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Das Strafbuch füllt sich

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1791 – 1794

Das Gymnasium in Salzwedel war stolz genug, nicht jeden Jungen aufzunehmen, der von seinen Eltern zum Unterricht angemeldet wurde. Die Kandidaten hatten sich zwar keiner hochnotpeinlichen Befragung zu unterziehen, doch die Aufnahmeprüfung war nicht leicht.

Der Rektor hieß Christian Wolterstorff, war ein hochgebildeter Mann, Lehrer und Prediger zugleich, beherrschte das Hebräische und das Griechische und gebrauchte diese Sprachen auch, wenn er am Gymnasium das Neue Testament abhandelte. Seine Laufbahn hatte er 1778 am Collegium Fridericianum in Königsberg begonnen, war 1782 Schulleiter in Memel geworden und 1785 nach Salzwedel gekommen.

Als er Friedrich Ludwig Jahn zur Aufnahmeprüfung eintreten sah, dachte er als Erstes: Bauernlümmel! Wer so stämmig war und so vor Kraft strotzte, der konnte nichts im Kopfe haben. Ein bisschen durchgeistigt sollte ein Junge schon aussehen, wenn er aufs Gymnasium wollte. Wahrscheinlich hätte Wolterstorff den Knaben gleich wieder Hause geschickt, wenn er nicht mit dessen Vater ein wenig befreundet gewesen wäre. »Nun gut, nehmt Platz!«, sagte er schließlich nicht unfreundlich, aber doch ziemlich distanziert. »Beginnen wir mit der Heiligen Schrift. Da werdet Ihr als Pfarrerssohn wohl einigermaßen sicher sein. Wo finden wir in der Heiligen Schrift zum ersten Mal die zehn Gebote?«

»Im 2. Buch Mose, 20. Kapitel. Am Anfang steht: Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollt keine anderen Götter haben neben mir. Das zweite Gebot heißt: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Dann kommt: Du sollst den Feiertag heiligen, Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren …«

»Danke, das genügt.« Der Pfarrer in Lanz hatte gute Vorarbeit geleistet. Wolterstorff hätte also beruhigt sein können, aber sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Friedrich Ludwig Jahn aufsässig war und er sich vor ihm in Acht nehmen musste. Der Rektor war zwar zu gutmütig, um Jahn allzu schwierige Fragen zu stellen, hätte ihn aber gern scheitern gesehen. Von diesem Wunsch getrieben, diktierte er ihm einen kurzen Text, der für einen Dreizehnjährigen eigentlich viel zu schwer war, und auch die Rechenaufgaben, die er ihm stellte, waren eher für Sekundaner als für Quintaner gedacht. Prompt gelang es Jahn nicht, die Aufgaben zu lösen, und auch in der Rechtschreibung machte er zu viele Fehler. »Diese Leistungen reichen nicht, mein Lieber.«

»Ich bin hier, um das alles zu lernen«, sagte Jahn ebenso selbstsicher wie treuherzig.

Wolterstorff hatte nun ein schlechtes Gewissen, auch dem Lanzer Amtsbruder gegenüber, und baute Jahn eine Brücke. »Was meint Ihr, Friedrich Ludwig, wo Eure Stärken liegen?«

Jahn musste nicht lange überlegen. »Ich kenne mich nicht nur in der Bibel sehr gut aus, sondern auch in der Geschichte.«

»Dann sagt mir doch bitte, seit wann wir in Preußen einen König haben!«

»Seit 1701«, antwortete Jahn, ohne zu zögern. »In diesem Jahr hat sich der Markgraf Friedrich III. von Brandenburg in Königsberg selbst zum König in Preußen gekrönt. Im Volke hieß er wegen seiner schiefen Schulter der Schiefe Fritz. Die Hebamme hatte ihn unglücklich auf die Erde fallen lassen.«

»Sehr gut, mein Junge. Und was hat sich bei Fehrbellin Großes zugetragen?«

Wieder musste Jahn nicht lange überlegen. »Im Sommer 1675 hatten die Schweden Teile Brandenburgs besetzt. Ihr Befehlshaber war Feldmarschall Wolmar von Wrangel. Die brandenburgischen Truppen unterstanden dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm und dem Generalfeldmarschall Georg von Derfflinger. Der Prinz von Hessen-Homburg und der Oberleutnant Hennigs haben die Schweden schließlich mit ihrer Reiterei in die Flucht geschlagen.«

Unter diesen Umständen konnte Wolterstorff die Aufnahme auf das Gymnasium nicht verweigern, eine Ablehnung hätte ihm sein Amtsbruder in Lanz nie verziehen. Zumal seine Animosität Friedrich Ludwig Jahn gegenüber lediglich auf einem unguten Gefühl beruhte und sich formal nichts gegen den neuen Zögling einwenden ließ. Also notierte er am 8. Oktober 1791:

D. VIII. M. Octobris Johannes Fridericus Ludovicus Christopherus Jahn, ecclesiae Lanzensis filius, anno aetatis XIII in Cl. II receptus.

Das hieß, dass Jahn in die zweite Klasse, die Quinta, des Gymnasiums Salzwedel aufgenommen worden war.

Salzwedel lag im Nordosten der Altmark, an der Mündung der Salzwedeler Dumme in die Jeetze, einen Nebenfluss der Elbe. Die Stadt war an der Stelle der alten Salzstraße entstanden, an der eine Furt durch die gar nicht einmal so schmale Jeetze führte. Als Gründer galt Albrecht der Bär, der die nahe gelegene Burg Salzwedel hin und wieder bewohnt hatte. Die Stadt gehörte später, vom dreizehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert, zur Hanse und gelangte so zu einiger Blüte.

Durch Salzwedel nun liefen Friedrich Ludwig Jahn und Philipp Pulvermacher und fühlten sich wie ausgewilderte Tiere, die sich neugierig, aber auch ein wenig ängstlich mit ihrem neuen Terrain vertraut machten. Natürlich hätte keiner von beiden zugegeben, dass ihnen ein wenig bange war – Jahn am allerwenigsten. Es war gut, dass die Freunde sich aneinander festhalten konnten. Einen Wermutstropfen gab es allerdings, denn der Rektor Wolterstorff hatte sie in zwei verschiedene Klassen gesteckt: Jahn in die Quinta und Pulvermacher in die nächsthöhere Jahrgangsstufe, die Quarta, wohl, weil er ein paar Monate älter war. Womöglich fürchtete Wolterstorff aber auch, die Freunde könnten im Doppelpack die Gemeinschaft der Alteingesessenen gefährden.

Da Friedrich Ludwig und Philipp Wittenberge und Wismar kannten, imponierte ihnen Salzwedel nicht sonderlich, obwohl die Stadt mit St. Marien, St. Katharinen, St. Lorenz und der Mönchskirche immerhin vier stattliche Gotteshäuser zu bieten hatte. Dazu kamen die wunderschönen Fachwerkhäuser in der Altstadt, das Rathaus, die Stadttore, die mittelalterlichen Befestigungen und die Burg. Vom Burggarten aus sahen die beiden Freunde auf die Stadt hinunter.

»Was hat Salzwedel mit Lanz gemeinsam?«, fragte Pulvermacher.

Jahn überlegte lange. »Auch hier wohnen nur Menschen.«

»Das auch, aber vor allem schreibt man beide mit Z.«

Als sie durch die Straßen gingen, schaute Pulvermacher jeder Frau, die ihnen entgegenkam, aufmerksam ins Gesicht.

»Was soll denn das?«, fragte Jahn.

»Ich suche die berühmte Salzwedeler Dumme.«

»Mensch!«, lachte Jahn. »Das ist der Name eines Flusses, er bedeutet so viel wie Eichenbach. Dumme kommt vom altslawischen Wort dabu, was für Eiche steht.«

»Das kannst du einem Dummen erzählen, aber mir nicht.«

»Mein Vater hat es mir so erklärt.«

Bald hatten sie ihre Unterkunft beim Leinenweber Witte erreicht. Ihr Zimmer war zwar nicht gerade feudal, dafür hatten ihre Eltern aber nur wenig Kostgeld zu zahlen. Die beiden Väter waren, nachdem sie ihre Söhne in Salzwedel abgeliefert hatten, nach Lanz zurückgekehrt.

Am nächsten Morgen ging es zum ersten Mal in die Schule. Das Gymnasium lag vor dem Lüchower Tor und war schnell erreicht. Für Jahn ließ sich alles gut an.

»Herzlich willkommen in unseren Reihen!«, empfing ihn Johann Jacob Schönpflug, der in der ersten Stunde unterrichtete und auch gleich reimte: »Friedrich Ludwig, der Du bist aus Lanz/​Verleihe unserer Quinta von nun an neuen Glanz!«

Alexander Friedrich Jahn war zufrieden, dass es sein Sohn mit dem Salzwedeler Gymnasium so gut getroffen hatte, und nutzte die Zeit, die er sonst immer mit dem Unterricht verbracht hatte, zu Ausflügen nach Perleberg und Wittenberge, vor allem aber nach Lenzen, das für Lanz eine Art Sonne war, um die man kreiste. Es war der Kirchenmusiker Caspar Movius, der den Pfarrer Jahn nach Lenzen zog. Movius war hier am 26. Oktober 1610 zur Welt gekommen und hatte es zu einigem Ruhm gebracht. Die Hymnodia Sacra und die Psalmodia Sacra Nova, seine ersten Sammlungen geistlicher Vokalmusik, waren um 1635 entstanden, später war das Werk Triumphus Musicus Spiritualis hinzugekommen. Über diesen Mann wollte Alexander Friedrich Jahn eine kleine Schrift verfassen. Er verbrachte etliche Stunden im Archiv, um aber bald feststellen zu müssen, dass wohl in Greifswald, Rostock und Stralsund, wo Movius studiert und als Schulmann gewirkt hatte, mehr über ihn zu finden sein würde als in seiner Geburtsstadt.

So saß er am Nachmittag ziemlich ernüchtert in einem Gasthof in der Nähe des neuen Rathauses. Das war erst 1713 errichtet worden, nachdem einer der vielen Stadtbrände das alte zerstört hatte. 1756 war es mit einer Turmuhr versehen worden, die allerdings nur einen Stundenzeiger besaß. Jahn konnte also nur in etwa erahnen, wie spät es war. Es mochte halb fünf nachmittags sein, als ihn eine Frau durch das Fenster zur Straße hin erkannte und eintrat, um mit ihm zu reden.

»Herr Pfarrer, darf ich einen Moment stören? Ihr habt einmal unseren Pastor hier vertreten, daher kenne ich Euch. Ich höre überall viel Gutes über Eure Arbeit.«

»Bitte, nehmt Platz!« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht.

Die Frau stellte sich als Clara Collmitz vor, Witwe des verstorbenen Elbschiffers Martin Collmitz. »Ich habe mehrere Kinder«, begann sie. »Alle sind sie gut geraten, nur Luise ist dabei, ein liederliches Frauenzimmer zu werden. Sie ist mit einem Galan nach Berlin gegangen, und ich fürchte, dass sie da in einem … na, Ihr wisst schon … landen wird.« Das Wort Freudenhaus wagte sie nicht auszusprechen. »Da Ihr öfter in der Residenz zu tun habt, wollte ich Euch bitten, nach Luise zu sehen und sie nötigenfalls auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.«

»Von Herzen gern.«

Anfang März 1792 reiste Alexander Friedrich Jahn das nächste Mal nach Berlin, denn am 8. März war einer seiner Freunde an hitzigem Brustfieber gestorben. Es handelte sich um den Theologen Friedrich Germanus Lüdke, seines Zeichens Diakonus und Archidiakonus an der Nikolaikirche. Alexander Friedrich Jahn war einen Tag vor der Beerdigung angereist und hatte so noch Zeit, sich ein wenig in der Stadt umzusehen.

Als Cicerone wünschte er sich keinen Geringeren als Karl Philipp Moritz, Professor für die Theorie der schönen Künste an der Akademie der Künste und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Seinen Werdegang hatte er einem Freund der Familie Alexander Friedrich Jahns zu verdanken, ebenfalls Pfarrer, der Moritz’ Begabung erkannt und ihm nach einer gescheiterten Lehre als Hutmacher den Besuch eines Gymnasiums in Hannover ermöglicht hatte. Durch diesen Freund kannten sie sich. Seit kurzem war Karl Philipp Moritz dabei, eine richtige Berühmtheit zu werden, denn sein Roman Anton Reiser war in aller Munde.

Als Alexander Friedrich Jahn ihn in seinem Gartenhaus in der Münzstraße abholen wollte, traf er Moritz in einem recht bedauernswerten Zustand an. Die Haushälterin hatte zuerst versucht, den Besucher abzuwimmeln. »Der Herr Professor sieht es äußerst ungern, wenn er durch einen bloßen Komplimentenbesuch bei seiner Arbeit gestört wird.«

»Ich werde die berühmte Ausnahme sein.« Alexander Friedrich Jahn hatte seinen Namen genannt und gebeten, gemeldet zu werden.

Als er endlich eintreten durfte, fand er Moritz auf seinem Sofa ausgestreckt, halbnackt. Der Schriftsteller hustete anhaltend. »Das ist nichts Schlimmes«, erklärte Moritz, nachdem er sich ein wenig aufgerichtet und Jahn begrüßt hatte. »Ich habe nur die Schwindsucht. Das passiert ausgerechnet mir, wo ich doch einige Semester Medicin studiert habe! Ich will sogar bald meine Christiane Friederike heiraten. Schließlich bin ich erst 36 Jahre alt. Eine Menge schreiben will ich auch noch.«

»Ich wünsche Euch Gottes Segen auf all Euren Wegen«, sagte Pfarrer Jahn und setzte sich auf einen wackligen Stuhl, der weit genug vom Hustenden entfernt war. »Der Anton Reiser ist Euch übrigens vorzüglich gelungen.«

Moritz lächelte. »Danke, wenn auch die Kritiker sagen, der Roman stehe in der Tradition von Goethes Werther

»Das ist doch ein Lob!«

»Und zugleich der Vorwurf, dass mir nichts wahrhaft Originelles eingefallen sei.«

»Das stimmt nicht«, erwiderte Alexander Friedrich Jahn. »Ich habe den Eindruck, der Roman ist in weiten Teilen autobiographisch. Der junge Anton ist begabt – wie Ihr. Sein Lehrherr ist ein Hutmacher – wie Euer einstiger Meister. Er leidet an der Enge seiner Umgebung, bricht aus und flüchtet sich in die Welt des Theaters – nicht anders als Ihr.«

Karl Philipp Moritz schmunzelte. »Es scheint, als hättet Ihr mich durchschaut. Ich denke gern an die Zeit zurück, in der ich mich als Schauspieler versucht habe. Schauspieler sein heißt, sich selbst zu erforschen, sich selbst darzustellen, voller Empfindsamkeit zu sein.«

Pfarrer Jahn kam auf den Grund seines Besuchs zu sprechen. »Ich hatte gedacht, wir flanieren zusammen ein wenig durch die Residenzstadt.«

»Das ist leider ausgeschlossen. Der März ist noch kein Monat, in dem ich meine Lunge dem kalten Wind aussetzen möchte.«

Es wurde ein trauriger Abschied, denn Alexander Friedrich Jahn spürte, dass Karl Philipp Moritz wohl bald vom Herrn in die Ewigkeit heimgeholt werden würde.

Da auch andere Bekannte unabkömmlich waren, sah er sich gezwungen, allein durch die Straßen zu gehen und nach neuerrichteten Gebäuden Ausschau zu halten. Als Erstes stach ihm die seit 1786 geschlossene Académie militaire ins Auge, wo junge Edelleute erzogen worden waren. Auch das Haus der Gebrüder Ephraim an der Ecke Poststraße und Mühlendamm fand sein Wohlgefallen. Was ihm als Pfarrer besonders gefiel, war das auf Kosten des Königs neugebaute Predigerwitwenhaus in der Nähe des Neuen Marktes. Als Prunkstück empfand er auch die Königsbrücke, die nach Plänen von Carl Philipp Christian von Gontard umgebaut und 1780 eingeweiht worden war. Die Krönung bildeten natürlich Schloss und Schlossplatz und die Straße Unter den Linden mit dem Zeughaus, dem Palast des Prinzen Heinrich, dem Opernhaus und der Königlichen Bibliothek. Hier, so schien es Alexander Friedrich Jahn, konnte Berlin schon ein wenig mit Wien konkurrieren, wenn auch noch nicht ganz mit Rom, Paris oder London. Dazu waren Berlin und Preußen einfach zu arm.

Den Abend verbrachte er bei einem Bekannten in der Brüderstraße, in dessen privaten Räumen die vor knapp einem Jahr von Carl Friedrich Christian Fasch gegründete »Singe-Academie zu Berlin« probte. Fasch, Sohn eines Barock-Komponisten, war aus Zerbst nach Berlin gekommen und hatte es bei Friedrich dem Großen zum Hofcembalisten und Hofkapellmeister gebracht. Im September 1791 hatte er in der Marienkirche mit seinem Chorwerk zum 51. Psalm – Miserere Mei – viel Furore gemacht. Erstmals hatten Männer und Frauen Seite an Seite in einem Chor gesungen. Der A-capella-Klang fand großes Gefallen bei den Menschen, auch Alexander Friedrich Jahn war davon sehr angetan.

Am nächsten Vormittag ging es zur Trauerfeier hinaus zum Friedhof am Halleschen Thor. Die Trauerrede hielt ein Propst, dessen Namen Jahn nicht behalten hatte. Das Gesagte erschien ihm auch recht dröge. »Friedrich Germanus Lüdke hat vieles veröffentlicht, herausragend aber ist seine Schrift Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit aus dem Jahre 1774, in der er mit philosophischer Bestimmtheit den Unterschied zwischen wahrem und falschem Religionseifer hervorhebt. Seine liberalen Mitmenschen aber lobten ihn vor allem für sein 1772 erschienenes Communionbuch. Mit einer anrührenden, das Herz ergreifenden Sprache breitet er darin seine Wahrheiten über das heilige Abendmahl aus. Wir gehen nicht fehl, wenn wir Friedrich Germanus Lüdke als einen der bedeutendsten evangelischen Theologen der Aufklärung bezeichnen.«

»Was man von mir nicht gerade behaupten kann«, murmelte Alexander Friedrich Jahn – und erschrak, denn Ruhmessucht hatte er bisher noch nicht an sich festgestellt.

Als die Trauergäste die Friedhofskapelle verließen und dem Sarg in langer Reihe zum ausgehobenen Grab hin folgten, trat ihm jemand in die Hacken. »Oh, Pardon!«

Jahn fuhr herum – und hätte fast laut ausgerufen: »Der Gedike, so eine Überraschung!« Er kannte Friedrich Gedike seit Jahren, denn der entstammte einer alten Theologenfamilie aus der Prignitz. Sie hatten sich aber aus den Augen verloren.

»Was macht Ihr hier?«, fragte Alexander Friedrich Jahn flüsternd. »Ihr seid doch zuletzt in Züllichau und Frankfurt an der Oder gewesen.«

»Inzwischen bin ich in Berlin Schuldirektor am Friedrich-Werderschen Gymnasium und Oberkonsistorialrath. Aber lasst uns später weiterreden!«

Nach der Trauerfeier setzten sie sich zusammen, um über die Prignitz und gemeinsame Freunde zu plaudern. Jahn kam auch auf Lenzen zu sprechen, und dabei fiel ihm wieder ein, dass er der Witwe Clara Collmitz versprochen hatte, in Berlin ihre Tochter Luise aufzusuchen. Er schilderte Gedike den Fall.

Der nickte. »Gerade hat man im Rathaus eine Verordnung wider die Verführung junger Mädchens zu Bordels und zur Verhütung der Ausbreitung venerischer Übels erlassen, denn immer häufiger werden einfältige Mädchen mit vielfältigen Versprechen nach Berlin gelockt, um dann hier in Freudenhäuser gebracht zu werden.«

»Wo befinden sich diese Etablissements?« Alexander Friedrich Jahn errötete bei dieser Frage. Er befürchtete, dass Gedike glaubte, er wolle später selbst eines dieser Häuser frequentieren.

»Es gibt eine Gasse zwischen der König- und der Klosterstraße, in der die bedauernswerten Geschöpfe in armseligen Häusern ihrem Gewerbe nachgehen.«

Dem Pfarrer Jahn war das Thema peinlich, und um nicht in Versuchung geführt zu werden, flüchtete er sich in die Bibel. »Wie steht es im 1. Buch Mose geschrieben? Über drei Monate ward Juda angesagt: Deine Schwiegertochter Thamar hat gehurt; dazu siehe, ist sie von der Hurerei schwanger geworden. Juda sprach: Bringt sie hervor, dass sie verbrannt werde

Gedike wollte sich nicht lumpen lassen und zitierte aus dem 3. Buch Mose: »Wenn eines Priesters Tochter anfängt zu huren, die soll man mit Feuer verbrennen; denn sie hat ihren Vater geschändet.«

Alexander Friedrich Jahn fuhr auf. »Nicht, was Ihr denkt! Luise ist nicht meine Tochter, sondern wirklich die der Witwe Collmitz, und ich bin – so wahr mir Gott helfe! – gewisslich nicht der Vater.«

Gedike schmunzelte. »Wer sich schon verteidigt, ohne dass er angeklagt wurde … Aber Spaß beiseite. Machen wir uns gemeinsam auf zur Stätte der Unzucht!«

»… und führe uns nicht in Versuchung«, murmelte Jahn.

Nun, an Versuchung war nicht zu denken, als sie sich in der Gasse Hinter der Königsmauer umsahen. Zu unansehnlich waren die elenden Damen, die dort ihren Körper verkauften. Pfarrer Jahn dachte ein wenig neidvoll an die Kaiser und Könige, die sich hübsche Mätressen leisten konnten. Dirne Minna, die wegen ihres Holzbeins sehr billig zu haben war, hatte sich beim Anblick der beiden gutsituierten Herren einige Einkünfte versprochen und war bitter enttäuscht, als sie lediglich nach einer gewissen Luise Collmitz gefragt wurde. »Klar kenn ick die. Aba det kostet wat, wenn ick Eure Exzellenz wat über se verrate.«

»Nun gut.« Alexander Friedrich Jahn hatte Mitleid und öffnete seinen Geldbeutel.

Minna machte einen Knicks. »Verbindlichsten Dank, Eure Hoheit. Und wat Luisen betrifft, so hat die jetzt ’n Galan, ’n Schauspiela inne Neue Commandantenstraße.«

Die beiden Männer bedankten sich und machten sich auf den Weg in die Friedrichstadt. Alexander Friedrich Jahn kannte dort nur das Königliche Nationaltheater am Neuen Markt, dem späteren Gensdarmen-Markt, das der Baumeister Johann Boumann in den 1770er Jahren auf Befehl Friedrichs des Großen ursprünglich als Französisches Komödienhaus errichtet hatte.

»In den letzten Jahren hat es bei uns in Berlin eine Flut von neugegründeten privaten Theatern gegeben«, erklärte ihm Gedike. Gerade bei den niederen Volksklassen seien sie in Mode gekommen, und man zeige fast ausschließlich niveaulose bis zotige Komödien. »Das bringt die Obrigkeit in Rage, geht doch damit die formende Kraft des Königlichen Nationaltheaters verloren.«

Oft waren es Tabagien- und Tanzbodenbetreiber, die ihre Säle den Privattheatern zur Verfügung stellten, und so war es auch in der Neuen Commandantenstraße. Viele fröhliche Handwerker und Dienstboten hatten sich dort mit ihren Angebeteten versammelt, als Alexander Friedrich Jahn und Friedrich Gedike eintraten und nach Luise Collmitz fragten.

»Die steht inne Küche und brät Buletten«, gab man ihnen Auskunft.

Als Luise Alexander Friedrich Jahn in der Tür stehen sah, erschrak sie zwar ein wenig, fing sich aber schnell wieder. »Ick weiß, Ihr seid der Herr Pfarrer aus Lanz. Bestimmt schickt meine Mutter Euch, damit ich wieder nach Hause komme.« Aber nein, sie kehre nicht zurück, sie wolle etwas vom Leben haben und nicht in Lenzen versauern. Ihr Johannes sei ein wunderbarer Schauspieler, mit dem sie bald durch ganz Deutschland ziehen werde, denn er gehöre auf die großen Bühnen dieser Welt.

Was sollte der Pfarrer darauf erwidern? Natürlich zog es alle jungen Menschen, die lebenshungrig und wagemutig waren, aus den Nestern in die großen Städte. Sie ließen sich wie die Motten vom Licht anziehen. Aber die meisten Motten verbrannten im Licht. Mit Schrecken kam Alexander Friedrich Jahn in den Sinn, dass sein Sohn auch ein Charakter sein könnte, der das Landleben verachtete und lieber als Fallensteller nach Amerika gehen würde, als die Tradition der Jahns fortzusetzen und Pfarrer zu werden. Was Friedrich Ludwig wohl in diesem Moment tat?

Friedrich Ludwig Jahn hatte in ebender Minute, in der sein Vater intensiv an ihn dachte, Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser zu lesen angefangen. Im Karzer des Salzwedeler Gymnasiums.

Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. – Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen und den Blick der Seele in sich selber schärfen. – Freilich ist dies nun keine so leichte Sache, dass gerade jeder Versuch darin glücken muss – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.

Friedrich Ludwig Jahn ließ das Buch sinken. Er war sich nicht ganz im Klaren darüber, was er über diese ersten Sätze denken sollte. Einerseits hielt er sie für schöngeistiges Gewäsch, andererseits aber erschienen ihm Vorstellungen von einem Blick der Seele, den man schärfen konnte, und einem individuellen Dasein, das es wichtiger zu machen galt, durchaus beachtenswert.

Blickte er auf sein Leben in Salzwedel, so war ihm, als hätte man ihn in ein Zuchthaus gesteckt. Gehorsam, Disziplin und Unterordnung standen im Gymnasium weit vor dem Wissenserwerb. In den meisten Unterrichtsstunden fühlte er sich wie auf einem preußischen Exerzierplatz. So etwas kannte er nicht, denn sein Vater wie der Hauslehrer Schmellwitz waren überaus mild gewesen, und beide hatten Rücksicht auf seine Fähigkeiten und Vorlieben genommen. Hier im Gymnasium trugen die Lehrer das vor, was sie selbst für wichtig hielten und womit sie ihrer Meinung nach glänzen konnten. Oder aber sie arbeiteten einfach stur das ab, was ihnen der Rektor vorgegeben hatte. Sich in diese Ordnung einzufügen war für Jahn unmöglich. Immer wieder lehnte er sich auf. Manchmal auch auf eine recht ungewöhnliche Art und Weise. So wie dieses Mal. Er hatte die Szene noch deutlich vor Augen.

Sein Mitschüler Johannes von Jeggesleben hatte sich gemeldet, um ihn zu verpetzen. »Herr Helffensfrieder, Friedrich Ludwig ist eingeschlafen und fängt gerade an zu schnarchen.«

Der Lehrer war zu Jahns Bank geeilt und hatte ihn hochgerissen. »Jahn, seid Ihr wirklich eingeschlafen!?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich mich so gelangweilt habe.«

Das hatte einen neuen Eintrag ins Strafbuch gegeben und ihm eine weitere Stunde Karzer beschert. Natürlich hatte er nicht wirklich geschlafen, sondern nur so getan. Helffensfrieder hatte ihnen die großen Dichtungen dieser Welt nahebringen sollen, stattdessen aber seine eigenen kümmerlichen Poeme vorgetragen und sich dabei fürchterlich gespreizt. Jahn war das mächtig auf die Nerven gegangen, und so hatte er sich schlafend gestellt, um dem Lehrer zu zeigen, was von ihm zu halten war.

Als der Pedell den Karzer wieder aufschloss und Jahn in die Freiheit entließ, war es später Nachmittag geworden. Jahn sehnte sich nach Lanz und dem Pfarrhaus. Jetzt wäre es Zeit gewesen, noch eine Stunde mit dem Vater durch die Gegend zu streifen und Bibelverse zu ergänzen.

»Wer seine Missetat leugnet, dem wird es nicht gelingen …« – »… wer sie aber bekennt und lässt, der wird Barmherzigkeit erlangen.«

Er hatte seine Missetat nicht geleugnet und würde sich nicht ein zweites Mal schlafend stellen, um einen unfähigen Pädagogen zu ärgern, also brauchte er sich keine Sorgen um sein Seelenheil zu machen. Außerdem war er im Recht, denn einen Lehrer wie Helffensfrieder hätte man niemals auf die Quintaner loslassen dürfen.

Manchmal dachte Jahn daran, das Gymnasium zu verlassen und nach Hamburg zu gehen, um Schiffsjunge zu werden. Auch Friedrich der Große hatte flüchten wollen, weil er sein eingeengtes Leben nicht mehr ertragen hatte.

Philipp Pulvermacher versuchte immer wieder, ihm solche Gedanken auszureden. »Friedrich der Große ist damals Kronprinz gewesen, was du nicht bist. Außerdem ist er vor seinem Vater davongelaufen, und du liebst und verehrst den deinen. Mir scheint, du willst nur vor dir selbst davonlaufen – aber wie soll das gehen?«

Jahn sah zwar ein, dass der Freund recht hatte, lehnte sich aber weiterhin auf. Das führte dazu, dass er in der Quinta bald ziemlich isoliert war und täglich heftige Gefechte mit seinen Lehrern und seinen Mitschülern ausfocht. Am häufigsten stritt er sich mit Johannes von Jeggesleben, einem hochnäsigen Adelsspross, der ihn als Bürgerlichen verachtete und für einen Bauerntölpel hielt.

»Ich bin kein Bauernsohn«, wandte Jahn ein. »Mein Vater ist Pfarrer.«

Von Jeggesleben lachte. »Das mag sein, aber er hat trotzdem Kühe im Stall und baut Hopfen an.«

»Das ist unmöglich!«, ließ sich Hans Christian Packebusch vernehmen, Sohn eines reichen Kaufmanns und das Alphatier in der Quinta. »Sonst wäre doch bei Friedrich Ludwig nicht Hopfen und Malz verloren.«

»Was will der eigentlich hier bei uns?«, fragte Peter Paul Stampeel, der aus einer der großen Salzwedeler Familien kam, und reimte in bester Helffensfrieder’scher Manier: »Zurück mit dir ins Kuhkaff Lanz,/​hier hast du nichts zu suchen!/​Sonst kappen wir noch deinen Schwanz,/​und du wirst uns bis in alle Ewigkeit verfluchen.«

Da konnte sich Jahn nicht mehr zurückhalten und versetzte von Jeggesleben, der direkt vor ihm stand und am lautesten gelacht hatte, einen solch heftigen Schlag auf die Nase, dass das Blut nur so spritzte.

»Warum habt Ihr das getan?«, fragte ihn Christian Wolterstorff, der Rektor, als der Vorfall zur Untersuchung kam.

»Ich wollte wissen, ob sein Blut wirklich blau ist«, antwortete Jahn.

Darauf folgten gleich zwei dicke Einträge ins Strafbuch, einer für den Faustschlag und der andere für unbotmäßiges Verhalten. Das hielt Jahn aber nicht davon ab, sich auch noch mit Packebusch und Stampeel anzulegen. Beide konnten es nicht ertragen, dass er ihnen nicht nur an Intelligenz, sondern auch an Gewandtheit und Körperkraft überlegen war und bereits reiten, schwimmen, schießen und klettern konnte.

»Wie ein Affe!«, stellte Packebusch fest.

»So sieht er auch aus«, fügte Stampeel hinzu.

Jahn stürzte sich auf sie. Packebusch besiegte er im Box- und Stampeel im Ringkampf. Der eine lief daraufhin zum Rektor, weil er unter einer leichten Gehirnerschütterung litt, der andere, weil er Würgemale am Hals davongetragen hatte. Abermals fragte Wolterstorff Jahn nach dem Grund für sein aufsässiges Benehmen.

»Ich wollte Gerechtigkeit walten lassen«, antwortete dieser. »Wenn mich keiner der Lehrer in Schutz nimmt, muss ich mich eben selbst wehren. Außerdem wissen jetzt alle, was das Pankration ist.«

»Was bitte?«, fragte Wolterstorff.

»Das ist eine Kombination aus Boxen und Ringen, die bei den Olympischen Spielen im alten Griechenland ausgetragen wurde. Dass Ihr das nicht wisst!«

»Jahn, das gibt zwei neue Einträge ins Strafbuch!«

Den kümmerte das wenig. Er glaubte, dass all seine Handlungen dem Willen Gottes entsprangen, hatte er doch unzählige Male gebetet: »Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.«

Der einzige Schüler aus seiner Klasse, mit dem er sich ein wenig anfreundete, war Georg Friedrich Roth. Der kam aus Hindenburg in der Altmark, einem Dorf, das noch kleiner war als Lanz. Aber das war eigentlich ohne Belang.

Nicht nur mit dem Lehrer Helffensfrieder legte sich Jahn ständig an, sondern auch mit anderen Pädagogen, allen voran Heinrich Dürzer, einem äußerst gemeinen Mann, der ihn immer wieder vorzuführen und zu diminuieren suchte.

Als Dürzer einmal den Klassenraum betrat, schrie er auf, denn ein Schüler, der aus Hameln stammte, hatte in einem Anfall von Heimweh den Rattenfänger gemalt, allerdings nicht mit den davonziehenden Kindern, sondern mit einer Schar von besonders hässlichen Ratten. »Wischt das weg!« Mit abgewandtem Gesicht wartete Dürzer, bis das Bild nicht mehr zu sehen war. Auch im Anschluss hatte er noch Mühe, Haltung zu bewahren. Er betrachtete sich wegen seiner Rattenphobie als Schwächling und suchte das zu überspielen, indem er sich nun vor der Klasse umso härter zeigte. Als Erstes bekam der Zeichner einen Eintrag ins Strafbuch, dann stürzte sich Dürzer auf Jahn, der besonders impertinent gegrinst hatte. »Jahn, übersetzt! His nuntiis litterisque commotus Caesar duas legiones in citeriore Gallia novas conscripsit et inita aestate in ulteriorem Galliam qui deduceret Q. Pedium legatum misit.«

Jahn stand auf und bekundete, bei seinem Vater und dem Hauslehrer Schmellwitz zu wenig Latein gehabt zu haben, um sich an Caesars De Bello Gallico heranwagen zu können.

»Ihr versucht es!«

»Ähm … Sein Nuntius schrieb Caesar einen Brief … einen Brief, dass die Legionen in Gallien zittern würden … «

Dürzer bog sich vor Lachen. »Le monde n’a jamais vu un tel imbécile!«

Das konnte Jahn sehr wohl übersetzen. »Die Welt hat noch nie einen solchen Dummkopf gesehen!« Er murmelte, dass er sich dafür rächen werde.

»Stampeel, macht Ihr weiter!«

»Die Berichte und Briefe veranlassten Caesar, zwei neue Legionen im diesseitigen Gallien auszuheben und zu Beginn des Sommers dem Legaten Q. Pedius den Auftrag zu geben, sie in das Innere Galliens zu führen.«

»Jahn, diese Sätze schreibt Ihr Euch in Euer Kollegheft!«

»Ich führe kein Kollegheft. Mein Gedächtnis ist so vortrefflich, dass ich solcher Tintenkleckserei nicht bedarf.«

»Euren renitenten Geist werden wir Euch schon noch austreiben!«

Jahn lächelte. »Das schafft einer wir Ihr ganz sicher nicht!«

»Ab mit Euch!«

So wanderte Jahn wieder einmal in den Karzer und bekam einen weiteren Eintrag ins Strafbuch des Salzwedeler Gymnasiums.

Nachtragend war er nicht, aber Dürzers Bemerkung von dem Dummkopf, den die Welt noch nicht gesehen habe, wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Lange dachte er darüber nach, wie er dem Lateinlehrer am besten eins auswischen konnte, aber ihm wollte nichts Rechtes einfallen. Schließlich kam ihm der Zufall zu Hilfe. Sein Quartiersgeber, der Leinenweber Witte, kämpfte schon seit einiger Zeit gegen die Wanderratten in seinen Kellerräumen, die sich schneller vermehrten, als er sie erschlagen konnte. Witte hatte schließlich eine Falle konstruiert. Aber nur selten fand sich ein Nager darin, denn die Ratte als solche war unglaublich klug. Hatte der Leinenweber doch eine gefangen, übergoss er sie mit Rübenöl und steckte sie an. Das arme Tier schrie und quiekte dann derart erbärmlich, dass alle anderen Ratten in Panik aus dem Keller flohen und die Botschaft weitergaben, diese Stätte in Zukunft tunlichst zu meiden. Das half so lange, bis die Warnung in einer nachfolgenden Generation verlorenging.

Wieder einmal war es so weit, und Witte konnte seiner Leidenschaft als Kammerjäger nachgehen. Diesmal sogar mit überraschendem Erfolg, denn in seiner Falle steckten gleich zwei Ratten. Es waren ausgewachsene Exemplare von stattlicher Größe. Der Hausherr rief seine Arbeiter herbei, sie zu bewundern und ihn zu beglückwünschen. Auch Jahn eilte in den Keller. Beim Anblick der Tiere dachte er sofort an Dürzer – und schon wusste er, wie er sich an dem Lehrer rächen konnte. »Ihr braucht zum Anstecken nur eine«, sagte er zu Witte. »Könnt Ihr mir die andere geben?«

»Wozu denn?«

»Ich will mit ihr ein kleines Experiment machen.«

Da Witte annahm, dass der Junge sich als Tierarzt ausprobieren wollte, trieb er eine der zwei Ratten in einen Blechkasten und schenkte sie Jahn. Der wartete ab, bis es dunkel geworden war, und schlich sich dann zur Steinthorstraße, wo Heinrich Dürzer, der alleinstehend war, eine kleine Wohnung angemietet hatte. Das Glück war auf Jahns Seite, denn das Schlafzimmerfenster stand zum Lüften weit offen. Es war ein Kinderspiel, den Blechkasten zu öffnen und die Riesenratte zu entlassen. Schnell waren die Fensterflügel zugezogen, und dann lief Jahn, so schnell er konnte.

Etwa fünf Minuten später hallte ein Schreckensschrei durch die stille Steinthorstraße. Heinrich Dürzer lag zwei Tage lang mit einem Schock danieder.

Als sich Alexander Friedrich Jahn auf den Weg zu seinem Sohn machte, war er recht frohgemut. Wolterstorff hatte ihm in einem Brief geschrieben, er möge baldmöglichst in Salzwedel vorbeischauen.

»Sie werden den Jungen in die nächsthöhere Klasse stecken wollen«, hatte Dorothea Sophie beim Abschied zu ihrem Mann gesagt. »In die Quarta, wo Philipp schon ist.«

»Das glaube ich auch. Irgendwann mussten sie in Salzwedel merken, dass unser Sohn allen überlegen ist.«

So fiel er aus allen Wolken, als der Rektor nach ein paar einleitenden Floskeln zum Thema kam. »Der Grund, aus dem ich Euch, lieber Freund, nach Salzwedel gebeten habe, ist die Sorge um Friedrich Ludwig. Bitte, gebt ihn auf eine andere Schule! Er will hier nicht recht gedeihen.«

»Wie?« Vater Jahn glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

Wolterstorff wollte den Pfarrer nicht verletzen und ihm deshalb nicht offen ins Gesicht sagen, dass man den Störenfried endlich loswerden wolle. Nur sehr verklausuliert und diplomatisch legte er dar, was ihn und das Kollegium bewegte. »Unser Schulalltag ist auf Ruhe und Ordnung ausgelegt, niemand darf abweichen vom festgelegten Pfad. Das entspricht jedoch nicht der Natur Eures Jungen. Sein Freiheitsdrang ist nicht zu bändigen, und er hat ein so ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, dass dem niemand Genüge tun kann, so leid es uns tut.«

Alexander Friedrich Jahn konnte nun nicht mehr an sich halten. »Wozu sind Pädagogen denn da? Doch dazu, um Menschen wie meinen Sohn zu formen!«

Nun wurde Wolterstorff doch deutlicher. »Das hat hier keiner geschafft. Euer Sohn reizt alle mit seiner Schroffheit und seinem trotzigen Geist. Er ist grüblerisch und macht die Lehrer mit seiner Rechthaberei rasend. Wenn ihm etwas gegen den Strich geht, fährt er sofort auf. Oft ist er derart überspannt, dass ich ihn in den Kerker verweisen muss.«

»Soll ich Eure Worte als Consilium Abeundi verstehen?«, fragte Alexander Friedrich Jahn.

»Ich bedauere sehr, dies bejahen zu müssen.«

Turnvater Jahn

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