaktperson treffen.
Maier sieht seinen Chef etwas länger an als üblich. Er weiß, dass er ihm das etwas früher hätte sagen können. Er muss sich jetzt aus dem Stand heraus auf eine extreme Woche einstellen, vielleicht sogar zwei, drei und alles absagen, alles. Und beim Gedanken an die viele Fliegerei...
Die scheiß Fliegerei.
Was er sich aber nicht anmerken lassen will.
Wenigstens der Notfallkoffer.
Ja, der Notfallkoffer für Blitzreisen, mit allem drin, das ist schon so ein Ding. Den wollte er schon immer mal ausprobieren, vor allem die Ersatzunterwäsche. Das kommt ihm ganz entgegen, er braucht eh neue - und er glaubt, sie nach dem Einsatz nicht wieder zurückgeben zu müssen, wie damals beim Bund.
- Nehmen Sie mich auch mit?
Dr. Schönleben ist aufgeladen mit guter Stimmung, man sieht es ihm an. Und mit diesem einen Satz, der so demütig daherkommt und auch so vorgetragen wird, trifft er bei Stahl einen Nerv, der ihn dazu bringt, für einen kurzen Moment seine Gefühle nicht zu verstecken, sondern sie herauszublasen. Maier beobachtet ein seltenes Lächeln.
- Selbstverständlich, Herr Doktor! Sehr gerne sogar.
Kleingarten sieht verblüfft zum Doktor hinüber und muss intervenieren.
- Ich dachte, Sie hamm morgen ihre Vorstandssitzung!
- Die erledige ich gleich in aller Früh. Kommen Sie doch mit, Herr Kleingarten. Aber Stopp! Sie brauchen ja noch Bedenkzeit. Wir schaffen das auch ohne Sie.
Es folgt eine Stille, die Stahl und den Wirtschaftsminister das Schlimmste befürchten lässt. Der Angegriffene greift zu seinem Spiegel.
- Sie Sauhund, Sie! Kleingarten lacht laut.
- Jetzt muaß i mid! Alloa scho, weil sonst neamands auf Sie aufbasst, Herr Dokta. Sie werd'n mi da drunten bracha.
Er dreht sich zu Stahl und macht es offiziell.
- Herr Stahl, ich will Sie hiermit bitten, mich auch mitzunehmen.
- Selbstverständlich, Herr Kleingarten. Willkommen an Bord. Ich freue mich sehr, dass Sie ab jetzt aktiv dabei sind! Wir fliegen morgen über München nach Tiflis, steigen Sie doch gleich in die 10 Uhr Maschine zu, am besten mit ersten Informationen aus Ihrem Verband.
Und der Doktor-
- Und Sie, Herr Wirtschaftsminister? Nutzen Sie doch morgen die Gelegenheit, Ihren georgischen Amtskollegen wiederzusehen.
- Nein, nein, Herr Doktor, ich bleibe hier. Ich verlasse mich da ganz auf Sie alle und halte hier, oder besser, in München, so lange die Stellung. Sie wissen, wenn ich mit meiner kleinen Partei zu lange weg bin ...
Ich bin zufrieden, dass wir uns hier zusammengerauft haben.
Er geht beschwingt zum Telefon.
- Herr Stahl, wie ist die Nummer vom Empfang?
- Erst Null, kurz warten, dann die Eins.
- Hier spricht der bayrische Wirtschaftsminister, bitte eine Flasche Champagner und 5 Gläser ............... ja, in den Konferenzraum oben, danke.
Der Beamer surrt sich wieder als Hintergrundgeräusch in den Vordergrund. Die Projektion zeigt das Abschlussslide mit Löwe und bayrischer Flagge, klein und unschuldig im Vergleich zu den Landmassen am Kartenständer. Unsere bayrischen Helden betrachten sie noch einmal, die unbekannten Weiten, und es liegt Aufbruchstimmung im Saal, aber auch etwas Unsicherheit, ein mulmiges Kribbeln.
Schwer kann sich Maier vorstellen, schon morgen früh im Flieger in den Kaukasus zu sitzen, an den äußersten Rand Europas.
Der Herr vom Empfang tritt herein und will gerade die Flasche aufmachen, da springt der Doktor aus seinem Stuhl.
- Das übernehme ich! Und Stahl-
- Sagen Sie, Herr Maierhofer, Sie sind doch vom Fuhrpark. Waren Sie etwa eben am Empfang? Wo ist denn der Herr Hunzer?
- Da Hunza? Der is' kurz hoam, kimmt oba glei wieda. I bin derweil füa eam eigsprunga.
Maierhofer merkt sofort, dass Stahl nicht sonderlich angetan ist von der Tauschaktion. Er ist froh, dass der Doktor das Einschenken übernommen hat, kann sich somit schnell verabschieden und hat bereits den Griff der Flügeltüre in der Hand, als Stahl Anstalten macht, der Stellvertreterpraxis am Empfang näher auf den Grund zu gehen. Doch die Szene läuft in einer Geschwindigkeit ab, dass Stahl nichts weiter bleibt, als ihm nachzusehen und machtlos das Einrasten des Bolzens zu akzeptieren, was den Doktor und Maier sehr amüsiert.
- Danke, Herr Doktor. Also, meine Herren, auf ein gutes Gelingen. Zum Wohl!
Stahl gibt jedem die Hand und wird wieder ernst-
- Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, dass Sie unser Gespräch geheim halten, bis wir die Karten beim ÖKK auf den Tisch gelegt haben. Wir brauchen das Überraschungsmoment, damit uns keiner geplant querschiessen kann.
Der Doktor und Kleingarten murmeln so vor sich hin, dass es doch selbstverständlich sei mit der Geheimhaltung. Ersterer ist immer noch amüsiert über Maierhofer und wählt die Null, dann die Eins.
- Herr Maierhofer, hier nochmal oben. Sie waren aber schnell. Bitte rufen Sie ein Taxi zum Flughafen, danke.
Er legt auf, strahlt und kann sich nicht zurückhalten.
- Er selbst kann uns ja nicht fahren, wegen Hunzer.
- Vielen Dank, Herr Doktor, dass Sie mich daran erinnern.
- Ach, Herr Stahl, nehmen Sie's leicht, meine Leute sind auch erfinderisch, lacht der Doktor, und Herr Maier, Sie erlauben doch, dass ich die Karten mitnehme - ich brauche Ihr Kunstwerk für die Vorstandssitzung morgen.
Maier nickt stolz.
- Natürlich werde ich meine Vorstandskollegen auf Geheimhaltung bis Donnerstag drängen.
Stahl nimmt es wortlos zur Kenntnis und die Runde löst sich auf. Maier verlässt als Erster das Gebäude, er muss noch ein Wörterbuch mit den wichtigsten russischen Industrievokabeln besorgen. Nach einem halben Gewaltmarsch im Zickzack durch die Innenstadt nähert er sich erfolgreich dem Hotel, sieht Land für heute und geht den ganzen Tag nochmal durch.
Brutal.
Beim Einchecken überfällt ihn eine große Müdigkeit, alles verlangsamt sich jetzt, nachdem er den ganzen Tag auf Hochtouren gelaufen ist. Seine Trägheit entscheidet sich für den Lift in den Ersten, wo er lustlos seine 107 durchzieht und sich, ohne die Schuhe auszuziehen, vorwärts aufs Bett fallen lässt.
14
Der Wecker klingelt, das Blatt zeigt 5 Uhr 55. Maier springt sofort auf, er muss. Sonst fängt er das Überlegen an und wartet wieder bis zuletzt, wodurch er dann Sklave seines eigenen Last Minute Dramas wird.
Mit gedämpftem Klack schießen die beiden Nippel nach oben, worauf er den Deckel des Blitzkoffers der bayrischen Botschaft anhebt. Er hätte nie geglaubt, ihn schon so früh brauchen zu müssen. Bei seiner Einstellung vor vier Wochen fand die biometrische Vermessung statt, von einem Maßschneider, also nix Auge mal Pi oder 'Werd scho pass'n' - deshalb will er auch davon ausgehen, dass Hemd, Hose und Anzug perfekt sitzen. Trotz Vorfreude ist er ein bisschen nervös, es gibt ja nur diesen einen Versuch. Heute früh noch losziehen und kürzen lassen oder austauschen, dafür bleibt keine Zeit mehr, da bliebe nur Tiflis.
Jawoll, sitzt. Sogar tailliert.
Nach einem Dreher im Spiegel streckt er seine Arme aus.
Perfekt!
Auch die Ärmel passen, das weiße Hemd ragt genau in der richtigen Länge aus dem Jacket heraus. Zum Schluss kommt's nochmal drauf an, der oberste Knopf. Doch auch hier hat er sich umsonst Sorgen gemacht, er läuft beim Zumachen nicht rot an und hat spielerisch einen guten Finger Luft. Sonst ist auch alles drin - 4 Krawatten, von denen jeweils zwei zu den beiden Anzügen passen, zum Schwarzen und Dunkelgrünen, also oben passt alles. Maier hält die Krawatten im Spiegel vor sein schwarzes Jacket. Die Hellblaue mit kleinen feinen weißen Punkten spricht ihn an, da klassisch und nicht zu aufdringlich. Beim Knotenbinden drängt sich ihm eine Frage auf-
Was mach' ich, wenn Stahl die Gleiche hat? Der muss doch den gleichen Koffer haben. Das wär' ja superpeinlich, dann lieber noch die gleichen Unterhosen.
Erheitert sucht er nach einer Weiß-Blauen, oder nach einer mit einem Löwen vorne drauf, doch Fehlanzeige, bei allen zehn. Die Zeit drängt, seine Gedanken kreisen nun nicht mehr um sein heutiges Erscheinungsbild, vielmehr sind die schon im Osten.
Vokabeln zum Frühstück, Mist.
Maier versucht, ruhig zu bleiben und nachher wenigstens die allernötigsten Wörter noch zu verinnerlichen, doch er ist genervt, dass er gestern so schnell weg war und jetzt alles nachholen muss, auch noch auf dem Weg zum Flughafen. Sein Programm nicht durchziehen zu können, fordert ihn, kostet ihn Kraft. Er fühlt sich dann schlecht, weil er es nicht geschafft hat - nicht geschafft, was sein Ego ihm vorgegeben hat. Und es kostet ihn Kraft, ein neues Programm aufzustellen, um über die Hintertür sein Tagesziel doch noch zu erreichen.
Sein Ego treibt ihn pausenlos an, will ihn zur Maschine machen, zur vollkommenen - immer effizient und bevorzugt zwei Dinge gleichzeitig erledigen können. Aber was bringt all sein Zeitsparen, sein Glaube an Effizienz, wenn er dabei dauernd unter Strom ist? Und vor allem nicht genießen kann?
Eine Strategie raus aus diesem Dilemma ist, die Sache mir in die Schuhe zu schieben, wo sogar was dran ist. Oder er gibt die Schuld weiter, an die höhere Gewalt zum Beispiel, die nämlich ist gerade noch akzeptabel. Und das macht er diesmal auch, gibt die Schuld der höheren Pendelei, die ihn so müde gemacht hat, und heimatlos. Im Moment hat er wieder kein Zuhause, das ist schon anstrengend. Vor acht Wochen noch, bei seinem Umzug zurück nach München, hatte er beinahe Luftsprünge gemacht, so wild war er wieder auf seine Heimatstadt, keine 10 Pferde hätten ihn mehr nach Brüssel bringen können.
Nach 5 Jahren im Exil hatte er sich wirklich sehr auf München gefreut, wieder daheim, Familie, Freunde, Biergärten, und vor allem auf seinen neuen Arbeitsplatz. Immerhin, für fast eine Woche, war er stolzer Besitzer eines Schreibtisches samt Stuhl in der Staatskanzlei. In der Staatskanzlei! Auch noch auf der richtigen Seite - mit Blick auf den schönen Hofgarten, eingerahmt von wunderschönen Torbögen und als Blickfang die erhabene ockergelbe Theatinerkirche mit ihren dunklen Türmen und der Kuppel. Doch dann kam es ganz dick. Was wie ein Märchen mit Happy End begann, endete mit einem einzigen Anruf - Stahl. Der hatte ihn angefordert und da kannst Du nicht nein sagen, sonst wirst Du nie wieder gefragt. Klar, die Nachricht hat ihn wie ein Donnerschlag getroffen, doch er fühlte sich auch geschmeichelt. Aber schon wieder umziehen? Und schon wieder ins Regen-Brüssel? Da kam er doch gerade her!Am selben Tag noch, keine halbe Stunde später, noch weit vor Dienstschluss so gegen drei, stand bereits der Neue da, stellte sich kurz vor, lächelnd, und fragte ihn, ob er schon einmal seine Sachen dalassen könne. Voller Verbitterung sah er auf das, was der Neue dagelassen hatte, ein fremdes Handtuch auf seinem Platz! Er wollte sich festkleben am Stuhl.
Bis 17 Uhr 35 konnte er die Stellung halten, dann kam er herein und sie wünschten sich gegenseitig viel Glück, was natürlich nur gespielt war, sogar von beiden. Maier weiß bis heute nicht, was der dort genau macht.
Is' mir auch egal, was der dort macht. Soll er sich doch drehen, bis ihm schlecht wird.
Er hatte sich selber oft in diesem Stuhl gedreht, natürlich nur, wenn gerade keiner geschaut hatte. Residenz klassich, Theatinerkirche ockergelb, Hofgarten grün, Himmel hellblau mit kleinen weissen Quellwölkchen. Bocciaspieler rechts außen. Dann das ganze wieder zurück - Bocciaspieler rechts außen, kleine weiße Quellwölkchen, ... schlimm.
Maier schloss die Tür mit Wehmut und ging kopfschüttelnd den Gang hinunter, wie ein Tropf, der macht, was er immer macht, und sich selber leid tut. Auf dem Weg zur U-Bahn machte er wie immer Halt im Tambosi, doch diesmal mussten 2 doppelte Frust-Averna gekippt werden. Er ließ gleich Eis und Zitrone weg, denn genießen wollte er sie nicht, nur weg damit. Auf Bier hatte er auch keine Lust - die Vorstellung, schon wieder Tegernseer im Rucksack nach Brüssel zu schleppen, erinnerten ihn zu sehr an den nahenden Abschied von der Bayernmetropole.
Seit vier Wochen nun pendelt er also, kommt dann in Brüssel in diesem Hotel unter am anderen Ende der Stadt, bis die Verwaltung wieder eine Wohnung für ihn gefunden hat. Die er vorher hatte, war natürlich weg, da ist nichts mehr zu machen gewesen - sie war perfekt gelegen.
In München ist die Lage für ihn nicht heimeliger, sein Noch-Vermieter spricht nur noch das Nötigste mit ihm, es ist der dritte Mieterwechsel in 7 Monaten, wieder 20 Leute einladen, wieder das Geschleime und die Unsicherheit. So kann's gehen! Er dachte sich, einen Beamten, Staatskanzlei, ohne Haustier, da hat er einen Hauptgewinn gemacht. So was.
Der Flieger geht um 7 Uhr 55. Es wird mit der Lufthansa gen Osten gehen. In Gedanken passiert er das georgische Parlamentsgebäude und sieht die europäische Fahne wehen, die neben der Georgiens als Symbol der Westorientierung, seinem nördlichen Nachbarn zum Trotz, dort aufgehängt wurde. Maier ist auf dem Weg zum Schalter und er hat es geschafft, sich selbst nach unten zu ziehen, mit seinen Gedanken über Georgien. Sein Gang wirkt träge, sein Eindruck traurig, sein Gemüt besorgt.
Dass das Ding seit der Unabhängigkeit '91, trotz Bürgerkrieg, Revolution, Wirtschaftsembargo und Krieg mit Russland nicht auseinandergebrochen ist...
... muss an den starken Familienbanden liegen, an der sehr homogenen Bevölkerung und nicht zuletzt daran, dass es immer genügend zu Essen gibt im immer noch landwirtschaftlich geprägten Land. Devisen bringen die Touristen und die anderthalb Millionen Auslandsgeorgier, die Geld heimschicken, meist von Russland aus. Diese Carepakete kann man nicht als Auslandsinvestition betrachten, doch es hilft über die unvorstellbar hohe Arbeitslosigkeit von bis zu 40% hinweg, und es geht irgendwie weiter in dieser Gesellschaft, die zur Anarchie neigen soll, beziehungsweise Regeln nicht als Lebensinhalt sieht. Doch irgendwo in diesem Verbund gibt es einen Common Sense, es nicht zu übertreiben und eine gewisse Obrigkeit zu akzeptieren, denn keine Anarchie ohne Ordnung. Es macht ja schließlich keinen Spaß mehr, wenn alle machen, was sie wollen.
Da ist ja mein Chef.
Stahl steht vor dem Schalter der Business-Class. Maier geht auf ihn zu, stellt sich direkt hinter ihm auf, doch der bemerkt ihn nicht. Maier will warten, bis er sich umdreht, doch er macht nicht die geringsten Anstalten und steht einfach da, den Blick streng nach vorne gerichtet, mit den Armen hinter dem Rücken verschränkt. Seine rechte Hand zeigt seinen Ehering.
Wie lange er schon verheiratet ist? 30, vielleicht 40 Jahre? Weiß ich gar nicht.
- Wie lange sind Sie eigentlich schon verheiratet, Herr Stahl?
Stahl zuckt zusammen und reißt sein Handgepäck nach oben.
- Mein Gott, Walter. Müssen Sie sich so anschleichen, Maier?
Puh! Maier, nicht Herr Maier.
Hat er ihn wieder mal auf dem falschen Fuß erwischt, schnell will er sich entschuldigen.
- Entschuldigen Sie den Hinterhalt, Herr Stahl. Sie müssen gerade gekommen sein, ich hatte vorhin hier auf sie gewartet.
- Ja, mein Taxi hat mich versetzt. Doch wir haben noch Zeit, Herr Maier.
Jetzt ist wieder so eine Situation, die er gar nicht mag. Small Talk mit seinem Chef. Der einzige Ausweg ist oft, einfach über die Arbeit zu reden, darauf hat er aber keine Lust. Nur - auf Schweigen auch nicht.
- Meinen Sie, Dr. Schönleben und der Verbandspräsident steigen zusammen in München zu, in unsere Maschine?
Stahl schüttelt den Kopf.
- Woher soll ich das wissen?
Na super. Warum versuch ich's eigentlich?
Maier muss sich über sich selber ärgern, warum er wieder den Unterhalter spielen musste, und sich verantwortlich fühlen, wenn nichts gesagt wird. Dann aber kommt ihm, selber diese schlechte Stimmung produziert zu haben: Stahl könnte ganz einfach noch griesgrämig über seine Aktion von vorhin sein.
Die nächsten 20 Minuten schweigen beide, und steigen schließlich ein. Maier hat durchgehalten und einen neuen Rekord aufgestellt, doch wohl ist ihm dabei nicht.
Zum Glück nur noch eine Stunde.
Sie werden nebeneinander sitzen, das Ministerium hat auch für ihn Business gebucht. So ist es üblich, wenn zusammen gereist wird, außer es wäre jetzt ein Bus Dolmetscher, dann müssten sie alle nach hinten oder in den Hänger. Beim Anschnallen bricht Stahl das Schweigen, und Maier ist überrascht, dass es nicht ums Berufliche geht.
- Sie haben mich vorhin gefragt, wie lange ich schon verheiratet bin.
Er macht eine Pause und sieht Maier dabei an, bis der nickt und ihm andeutet 'Und? Wie lange?'.
- Heute um 12 werden es 40 Jahre. Verstehen Sie, Herr Maier? 40 Jahre! Auf den Tag, die Stunde! Und ich bin auf dem Weg nach Tiflis und weiß nicht einmal, wann diese Dienstreise enden wird.
Er macht wieder eine Pause und blickt fürchterlich besorgt, wie ein Cafébesitzer, neben dem gerade zwei neue Starbuck's aufmachen. Seine Stirn faltet sich, er zupft an seiner Nase, wirkt unruhig. Sogar unsicher.
Was'n jetzt los? Geht's ihm nicht gut?
- Sie können nicht wissen, dass meine Frau nicht das erste Mal alleine ist. Das geht schon so, seit ich mein Studium beendet habe. Ich war oft, sehr oft unterwegs, zu oft, wenn was Wichtiges war. Taufe und Einschulung meiner Tochter, 10 jähriger Hochzeitstag, Firmung, etliche Weihnachten und Geburtstage. Sogar zur Silberhochzeit. Dass ich es dann zu den Beerdigungen immer geschafft habe, macht die Sache nicht besser, das schmeckt bitter. Und jetzt, ausgerechnet heute, bin ich natürlich wieder nicht da.
Er holt Luft.
Und diesmal wiegt es besonders schwer, sie hatte seit Wochen von nichts anderem mehr geredet, alles vorbereitet, einen Ausflug geplant und schon alles eingekauft für das anschließende Menü heute Abend - sie wollte unbedingt für mich, für uns alle kochen. Sie hat unsere engsten Freunde eingeladen, und, wie ich sie kenne, auch die, die von sehr weit angereist wären, uns zu ehren, und mich zu überraschen.
Dem geht's echt nicht gut.
Jetzt zählt Stahl auf.
- Ich habe ihr so viel zu verdanken - ihre Liebe, ihre Sorge um die Kinder und mich. Die Freude, die sie mir immer bereitet hat. Auch ihr Trost - sie hat immer zu mir gestanden. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste.
Oje.
Er seufzt, blickt lange nach oben und atmet schwer aus, redet schneller.
- Diesmal hätte sie einmal mich gebraucht! Sie ist krank und fühlt sich matt, hat wenig Kraft. Die Ärzte wissen nicht, was es ist. Sie redet schon von Krebs, worauf ich ihr sofort über den Mund gefahren bin. Sie darf so was doch nicht herbeireden, um Gottes Willen. Und sich da reinsteigern!
Er ist jetzt selber sehr erregt und macht Anstalten, als wolle er aufstehen, raus aus dem Sitz, der ihn gleich wegbringen wird, weg von ihr.
- Und ich kann nichts dagegen machen. Und jetzt ist sie auch noch alleine daheim und hat wieder viel Zeit zum Nachdenken. Und muss auch noch allen absagen. Die werden sich bedanken, ihre Flüge zu stornieren.
Und ich wollt' ihn grad darauf ansprechen, warum er mir das mit der Reise nicht früher sagen konnte.
- Herr Maier, gestern Abend war der Tiefpunkt meiner Ehe. Als ich es meiner Frau eröffnet habe, ist sie mir ausgewichen und hat später sogar das Haus verlassen. Sie war drei Stunden weg, und als sie wiederkam, hatte keiner mehr von uns beiden Kraft für irgendein Wort.
Unheil.
- Daheim in München sind alle ihre alten Freunde, die ihr beistehen könnten, doch sie ist in Brüssel, wegen mir.
Lieber würde Maier jetzt über die Arbeit reden. Stahl zeigt enorm Nerven, so menschlich hat er ihn noch nicht erlebt, wahrscheinlich niemand. Um sie herum sieht er nur Männer in Anzügen, und sie sind still geworden, nachdenklich, weil sein Chef so deutlich gesprochen hatte. Die halbe Business Class hat das Elend mitbekommen, und nicht wenige befinden sich in ähnlicher Lage. Die einen prüfen schnell auf dem Blackberry, wann genau nochmal ihr Hochzeitstag stattfindet, die anderen sind versucht, das schlechte Gewissen gleich ganz in einer Schublade zu versenken und machen die Augen zu. Doch gemein ist beiden Lagern, dass keiner redet oder sich ablenken will, noch nicht - die Neugierde ist stärker. Der ein oder andere ist sogar froh, dass Stahl eben dabei ist, einen neuen Rekord aufzustellen, den es erst einmal zu schlagen gilt. So viel verpasst hat keiner, das relativiert das eigene schlechte Gewissen, alles halb so schlimm.
Maier ist verunsichert und weiß nicht genau, was er jetzt sagen soll. Oder soll er einfach abwarten und zuhören, wie alle anderen?
Und ich frag' ihn vorher noch, wie lange er schon verheiratet ist.
Das Anschnallzeichen leuchtet auf, gefolgt vom weichen Bing Bing. Der Kapitän macht seine Durchsage, was allen Zeit gibt, durchzuschnaufen. Doch die Stille stellt sich unmittelbar nach Erreichen der Reiseflughöhe wieder ein: keiner will das Ende verpassen.
- Das tut mir leid für sie beide, Herr Stahl.
Maier redet gedämpft, Publikum bei so einem Thema ist ihm unangenehm.
- Das wusste ich nicht. Wie lange sind sie denn schon von ihrer Heimat getrennt? Ihren Freunden? Ich befürchte, dass auch ihre Kinder im Raum München geblieben sind.
- Und meine Enkelkinder, seufzt er, es tut mir leid, dass ich Sie damit belastet habe. Reden wir lieber vom Geschäft.
- Nein, nein, Herr Stahl. Im Gegenteil. Ich bin sehr dankbar, dass Sie mir das anvertrauen. Wie lange wohnen Sie schon in Brüssel?
- Seit vier Jahren. Seit vier Jahren harren wir beide hier aus, die Staatskanzlei hat mich hierher geschickt, in den Ausschuss der Regionen. Wissen Sie, wie oft ich da spät nach Hause kam, weil keiner der Herren nachgeben wollte, nicht ums Verrecken? Und das ausgerechnet in der ersten Zeit hier, wo sie noch niemanden kannte?
Maier ist erstaunt, dass Stahl ganz normal weiterredet, als wären sie alleine.
Dem ist jetzt alles Wurscht.
- Besser wurde es dann drei Jahre später, als ich Chef der Landesvertretung wurde.
Das Wort Landesvertretung lässt auch die nicht mehr kalt, die sich bereits unter den Schutz der Decke zurückgezogen hatten. Im gesamten Abteil spricht keiner mehr, was nun selbst Stahl auffällt. Der reißt sich zusammen und schimpft leiser weiter.
- Und wie oft ich aus dem Urlaub gerissen wurde. Können Sie sich vorstellen, wie das alles meine Frau abbekommen hat? Meine ständige Anspannung war es, die sie total mitgenommen hat - sie saugt alles auf, wissen Sie, wie ein Löschblatt. Das muss einen ja krank machen.
Jetzt gibt er nochmal Gas.
- Ein Wunder, dass sie es überhaupt so lange mit mir ausgehalten hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das auch für sie getan hätte, die ewige Umzieherei, das Rausreißen aus dem vertrauten Umfeld.
Diese Frage stellen sich einige Herren auch und wollen sie lieber nicht beantworten müssen. Stahl zählt wieder auf.
- Nach München kam Passau, dann Kempten, Regensburg, Würzburg, Nürnberg, Ansbach, wieder München, dann Berlin. Wieder München und jetzt Brüssel. Sie hat immer zu mir gestanden, für meine Karriere hat sie gelebt und ihr Leben lang verzichtet. Und jetzt braucht sie einmal mich, EINMAL, und ich ...
Das war zu viel für die Zuhörer. Die Freude über den neuen Rekord weicht einer Beklommenheit, die Neugierde auf Stahls Elend einer Nachdenklichkeit, die nur kurz anhält - Maier erlöst sie, weil er es selber nicht mehr aushält.
- ... Herr Stahl, das ist doch nicht allein Ihre Schuld.
Stahl schüttelt immer noch den Kopf.
- Ich bin zwar noch nie 40 Jahre verheiratet gewesen, doch ich glaube, Ihre Frau wusste, worauf sie sich eingelassen hat. Und das tut sie immer noch, sie hat eigenverantwortlich entschieden. Und die Zeit, die sie mit Ihnen zusammen war, hat sie ganz bestimmt genossen, selbst hier in Brüssel. Herr Stahl, Ihre Frau hat einfach Heimweh nach ihrer Familie, den Enkeln, dem schönen Wetter, den Bergen, der Sprache. So was finden die Ärzte nicht. Das siehst Du auf keiner Röntgenaufnahme. Wissen Sie, ich neige hier auch oft zu Depressionen - und das nicht zuletzt, weil Sie mich angefordert haben!
Stahls Spannung löst sich etwas, er lacht sogar.
- Sie hätten ja nein sagen können.
- Genau wie Ihre Frau!
Die Maschine landet pünktlich eine Stunde später in München. Es prasselt auf den Rumpf, gegen das Aluminium und die kleinen Gucklöcher zeigen ein graues Bild. Landebahn dunkelgrau, Himmel hellgrau, selbst das Grün dazwischen, normalerweise die Farbe der Pflanzen, ist schwer zu erkennen und geht unter in der eintönigen Melange.
Bei der Landung wird Maier schlagartig klar, dass er gar keine Flugangst hatte. Stahls Sorgen hatten ihn derart eingenommen, dass er an nichts anderes mehr denken konnte.
Mann, ich glaub', ich war für eine Stunde Frau Stahl.