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2. Die Arbeit ruft
ОглавлениеKriminalhauptkommissarin Anna Klettner schaut schon wieder auf die Uhr. Auf keinen Fall darf sie heute Abend zu spät kommen. Dominic Herbst hat sie nach Berlin eingeladen. In einer Viertelstunde würde das Taxi hier sein, das ihr neuer Freund extra für sie bestellt hat. Seine Zeilen im Chat klangen vielversprechend. Einer mit Bildung. Kein Draufgänger. Und vor allem sieht er ungeheuer gut aus. Südländischer Typ, schwarze Haare, dunkelbraune Augen, muskulöser Körper.
Die hübsche rotblonde Enddreißigerin gerät ins Träumen angesichts dieser wunderbaren Aussichten. In Berlin würden sie sich „Das Phantom der Oper“ ansehen. Danach dürfe sie sich auf kulinarische Leckerbissen freuen, hatte er ihr geschrieben. Wie er das wohl gemeint hat?
Ihr Handy klingelt. Der junge Kriminalkommissar Achim Steiner hat schon eine Ahnung davon, was ihn gleich erwarten würde. Auch wenn er erst vor ein paar Wochen sein Studium abgeschlossen hat und seitdem mit der Klettner zusammenarbeitet, hat er sich doch schon ein recht genaues Bild von der Chefin gemacht. Sie kann unheimlich nett sein, aber auch fürchterlich aus der Haut fahren, wenn ihr etwas nicht passt. Was er ihr gleich sagen wird, dürfte ihr ganz und gar nicht in den Kram passen. Doch er kann nichts dafür und spricht sehr leise und ruhig: „Guten Abend Chefin, tut mir leid, aber wir müssen zu einem Tatort nach Rheinsberg fahren. Ohne die Mordkommission kommen sie dort nicht aus. Ein Auto ist in die Luft geflogen. Der Fahrer lebt nicht mehr. Alles sieht nach einem Anschlag aus.“
Anna ringt nach Luft, fasst sich aber sehr schnell wieder. Sie ist viel zu lange im Geschäft, als dass sie die Situation nicht meistern würde. Sie wird gebraucht. Ganz klar, dass das Privatleben in einer so äußergewöhnlichen Lage zurückstehen muss. Ganz egal, wie schön es auch in Berlin geworden wäre.
Längst hat Anna erkannt, dass ihr neuer Assistent nicht ohne Grund sein Studium mit Auszeichnung absolviert hat. Neben seiner sehr guten Kombinationsgabe versteht er sich auch bestens darauf, in das jeweilige Gegenüber hineinzuversetzen. Nur ganz so lustig wie sein Vorgänger Dennis Müller, ein Praktikant, der vor kurzem mit seinem Studium für den gehobenen Polizeidienst in Berlin begonnen hat, ist er nicht. Mit ihm hatte die Ermittlerin viele Fälle erfolgreich gelöst.
Auch Anna spricht leise, jedoch bestimmt: „Achim, da haben Sie mir mal eben ein wundervolles Wochenende kaputt gemacht. Aber gut. Wir fahren mit ihrem Auto von Neuruppin nach Rheinsberg. Die 60 Kilometer hin und zurück wird die alte Mühle doch wohl noch schaffen. Meine Rosinante steht leider mal wieder in der Werkstatt.“
Ihr neuer Freund reagiert überraschend ruhig, als Anna ihm kurz mitteilt, dass aus dem Abend nichts wird. Auch dass das schon von ihm bezahlte Taxi längst auf dem Weg zu ihr ist, scheint ihm nichts auszumachen. Sie hat ihm bisher nicht einmal gesagt, was sie beruflich macht. Er weiß nur, dass sie im Öffentlichen Dienst tätig ist. „Schade, dann werde ich den Abend eben alleine verbringen“, spricht Dominic in den Hörer. Anna hört zwar etwas Enttäuschung heraus, mehr aber nicht. Man würde sich bestimmt ohnehin bald wiedersehen, hatte er eben zum Ende des kurzen Wortwechsels gesagt.
Nach knapp zehn Minuten steht Assistent Achim mit seinem alten Opel Kadett vor dem Aufgang des Mehrfamilienhauses, in dem Anna Klettner wohnt. Auf dem Dach des Wagens blinkt blau die aufgesetzte Rundumleuchte.
Achim hupt. Aus einem Nachbaraufgang schreit ein dicker Glatzkopf mittleren Alters entnervt: „Was soll das? Auch die Kripo hat sich an Regeln zu halten. Wenn hier nochmal mitten in der Nacht jemand auf die Hupe drückt, dann rufe ich eure lieben Kollegen von der Streife an!“
Als sie am Tatort aussteigen, muss Anna schlucken. So etwas hat auch sie in all den Dienstjahren noch nicht gesehen. Der Wagen wurde samt Fahrer förmlich zerfetzt. Einige Passanten haben offenbar leichte Verletzungen. Mit Mull umwickelte Hände, Arme und Unterschenkel deuten darauf hin. Anna fragt den Einsatzleiter der Polizei und erfährt, dass tatsächlich außer dem Fahrer niemand schwer oder gar tödlich verletzt wurde. Das grenzt fast schon an ein Wunder.
Drei oder vier andere Autos wurden leicht beschädigt. Ein Pferd musste allerdings eingeschläfert werden. Das Tier hatte mit einem zweiten Pferd eine der bei Touristen so beliebten Droschken gezogen und sich in unmittelbarer Nähe des explodierten Wagens befunden. Dem Kutscher, den Gästen auf dem Wagen und dem zweiten Tier passierte fast nichts. Außerdem wurden ein paar Schaufensterscheiben von Splittern getroffen.
Viele Zeugen sind noch am Tatort. Sie haben weisungsgemäß gewartet, bis die Kriminalpolizei ihre Aussagen aufnimmt. Immer wieder hören Anna und Achim von einem lauten Knall und von einem sehr hellen Lichtblitz. Die Teile des Autos seien viele Meter weit in der Gegend umhergeschwirrt.
Es wimmelt von Spurensicherern. Bis von Oranienburg und Potsdam wurden Spezialkräfte zusammengezogen. Für den Einsatzleiter steht fest, dass es sich um einen Anschlag handelt. Anna pflichtet ihm bei: „Etwas Anderes kommt auch für mich überhaupt nicht in Frage. Ich bin mir nur nicht im Klaren darüber, ob es sich um normale Schwerstkriminalität oder ein islamistisches Attentat handelt.“ Achim schaut seine Vorgesetzte an: „Nee, normal ist das ganz bestimmt nicht. Doch von Islamisten als Täter halte ich trotz der Droh-Mail vor ein paar Wochen nichts. Warum sollten Glaubenskrieger ausgerechnet einen Krankenpfleger in einer brandenburgischen Kleinstadt um die Ecke bringen?“
Anna zuckt mit den Schultern. Noch hat sie keinen Plan.