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Der Hakenmann von
Krampenburg

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Peter Reinhalter hatte über vierzig Jahre lang in verschiedenen Berliner Finanzämtern Einkommensteuerbescheide bearbeitet und Tag für Tag von seinem Ruhestand geträumt. Nun war er Pensionär und konnte sich voll und ganz seiner großen Leidenschaft widmen: dem Wassersport. Was hatte er die Bücher von Herbert Rittlinger verschlungen! Der war mit seinem Faltboot auf der Rhône, der Drau, dem Euphrat und sogar auf dem Amazonas unterwegs gewesen. Reinhalter hingegen musste sich mit der Spree, der Dahme und dem Gosener Graben begnügen. Aber das Glück war auch hier zu Hause – und ertrinken konnte man hier genauso, wenn man nicht Obacht gab. Er war schon immer ein schlechter Schwimmer gewesen, doch als alter Seefahrer eine Schwimmweste umzubinden, empfand er als peinlich. Was hätten seine Enkel da gelästert! Um ihn zu warnen, erzählte seine Frau ihm immer wieder die Geschichte von einem Paddlerfreund, der wie einst Rittlinger alle wichtigen Flüsse der Welt befahren hatte, dazu die deutschen Boddengewässer und die halbe Ostsee – und der dann auf einem Dorfteich in Mecklenburg gekentert und ertrunken war. Nun, ihm würde das bestimmt nicht passieren!

Gemächlich paddelte er am Seddinwall vorbei, sah dann links die Gosener Berge, auf deren Gipfel früher eine Warte gestanden hatte und in deren Tiefen sich Markus Wolf einen Bunker hatte bauen lassen, der auch einer Atombombe widerstanden hätte – so hieß es jedenfalls. Ein Stückchen dahinter lag der endlose Schlauch des Oder-Spree-Kanals. Vor Reinhalter tauchten die beiden Inselchen auf, die Schmöckwitz von Seddinsee abschirmten, und er entschied sich, vom Seddinsee rechts in den Langen See einzubiegen, die Verbreiterung der Dahme. Nach einigen Paddelschlägen kam Krampenburg in Sicht, eine Halbinsel auf der Landzunge zwischen der Großen Krampe und dem Langen See. Gegenüber lag Schmöckwitz, mit dem Krampenburg durch eine Fähre verbunden war.

Müde vom stundenlangen Paddeln, ließ Peter Reinhalter sein altes Pouch-Faltboot mit dem Heck voran in den ansehnlichen Schilfgürtel gleiten. Das war zwar aus Gründen des Umweltschutzes verboten, doch er liebte es, seinen »Binsenbummler« auf diese Art zu parken, denn die Halme hielten das kipplige Gefährt so fest, als steckte es in einer Schraubzwinge. So konnte er sich lang ausstrecken, um zu dösen und zu träumen. Die paar Schrammen an der blauen Gummihaut, die dadurch entstanden, nahm er billigend in Kauf. Er war gerade dabei sich auszustrecken, als ein Schrei ihn hochfahren ließ.

»Hilfe, mich zieht jemand unter Wasser!«

Reinhalter griff sofort nach seinem Paddel, doch es vergingen einige Sekunden, ehe er sein Boot aus der Umklammerung des Schilfs befreit hatte. Sein Blick ging zu den beiden kleinen langgestreckten Inseln hinüber, die Schmöckwitz vorgelagert waren und die Namen Weidenwall und Werderchen trugen. Von Werderchens Spitze musste der Schrei gekommen sein. Seltsamerweise standen nirgendwo am Ufer Menschen, um Ausschau zu halten, weder auf den Grundstücken und vielen Stegen in Schmöckwitz noch am bewaldeten Ufer auf seiner Seite, also zur Gosener Landstraße hin, wo viele Zelte standen. Da sollte niemand etwas gehört haben? Reinhalter griff nach seinem Handy, zögerte aber noch, die Notrufnummer zu wählen. War er eben eingedöst und hatte nur geträumt, es würde jemand um Hilfe rufen? Er sah sich um. Nirgends gab es Kreise auf dem Wasser, und im Umkreis von gut zweihundert Metern war kein Sportboot zu sehen. Er gab sich einen Ruck. Nein, er war kein Spinner und hatte sicherlich keine Halluzinationen, er war ein durch und durch rationaler Mensch – und absolut nüchtern war er auch. Also wählte er die 110.

Gunnar Granow, 49, seines Zeichens Erster Kriminalhauptkommissar bei einer der acht Berliner Mordkommissionen, hatte als einfacher Schutzpolizist angefangen, war seinen Vorgesetzten durch besondere Leistungen, aber auch durch seine Aktivitäten in der Polizeigewerkschaft immer wieder aufgefallen und von ihnen zum Studium an die Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, der heutigen Hochschule für Wirtschaft und Recht, geschickt worden, nachdem er sein Abitur an der Abendschule nachgeholt hatte. Er war stolz auf seine Lebensleistung und wollte gern zum Berliner Bildungsbürgertum gezählt werden. Er las viel, wobei die deutsche Geschichte sein Spezialgebiet war, und ging regelmäßig in die Oper oder ins Schauspiel, weil das ungemein schmückte. Er war verheiratet, hatte drei Kinder mittleren Alters und drückte sich gern vor deren Erziehung und jeder anfallenden Hausarbeit. Da seine Frau als Grundschullehrerin bis auf die Jahre des Mutterschutzes auch immer gut verdient hatte, waren sie vor einigen Jahren in der Lage gewesen, sich ein Reihenhaus in Kladow zu kaufen. Ihre Straße hieß An der Bastion, was Granow in seiner Preußenbegeisterung recht passend fand.

Wenn einmal nicht so viel zu tun war, wie heute etwa, las er am liebsten historische Kriminalromane – bevorzugt aus den Serien »Es geschah in Berlin« und »Es geschah in Preußen« –, wobei er die Taschenbücher jeweils aufgeschlagen in seiner Schreibtischschublade liegen hatte. Kam jemand zur Tür herein, konnte er sie schnell mit dem Bauch zudrücken, ohne dass derjenige etwas mitbekam. Fast alle Kolleginnen und Kollegen mochten keine Kriminalromane. Die waren ihnen zu wirklichkeitsfremd.

Gunnar Granow gegenüber saß die Kriminalassistentin Theresa Marotzke, 29 Jahre alt, blitzgescheit und geborene Neuköllnerin, was nicht zu überhören war. Allerdings beherrschte sie das meisterlich, was Soziologen code switching nannten, das heißt, sie konnte übergangslos vom restringierten in den elaborierten Code wechseln, also am Anfang eines Gesprächs furchtbar berlinern, um wenig später ein geradezu lupenreines Hochdeutsch zu sprechen. Vor einiger Zeit war sie wegen ihrer Lebensgefährtin nach Marzahn gezogen. Beide spielten Fußball beim 1. FC Neukölln. Theresa studierte gerade den Kicker.

Das Telefon klingelte, und sie seufzten laut ob dieser unverschämten Störung des Dienstbetriebes. Am Apparat war der Koordinator der Berliner Mordkommissionen.

»Setzt euch mal in Bewegung! In Schmöckwitz ist der Teufel los.«

»Wie, brennt’s mal wieder im Reifenwerk?«

»Nein, drüben in Krampenburg könnte einer ertrunken worden sein.«

Granow staunte. »Wie sollte das denn gehen?«

»Ein Paddler hat angerufen, und der will einen Schrei gehört haben: Hilfe, mich zieht jemand unter Wasser!«

»Wohl der weiße Hai von Schmöckwitz!«, spottete Granow. »Oder war es doch das Ungeheuer von Loch Ness, das schnell mal zu uns nach Berlin geschwommen ist?«

»Ist ja gut!«, erwiderte der Kollege und erzählte ihm dann alles, was er wusste. »Gefunden hat man noch niemanden, aber die Feuerwehr ist da, und Taucher suchen alles ab. Fahrt so schnell wie möglich hin! An der Schmöckwitzer Brücke wartet ein Boot der Wasserschutzpolizei auf euch und bringt euch rüber.«

Da es an einem Werktag zur Hauptverkehrszeit nicht ratsam war, von der Keithstraße mit dem Auto nach Schmöckwitz zu fahren, weil man auf den rund dreißig Kilometern nur von einem Stau in den anderen kam und spätestens auf dem Adlergestell in Gefahr geriet, Amok zu laufen, parkten Granow und seine Kollegin Marotzke ihren Wagen am Bahnhof Tiergarten und stiegen dort in die S-Bahn. Da es im Juli keine vereisten Weichen gab und zufällig auch nirgendwo der Strom ausgefallen war, erreichten sie nach 42 Minuten planmäßig den Bahnhof Grünau, wo sie in die Straßenbahn nach Schmöckwitz umstiegen. Die 68 galt als attraktivste Linie Berlins, und die Kommissare genossen den Ausblick auf den Langen See und die Müggelberge.

»Sightseeing im Dienst«, sagte Granow. »Wenn man uns dieses Vergnügen nur nicht vom Gehalt abzieht!«

In Schmöckwitz mussten sie von der Endhaltestelle der 68 bis zur Brücke nur ein paar hundert Meter laufen.

Schwärmend zitierte Granow ein paar Zeilen von Theodor Fontane:

Am Waldessaume träumt die Föhre, Am Himmel weiße Wölkchen nur; Es ist so still, dass ich sie höre, Die tiefe Stille der Natur.

»Abgesehen von den Lastwagen hier auf der Straße und den lärmenden Flugzeugen, die von Schönefeld kommen …«, fügte Theresa Marotzke hinzu.

Links unten vor der Schmöckwitzer Brücke, wo sich einst das legendäre Ausflugslokal »Zur Palme« befunden hatte, wartete das Polizeiboot und brachte sie nach 44 hinüber. Das war die Landzunge zwischen dem Langen und dem Seddinsee, die bei den Einheimischen so genannt wurde, weil hier die Tafel stand, die anzeigte, dass die Wasser der Dahme von ihrem Anfang bis zu dieser Stelle bereits 44 Kilometer zurückgelegt hatten.

Der Einsatzleiter der Feuerwehr begrüßte sie, konnte aber nur vermelden, dass man trotz aller Bemühungen noch niemanden gefunden habe.

»Und wo ist der Mann, der den Schrei gehört haben will?«, wollte Granow wissen. »Es ist der ältere Herr dort mit dem Faltboot. Reinhalter heißt er.«

Sie ließen sich von Peter Reinhalter erzählen, was er gehört hatte. Sein Bericht klang etwas merkwürdig, und sie gaben sich auch keine Mühe, ihre Skepsis zu verbergen.

Reinhalter zeigte sich leicht gekränkt. »Ich bin Beamter, das sollte Ihnen alles sagen. Und ich lese weder Kriminalromane, noch schreibe ich selber welche«, gab er zu Protokoll.

Granow lächelte. »Aber es gilt nun mal die alte Weisheit: Ohne Leiche kein Mord.«

Vom Spielplatz der Zeltstadt drang Kindergeschrei zu ihnen herüber. Theresa Marotzke fixierte Reinhalter. »Und Sie meinen nicht, dass die lieben Kleinen da Weißer Hai gespielt haben könnten?«

Der Finanzbeamte schüttelte den Kopf. »Nein, es war eine Männerstimme.«

»Es könnte ein Vater gewesen sein«, gab Granow zu bedenken. »Einer, der hier draußen mit seiner Familie Urlaub macht.«

»Ich habe aber keine Familie baden sehen, als ich aus dem Schilf raus bin.« Reinhalter blieb bei seiner Version.

Granows Handy dudelte. Es war abermals der Leiter der Berliner Mordkommissionen. »Eben hat mich die Vorsitzende des Ortsvereins Schmöckwitz angerufen – und weißt du, was die mir erzählt hat?«

»Nein, wie denn? Ich bin nicht vom Verfassungsschutz, ich höre nicht mit, wenn du telefonierst«, feixte Granow.

»Sie sagt, dass es in diesem und im letzten Sommer eine Reihe von Badeunfällen in und um Schmöckwitz gegeben hat, in der Großen Krampe, im Langen, im Zeuthener und im Seddinsee. Daraufhin habe ich bei der Zeitung angerufen. Das Ergebnis: Bislang sind drei Männer und zwei Frauen mit einem plötzlichen Aufschrei im Wasser versunken und Tage später tot am Ufer aufgefunden worden. Als Ursachen für ihr Ertrinken wurden genannt: überhitzt und nach üppiger Mahlzeit ins Wasser gegangen, Kreislaufschwäche, plötzliche Unterzuckerung und Überschätzung der Schwimmkünste.«

»Da siehst du mal«, sagte Granow, »nicht nur Rauchen kann tödlich sein!« Er beendete das Gespräch und berichtete seiner Kollegin von dem, was er eben gehört hatte.

»Dann fragen wir doch mal die Leute, die hier zelten, ob sie was gehört oder gesehen haben!«, entgegnete Theresa Marotzke eifrig.

Granow hatte keine Lust auf diesen kleinen Spaziergang, viel lieber wäre er zu Reinhalter ins Boot gestiegen und hätte sich ein wenig durch die Gegend paddeln lassen. Immer auf der Suche nach der Wasserleiche natürlich. Aber Theresa allein losziehen zu lassen, brachte er nicht über sich. Also machten sie sich gemeinsam auf den Weg und fragten alle, die sich unter ihren Vorzelten blicken ließen. Doch niemandem war etwas aufgefallen. Allerdings standen ihre Stoffdatschen auch nicht direkt am Wasser.

Keiner der Urlauber schien sich sonderlich für ihr Problem zu interessieren, und auch keiner machte den Eindruck, als würden ihm Berichte von Menschen, die in dieser Gegend rätselhaft ertrunken waren, Angst machen. Einige der Befragten machten sich sogar noch lustig über sie, so etwa ein Student, der das studierte, was früher Volkskunde hieß, und gerade dabei war, für seinen Bachelor eine Arbeit über Aberglauben zu schreiben. »Vielleicht war da ein Hakenmann am Werke«, erklärte er Granow.

»Ein was?«

»Ein Hakenmann. Ich habe im Rahmen meiner Arbeit ein Referat über Wassergeister gehalten, über den Nix, die Muhme und den Hakenmann, die ihre Opfer auf den Grund von Seen und Flüssen reißen und sie dort in ihren Wohnungen gefangen halten.«

Granow und Theresa Marotzke bedankten sich für diese Nachhilfestunde in angewandter Ethnologie und machten sich auf den Rückweg zum Hauptquartier der Rettungskräfte. Als sie dort ankamen, war immer noch kein Ertrunkener gefunden worden, und so wagte es Granow nun, Reinhalter wegen einer kleinen Bootstour anzusprechen. »Ich war früher selbst mal Paddler und würde mir gern für ein halbes Stündchen Ihr Boot ausleihen, um mich auf dem Wasser umzusehen.«

»Ick bin dabei!«, rief Theresa Marotzke.

Reinhalter hatte zwar ein wenig Angst, dass sie sein Gefährt beschädigen könnten, ließ sich dann aber doch erweichen. So legten sie ab, Theresa Marotzke vorn im Boot, Granow hinten. Und als echter Kavalier schwang nur er das Paddel, während sie sich zurücklehnen und die milde Abendsonne genießen konnte.

»Links haben wir die Kleine Krampe«, sagte Granow, nachdem sie ein paar hundert Meter dahingeglitten waren. »Das ist die kleine Schwester der Großen Krampe.«

»Ich sehe nichts.«

»Das kannst du auch gar nicht, denn die Kleine Krampe ist nach dem Krieg zugeschüttet worden – mit Trümmerschutt.«

»Achtung«, rief Theresa Marotzke plötzlich, »vor uns treibt wat im Wasser!«

»Das wird der Ertrunkene sein!« Doch es war lediglich der Rest eines Schlauchbootes.

»Hier fließt allet Richtung Innenstadt«, sagte die Kriminalassistentin. »Wenn wirklich eener ertrunken sein sollte, dann wird der doch eher in Grünau anlanden als hier.«

»Vielleicht hat er sich an einer Schiffsschraube verfangen«, wandte Granow ein. »Ab und zu kommt ja auch heute noch ein Ausflugsdampfer hier vorbei und fährt Richtung Gosener Kanal und Dämeritzsee.«

»Wie ooch imma, det is ’n schöna Ausflug heute!«, erwiderte Theresa Marotzke und schloss zufrieden die Augen.

Als sie auf Höhe des Seddinwalls angekommen waren, wendete Granow und paddelte zur Landzunge 44 zurück. Schon in einiger Entfernung hörten sie, dass es dort inzwischen hoch hergehen musste.

»Sie werden den Gesuchten gefunden haben«, sagte Granow.

Und so war es dann auch. Als sie aus dem Faltboot kletterten, sahen sie den Notarzt neben einem Mann von etwa fünfzig Jahren knien, der nur mit einer Badehose bekleidet war. Eingefunden hatte sich schon eine Vertreterin der Staatsanwaltschaft, die wunderbare Frau Dr. Monique Müller-Linthe. Wer jetzt noch fehlte, war der Rechtsmediziner Prof. Dr. med. Robert Schwarz. Therersa Marotzke griff zu ihrem Handy und wählte die Nummer des geschätzten Kollegen.

***

Prof. Schwarz hatte sich eigentlich auf einige schöne Urlaubstage bei dem herrlichen Sommerwetter gefreut. Es waren Semesterferien, von denen er auch eine Woche für sich nutzen wollte. Endlich müsste er mal nicht um sechs Uhr aufstehen und mit der Autolawine eine gute Stunde vom beschaulichen Wendenschloss nach Mitte zur Charité in sein Institut fahren. Als er am Telefon die muntere Stimme der Kommissarin Marotzke hörte, legte er sein Buch beiseite und kletterte aus dem Liegestuhl. Wenn die 4. Mordkommission anrief, wurde er gebraucht. Den Ansatz zu einem brummigen Hinweis auf seinen Urlaub verschluckte er, weil die Marotzke ungefragt erklärt hatte, dass sein Oberarzt doch zu einer Tagung und die diensthabende Rechtsmedizinerin Frau Dr. Schöneberg in der Kinderklinik bei einem misshandelten Kind sei. »Kann ich nicht gleich über Müggelheim zur Krampenburg fahren?«, fragte Prof. Schwarz, aber die Kommissarin empfahl ihm die Anfahrt über Köpenick und Adlergestell bis zur Fähre in Schmöckwitz. Dort würde er an der Anlegestelle erwartet. Also vertröstete Schwarz seine Frau auf den Abend, griff nach seinem Einsatzkoffer und machte sich auf den Weg. Eine knappe Stunde später war er am Ziel und ließ sich auf dem Polizeiboot von der Kommissarin über die bisherigen Erkenntnisse informieren. Offenbar handelte es sich um einen frischen Leichnam, also würde er heute ohne odor mortis, den fürchterlichen Fäulnisduft in Kleidung und Haaren, nach Hause kommen.

Am Bergungsort hatte man den kleinen Strandabschnitt abgesperrt und den Toten mit einer Plane bedeckt.

Schwarz führte nun die Leichenschau durch, wie er es schon tausendmal in seinem Leben getan hatte. Er fand eine frische männliche Leiche, geschätztes Lebensalter um die fünfzig Jahre, Körpergröße ungefähr 180 Zentimeter, mit kräftigem, muskulösem Körperbau. Die Zeichen des Todes registrierte er in Form einer leichten, offenbar beginnenden Totenstarre und schwach ausgebildeter violetter Totenflecke. Der Körper wies noch spürbare Restwärme auf, am deutlichsten in den Achselhöhlen. Die rektale Temperaturmessung ergab 32 Grad. Die Totenflecke waren schwach an Gesicht, Hals- und Schultervorderseite sowie Unterschenkeln und Füßen erkennbar, sie waren aber auch spärlich an der Körperrückseite des auf dem Rücken liegenden Toten ausgebildet. An den Finger- und Zehenspitzen war die Haut leicht weißlich verfärbt und gequollen, was Schwarz als beginnende Waschhautbildung festhielt. Alle Befunde sprach er in knappen, routinierten Formulierungen in sein Diktiergerät. Er vermerkte, dass es keine gröberen Verletzungen gab.

Zu seinen diagnostischen Erwägungen über die Ursache des Todes im Wasser gehörte auch die Prüfung eines charakteristischen Geruchs an der Leiche, beispielsweise nach Alkohol. Nachdem er an Mund- und Nasenöffnung geschnuppert hatte, wiederholte er diese Prozedur, wobei er kräftig auf den Brustkorb drückte – doch auch dabei war nichts Auffälliges zu riechen. Es traten jedoch kleine weißliche Schaumblasen aus Mund und Nase heraus, die Prof. Schwarz als »Schaumpilz vorhanden« zusammenfasste. Bei seiner abschließenden Inspektion von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen fand er doch noch eine Besonderheit: zirkuläre Hautrötungen oberhalb der Fußknöchel. Sie waren drei bis fünf Zentimeter breit, unscharf begrenzt und von annähernd gleichmäßiger Farbintensität. Bei Lupenbetrachtung waren auch feine Hautabschürfungen zu erkennen, die kopf- wie fußwärts mehrere Zentimeter über die Rötungen hinausreichten.

Schwarz richtete sich auf, um den Kommissaren seine erste Einschätzung vorzutragen. »Wo ist denn Ihr großer Chef?«, fragte er die Marotzke. Doch da erblickte er Granow schon, wie der über den kleinen Strandabschnitt geeilt kam.

Die beiden begrüßten sich herzlich. »Grüß dich, alter Mordermittler!«, rief Schwarz. »Grüß dich, alter Leichenzerteiler!«, rief Granow zurück. Der Rechtsmediziner und der Kommissar waren etwa derselbe Jahrgang. Sie hatten sich trotz unterschiedlicher Biographie schnell verstanden, wozu sicherlich ihre preußische Pflichtauffassung, gepaart mit Berliner Direktheit und einem Hang zu schwarzem Humor, beigetragen hatte.

»Schön, dass du gleich gekommen bist! Jetzt muss ich nicht doppelt predigen«, meinte Schwarz. »Also, eines ist schon jetzt klar: Der Mann ist ertrunken. Der Tod dürfte unter Berücksichtigung einer Wassertemperatur von etwa 20 Grad und der Lufttemperatur von ungefähr 25 Grad vor etwa vier Stunden eingetreten sein.«

»Das deckt sich mit den Angaben unseres Ohrenzeugen Reinhalter«, sagte Granow.

»Prima«, stellte Schwarz fest, »dann bleibt nur noch die Kleinigkeit zu klären, warum dieser offenbar kräftige und sportliche Mann ertrunken ist. Ich sehe da Befunde an den Unterschenkeln, die mir gar nicht gefallen. Der Mann wird doch nicht gefesselt gewesen sein? Oder wurde bei der Bergung ein Seil um die Füße geschlungen? Die Hautrötungen imponieren allerdings durchaus als vital, also zu Lebzeiten beigebracht.«

»Den Ablauf der Bergung werden wir nochmals prüfen«, meinte Granow. »Aber was machen wir mit Reinhalter und dem angeblichen Hilferuf des Opfers? Wir sind uns doch einig, dass wir mit der Obduktion nicht warten sollten.« Als Schwarz dazu nickte, fuhr Granow fort: »Ich kläre das gleich mit der Staatsanwältin. Wann wollen wir uns treffen?«

Schwarz packte seinen Einsatzkoffer zusammen. »Ich rufe unseren Leichenwagen und alarmiere das Obduktionsteam. Wir sehen uns um 21 Uhr im Sektionssaal!«

Frisch gestärkt durch einen schnellen Imbiss an einer Currywurstbude erreichte Prof. Schwarz das Rechtsmedizinische Institut gegen 20.45 Uhr. Der Sektionsassistent Peter Schulz hatte schon alle Vorbereitungen getroffen, und Frau Dr. Schöneberg stand bereits eingekleidet im Sektionssaal. Mit einer kurzen Begrüßung eröffnete der Professor seine Spätschicht. Die Assistentin legte die Schnitte, der Sektionsassistent half dabei, und Schwarz diktierte akribisch alle Befunde. Wie jedes Sektionsprotokoll bestand auch dieses aus den Abschnitten »A. Äußere Besichtigung«, »B. Innere Besichtigung« und »C. Vorläufiges Gutachten«.

Gegen 22.30 Uhr – Prof. Schwarz diktierte gerade den Zustand der Bauchorgane – trafen die Kommissare Granow und Marotzke ein.

»Ich soll dir einen schönen Gruß von der Staatsanwältin bestellen«, richtete Granow aus. »Sie wird nicht kommen. Ich soll ihr stattdessen das Wesentliche telefonisch übermitteln.«

»Das soll mir recht sein. Kommt näher, ihr habt auch noch nicht viel versäumt«, erwiderte Schwarz.

Kurz nach 23 Uhr war die Sektion beendet, und Prof. Schwarz begann mit dem Diktat des »Vorläufigen Gutachtens«. Zuvor rief er den Kriminalisten zu: »Achtung, ihr könnt jetzt gleich das zusammenfassende Resultat unserer Bemühungen hören!«

I. Sektionsergebnis Leichnam eines unbekannten, ca. 50 Jahre alten, 182 cm großen und 83 kg schweren Mannes. Zeichen des Ertrinkens: hochgradige Überblähung des Lungengewebes (Emphysema aquosum). Schaumige Flüssigkeit in Mund, Nase und Luftröhre. Ertrinkungsflüssigkeit in der Keilbeinhöhle. Dreischichtung des wässrigen Mageninhalts (Wydler’sches Zeichen). Zeichen des Aufenthalts im Wasser: beginnende Waschhautbildung an Finger- und Zehenspitzen. Näher beschriebene zirkuläre Hautrötungen und -abschürfungen beider Unterschenkel, jeweils kräftig unterblutet. Hinweise zur Identifizierung: Zustand nach länger zurückliegender operativer Blinddarmentfernung (Appendektomie). Lückenhaftes Gebiss mit einzelnen Metallkronen (siehe Schema Zahnstatus). Buntgestreifte Badehose der Marke Aquos (siehe Fotomappe). Leichte allgemeine Arteriosklerose mit teils mittelgradiger Sklerose der Herzkranz- und Hirngrundschlagadern. Leichte Leberverfettung.

II. Todesursache: Ertrinken.

III. Ergebnis der Alkoholbestimmung aus Schenkelvenenblut und Urin nach zwei Methoden: Venenblut 0,0 mg/g Ethanol, Urin 0,0 mg/g Ethanol.

IV. Als Todesursache ist eindeutig Ertrinken festzustellen. Eine alkoholische Beeinflussung zum Zeitpunkt des Todes konnte ausgeschlossen werden. Es fanden sich keine wesentlichen vorbestehenden krankhaften Veränderungen, die unmittelbar mit dem Todeseintritt in Zusammenhang stehen könnten. Die näher beschriebenen Hautabschürfungen und -unterblutungen an den Unterschenkeln sind durch eine grobe komprimierende Gewalt zu Lebzeiten entstanden. Zur Verursachung erscheinen sowohl feste Griffe als auch eine Fesselung mit relativ glattem Material geeignet.

V. Die Obduzenten behalten sich ein endgültiges Gutachten ausdrücklich vor.

VI. Prof. Dr. med. Robert Schwarz, Dr. med. Lisa Schöneberg

»Morgen bekommt ihr unser Gutachten schriftlich«, versprach Schwarz. »Aber lasst mich noch etwas hinzufügen: Ich glaube nicht, dass ein Tier den Mann in die Tiefe gerissen hat. Den Angriff eines großen Wels, der sein Revier verteidigt, kann man zwar in unseren Gewässern nicht grundsätzlich ausschließen, aber das würde anders aussehen.«

»Ich bin der Überzeugung, dass hier am ehesten Menschenhand im Spiel war – und das meine ich wörtlich«, entgegnete Kommissar Granow. »Es sieht ja fast so aus, als hätte ihn jemand gepackt und unter Wasser gezogen.«

»Die Hautabschürfungen und vor allem die kräftigen Weichteilunterblutungen oberhalb der Fußknöchel sprechen für einen heftigen Todeskampf«, pflichtete ihm Schwarz bei.

»Das muss fürchterlich gewesen sein«, sagte Theresa Marotzke. »Vielleicht treibt hier ja tatsächlich ein irrer Kampfschwimmer oder Taucher sein Unwesen.«

***

Mit den Erkenntnissen, die das detaillierte Gutachten von Prof. Schwarz geliefert hatte, schwärmten Granow und seine Leute am nächsten Tag aus, um den Täter zu finden. »Nach Lage der Dinge kann es nur ein Taucher gewesen sein, der die Schwimmerinnen und Schwimmer in die Tiefe gerissen hat«, erklärte Granow den angerückten Polizeireportern. »Kann es nicht auch ein Einmann-U-Boot gewesen sein?«, fragte Charly Packebusch, einer der Journalisten und ein stadtbekannter Scherzbold zudem, und verwies darauf, dass in Deutschland gegen Ende des Zweiten Weltkrieges über dreihundert solcher Kleinst-U-Boote gebaut worden waren. »Vielleicht hat jemand so ’n Ding über all die Jahre heimlich aufbewahrt und versetzt jetzt die Schwimmer damit in Angst und Schrecken.« »Ein Einmann-U-Boot ist wohl eher unwahrscheinlich«, sagte Granow, als das Gelächter verklungen war. »Aber ein ehemaliger Kampfschwimmer ist durchaus nicht auszuschließen. Der Spur werden wir auf alle Fälle nachgehen.« Theresa Marotzke erzählte, dass die DDR-Volksmarine ein Kampfschwimmerkommando unterhalten hatte. Ein Freund ihrer Eltern hatte als ganz normaler Berufstaucher angefangen und war dort gelandet. »Da passt ja alles«, kam es aus den hinteren Reihen der Presseleute. »Das letzte Opfer war ja auch ein typischer imperialistischer Klassenfeind.« Der Mann, den es in der Nähe der Landzunge 44 erwischt hatte, war der 67-jährige Journalist Herbert Heidereuter, der beim RIAS gearbeitet und unaufhörlich über die Missstände in der DDR berichtet hatte.

»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Granow. »Aber die ungewöhnliche Mordmethode spricht eher dafür, dass es sich bei Heidereuter um ein reines Zufallsopfer handelt.«

»Das ist am wahrscheinlichsten, wenn es stimmen sollte, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben«, fügte Theresa Marotzke hinzu.

In der Tat gab es in den Biographien der fünf im Umkreis von Schmöckwitz ertrunkenen Menschen keinerlei Parallelen. Leider waren die Toten alle eingeäschert worden, so dass sich keine Obduktion mehr vornehmen ließ und nicht auszuschließen war, dass es sich doch um Unfälle gehandelt hatte.

»Ein irrer Taucher schwimmt also los und sucht sich wahllos ein Opfer aus.« Granow – und bald auch die ganze Mordkommission – war sich da sicher. »Was benötigt ein Taucher eigentlich?«, fragte Granow in die Runde.

»Außer Anzug, Maske, Sauerstoffflasche, Flossen und Bleigürtel braucht er vor allem eine Basis«, erwiderte Theresa Marotzke schnell. »Kein Taucher ohne Basis.«

Sofort war einer der Kollegen am Computer. »Mist, die nächstgelegene Tauchschule haben wir in Karlshorst. Rings um Schmöckwitz gibt es nichts.«

»Dann müssen wir unseren Suchradius eben erweitern«, sagte Granow bestimmt und verteilte die Aufgaben. »Es gilt jetzt, bei allen Tauchschulen, Tauchsportvereinen und allen Geschäften für Taucherbedarf nachzufragen und zu sehen, ob sich ein Anhaltspunkt ergibt. Auf zu den Dive-Centern! Theresa und ich besorgen uns ein Motorboot und befragen alle, die wir an den Ufern von Großer Krampe, Langem und Seddinsee antreffen.«

»Und an den Einsatz von Lockvögeln … ich meine, an Lockschwimmern ist nicht gedacht?«, fragte einer.

»Doch, ich stoße Theresa ins Wasser und rase dann davon«, scherzte Granow.

»Wehe!«, rief Theresa Marotzke.

Granow und Theresa Marotzke machten sich nun mit professionellem Können und höchstem Eifer an die Arbeit, schipperten über die besagten Gewässer und befragten alle Uferbewohner, Camper und Badegäste – doch zwei Tage lang blieben sie ohne Erfolg.

»Buchen wir die zwei Tage als außerordentlichen Urlaub ab«, sagte Granow schließlich.

»Wenn de recht hast, haste recht. Is ja ooch ’ne herrliche Jegend hier!«

Granow war schon dabei, einen Schlussstrich unter ihre Ermittlungen zu ziehen, da sahen sie, dass drüben am westlichen Ufer der Großen Krampe jemand am Ufer stand und ihnen zuwinkte. Es war einer der Männer, die in der kleinen Bucht hinter Krampenburg auf einem Hausboot lebten. Er sah aus wie einer der Autonomen, die bei den Kreuzberger Festspielen am 1. Mai immer Brandsätze auf ihre Kollegen warfen, und konnte sich daher grundsätzlich keiner großen Sympathie bei ihnen erfreuen.

»Sie sind doch sicher von der Kripo und ermitteln in diesem mysteriösen Badeunfall?«

»Warum fragen Sie?«

Der Mann beugte sich verschwörerisch zu ihnen hinunter. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass hier auf dem Hausboot nebenan ein Assistent der Humboldt-Uni wohnt, und der scheint mir nicht ganz sauber zu ticken. Manchmal sehe ich ihn nachts seine Taucherausrüstung anziehen und stundenlang tauchen gehen. Und tagsüber sitzt er oft grimmig am Ufer und starrt die Leute, die hier baden gehen, äußerst merkwürdig an. Sein Name ist Arnulf Affinghausen. Aber ich will nichts gesagt haben …«

Granow bedankte sich für diese Auskunft. Die beiden Kommissare maßen dem Ganzen keine besondere Bedeutung bei.

»Das wird ein Student gewesen sein, der sich für eine schlechte Note rächen will«, befand Theresa Marotzke.

»Das würde ich auch sagen«, stimmte Granow zu.

Aber sicher war sicher, sie mussten allen möglichen Spuren nachgehen, bevor es ein nächstes Opfer gab. Als sie wieder im Büro waren, setzte sich Granow an den Computer. Und da das, was die Kolleginnen und Kollegen im Falle des ertrunkenen Ex-RIAS-Journalisten Herbert Heidereuter zusammengetragen hatten, auch auf seiner Festplatte zu finden war, rief Granow den betreffenden Ordner auf und ließ das Programm nach Arnulf Affinghausen suchen. Plötzlich schrie er auf. »Mensch, das gibt’s doch nicht!«

Theresa Marotzke erschrak und schnellte von ihrem Bürosessel hoch. »Was ist denn?«

»Der gute Affinghausen hat sich in Karlshorst eine Taucherausrüstung gekauft – und er lebt tatsächlich auf einem Hausboot, das in Krampenburg vor Anker liegt …«

»Mit seinem Jagdrevier sozusagen direkt von dem Fenster«, ergänzte Theresa Marotzke.

»Und nun?« Granow war unentschlossen.

Seine junge Kollegin ergriff die Initiative. »Wir verschaffen uns einen Durchsuchungsbefehl und sehen, ob wir was finden. Aufzeichnungen oder so …«

»Und wenn nicht? Ohne etwas Handfestes gegen ihn wird er kein Geständnis ablegen. Und wir stehen dann als Idioten da.«

»Wenn wir bei ihm auftauchen, kommt das einem Warnschuss gleich. Er würde sich sicherlich hüten, wieder zuzuschlagen.«

»Weiß man’s, ob nicht doch dunkle Triebkräfte im Spiele sind?« Granow überlegte. »Mir wäre schon lieber, wir sorgen dafür, dass dieser Mann, der sich wahllos irgendwelche Opfer aussucht, im Knast oder meinetwegen in der Psychiatrie landet – jedenfalls sicher verwahrt. Doch dafür brauchen wir sein Geständnis. Oder aber wir müssen ihn auf frischer Tat ertappen.«

Theresa Marotzke hatte eine Idee. »Wir besorgen uns Kampfschwimmer der Bundeswehr und setzen sie als Lockvögel ein.«

So exotisch dieser Vorschlag anfangs auch schien, die Vorgesetzten stimmten schließlich zu. Die Aktion endete jedoch ohne Erfolg. Keiner der eingesetzten Männer wurde angegriffen, so dass man sich am Ende der Badesaison doch entschloss, Affinghausens Hausboot zu durchsuchen.

Mit der Staatsanwältin Dr. Monique Müller-Linthe an der Spitze und einem Durchsuchungsbefehl in der Tasche rückte man in Krampenburg an. Affinghausen war nicht auf seinem Hausboot, aber die Türen ließen sich leicht öffnen. Und die Kommissare hatten Glück! Sie fanden nicht nur eine komplette Taucherausrüstung, sondern auch Affinghausens Tagebuch. Das enthielt wirre Sätze und Zeichnungen, die alles bewiesen. Unter anderem war zu lesen:

Im Brunnen sitzt der Hakenmann. Was macht er in dem Wasser drin? Er lauert mit der Hakenstange, auf dass er kleine Kinder fängt.

Dieses Greuelmärchen hat mir meine Großmutter auf dem Bauernhof in der Prignitz oft erzählt, damit ich um den Brunnen einen großen Bogen machte und ja nicht hineinfiel. Ich gehe die Sache jetzt wissenschaftlich an. Die langen Vorbereitungen haben sich gelohnt, niemand ist mir auf die Schliche gekommen. Wie meine Opfer gestrampelt haben, herrlich! Nun bin ich selbst ein Hakenmann.

Die Kommissare machten sich sofort zur Humboldt-Universität auf, um den verrückten Arnulf Affinghausen festzunehmen. Doch als sie in den Hörsaal stürmten, stürzte der Assistent ans Fenster und versuchte, sich mit einem Sprung auf die Straße in Sicherheit bringen.

Im nächsten Sommer sollte es um Schmöckwitz herum keine Badeunfälle mehr geben. Denn Arnulf Affinghausen überlebte den Sturz aus dem Fenster seines Hörsaals nicht.

***

Schon auf der Heimfahrt von der Sektion der Wasserleiche aus der Dahme dachte Schwarz über seine Fälle nach, bei denen in den vergangenen Jahrzehnten Wasser ein Rolle gespielt hatte.

Wasser – im Sinne von Gewässer – war, kriminalistisch betrachtet, höchst vielseitig: Es konnte Tötungsmittel, Tatort, Transportmittel und Versteck sein. Wurde ein Toter aus dem Wasser geborgen, so war die Frage zu klären, ob es Tötung, Selbsttötung oder ein Unfall war, wobei die Unfälle statistisch deutlich überwogen. Zur Klärung, die schwierig und gelegentlich sogar unmöglich sein konnte, mussten alle Ermittlungsergebnisse, Beobachtungen von Zeugen sowie mitunter Gutachten verschiedener Experten herangezogen werden. Das konnten neben Kriminalisten und Rechtsmedizinern unter Umständen auch Tauchexperten, Meereskundler oder Schifffahrtsexperten sein.

Der Mensch war eben kein Fisch. Wenn die Sauerstoffzufuhr drei bis fünf Minuten unterbrochen wurde, trat der Tod ein. Im Wasser war dies also ein Erstickungstod. Der Begriff »Ertrinken« war irreführend und historisch begründet. Er ging wohl auf den griechisch-römischen Arzt Galen zurück. Zwar schluckt der Ertrinkende in der Regel auch Flüssigkeit, aber er stirbt nicht durch Magenüberfüllung, sondern durch Eindringen der Ertrinkungsflüssigkeit in die Luftwege mit Verhinderung des Sauerstoffaustauschs in der Lunge.

Ja, wenn wir unsere Kiemen noch hätten, um den Sauerstoffgehalt des Wassers zu nutzen!, sagte sich Schwarz. Wie viele Menschen wissen wohl, dass wir in unserem Hals-Nasen-Ohren-Bereich noch Reste von Kiemenbögen und -spalten besitzen? Die stammen aus unserer Embryonalperiode und sind damit Zeugen unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung aus Meeresbewohnern. Der Zoologe Ernst Haeckel hatte dies genial in seinem biogenetischen Grundgesetz formuliert: Die Ontogenese ist eine kurze Wiederholung der Phylogenese.

Schwarz erinnerte sich an junge Männer, gute Schwimmer, die ihre Kräfte überschätzt hatten und überhitzt ins Wasser gesprungen waren. Eine besonders üble Rolle spielte immer wieder die Alkoholisierung. Schwarz wurde bei privaten Gesprächen wie in seinen Vorlesungen nicht müde, auf die Unvereinbarkeit von Trunkenheit und Badefreuden hinzuweisen. Die Erfahrungswerte waren klar, die pathophysiologischen Mechanismen beim lautlosen Untergehen Betrunkener hingegen weithin unerforscht, und die Einsicht seiner Zuhörer erschien ihm auch meist begrenzt.

In Gerichtsprozessen war bei Todesfällen im Hallen- oder Strandbad die Pflichtverletzung von Aufsichtspersonen verhandelt worden, häufig ohne oder mit widersprüchlichen Zeugenbeobachtungen. Die Todesursache war rechtsmedizinisch meist zu klären, nicht immer aber der Hergang des Geschehens. Denn dem finalen Ertrinken konnten unterschiedlichste pathophysiologische Vorgänge vorausgegangen sein. Und es gab auch Todesfälle im Wasser ohne Ertrinken, die durch natürliche Todesursachen eintraten und im Sammelbegriff »Badetod« zusammengefasst wurden.

Auch die schrecklichen Querschnittslähmungen mit oder ohne Todesfolge fielen Prof. Schwarz ein. Sie waren durch einen Sprung in zu flache, meist unbekannte Gewässer entstanden und betrafen in der Regel junge, sportliche Schwimmer. Auch hierzu erinnerte Schwarz sich an schwierige Gerichtsverfahren. So war ein junger Mann nach einem Sprung vom Startblock eines öffentlichen Strandbades mit einer hohen Querschnittslähmung bewusstlos geborgen worden. Er überlebte die Halswirbelfraktur, war aber an den Rollstuhl gebunden, berufsunfähig geworden und hatte den Betreiber des Bades auf Schadenersatz verklagt. Als Gutachter hatte Schwarz die Weltliteratur zu dem Thema »Wassertiefe und Halswirbelsäulenverletzung« studiert. Der Beklagte verwies darauf, dass die Wassertiefe bei dem betreffenden fließenden Gewässer schwankte. Letztlich war das Faktum der Wirbelfraktur infolge Stauchung und Überstreckung der Halswirbelsäule im konkreten Fall bei geringer Sprunghöhe nur durch Bodenkontakt und damit durch unzureichende Wassertiefe zu erklären.

In einem weiteren Fall von Querschnittslähmung in einem Strandbad war die Entstehung einzig durch Kopfsprung mit Auftreffen des Verletzten auf einen anderen Badenden möglich. Der bei der Obduktion anwesende Staatsanwalt einer brandenburgischen Kreisstadt hatte große Behälter mitgebracht, um Wasser aus dem Strandbad auf tödliche Gifte untersuchen zu lassen. Nachdem Schwarz und seine Kollegen geklärt hatten, dass die weiteren rund zweihundert Badegäste wohlauf waren und der Tote an einer hohen Querschnittslähmung gestorben war, konnte auf die toxikologische Analyse verzichtet werden.

Der Rechtsmediziner wusste, dass neben der Temperatur auch die Zusammensetzung der Ertrinkungsflüssigkeit – beispielsweise der Salzgehalt (Süß- oder Salzwasser) – für die Ausbildung der Leichenbefunde bedeutsam waren. Mit Salzwasserleichen hatte man als Rechtsmediziner in Berlin-Brandenburg naturgemäß wenig praktische Erfahrung.

Ein besonders unschönes Kapitel waren die Wasserleichen im Sommer. Schwarz konnte sich noch gut an die zurückliegenden Jahre im Sektionssaal ohne Klimaanlage erinnern – doch mittlerweile gehörte das glücklicherweise der Vergangenheit an. Bei langer Liegezeit im Wasser, speziell bei hohen Temperaturen, konnten die Fäulnisveränderungen so hochgradig sein, dass Körperoberfläche wie innere Organe kaum noch zu beurteilen waren. Meist war auch eine Identifizierung durch Inaugenscheinnahme des Leichnams unmöglich, da Gesicht, Rumpf und Gliedmaßen verfärbt und aufgetrieben waren. Dazu kam der penetrante Geruch. Weitere Erschwerungen entstanden durch sogenannte Algen- oder Schlammrasen auf der Leichenhaut. Einige Male hatte Schwarz erlebt, dass sich Hinterbliebene auch durch deutlich formulierte Warnungen nicht von einer Besichtigung des vermutlichen Angehörigen abhalten ließen – und das erstaunlich gut bewältigt hatten.

Die Gasproduktion in dem verfaulenden Leichnam führte zu einem starken Auftrieb im Wasser, was den versunkenen Leichnam nach einiger Zeit wieder an die Oberfläche brachte. Schwarz hatte in den vergangenen Jahren mehrfach Beschwerungen an Wasserleichen vorgefunden, die einen Auftrieb nicht verhindert hatten. Solche Gewichte verschiedenster Art aus Stein oder Metall wurden sowohl bei Selbsttötung als auch bei Mord angebracht. Sie mussten wie auch Fesselungen sorgfältig geprüft werden, um Hinweise für Selbst- oder Fremdanbringung zu gewinnen. Nur bei der Teil- oder sogar Ganz-Betonierung des Körpers, früher in amerikanischen Gangsterkreisen zur Beseitigung von Mordopfern in Gewässern beliebt, konnten kaum Zweifel aufkommen.

Da Wasserleichen auf dem Bauch liegen, wenn sie frei treiben, Kopf und Gliedmaßen nach unten hängend, waren Aufdunsung und Verfärbung im Gesicht besonders ausgeprägt. In den filmischen Darstellungen von Wasserleichen, zum Beispiel bei großen Schiffskatastrophen, sah Schwarz häufig falsche Rekonstruktionen: Wasserleichen, die auf dem Rücken trieben. Dann konnte er sich nicht verkneifen zu kommentieren: »So haben wir als Kinder im Wasser Toter Mann gespielt, doch das entspricht leider nicht der Realität.«

Als sein Haus in Sichtweite war, verdrängte Schwarz die unschönen Gedanken an den Tod im Wasser, welche der ungewöhnliche Mordfall ausgelöst hatte. »Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps!« Eigentlich liebte er das Wasser und schaute gerne aus seinem Häuschen auf die nahe Dahme. Doch noch mehr mochte er es, selbst in die Fluten zu springen – am liebsten war ihm die Ostseeküste. Wenn hier immer warme Sommertemperaturen herrschen würden, könnte er auf die beliebten Ferienziele am Mittelmeer, Atlantik oder Pazifik glatt verzichten! Aber so weit war die Klimaerwärmung noch nicht vorangeschritten.

Berliner Leichenschau

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