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Wie vom Blitz getroffen

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Es war zu einem Ritual geworden: Regelmäßig wanderten sie durch die Mark Brandenburg, immer an die zwanzig Kilometer und zumeist im Dutzend. Diesmal aber waren wegen der unerträglichen Hitze, unter der Berlin nun schon seit einer Woche zu leiden hatte, nur vier Gruppenmitglieder am Ausgangspunkt, dem Bahnhof Potsdam Park Sanssouci, erschienen: die Kulturjournalistin Medea Meier-Ebersbach, der Schauspieler Bo Rommerskirchen, der Architekt Ludger Krügelstein und seine Frau, die Grundschullehrerin Katharina Krügelstein.

Katharina Krügelstein blickte misstrauisch zum Himmel hinauf. »Von Westen her scheint ein Gewitter heraufzuziehen.«

Medea Meier-Ebersbach winkte ab. »Solange es nicht das Jünger’sche Stahlgewitter ist, kann ich damit leben.«

Bo Rommerskirchen schaltete sich ein und rezitierte einige Zeilen aus Gottfried Kellers Gedicht Gewitter im Mai: »In Blüten schwamm das Frühlingsland, / Es wogte weiss in schwüler Ruh; / Der dunkle feuchte Himmel band / Mir schwer die feuchten Augen zu

Ludger Krügelstein war währenddessen vollauf damit beschäftigt, sein GPS-Gerät in Gang zu setzen. Als ihm das nach einigen vergeblichen Versuchen endlich gelungen war, gab er das Kommando zum Abmarsch. »Wir wandern durch den Park Sanssouci, dann den Ruinenberg hinauf und durch die russische Kolonie zum Schloss Cecilienhof. Von dort geht es an der Havel entlang über die Glienicker Brücke zum Wirtshaus Moorlake, wo wir einkehren und zu Mittag essen können.«

Sofort setzte sich die Gruppe in Bewegung, mit Ludger Krügelstein an der Tete, wie Medea Meier-Ebersbach es lachend ausdrückte. Er achtete anhand seines GPS-Gerätes streng darauf, dass die Gruppe die Geschwindigkeit von 4,5 Stundenkilometern nicht unterschritt. Tat sie das doch einmal, rief er den anderen zu, dass man eine Wandergruppe und keine Seniorengruppe sei, die vor ihrem Heim spazieren ging. »Ihr schiebt doch noch keinen Rollator vor euch her!«

Die erste Verzögerung gab es, als Medea Meier-Ebersbach mit großer Geste eine mitgebrachte Kartoffel auf die Grabplatte Friedrichs des Großen legte und dabei aus seinen Randverfügungen zitierte.

Für eine zweite Verzögerung sorgte Bo Rommerskirchen, der eigentlich Boris mit Vornamen hieß, aber nicht an Boris Becker erinnert werden wollte und deshalb die zweite Silbe wegließ. Da Bo ein schwedischer Vorname war, dachten viele, er käme aus dem Pippi-Langstrumpf-Land, was er gern mit dem Kalauer »Ich komme nicht aus Schweden, sondern aus Schwedt« kommentierte. Da er recht beleibt war, empfand er die Wanderung im Gegensatz zu den anderen als beschwerlich. Keuchend warf er sich, endlich oben auf dem Ruinenberg angekommen, ins Gras und verlangte eine Pause.

Doch kurze Zeit später drängte der ruhelose Ludger Krügelstein zum Weitergehen. »Kinder, unsere Durchschnittsgeschwindigkeit ist schon auf 3,3 Stundenkilometer abgesunken! Manche Schildkröte ist schneller als ihr.«

»Soll ich dich nun erschlagen«, brummte Bo Rommerskirchen, »oder reicht es, wenn ich dein blödes Gerät zertrete?«

Trotz des Gejammers ging die Gruppe zunehmend schneller, denn die Gewitterfront rückte näher und näher. Ohne weiteren Zwischenhalt kamen sie bei der Glienicker Brücke an, und für Ludger Krügelstein, der jede Wanderung genauestens protokollierte, gab es diesmal nichts Bedeutendes zu notieren. Dann aber ereignete sich doch noch ein merkwürdiger Zwischenfall.

Vor ihnen lief eine Joggerin mit auffallend knapp geschnittener Kleidung, als plötzlich ein Radfahrer neben ihr hielt, absprang und sie festhalten wollte.

»Lass mich in Ruhe!«, schrie die Joggerin, stieß den Mann zur Seite und lief weiter Richtung Moorlake.

Der Mann schwang sich wieder auf sein Rad, kehrte um und radelte an ihnen vorbei zurück zur Glienicker Brücke.

Sie hätten das Ganze wohl noch des Längeren diskutiert, wäre nicht in diesem Moment ein Sturm losgebrochen, der sie, als seien sie trockene Blätter, das Havelufer entlangwehte. Und schon setzte ein Platzregen ein, der Donner rollte derart, dass ihnen das Trommelfell zu platzen drohte, und kurz hinter ihnen fuhren schon die ersten Blitze nieder. Mit Müh und Not und schon ein wenig durchnässt, erreichten sie das Wirtshaus Moorlake und waren erst einmal in Sicherheit. Wie die Medien später berichten sollten, waren sie in eines der schwersten Gewitter geraten, die Berlin seit Jahren erlebt hatte.

Hungrig von der Wanderung, bestellten sie sich rasch etwas zu essen und zu trinken. Die beiden Männer entschieden sich für Bollenfleisch.

Katharina Krügelstein fragte, ob denn alle wüssten, was im Berlinischen Bollen seien.

»Na, Bollen sind Zwiebeln«, war die Antwort von Medea Meier-Ebersbach. »Und so nennt man auch die Löcher in den Strümpfen.«

»Das stimmt, aber Bollen bedeuten auch noch Hoden. In Zilles Hurengesprächen etwa tritt eine Frau namens Bollenjuste auf.«

»Ah«, rief Bo Rommerskirchen, »daher also kommt der Ausdruck ›Du kannst mir mal die Bollen lecken‹.«

Medea Meier-Ebersbach verzog angewidert die Nase, worauf Bo Rommerskirchen herzlich lachte.

Während sie aßen, zog das Gewitter langsam ab, und als Ludger Krügelstein nach dem letzten Bissen auf sein GPS-Gerät blickte, schrie er erschrocken auf. »Unser Gesamtschnitt ist auf 2,9 Kilometer pro Stunde abgesunken. Nun aber los!«

»Aber bitte mit ’ner Taxe!«, erwiderte seine Frau. »So quatschnass, wie ich noch immer bin, wandere ich nicht gern.«

»Das kommt nicht in Frage!«, rief Bo Rommerskirchen, der sich wegen seines Geizes bei den anderen schon öfter unbeliebt gemacht hatte. Aber es war nur seine Erfolglosigkeit als Schauspieler, die ihn zur Sparsamkeit zwang.

»Ich habe ebenfalls keine Lust, bis zum S-Bahnhof Wannsee zu laufen«, maulte jetzt auch Medea Meier-Ebersbach.

Katharina Krügelstein suchte nach einem Kompromiss. »Was hieltet ihr davon, wenn wir quer durch den Wald zur Königstraße gehen? Da fährt ein Bus zum Bahnhof Wannsee.«

Der Vorschlag wurde mit einer Gegenstimme angenommen, nur Ludger Krügelstein hatte missmutig dagegen gestimmt, denn er hätte zu gern auch heute seine zwanzig Kilometer geschafft. Sie zahlten und machten sich sogleich auf den Weg Richtung Süden. Ludger Krügelstein hatte eine Karte bei sich, und so lag die Wahrscheinlichkeit, sich zu verlaufen, nur bei 27, 23 Prozent, wie seine Frau einmal anhand seiner bisherigen diesbezüglichen Heldentaten ausgerechnet hatte.

Als sie den Punkt erreicht hatten, wo es rechts hinter dem Schneewittchenweg etwas aufsteigend zum Finkenberg ging, hielt Bo Rommerskirchen plötzlich inne. »Da liegt doch jemand!«, rief er den anderen zu.

Jetzt erkannten auch sie den leblosen Frauenkörper, der gekrümmt am Fuße einer mächtigen Buche lag. Der Sportkleidung nach musste es sich um eine Joggerin handeln.

Da sich den gesamten Stamm der Buche eine schwarze Furche hinunterzog, schien offensichtlich, was sich hier ereignet hatte: Die Frau hatte Schutz vor dem gewaltigen Gewitter gesucht und war vom Blitz erschlagen worden.

»Buchen sollst du suchen …«, murmelte Medea Meier-Ebersbach.

Katharina Krügelstein, die einen Kurs in Erster Hilfe mitgemacht hatte, zog einen kleinen Spiegel aus dem Rucksack und hielt ihn der Joggerin vor den Mund. »Nichts. Die dürfte es erwischt haben.«

Trotzdem forderte ihr Mann per Handy Feuerwehr und Notarzt an.

Die morgendliche Zeitungslektüre gehörte für Gunnar Granow zu seinen dienstlichen Pflichten, denn als Mitglied einer Mordkommission konnte man auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn man ganz genau wusste, was in Berlin Tag für Tag geschah. Sein Anspruch, zu den gebildeten Ständen zu zählen, verbot ihm eigentlich die Lektüre aller Boulevardzeitungen, doch da bei einer von ihnen sein junger Freund Charly Packebusch tätig war, las er sie dennoch – schon wegen der literarisch so wertvollen Überschriften. Eine der heutigen besagte: 42-jährige Dichterin Verena Löwe aus Wannsee in der Nähe des Schäferbergs vom Blitz erschlagen.

Dies hätte ihn nun nicht weiter interessieren müssen, denn Unfälle fielen nicht in sein Ressort, und den Herrgott konnte man schwerlich wegen fahrlässiger Tötung eines Menschen vor Gericht stellen. Doch in der darauffolgenden halben Stunde gab es zwei Anrufe, die dies änderten.

Der erste kam von einem Architekten namens Krügelstein und schien im ersten Augenblick nicht weiter von Bedeutung zu sein.

»Ich war gestern mit meiner Wandergruppe unterwegs«, berichtete ihm Herr Krügelstein, »und wir haben die Frau gefunden, die womöglich vom Blitz erschlagen worden ist.«

»Sie meinen wohl den Unfall in der Nähe des Schäferbergs«, murmelte Granow.

»Es sah tatsächlich alles nach einem Blitzschlag aus«, fuhr Krügelstein fort. »Allerdings ist mir heute früh eingefallen, dass wir auf dem Weg zwischen der Glienicker Brücke und dem Wirtshaus Moorlake eine kleine Szene beobachtet haben. Da hat ganz offensichtlich ein Radfahrer eine Joggerin belästigt. Das war kurz vor dem Gewitter.«

»Und – ist er ihr gefolgt?«

»Nein, er ist dann in die andere Richtung gefahren.«

Granow überlegte einen Augenblick. »Haben Sie denn in der Toten unter der Buche vielleicht die Joggerin wiedererkannt, die belästigt worden ist?«

»Nein, wir hatten sie nur von hinten und aus einiger Entfernung gesehen. Aber von der Kleidung her könnte sie es durchaus gewesen sein. Sie trug eine dunkle Jacke und eine blaue Hose, mit Regenbogenfarben abgesetzt.«

»Vielen Dank, Herr Krügelstein, wir werden der Sache nachgehen.«

Damit wäre der Fall für Granow möglicherweise bereits erledigt gewesen, wenn die Kriminalassistentin Theresa Marotzke, die ihm gegenüber den Sportteil seiner Zeitung las, nicht mitgehört hätte. »Sag mal, das müsste dich doch an etwas erinnern …«

»Dass ich mal mit dem Rad hinter einer Joggerin hergefahren bin?« Er lachte. »Aber das war meine Frau. Und die hatte damals Angst, dass sie auch …« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und rief: »Mensch, die ermordete Joggerin im Spandauer Forst!« Am 20. Juni 2009 war eine 39-jährige Psychologin von einem Mann ermordet worden, der mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einem roten Fahrrad unterwegs gewesen war. Bis heute hatte man den Mann nicht finden können.

Während sie noch über diesen Mordfall und mögliche Parallelen diskutierten, kam der zweite Anruf.

»Mein Name ist Jocelyn Naumann«, sagte die Frau am Apparat. »Ich bin die Schwester von Verena Löwe, die vom Blitz erschlagen worden sein soll. Ich möchte zu der Angelegenheit eine wichtige Aussage machen.«

»Bitte, ich höre …«

»Verstehen Sie, ich möchte nichts sagen, wenn jemand mithören kann. Kommen Sie doch bitte zu mir nach Hause!« Sie nannte noch ihre Adresse, dann legte sie auf.

Granow rang eine Weile mit sich. Was ging ihn die Sache eigentlich an? Das roch doch alles nur nach Wichtigtuerei. Aber auf der anderen Seite sagte ihm sein Gefühl, dass da womöglich doch nicht alles mit rechten Dingen zuging. Er sah seine junge Assistentin an. »Komm, fahren wir mal schnell zum Ku’damm!«

Theresa Marotzke verzog das Gesicht. »Wenn’s unbedingt sein muss …« Als geborene Neuköllnerin fühlte sie sich am Kurfürstendamm nicht sonderlich wohl. Hier wohnten Menschen, die ein Vielfaches mehr verdienten als sie und sich oft für etwas Besseres zu halten schienen.

Beide trugen sie der Armut des Landes Berlin Rechnung, indem sie auf ein dienstliches Fahrzeug verzichteten und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Tatorten und Vernehmungen fuhren. Früher hatten sie sich noch Freifahrscheine geben lassen, jetzt nutzten sie ihre privaten Monatskarten. So stiegen sie am S-Bahnhof Halensee aus, um von dort über die Westfälische Straße zur Joachim-Friedrich-Straße zu gelangen, wo nahe dem Kurfürstendamm die Schwester der Löwe wohnen sollte.

Der Hauseingang wirkte so feudal, dass sich Granow an das alte Berliner Stadtschloss erinnert fühlte. Sie stiegen die vornehme Treppe hinauf und klingelten bei Jocelyn Naumann.

Eine verhutzelt aussehende Frau öffnete ihnen sogleich die Tür. Frau Naumann wirkte recht verbittert – warum, sickerte in dem Gespräch mit den Beamten bald durch: Sie hatte stets im Schatten ihrer erfolgreichen Schwester gestanden. Ihre Gedichtbände waren weithin unbeachtet geblieben, den letzten hatte sie sogar selbst finanzieren müssen.

Granow brachte das Gespräch auf ihre verstorbene Schwester und deren Ehemann. »Leonhard Löwe ist Makler?«

»Ja, und er hat mit seiner Firma eine Menge Geld gemacht. Aber in letzter Zeit ist sein Geschäft nicht mehr gut gelaufen, doch er hatte eine Menge Ausgaben – für seine Yacht, für seine teuren Autos, für seine noch teureren Geliebten.«

»Und Ihre Schwester?«, fragte Theresa Marotzke.

»Sie wusste davon. Deshalb wollte sie sich auch scheiden lassen und hat Unterhaltszahlungen gefordert, die Leonhard in die Insolvenz getrieben hätten. Ich glaube, für ihn ist der Blitzschlag gerade zur rechten Zeit gekommen.«

Granow fixierte die Schwester der Toten. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht ausschließen, dass Leonhard Löwe ein wenig nachgeholfen hat?«

»Das ist Ihre Interpretation meiner Worte«, entgegnete Frau Naumann ausweichend. »Aber ich weiß, was Leonhard so treibt, und will deshalb Ihrem Gedanken nicht widersprechen.«

Als die Kommissare wieder auf der Straße standen, war für Granow klar, was jetzt zu tun war. »Wir müssen Professor Schwarz zu Rate ziehen, der soll sich die Leiche der Löwe mal genauer ansehen.«

***

Als die Mordkommission im Rechtsmedizinischen Institut anrief, stand Prof. Robert Schwarz gerade im Hörsaal. Die Vorlesung »Rechtsmedizin für Studierende der Rechtswissenschaft« gehörte zu seinen Lieblingsaufgaben. Die Studenten kamen gerne zu der fakultativen Vorlesung und waren entsprechend interessiert und diszipliniert. Auch das weibliche Dreigestirn war anwesend, und so ging ihm der Unterricht besonders leicht von der Hand. »Die drei Grazien«, wie er sie für sich nannte, saßen immer auf denselben Plätzen in der zweiten Reihe, waren auffallend hübsch und strahlten ihn an.

Eigentlich duldete Schwarz während seiner Vorlesung keinerlei Störung. Kriminalhauptkommissar Granow hatte aber die Sekretärin wohl so barsch angewiesen, dass sie seinem Drängen nachgab und in den Hörsaal lief. Dort legte sie ihrem Chef mit aufgeregten Gesten einen Zettel auf das Pult.

Schwarz unterbrach kurz die Vorlesung und studierte die Mitteilung. »Liebe Studentinnen und Studenten«, sagte er dann, »ich muss die Vorlesung leider vorzeitig abbrechen, denn ich habe hier eine dringende Anforderung von der Mordkommission. Jetzt gäbe es die praktische Anwendung des Gehörten, nur kann ich Sie leider zu der Untersuchung nicht mitnehmen. Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Doktor Krell wird ihnen noch die restlichen Folien zur Leichenschau zeigen. In der nächsten Woche fahren wir dann mit dem Thema Scheintod, lateinisch vita minima, fort. Bis dann!«

Schwarz schlürfte in der Kantine noch schnell eine Tasse Kaffee, griff seinen »Tatortkoffer« und fuhr dann mit seinem Wagen zum Krematorium Baumschulenweg. Er kannte es gut, hatte er doch dort in früheren Jahren die gesetzlich vorgeschriebene zweite Leichenschau vor der Kremation durchgeführt. Die Leiterin des Hauses hatte sein Institut vor einiger Zeit zu einer Besichtigung eingeladen, nachdem das Krematorium mit großem Aufwand neu erbaut worden war. Die Rechtsmediziner hatten damals ganz schön gestaunt und das alte Krematorium nach dem Einzug moderner Architektur kaum wiedererkannt. Auch die neueste Technik mit dem elektronischen Lager- und Transportsystem hatte die Mediziner beeindruckt.

Nun war er also wieder hier, um sich die Leiche eines Blitzschlagopfers anzuschauen. Ein Mitarbeiter des Krematoriums wartete bereits auf ihn und hatte den Leichnam der Verena Löwe bereitgestellt. Schwarz wunderte sich, warum die Leiche hier gelandet war, obwohl sie in der Nähe von Potsdam gefunden worden war. Aber vielleicht gibt es bei den Krematorien ja Preisunterschiede, die bei der Entscheidung eine Rolle spielen, dachte er belustigt. Dann wandte er sich seiner Arbeit zu.

Die Tote lag in einem schlichten Holzsarg, wie es bei Feuerbestattungen üblich war. Sie war bereits entkleidet, ihre Kleidung lag zu einem Bündel zusammengepackt am Fußende des Sargs.

Prof. Schwarz zog rasch Kittel und Handschuhe an. Vor der Inspektion des Leichnams prüfte er die Identität. Die Beschriftung an Sarg und Zehenkarte lautete Löwe, Verena, Geburts- und Todestag stimmten mit dem Totenschein und seinen Angaben überein. Auf dem Totenschein war als Todesursache Blitzunfall vermerkt, und bei der Todesart war Natürlicher Tod angekreuzt. Da haben wir es wieder!, dachte Schwarz. Seit wann war ein Blitztod ein natürlicher Tod? Sicherlich stammte der Blitz aus der natürlichen Umwelt – »natürlich« aber war nur der Tod aus innerer krankhafter Ursache. Aus seinen langjährigen Lehrerfahrungen wusste Schwarz, dass dies eher Kriminalisten und Juristen klarzumachen war als Medizinern. Darüber hatte es auch mit Kollegen aus Kliniken wie aus Pathologischen Instituten schon manche Debatte gegeben. Bei der Einordnung eines Todesfalls als natürlicher Tod war von dem Leichenschauarzt keine Meldung an die Polizei erforderlich, und so war die Tote von dem Bestatter abgeholt und ins Krematorium gebracht worden.

»So«, murmelte Schwarz, »wo sind denn nun die Spuren des Blitzschlags?« Als Erstes nahm er sich die Kleidung und die Joggingschuhe vor und suchte nach Zerreißungen, Verbrennungen oder Durchlöcherungen – doch er fand nichts Auffälliges. Er vermerkte auch, dass die Kleidung nicht durchfeuchtet war. Sorgfältig inspizierte er Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, wobei ihm der Krematoriumsmitarbeiter beim Umwenden der Toten half. Das Kopfhaar war blutig durchtränkt und das gesamte Gesicht stark blutverschmiert. An der rechten Hinterkopfseite fand sich eine grobe, blutige Platzwunde. Darunter ertastete Schwarz Knochenbruchstücke, die zum Teil tief in das Gehirn hineingetrieben waren. »Hier haben wir wohl die Todesursache«, schlussfolgerte Schwarz.

Dann untersuchte er weiter Haut und Schleimhäute des Gesichts, besonders gründlich den Hals, danach Rumpf, Arme und Beine. Nachdem er keine blitztypischen Hautrötungen oder Hautverbrennungen gefunden hatte, griff er zu seiner Lupe. Akribisch suchte er nach Zeichen von Hitzeeinwirkung an den Kopfhaaren, danach an den Körperhaaren. Auch hier war nichts Auffälliges festzustellen. Schwarz wandte sich an den Krematoriumsangestellten. »Herr Schulz, die Leiche darf auf keinen Fall verbrannt werden. Sie kommt in unser Institut – das wird eine gerichtliche Obduktion. Ich verständige sofort die Mordkommission. Meine Leute werden die Frau Löwe noch heute abholen.« Dann notierte Schwarz auf seinem Befundblock:

Offene Schädel-Hirn-Verletzung am Hinterkopf mit großer Platzwunde und Impressionsfraktur. Sonst keine äußeren Verletzungen, insbesondere keine Kampf- oder Abwehrspuren, keine Würge- bzw. Drosselmarken, vor allem keine Zeichen elektrischer Energie.

Anschließend rief Schwarz die Mordkommission an. Als sich sein alter Freund Granow meldete, sagte er: »Hallo, Gunnar, ich bin gerade im Krematorium bei Frau Verena Löwe, eurem angeblichen Blitzschlagopfer. Den Blitzunfall könnt Ihr vergessen. Beantragt gleich mal eine Obduktion beim Staatsanwalt! Die Frau hat eine schwere Schädel-Hirn-Verletzung, und es sieht ganz nach einem Schlag auf den Kopf aus. Mich würde ja schon interessieren, wie die Theorie vom Blitzschlag zustande gekommen ist und wie die Frau unter den getroffenen Baum kam. Meine Sekretärin ruft euch an, wenn wir mit der Sektion beginnen.«

Granow wollte jedoch rasch Ergebnisse sehen und drängte auf eine Sofortobduktion.

»Also gut«, gab Schwarz nach, »wenn ihr von der ›M‹ ruft, sind wir selbstverständlich immer zur Stelle. Na, dann fangen wir heute Nachmittag um halb drei an.«

Inzwischen war es dreizehn Uhr, und Schwarz knurrte der Magen. Geistige Nahrung reicht eben doch nicht, dachte er schmunzelnd. Wenn ihm seine belastende Tätigkeit mit Verletzten oder Getöteten den Appetit verderben würde, wäre er längst verhungert. Also auf zur nächsten Bäckerei! Natürlich hätte er auch in der Mensa des Uniklinikums essen können, doch dahin ging er immer seltener. Das lag nicht etwa an der Qualität des Mittagstisches, sondern daran, dass er dort kaum in Ruhe essen konnte. Alle Störenfriede, ob Kollegen, Mitarbeiter oder Studenten, nutzten die Gelegenheit zu einem Gespräch.

Prof. Schwarz erreichte gegen vierzehn Uhr sein Institut. Der Leichnam von Frau Löwe war noch nicht eingetroffen, und so blieb ihm noch etwas Zeit. Schwarz ging in sein Dienstzimmer, fragte seine Sekretärin nach wichtigen Anrufen und sah den Posteingang durch.

Gut zehn Minuten später rief der Sektionsassistent Walter Mann an und meldete die Ankunft der Leiche. Als Schwarz in den Sektionssaal kam, erwartete ihn Dr. Krell, der zweite Obduzent, bereits in voller Montur. »KHK Granow ist auch soeben eingetroffen«, sagte Krell. »Er trinkt im Sektionssekretariat noch einen Kaffee.«

»Prima, dann können wir ja anfangen«, meinte Schwarz, und das eingespielte Team begann mit der Obduktion.

Zuerst diktierte Prof. Schwarz die »Äußere Besichtigung« in sein Diktaphon. Als er sich der Schädelverletzung zuwandte, erschien Kommissar Granow mit dem Staatsanwalt Wolf. Nach kurzer Begrüßung setzte Schwarz sein Diktat fort. Detailliert wurden alle Körperregionen beschrieben, insbesondere der Kopf. Die Verletzung am Hinterkopf wurde vermessen, danach aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit angelegtem Maßstab fotografiert. Mit dem Auflichtmikroskop suchten die Rechtsmediziner auffällige Wundbestandteile, die von einem Hiebwerkzeug hätten stammen können. Aber es gab weder Partikelchen noch Abrieb etwa von Farbe, Kunststoff, Metall oder Holz zu sehen.

Dann legte der Assistenzarzt die Sektionsschnitte unter Hilfestellung des Sektionsassistenten. Schwarz diktierte detailliert alle inneren Befunde, die Teil B des Sektionsprotokolls darstellten. Nach dem Ablösen der Kopfschwarte wurde eine länglich geformte und zur Scheitelhöhe hin rundlich begrenzte Fraktur im rechten Hinterhaupts- und Scheitelbein beschrieben, vermessen und fotografiert.

»Sehen Sie sich hier diese längliche und terrassenförmige Impressionsfraktur im rechten Hinterhaupt an!«, sagte Schwarz und zeigte den Gästen den wesentlichen Befund. »Diese Bruchform spricht für einen groben Hieb mit einem länglichen und relativ schweren Gegenstand. Mal abwarten, wie es darunter aussieht, dann können wir uns über mögliche Tatwerkzeuge unterhalten.«

Gegen achtzehn Uhr war die Leichenöffnung beendet, und Prof. Schwarz diktierte das »Vorläufige Gutachten«.

I. Sektionsergebnis Leichnam einer bekannten, 42 Jahre alten, 165 cm großen und 72 kg schweren Frau. Schweres Schädel-Hirn-Trauma: 7 × 3 cm messende ausgedehnt unterblutete Platzwunde der Kopfschwarte am rechten Hinterkopf. Längliche terrassenförmige Impressionsfraktur von 8 × 3 cm Ausdehnung im rechten Hinterhaupts- und Scheitelbein. Berstungsbruchausläufer nach rechts unten bis in die Schädelbasis. Ausgedehnte Hirnprellung und -quetschung im rechten Hinterhaupts- und Scheitellappen. Hirnschwellung. Blutiges Hirnwasser in den Hirnkammern. Schaumige, blutige Flüssigkeit in der Luftröhre und ihren Ästen. Kleinfleckige Bluteinatmungsherde beiderseits. Leichte allgemeine Arteriosklerose. Zustand nach länger zurückliegender operativer Entfernung von Gallenblase und Wurmfortsatz.

II. Todesursache: Schädelbruch mit Hirnverletzung.

III. Ergebnis der Alkoholbestimmung aus Schenkelblut und Urin nach zwei Methoden: Venenblut 0,0 mg/g Ethanol, Urin 0,0 mg/g Ethanol.

IV. Als Todesursache ist die schwere Schädel-Hirn-Verletzung festzustellen. Zum Zeitpunkt des Todes bestand keine alkoholische Beeinflussung. Es fanden sich keine wesentlichen vorbestehenden krankhaften Veränderungen, die unmittelbar mit dem Todeseintritt in Zusammenhang stehen könnten. Die näher beschriebene Schädelverletzung ist durch einen Hieb mit einem länglichen Gegenstand zu erklären, wobei der Hieb mit großer Kraft und / oder mit einem schweren Werkzeug ausgeführt worden sein muss.

V. Für die Einwirkung elektrischer Energie, wie hier vermutet durch Blitzschlag, gab es keinerlei Hinweise, weder am Körper der Toten noch an ihrer Kleidung. Die Tötung durch eine Blitzeinwirkung kann ausgeschlossen werden.

VI. Die Obduzenten behalten sich ein endgültiges Gutachten ausdrücklich vor.

VII. Prof. Dr. med. Robert Schwarz, Dr. med. Hans Krell

»Ich will noch einmal betonen«, sagte Schwarz ergänzend zu seinen Ausführungen, »dass es sich hier nicht um einen Blitzschlag handelt, denn es sind weder typische Beschädigungen von Bekleidung und Haut des Opfers vorhanden, noch gibt es irgendwelche Verbrennungsspuren oder gar die schönen Blitzfiguren.« Sogleich erklärte er den Begriff: »So heißen arborisierte Erytheme – farnkrautartige oder astförmig verzweigte Hautrötungen –, die ein Fachmann sofort erkennt. Vielmehr haben wir es eindeutig mit einer Tötung von fremder Hand zu tun. Wir vermuten einen kräftigen und gezielten Hieb mit einem länglichen Werkzeug von rundem Querschnitt, beispielsweise mit einem Metallrohr oder einem Baseballschläger. Charakteristische Spuren von einem Werkzeug fanden sich in der Wunde nicht. Der Schlag ist offenbar von hinten geführt worden. Für den Hergang ist außerdem noch von Interesse, dass die Frau nach dem Hieb mit größter Wahrscheinlichkeit sofort kampfunfähig war.«

Kriminalhauptkommissar Granow sah Staatsanwalt Wolf an. »Dann müssen wir jetzt abklären, wie die Frau unter den vom Blitz getroffenen Baum gekommen ist«, resümierte er.

»Ich muss noch hinzufügen«, meinte Schwarz, »dass es keinerlei Schleifspuren oder andere Hinweise auf einen Transport der Verletzten oder Getöteten gibt. Die Frau hatte auch keine Kampf- oder Abwehrspuren. Sie sollten überprüfen, welche Wohnhäuser in der Nähe der Einschlagstelle stehen. Womöglich konnte von dort jemand den Blitzschlag beobachten.«

Gunnar Granow legte die Hand grübelnd ans Kinn. »Ist die Frau Löwe dort unter dem Baum getötet worden – oder ist sie als Leiche dorthin transportiert worden? Und war das vor oder nach dem Unwetter beziehungsweise dem Blitzeinschlag in die Buche?«

»Wenn wir nur eine halbwegs zuverlässige Todeszeit hätten!«, entgegnete Schwarz. »Leider gibt es die nicht, denn beim Auffinden der Frau gingen alle von einem Blitzschlag aus, und dessen Zeitpunkt war ziemlich genau bekannt. Jetzt, nach dem abgelaufenen Zeitraum und längerer Kühlraumlagerung, ist eine nähere Bestimmung leider nicht mehr möglich. Außerdem gibt es bei einem natürlichen Tod auch keine kriminalistische oder rechtsmedizinische Untersuchung des Fundortes und seiner Umgebung. Bei einer Alarmierung vor Ort hätten wir selbstverständlich nach Blutspuren oder einem in Frage kommenden Werkzeug gesucht. Der oder die Täter waren auf jeden Fall ganz schön clever …«

Der Staatsanwalt nickte und sagte zum Kommissar: »Herr Granow, Sie wissen, was nun zu tun ist. Ich hoffe, dass Ihre Kommission die Sache bald aufklären kann. Es wird nicht lange dauern, dann haben wir die Medien am Hals.«

***

Gunnar Granow und Theresa Marotzke hatten sich zusammengesetzt, um die Lage zu besprechen. Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war klar: Jemand hatte vor oder während des schweren Gewitters Verena Löwe erschlagen und dann einen Unfalltod durch Blitzschlag vorgetäuscht. Granow überlegte. »Um weiterzukommen, müssen wir erst mal die Frage klären, ob die Löwe am Fundort ihres Leichnams oder woanders erschlagen worden ist.« »Fahren wir doch mit den Kollegen von der Spurensicherung noch einmal nach Moorlake raus!«, schlug Theresa Marotzke sogleich vor. Das taten sie dann auch. Doch als es Mittag geworden war, konnte Granow nur seufzend mit dem Kopf schütteln, denn man hatte nicht die geringste Spur eines vorangegangenen Kampfes gefunden.

»Na juti, dann klappern wa ma alle ab, die et jewesen sein könnten«, sagte Theresa Marotzke.

»Am besten fangen wir mit diesem Radfahrer an.«

Den hatte man inzwischen aufgrund verschiedener Zeugenaussagen ermitteln können, und die Kollegen hatten auch schon eine Menge Material zusammengetragen: Moritz Massanz, so hieß der Radfahrer, hatte mehrere Vorstrafen vorzuweisen, vor allem Rohheitsdelikte und Betäubungsmittelmissbrauch, war alleinstehend und gelegentlich auch als Fahrradkurier oder Türsteher in Nachtclubs tätig. Er war wohnhaft in Friedrichshain-Kreuzberg, in der Ebertystraße.

Granow und Marotzke fuhren zu Massanz, und als sie an dessen Wohnungstür klingelten, kam ihnen ein junger Mann entgegen, den Schädel kahl rasiert und das linke Ohrläppchen mehrfach gepierct. Beinahe hätte der Kommissar ausgerufen: »Mensch, das ist er!« Er hatte viele Feindbilder, und Leute wie Massanz gehörten definitiv zu ihnen.

Die Kriminalkommissare wiesen sich aus, und Granow erklärte dem Verdächtigen, dass sie in der Mordsache Verena Löwe ermittelten. »Dürfen wir mal zu einer kleinen Unterredung eintreten?«, fragte er.

Massanz musterte erst Granow feindselig, schaute dann aber wohlwollend zu der jungen Kriminalassistentin und sagte: »Na jut, komm Se rin!«

An der einen Wand seines Wohnzimmers hingen ein gutes Dutzend Gotcha-Gewehre, davor stand ein weißes Rennrad.

»Wir wissen, dass Sie mit diesem Rad auch zur Zeit des großen Gewitters letzten Sonnabend unterwegs waren, unten an der Glienicker Brücke.« Granow wollte schnell zur Sache kommen. »Sie haben dabei eine Joggerin angesprochen und …«

»Klar, das war Verena. Warum sollte ick nich? Wir sind mal zusammen in eene Klasse jejangen, und da war ick vaknallt in sie. Dann musste ick ’ne Ehrenrunde drehen, und da hab ick sie aus’n Augen verloren.«

»Und nun haben Sie sie beim Joggen bedrängt und wollten ein Treffen mit ihr erzwingen?«, wollte Theresa Marotzke wissen.

»Ich habe sie überhaupt nicht bedrängt!«, gab Massanz leicht verärgert zurück. »Und nach einem Date zu fragen ist ja wohl nicht verboten, oder?«

»Sind Sie abgewiesen worden?«, hakte Granow nach.

»Ja und? Da bin ick denn weita.«

Theresa Marotzke sah ihn scharf an. »Haben Sie dafür Zeugen?«

»Weeß ick nich. Ick bin nach Potsdam und hab ma da in eem Hausflur untajastellt.«

Mehr war aus ihm nicht herauszuholen, und Granow war sich sicher, dass sie bei ihm auch auf Granit beißen würden, wenn sie ihn in die Keithstraße holten und die ganze Nacht über verhörten.

»Knöpfen wir uns also den Ehemann der Löwe vor!«, sagte Theresa Marotzke.

Sie fuhren quer durch die Stadt nach Wannsee, wo an der Straße Am Heidesaum Löwes Villa stand.

Granow fielen einige Zeilen eines Gedichtes von Theodor Fontane ein, das er einmal als junger Schüler hatte auswendig lernen müssen. »Am Waldessaume träumt die Föhre, / Am Himmel weiße Wölkchen nur …«

Theresa Marotzke klatschte in die Hände. »Jut, du! Wenn se dich bei der Kripo mal rausschmeißen, kannste ooch zu Deutschlandradio Kultur gehen. Ick kenne keinen Heidesaum, dafür aber den Heidesand …«

»Was ist denn das?«

»Das sind wunderbare Plätzchen. Kann ick aba nich backen, det macht allet meine Frau.«

»Meine leider nicht«, sagte Granow. »Die sitzt lieber in der Oper, als dass sie am Backofen steht.«

Der Makler Löwe hatte nun so gar nichts an sich, was an den König der Tiere denken ließ. Vielmehr erinnerte sein Gesicht Granow an ein Pferd. Allerdings wirkte er ebenso charmant wie redegewandt.

Es war schwülwarm an diesem Sommertag, und Granow hätte sich gern auf die Terrasse gesetzt, doch Löwe versperrte ihm den Weg nach draußen und führte ihn und seine Kollegin ins Wohnzimmer. »Bitte haben Sie Verständnis … Das nächste Gewitter liegt in der Luft, und nach dem, was meiner armen Frau passiert ist, ertrage ich es nicht mehr, die Blitze zu sehen.« Er zeigte auf seine Sitzecke. »Wenn Sie bitte hier Platz nehmen würden … Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Und schon holte er aus der Küche drei Gläser und eine Flasche Mineralwasser. »So ganz genau habe ich nicht verstanden, was Sie zu mir führt …«

Granow zögerte, direkt zu werden. »Nun … Sagen Sie, Herr Löwe, war Ihre Frau allein, als sie zum Joggen in den Wald gegangen ist?«

»Ja, warum?«

»Wir haben jetzt das rechtsmedizinische Gutachten vorliegen, und danach ist Ihre Frau nicht von einem Blitz getroffen worden.« Granow suchte nach den passenden Worten. »Es tut mir leid, Ihnen dies sagen zu müssen, aber Ihre Frau ist wohl von einem Unbekannten mit einem länglichen Gegenstand erschlagen worden. Jedenfalls hat sie schwere Schädel-Hirn-Verletzungen erlitten, die zu ihrem Tod geführt haben.«

Löwe sprang auf. »Das darf doch nicht wahr sein!«

Theresa Marotzke fixierte ihn. »Nachdem Ihre Frau erschlagen worden ist, hat sie jemand in den Wald bei Moorlake geschafft, um einen Unfalltod durch Blitzschlag vorzutäuschen.«

»Und Sie meinen wohl, dass ich es war, hab ich recht?«, rief Löwe aufbrausend. »Fragen Sie lieber mal meine liebe Schwägerin, die hat Verena fürchterlich gehasst. Immerzu war sie neidisch auf meine Frau. Sie muss es gewesen sein!«

Granow sagte bestimmt: »Herr Löwe, Ihre liebe Schwägerin hat ein hieb- und stichfestes Alibi für letzten Sonnabend. Wie sieht es bei Ihnen aus?«

»Ohne meinen Anwalt sage ich kein Wort mehr!«, rief Löwe mit hochrotem Kopf.

Gunnar Granow und Theresa Marotzke veranlassten kurz darauf, dass Leonhard Löwe vorläufig festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht wurde.

In der Keithstraße angekommen, war sich Kriminalhauptkommissar Granow ziemlich sicher, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit fast unmöglich war, Löwe die Tat nachzuweisen. »Der Untersuchungsrichter wird gewiss seine Bedenken haben, den Verdächtigen länger festzuhalten, und sein Verteidiger wird behaupten, dass Verena Löwe von einem unbekannten Dritten – oder eben dem Radfahrer Moritz Massanz – erschlagen worden ist«, vermutete Granow. »Und wie ich unsere Gerichte kenne, wird er damit durchkommen.«

So schnell wollte Theresa Marotzke nicht aufgeben. »Wir sollten unsere Leute losschicken, damit sie Löwes Wagen – und meinetwegen auch den von Jocelyn Naumann – genau unter die Lupe nehmen. Da müssten sich doch entsprechende Spuren finden lassen.«

Granow lachte. »Natürlich können wir das in die Wege leiten – doch was soll das bringen? Verena Löwe dürfte wiederholt im Wagen ihres Mannes gesessen haben, und in dem ihrer Schwester auch. Selbstverständlich werden wir da Spuren finden.«

»Aber sie wird nicht wiederholt im Kofferraum gelegen haben«, erwiderte Theresa Marotzke mit einem spitzbübischen Lächeln. »Ihre Kopfwunde muss doch heftig geblutet haben. Und da soll nichts zu finden sein?«

Doch Granow behielt recht, sie konnten beim besten Willen nichts finden.

Als der Kommissar spätabends im Bett lag, ging er in Gedanken noch einmal den mysteriösen Fall durch, und da kam ihm die Idee, dass Löwe genauso gut auch ein geliehenes Fahrzeug benutzt haben konnte.

Am nächsten Morgen telefonierten Granow und seine Leute alle Unternehmen ab, die Mietwagen anboten. Doch auch hier kamen sie zu keinem Ergebnis. Aber vielleicht hatte sich Löwe auch bei Freunden oder Bekannten einen Wagen geliehen?

Und siehe da: Ihre Recherchen ergaben, dass einer seiner Nachbarn drei Wochen verreist gewesen war und Löwe auf dessen Haus nebenan im Schuchardtweg aufgepasst hatte. Der Verdächtige hatte alle Schlüssel in Verwahrung gehabt – auch die Autoschlüssel.

Was nun folgte, war für Kriminalhauptkommissar Granow und seine Assistentin Theresa Marotzke reine Routine. Im Wagen des Nachbarn wurden in der Tat DNS-Spuren gefunden, die eindeutig Verena Löwe zuzurechnen waren. Und der Nachbar schwor, Frau Löwe nie in seinem Wagen mitgenommen zu haben.

Insgesamt zehn Stunden dauerten die Vernehmungen des Tatverdächtigen Leonhard Löwe, dann hatte der ein umfassendes Geständnis abgelegt. Schlussendlich kam heraus, dass seine Motive genau die waren, die ihm seine Schwägerin unterstellt hatte.

***

Prof. Robert Schwarz wollte gerade seinen Kittel gegen das Sakko tauschen, als das Telefon klingelte. Es war bereits gegen zwanzig Uhr – also längst Zeit für einen gemütlichen Feierabend. Doch weil er auf dem Display die Nummer der Mordkommission erkannte, hob er ab. Am anderen Ende meldete sich gut gelaunt der Kriminalhauptkommissar Gunnar Granow. »Hallo, Robert, hier ist Gunnar! Wir haben den Ehemann von Verena Löwe festgenagelt. Und zwar haben wir ihm die rechtsmedizinischen Befunde so lange unter die Nase gerieben, bis er aufgegeben hat. Ich wollte dich gleich informieren. Das haben wir doch wieder einmal prima hingekriegt, mein Lieber! Eines wollte ich dich bei der Gelegenheit noch fragen: Warst du nicht etwas mutig mit deiner Annahme, Frau Löwe sei erschlagen worden? Sie hätte doch auch gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen sein können.«

»Nein, das hätte sie nicht«, erwiderte Schwarz fachkundig. »Dagegen sprachen nämlich drei Umstände: Erstens lag die Kopfverletzung zu hoch für einen Sturz zu ebener Erde, und am Fundort gab es weder einen nennenswerten Höhenunterschied noch eine Treppe. Das besagt die sogenannte Hutkrempenregel. Zweitens war die Schädelfraktur auffallend gut geformt, da hätte es schon ein entsprechendes Widerlager vor Ort geben müssen. Drittens unterscheiden sich die Hirnverletzungen nach einem Schlag auf den Kopf von denen nach einem Aufschlag des bewegten Schädels, wie beispielsweise bei einem Sturz. Das ist als Contrecoup-Phänomen bekannt. Du siehst, ich konnte mir ziemlich sicher sein.« Und nach einer kurzen Pause fügte Schwarz lachend an: »Vielleicht solltest du wieder einmal in meine Vorlesung kommen!«

Granow erwiderte trocken: »Wenn wir von der Kripo das alles wüssten, wärt ihr Rechtsmediziner doch überflüssig.«

Nachdem die beiden das Gespräch beendet hatten, ging Schwarz zu seinem Wagen. Nun war es schon so spät, dass er den Berufsverkehr nicht mehr fürchten musste. Bei der ruhigen Fahrt nach Köpenick hatte er Zeit zum Nachdenken. Über die Hutkrempenregel hatte er früher wissenschaftlich gearbeitet. Sie wurde in der Fachliteratur meist dem deutschen Gerichtsmediziner Kurt Walcher zugeschrieben, der dazu in den dreißiger Jahren publiziert hatte. Schwarz hatte dann bei seinen Recherchen die Erkenntnis bei dem Österreicher Julius Kratter gefunden, der schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts darüber berichtet hatte. Und was käme wohl heraus, wenn man weitersuchte? So war das oft mit dem Ruhm durch Namensgebungen – nicht immer traf es den Richtigen. Aber die Regel war sehr nützlich.

Oft konnte man in seinem Fach durch simple Erfahrungsregeln bei richtiger Anwendung wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Die hochtechnisierte Glitzerwelt der forensischen Laboratorien in amerikanischen TV-Krimiserien war zwar hübsch anzusehen, hatte aber mit der Realität wenig gemein.

Die Hutkrempenregel besagte, dass beim Sturz zu ebener Erde entstehende Kopfverletzungen nicht oberhalb der gedachten Hutkrempenlinie lagen. Der Sachverhalt war aber nicht so einfach, wie sich die Regel anhörte. Die war sogar in einigen Lehrbüchern falsch dargestellt. Und was er in Staatsexamensprüfungen alles zu hören bekam! So lautete eine häufige Fehlinterpretation: »Schlagverletzungen liegen oberhalb, Sturzverletzungen unterhalb der Hutkrempenlinie.« Oft vergaßen die Prüflinge, dass die Regel nur für den Sturz zu ebener Erde anwendbar war – denn beim Fahrradsturz, Treppensturz oder Sturz aus der Höhe konnten die Verletzungen auch auf der Scheitelhöhe liegen. Wenn er die Studierenden fragte, ob die Verletzungen unterhalb der gedachten Linie immer Sturzverletzungen seien, sah er sich häufig ratlosen Gesichtern gegenüber und musste ärgerlich einwerfen: »Haben Sie noch nie von einem Veilchen oder einer Backpfeife gehört … oder einer gebrochenen Nase beim Boxkampf?«

Als eine weitere Besonderheit galt, dass Sturzverletzungen häufig durch charakteristische Hautabschürfungen an hervorstehenden Gesichtsteilen wie Augenbrauenwülsten, Nasenrücken, Jochbeinregion und Kinn zu erkennen waren.

Schwarz musste grinsen, denn in dem Zusammenhang erinnerte er sich an den Fall eines prominenten Lokalpolitikers, den Schwarz vor Jahren zu untersuchen hatte. Der hatte angegeben, bei einem Überfall geschlagen und sowohl seiner Brieftasche wie auch wichtiger Schriftstücke beraubt worden zu sein. Die rechtsmedizinische Untersuchung ließ aber ausschließlich sturztypische Gesichtsverletzungen erkennen. Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen ergaben dann, dass der Mann nach einem Alkoholexzess sturzbetrunken auf dem Nachhauseweg mehrfach zu Boden gegangen war und dabei seine Habseligkeiten verloren hatte, die übrigens bald darauf von einem ehrlichen Finder abgegeben wurden. Der Verletzte gestand schließlich, den Überfall aus Angst vor Vorwürfen der Ehefrau und aus Scham vor seinen Parteikollegen erfunden zu haben.

Noch interessanter fand Schwarz das Contrecoup-Phänomen, das bei der Unterscheidung zwischen Sturz und Schlag nutzbringend einsetzbar war. Schon früh war Ärzten aufgefallen, dass beim Aufschlag mit dem Hinterkopf die stärksten Hirnschäden in Form sogenannter Rindenprellungsherde an der Gegenseite, also am Stirnhirn, auftraten. Die Académie Royale de Chirurgie in Paris hatte schon Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einen Preis für die Klärung dieser Schädel-Hirn-Verletzung ausgeschrieben. Seitdem wurden dazu zahlreiche biophysikalische Theorien entwickelt. Aber erst seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wusste man, dass der entscheidende Mechanismus ein am Gegenpol des Aufschlagpunktes auftretender Unterdruck war, der die Hirngewebsschäden durch eine Zugbeanspruchung oder Sogwirkung verursachte. Diese Erkenntnisse wurden sowohl empirisch, also durch Fallauswertungen, als auch experimentell gewonnen. An verkehrsmedizinischen Forschungsprojekten rechtsmedizinischer Institute arbeiteten neben Medizinern zunehmend auch Physiker. Und in der Fahrzeugindustrie untersuchten interdisziplinäre Forscherteams aus Ingenieuren, Physikern und Medizinern die Verletzlichkeit respektive Belastbarkeit des menschlichen Körpers. Dabei konnten lebende Menschen (Freiwillige) natürlich nur begrenzten Belastungen ausgesetzt werden. Für Experimente mit höheren Energien war man auf Leichen oder Modelle (Dummies) angewiesen, was beides nicht unproblematisch war. Neben rechtlichen und ethischen Fragen bei der Verwendung von Leichen mussten auch Probleme der Übertragbarkeit so gewonnener Ergebnisse auf Lebende beachtet werden.

Als Rechtsmediziner wusste Schwarz: Der Kopf war unbedingt zu schützen! Wenn er die Radfahrer ohne Helm durchs Gelände rasen sah oder mitansehen musste, wie sie in der Stadt zwischen Autokolonnen und über rote Ampelkreuzungen manövrierten, konnte er nur den Kopf schütteln. Er kannte sogar Fachkollegen, die einen Schutzhelm beim Radfahren leichtsinnig ablehnten. »Wie das aussieht! Und außerdem schwitzt man darunter!«, argumentierten sie. Dabei wusste doch heute jedes Kind, wie verletzlich das menschliche Gehirn war. Ein einfacher Sturz mit dem Rad reichte für schwere, mitunter tödliche Hirnverletzungen. Das galt auch für den Sturz von Fußgängern etwa bei Glatteis. Bei Gewalttaten, die mit bleibenden oder tödlichen Hirnschäden endeten, reichte das Spektrum von Raubüberfällen mit Umstoßen von alten Damen bis zu Attacken mit Baseballschlägern oder den ungeheuerlichen Tritten auf den Kopf eines am Boden liegenden Opfers. Vor allem die letztgenannten Taten hatte er in den siebziger und achtziger Jahren noch nicht gesehen.

Schwarz war sich mit vielen Fachkollegen einig, dass die Schwelle zur Anwendung brutalster Gewalt in den letzten Jahren deutlich gesunken war. Ebenso beobachtete er mit Sorge, dass die Gewalttaten häufig grundlos oder aus nichtigem Anlass entstanden. Und das gezielte Treten oder Springen auf den Kopf eines wehrlosen Opfers, dazu noch mit harten und schweren Stiefeln, war eine ganz neue Art der Gewalt. Mit anderen Rechtsmedizinern hatte Schwarz seit Jahren in Wort und Schrift diese Entwicklung angeprangert. Inzwischen war die Erkenntnis auch bei den tolerantesten Gutmenschen in der Justiz und Politik angekommen.

Als Schwarz mit dem Wagen in seine Grundstücksauffahrt einbog, musste er schmunzeln. Er würde bei der nächsten Radtour wie jedes Mal den Schutzhelm tragen, und seine Enkeltochter würde wie immer ausrufen: »Opa, wie siehst du denn aus!«

Berliner Leichenschau

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