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Eine Szene in der Berliner Hasenheide

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2011

Für alle, die in Neukölln aufgewachsen sind, ist die Hasenheide ein vertrauter Ort, mehr noch, eine Art heiliger Hain. Hier sind uns die Modellflugzeuge abgestürzt, die wir als Albert-Schweitzer-Schüler im Fach Werken basteln mussten. Hier habe ich als Leichtathlet der Neuköllner Sportfreunde beim Konditionstraining jeden Winter viele Kilometer keuchend zurückgelegt. Und auf der Wiese am Columbiadamm bin ich, der ich eigentlich ein Angsthase bin, bei den Neuköllner Maientagen in die gefährlichsten Achterbahnen, Kettenkarussells und sonstigen Fahrgeschäfte gestiegen, um meiner ersten Frau als echter Mann zu imponieren.

Kurzum, mit der Hasenheide sind viele Erinnerungen verknüpft, doch heute meide ich sie weitgehend, denn sie ist der wohl verrufenste Drogenumschlagplatz Berlins. Und wahrscheinlich wäre ich auch an jenem Sonnabend, dem 29. Juni 2011, nicht auf die Idee gekommen, sie zu betreten, wenn ich nicht vorher einige Gläser Rotwein konsumiert hätte. In einem Restaurant an der Hasenheide hatte ein früherer Kollege seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert, und einer der Gäste, ein alter Turner, hatte mich gefragt, ob ich wüsste, was an jenem Tag vor genau zweihundert Jahren geschehen sei.

Ich rechnete. »1811 war das … Nein, dazu fällt mir nichts ein.«

»Da hat Friedrich Ludwig Jahn hier in der Hasenheide den ersten Turnplatz Deutschlands eröffnet.«

»Du hast recht!« Ich hätte es wissen müssen, saß ich doch gerade an den Vorarbeiten zu einem Jahn-Roman.

So war es nur allzu einleuchtend, dass ich mich, als mir die Feier zu langweilig wurde, für eine halbe Stunde davonstahl, um dem Jahn-Denkmal in der Hasenheide einen kleinen Besuch abzustatten. Als ich auf das Monument zuging, wurde mir plötzlich seltsam zumute. Blümerant hieß das früher. So richtig übel war mir nicht, eher hätte ich meinen Zustand als »high« beschrieben. Das lag wohl weniger daran, dass ich über verborgene Drogendepots gelaufen war, als vielmehr an dem Rotwein, den ich getrunken hatte. Ich sank auf einen Findlingsblock, starrte zum ehernen Jahn hinauf und erlebte zwischen Traum und Wirklichkeit eine unvergessliche Szene …

Friedrich Ludwig Jahn herrschte mich an: »Sie Lump, Sie wagen es, mir unter die Augen zu treten?«

Ich duckte mich unwillkürlich. »Was habe ich denn Schlimmes getan?«

»Sie wollen einen Roman über mich schreiben, und das ganz sicher in der Absicht, kübelweise Schmutz über mich zu gießen!«

Langsam gewann ich meine Contenance zurück. »Aber es ist doch eine Ehrung, wenn posthum etwas über einen Menschen geschrieben wird. Denken Sie nur an Theodor Fontane, der gesagt hat: Die besten Gardebataillone der Menschheit sind die Toten, die, biographisch wiederbelebt, unter uns wandeln

»Was die Herren Ernst Haberkern und Oliver Ohmann über mich zu Papier gebracht haben, reicht völlig aus und kann von Ihnen auf keinen Fall übertroffen werden«, teilte mir Jahn mit.

»Ich werde Ihre Geschichte ganz anders gestalten, denn ich bin ein echter Romanschreiber und lege Wert auf Spannung und Unterhaltung, das heißt, ohne ein bisschen Hollywood will und kann ich nicht auskommen. Was in einer wissenschaftlichen Abhandlung vielleicht zwei Zeilen ergäbe, wird bei mir zu einer filmreifen Szene von mehreren Seiten Länge.«

Jetzt wurde es gleißend hell vor meinen Augen, und ich fühlte mich in ein griechisches Theater versetzt. Links und rechts von Jahn zogen zwei Gruppen von Chorleuten auf, in der griechischen Antike Choreuten genannt. Die Hauptdarsteller waren Jahn und ich.

Das Stück begann. Der sogenannte Turnvater ergriff als Erster das Wort, dröhnend und voller Pathos. »Es wird ein anderes Zeitalter für Deutschland kommen, und ein echtes Deutschtum wird wieder aufblühen. Wir werden schöne Träume verwirklicht finden und endlich aus jahrelangem Schlummer erwachen.«

Der Chor der Jahn-Gegner, der gekleidet war, als komme er gerade von einer Demonstration der Linken zum 1. Mai, sang daraufhin ein vom nationalsozialistischen Regime wie auch der SED-Diktatur missbrauchtes Weihnachtslied: »Es ist für uns eine Zeit angekommen/​sie bringt uns eine große Freud.«

Der Anführer des Chores trat vor, entbot den Deutschen Gruß und brüllte dabei: »Heil Hitler!«

Der Chor der Jahn-Freunde, erschienen in klassischer weißer Turnkleidung, konterte mit dem Lied der Deutschen, verfasst von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben im August 1841 auf der Insel Helgoland, die damals zu Großbritannien gehörte.

Deutschland, Deutschland über alles,

über alles in der Welt,

wenn es stets zu Schutz und Trutze

brüderlich zusammen hält.

Der Riegenführer wollte noch etwas richtigstellen. »Deutschlands Einheit war für Jahn der Traum seines erwachenden Lebens, das Morgenrot seiner Jugend, der Sonnenschein seiner Manneskraft und der Abendstern, der ihm zur ewigen Ruhe gewinkt hat.«

»Von wegen Deutschland!«, kam es von den Gegnern Jahns. »Ein preußisch-deutsches Erbkaisertum hat er angestrebt. Wir, die Republikaner, Arbeiter und Thronvernichter, wir rufen dir zu: Hinweg mit dir, Friedrich Ludwig Jahn, du elender Demokratenfresser!«

»Ach was!«, rief der Chor der Jahn-Befürworter. »Die Feinde Jahns waren die eigentlichen Demokratenfresser der Metternichzeit. Sie haben ihn jahrelang in Festungshaft gehalten und in die Verbannung geschickt – als Dank dafür, dass er die deutsche Jugend mit seinen Leibesübungen wehrhaft gemacht hat und Deutschland so die Befreiungskriege gegen Napoleon gewinnen konnte.«

Der Chor der Jahn-Gegner lachte schallend. »Womit er allen Demokraten einen Bärendienst erwiesen hat, denn die Franzosen haben Europa fortschrittliche Ideen gebracht, nach ihnen kam aber eine finstere Zeit.« Er stimmte nun die Marseillaise an.

Allons enfants de la Patrie,

le jour de gloire est arrivé!

Contre nous de la tyrannie,

l’étendard sanglant est levé.

Jahn hielt sich die Ohren zu und war entsetzt. »Mein Gott, das mir! Es ist die reinste Folter für mich, Französisch zu hören.«

Auch die Jahn-Freunde reagierten mit Abscheu und Empörung auf die französische Nationalhymne. »Es ist schäbig von euch, ihn so zu verspotten. Er war gutmütig, zart gegenüber dem anderen Geschlecht, und er besaß einen ausgeprägten Familiensinn. Grenzenlose Hilfsbereitschaft zeichnete ihn aus, und er hat ein Leben lang unbeirrt für das gekämpft, was er als gut, rechtens und anständig ansah.«

»Er war wild, ungezügelt, herrschsüchtig und überheblich. Und immer wollte er der Erste sein«, konterte die Gegenseite.

Jetzt wollte ich auch einmal etwas sagen. Da ich in meiner Familie und in meinem Freundeskreis auch immer um Gehör kämpfen musste, wusste ich, dass man nur eine Chance hatte, wenn man einfach dazwischenging. »Jahns Schwärmerei für das Preußentum ist doch eher tragisch zu nennen, denn er wurde zum Opfer dessen, was er angebetet hat, ein Verfolgter des Preußen-Regimes!«, rief ich. »Und wenn sich jemand der deutschen Sprache widmet, dann ist das doch verdienstvoll. Sprachpurismus ist etwas, über das man diskutieren muss, gestern wie heute. Seht euch die Franzosen an, wie sie gegen alle Anglizismen kämpfen!«

»Unser Turnvater hat die deutsche Sprache über alles geliebt«, ergänzten die Jahn-Anhänger.

Deutscher, sprich deutsch!

Deine Rede sei klar und rein!

Drum fasele nicht und deutele nicht

sondern antworte »ja« oder »nein«!

»Wir wiederholen es gern für alle: Sein Ziel war das Heil unserer teuren Muttersprache«, fügte die Turnerriege an.

Das war das Stichwort für Friedrich Ludwig Jahn. »Deutscher, der du vorbeigehst und deine Muttersprache noch nicht verlernt hast, vernimm meinen Wahlspruch: Schande, Elend, Fluch, Verderben und Tod über dich, so du vom Ausland den Heiland erwartest!«

»Der Jahn ist doch nichts weiter als ein Vorgänger der Nationalsozialisten!«, schrie einer, der sich schwarz vermummt hatte. »Nazis raus! Nazis runter vom Denkmal!«

Jahns Freunde stimmten nun eines der Turnlieder an, die man im Jahre 1811 vielerorts gesungen hatte.

Deutsch zu denken, deutsch zu handeln,

stets den graden Weg zu wandeln,

ist des Deutschen Biederpflicht.

Dieses, Brüder, lasst uns üben,

nur das Deutsche lasst uns lieben,

es ist gut, das Fremde nicht.

Einer von den Jahn-Gegnern tippte sich an die Stirn und rief: »Das ist doch ein Eigentor, merkt das denn keiner von euch? Es gibt keinen gefährlicheren Feind für das wahre Deutschtum als diese Deutschtümelei, die alles lächerlich macht.«

»Apropos lächerlich«, ergänzte sein Nebenmann, »da schlug der Jahn doch allen Ernstes vor, an der deutschen Westgrenze einen mehrere Meilen breiten Sumpfgürtel anzulegen, in dem wilde Tiere die Franzosen daran hindern sollten, nach Deutschland zu kommen und ihren verderblichen Einfluss auszuüben, insbesondere auf die Jugend und die Frauen.«

Die Jahn-Verteidiger lenkten nun ein. »Schön und gut, halten wir es mit Goethe und seinem Götz von Berlichingen: Wo viel Licht ist, ist starker Schatten

»Ach ja, das Theater … «, seufzte die Gegenseite. »Jahn wollte, dass nur noch ein Theaterstück in Deutschland gespielt wird: Die Hermannschlacht

»Und eine monumentale Hauptstadt sollte es geben«, fügte ein anderer hinzu. »Teutonia. Germania hieß sie später bei Hitler.«

»Was kann Jahn dafür, dass er von Hitler vereinnahmt worden ist?«, fragten seine Verehrer.

Ich presste die Fäuste gegen die Schläfen und brachte meinerseits Goethe ins Spiel. »Mir wird von alledem so dumm,/​Als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum.« Dann riss ich mich zusammen und besann mich meiner Bildung. »Kinder, bedenkt bitte die Lage in Deutschland nach den Befreiungskriegen! Dem Deutschen Bund gehörten 41 souveräne Fürstentümer und freie Städte an, als er am 8. Juni 1815 auf dem Wiener Kongress ins Leben gerufen wurde. Die Menschen mussten sich an Grenzen und Zollkontrollen sowie an neue Maße gewöhnen. Es gab nicht einmal eine richtige deutsche Hochsprache. Die oberen Schichten sprachen französisch oder latein. Es ist verständlich, dass unter diesen Umständen viele von einem einigen Vaterland träumten.«

»Halt’s Maul, du Nationalist!«, rief einer aus dem Block der Linken.

Da schrie ich: »Ich bin begeisterter Europäer und wünsche mir die Vereinigten Staaten von Europa lieber heute als morgen, aber man wird doch noch den Versuch machen dürfen, die Menschen von damals zu verstehen!«

Die Jahn-Freunde pflichteten mir bei. »Damals hat ein großer Teil der Jugend die Turnerei begeistert begrüßt. Sie gab Kraft und steigerte das Selbstwertgefühl.«

Jahn gab sich nun würdig und bedeutsam. »Der Mensch muss auf Körper und Geist achten und beiden die bestmögliche Entwicklung zukommen lassen.«

»Frisch, frei, fröhlich und fromm!«, riefen seine Fans und begannen, ein Lied aus der Zeit des Vormärz zu singen:

Turner, auf zum Streite!

Tretet in die Bahn.

Kraft und Mut geleite

uns zum Sieg hinan!

Ja, zu hehrem Ziel

führet unser Spiel.

Auf denn, Turner, ringet,

prüft der Sehnen Kraft.

Doch zuvor umschlinget

euch als Bruderschaft.

Großes Werk gedeiht

nur durch Einigkeit.

Die Jahn-Gegner blieben unbeeindruckt. »Er war außerdem Antisemit!« Sie gerieten zusehends in Rage und verlangten nach einer Stange Dynamit. »Dieses Denkmal hier sollte endlich in die Luft gesprengt werden. Zumindest sollte man es abreißen – wie das von Lenin.«

»Das Denkmal bleibt!« Die Turner stellten sich schützend davor. »Es ist die Pflicht des deutschen Volkes, dem Manne die Ehre zu erweisen, der die Jahre seiner Jugend hingegeben hat, um das Bewusstsein deutscher Einheit und Kraft zu wecken.«

Jahn verlor die Fassung und polterte los: »Zum Teufel mit euch Linken, die ihr Deutschland mit einer Revolution von allen Übeln befreien wollt! Lügner und Betrüger seid ihr, Abenteurer und Gelichter, Advokaten von schlechtem Ruf, Ärzte mit Kirchhofpraxis, verdorbene Schauspieler, liederliche Studenten, verrückte Schulmeister, vom Professor bis zum Arschpauker, und im Handel zugrundegegangene Kaufleute. Ihr Götzen, die der Pöbel anbetet!«

Ich klatschte Beifall. »Bravo, so liebe ich meine Helden!«

Nun nahmen die Jahn-Gegner mich aufs Korn. »Bosetzky, lass dein Jahn-Buch sein/​Sonst schmeißen wir dir alle Scheiben ein!«

Ich hatte gehofft, dass Jahn mich in Schutz nehmen würde, doch auch er begann, mich verbal zu attackieren. »Herr Bosetzky, Sie hatten im Turnunterricht immer eine Fünf. Sie sind doch überhaupt nicht in der Lage, etwas über die Turnerei zu schreiben!«

»Das mag sein, aber im Sommer hatte ich in der Leichtathletik immer eine Eins, und in meiner Jugend war ich einmal schnellster Hundertmeterläufer in Berlin.«

Nun erschien auch noch mein Verleger auf der Bildfläche. »Der Name Bosetzky steht für Berlin-Romane, Jahn ist aber kein Berliner und hat nur wenige Jahre seines Lebens in dieser Stadt verbracht.«

»Aber Brandenburger ist er wenigstens, er stammt aus der Prignitz«, hielt ich ihm entgegen. »Außerdem stelle ich ihm in meinem Roman einen Freund zur Seite, Philipp Pulvermacher, der in Berlin wohnt und stets anwesend ist, wenn in der Stadt Geschichte geschrieben wird. Entscheidend aber ist: Friedrich Ludwig Jahns Leben ist so voller Geschichten, dass ich nicht widerstehen kann, darüber zu schreiben. Oder wie er selbst wahrscheinlich sagen würde: Es ist ein gefundenes Fressen.«

Weiter kam ich nicht, denn Jahn und die Hasenheide wurden plötzlich wie zu Beginn des Stücks von gleißendem Licht erfüllt. Mir wurde schwindlig. Da wusste ich endlich, was mit mir geschehen war: Ich war stark unterzuckert. Instinktiv fuhren meine Hände in die Taschen meiner Lederweste und fischten ein paar zerbröselte Traubenzuckerplättchen heraus. In diesem Moment packten mich zwei Zivilfahnder von hinten und nahmen mich fest – wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Nun, zerbröselten Traubenzucker kann man schon einmal für Rauschgift halten. Besonders in der Hasenheide. Eine Joggerin hatte eine kleine Flasche Apfelsaft bei sich und konnte mich retten. Sonst wäre dieser Roman nicht entstanden.

So breite ich also Jahns Leben vor Ihnen aus.

Turnvater Jahn

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